Editorial

Die erste Ausgabe der Referentin liegt vor.

Die Referentin ist das neue, veranstaltungsbezogene Printmedium, das im Geiste von good old spotsZ die zeitgenössische Linzer Kunst und Kultur fokussiert. Rundum neu und in Kooperation mit der Versorgerin erscheint die Referentin vierteljährlich und bietet in Sachen Kunst und Kultur: Zeitgenössische Bezugsrahmen, beste Referenzen – in der Stadt, aus der Stadt und darüberhinaus!

Wir tragen gerne Teile des Inhalts vor. Wolfgang Schmutz hat Time’s Up im Hafen besucht, eine der interessantesten Initiativen in Linz – und berichtet über die aktuellen Arbeiten der weitgereisten Truppe. Wir meinen, dass Time’s Up einer von vielen guten Gründen ist, den Hafen nicht völlig zu kommerzialisieren. Unsere zweite Titelgeschichte hat Karin M. Hofer geliefert. Sie hat anlässlich des neuen VALIE EXPORT Centers die große Kunstpionierin VALIE EXPORT interviewt. Wir stellen fest, dass es von der zuerst einzigen Möglichkeit, aus Linz wegzugehen bis zur „City of Media Arts“ oft ein langer, weiter Weg sein kann. Außerdem hat uns das Interview mit EXPORT dazu inspiriert, einige aktuelle Veranstaltungen auszuwählen, die auf die eine oder andere Weise mit dem Begriff „Performance“ beschlagwortet oder assoziiert werden können. Hier ist uns ein besonderes Anliegen, auf die leisen, aber dennoch kämpferischen Gehsteigschriften von Elisabeth Lacher hinzuweisen – exemplarisch für die Notwendigkeit, im aktuellen humanitären Drama katastrophalen Ausmaßes politisch Haltung zu beweisen. Zu all dem aber mehr im Heft. Wir bedanken uns jedenfalls bei unseren Autorinnen und Autoren.

Wir freuen uns, unsere KolumnistInnen begrüßen zu dürfen: Die allseits bekannte Wiltrud Hackl, die sich dem Thema Arbeit annehmen wird; der eher leutscheue Slow Dude, der sich langsam und inkognito aufmachen wird, um die kulinarischen Perlen der Stadt zu erkunden; und erstmalig, aber nur einmalig, die Neue Beverly, die unter anderem eine Geschichte aus einem Linzer Beisl erzählt. Die Kolumne wird dann an den nächsten Autor, die nächste Autorin weitergereicht. Jedenfalls bilden für Die Referentin diese drei Kolumnen die basal-funktionale Trias aus Essen, Arbeiten und Fortgehen. Gibt’s sonst noch Wichtiges? Zweifelsohne hätte es noch eine Menge mehr zu berichten gegeben. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf vorerst einen Artikel, der nur auf den Netzseiten der Referentin zu finden ist – und der in gewisser Weise die Herkunft unserer Kinderseite erklärt.

Seit dem offiziellen Startschuss für Die Referentin Mitte Juni sind zweieinhalb Monate vergangen. Sehr wenig Zeit, aber Zeit genug, um es nun mit 4. September bis zum erstmaligen Print- und Webauftritt geschafft zu haben. Sicherlich wird Die Referentin noch wachsen und gedeihen – wir bekennen uns trotz der Produktorientierung als Zeitung und dem Service für unsere LeserInnenschaft zur organischen Entwicklung im Gedanken eines „bedarfsorientierten Medienexperiments“ und auch einer Bedarfsorientierung, die die hiesige kulturelle Situation selbst vorgibt. Die Herausforderungen im Kultur- und Mediensektor sind zweifelsohne groß. Hier lässt, und hier ein letzter Verweis auf den Inhalt, „Das kluge Schreib-Bot kiki“ grüßen, das das Schwesterblatt Versorgerin zu einer Reihe Artikel zum Thema „Automatisierung“ angeregt hat. Dies auch als Leseempfehlung!

Bleibt noch zu sagen: Den politischen VertreterInnen für die Basisfinanzierung des Projekts vielen Dank – „in Order of Appearance“: StRin Eva Schobesberger, Vbgm Christian Forsterleitner, Vbgm Bernhard Baier. Ebenso danken wir der Kulturverwaltung, namentlich Kulturdirektor Julius Stieber für die mehrjährige Un­terstützung der Vorarbeit im Sinne der Umsetzung des Linzer KEPs. Wir freuen uns diesbezüglich auch über das Bekenntnis der EntscheidungsträgerInnen zur Langfristigkeit! Ebenso ein herzliches Danke allen anderen Unterstützerinnen und Unterstützern.

Vielleicht gibt’s auch mal eine Party.
Mit dieser unschlüssigen Ankündigung – viel Vergnügen beim Lesen.

So long, die Referentinnen Tanja Brandmayr und Olivia Schütz, sowie die Redaktion der Versorgerin

www.diereferentin.at

Gehsteigschriften – Schreibperformances im öffentlichen Raum

Das Projekt „Gehsteigschriften“ ist ein von Elisabeth Lacher initiiertes Performanceprojekt im öffentlichen Raum. Die Akteurin wählt hierfür Orte aus, die entweder temporär oder permanent Schauplatz des öffentlichen Interesses sind. Sie nutzt dort stattfindende politische Veranstaltungen und Ereignisse, um am Gehsteig einen persönlichen Gedanken niederzuschreiben. Die Referentin stellt vor.

Die Gehsteigschrift #1 fand am 13. November 2014 in Traiskirchen, Niederösterreich statt. Anlass war die öffentliche Debatte rund um das dortige Erstaufnahmezentrum für Asylsuchende. Am Abend des 13. Novembers fand am Traiskirchner Hauptplatz eine Kundgebung der FPÖ mit deren Obmann Heinz Christian Strache statt. Gegenüber demonstrierten SJ und Netzwerke gegen Rechts. Am Rand des Platzes ließ sich Elisabeth Lacher auf einen Gehsteig nieder und schrieb zwei Stunden lang mit Schulkreide die Frage „Wenn die ganze Welt lügt, wohin flüchte ich? If the whole world is a liar, where do I seek asylum?“ in Endlosschleife in Richtung Asylzentrum. Inmitten von PassantInnen, Neugierigen, MigrantInnen, Asylsuchenden, FPÖ-Fans und GegendemonstrantInnen stellte sie schriftlich eine leise Frage neben die lauten Reden des Abends.

Kunst hat die Möglichkeit, bei Menschen eine andere Resonanz zu erzeugen, als sie das alltägliche Leben normalerweise bietet. Das ist für die Akteurin ein wesentlicher Bestandteil der Performance. Sie will vorbeikommenden Personen eine alternative Sichtweise zur Verfügung stellen, als Angebot der persönlichen Reflexion. Durch die Gehsteigschriften soll auch sichtbar werden, dass es neben der üblich geführten öffentlichen Diskussionen und medialen Berichterstattungen noch viele andere, der eigenen Persönlichkeit angepasste Möglichkeiten gibt, öffentlich Stellung zu nehmen. Die Schreibperformances dienen auch als Sensor. Durch die Geschehnisse während der Performance lässt sich unmittelbar erkennen, inwiefern es an einem öffentlichen Ort möglich ist, temporär die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen.
Die Aktionen sind ein persönliches Statement, eine introspektive Auseinandersetzung sowie ein Aufbegehren, ein Sichtbarmachen und Handeln. Transformiert in Performances, in denen ein kleiner Denk- und Möglichkeitsraum in der Öffentlichkeit entsteht.

Die Gehsteigschrift #2 wird im Zuge der Landtagswahl im öffentlichen Raum in Linz stattfinden. Am Tag der Landtagswahlen wird die Schreibende auf einem Gehsteig in der Nähe des Linzer Landhauses die PassantInnen mit einer Frage zur Unterscheidung von Wahl und Entscheidung zum Nachdenken einladen. Gehen Sie an diesem Tag oder den Tagen danach – bis zum ersten Regen, der den Schriftzug fortschwemmen wird – doch einfach im Zentrum spazieren auf der Suche nach einer Frage, die mit Schulkreide auf einen Gehsteig geschrieben ist.

Gehsteigschrift #1 von Elisabeth Lacher.

Gehsteigschrift #1 von Elisabeth Lacher.

 

Elisabeth Lacher, geboren 1981 in Vöcklabruck/OÖ, lebt in Linz und bewegt sich in ihren Projekten im transdisziplinären Feld zeitgenössischen Kulturschaffens. Ihre Vision „Kunst gestaltet Gesellschaft“ ist die Grundlage ihres künstlerischen und kulturellen Tuns, sei es in der Rolle der Kunstvermittlerin, als Kuratorin oder als Akteurin im öffentlichen Raum. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind verschiedene Aspekte von Öffentlichkeit, gesellschaftspolitischer Aktivismus und menschlicher Alltag. Sie hat unter anderem die Leonart 2013 zusammen mit toikoi zum Thema Gehsteig kuratiert.

 

Projektbericht der Gehsteigschrift #1 in Traiskirchen

Navigieren in physischen Erzählräumen – Ein Landgang bei Time’s Up

 

Seit beinahe zwei Jahrzehnten arbeitet Time’s Up von seiner Ankerstätte im Linzer Hafen aus an interaktiven Settings und Rauminstallationen, kollaboriert mit lokalen und internationalen Partnern und bereist mit den daraus entstehenden Projekten die Kunstwelt von Rotterdam bis Hong Kong. Zunächst vor allem mit abstrahierenden Interfaces und Großrauminstallationen beschäftigt, ist Time’s Up seit ein paar Jahren in der Kreation von intimeren Erzählräumen angekommen. In „Physical Narrations“, bei denen die Rezipienten die etablierte Erzählung erforschen, um- und fortschreiben können. Über Projekte, Prozesse und die Verankerung in Linz hat Wolfgang Schmutz mit Tina Auer und Timothy Boykett gesprochen.

Ich bin zum ersten Mal bei Time’s Up, auf jener Halbinsel, die den Linzer Hafen umspannt und von der Donau trennt. Daher steht zunächst ein Rundgang durch die Heim- und Werkstätte des „Labors für die Konstruktion experimenteller Situationen“ auf dem Programm. Zugleich: Was könnte ein solches Gespräch besser einleiten, als durch jene Produktionsstätte zu spazieren, in der sich die materiellen Versatzstücke aus 20 Jahren Arbeit zu einer eigenen Topografie zusammenfügen? Mischt sich hier doch der materielle Fundus vergangener Projekte mit Transportbereitem für kommende Ausstellungen. Hier ein Bullauge mit mechanischen Wellen für das Projekt „Mind the Map“, das den Fluchtraum Meer thematisiert, demnächst im zeitgenössischen Kunstzentrum „le lieu unique“, in Nantes. Dort der Schrankkoffer von „Unattended Luggage“, mit dem die Migrationserfahrungen der fiktionalen Familie Freudenstein zwischen New York und Österreich erzählt werden. Ihre Österreichpremiere feiert diese Rauminstallation in Bälde beim paraflows X festival in Wien.

Materialien, Objekte und Installationselemente finden sich bei Time’s Up nicht nur im Lager, wo einst Gabelschlüssel und anderes Werkzeug der DDSG auf den Regalen lagen, sondern auch an einzelnen Arbeitsplätzen. Für ein gewisses Maß an Entropie sorgen auf Tischen, Werkbänken und Regalen nicht zuletzt die Spuren, die von verschiedenen Personen während unterschiedlicher Projekte hinterlassen wurden. Und diese Spuren erzählen neben dem Arbeitsprozess eben auch von den individuellen Akteuren. Sie zu lesen, braucht hier den Insider-Blick und Rahmenerzählungen zu Projekten und Personen. In den Projekten selbst jedoch versucht Time’s Up solche Spuren zu einem möglichst unmittelbaren Interaktionsauslöser mit dem Publikum zu machen: Die gestalteten Räume bzw. „Welten“ laden dazu ein, sich als Proto-Detektiv zu betätigen, zu ergründen, wer da gerade nicht da ist, warum nicht und was die hinterlassenen Spuren als Indizien darüber erzählen.

In der Regel erforschen und bespielen die Ausstellungsbesucher_innen die Rauminstallationen. Einmal hat Time’s Up sich auch selbst mitinszeniert. Beim Microwave-Festival in Hongkong stand 2011 eine Kopie der eigenen Küche, die in der Heimstätte im Linzer Hafen als kommunikatives Herz fungiert. In der Replik wurde so wie im Original gekocht, gegessen und geredet. Auf Basis von Kürbiscremesuppe, Schweinsbraten und Apfelstrudel. Den Blick auf die Donau ersetzte jener auf den Hongkonger Victoria Harbour. Das Setting sei schon merkwürdig gewesen, wie sich Tina Auer erinnert. Aber das vertraute Geräusch der Espressomaschine, der Geruch von Kaffee hätten schließlich dazu beigetragen, dass sie sich selbst auf das Szenario einlassen konnte. Und das war im dortigen Kontext durchaus gegen den Strich gebürstet: Fünfzehn internationale Medienlabors waren eingeladen, sich selbst zu präsentieren, dokumentarisch und mit einem Gegenwartsbezug. Time’s Up erfüllte diese Vorgabe auf eigene Weise, dokumentierte sich mit dem Kommunikationszentrum Küche und verstand die darin stattfindende Kontakte als Gegenwartsbezug.

Das Augenzwinkern ist aber offenbar auch in der Homebase nicht fremd. Davon erzählt nicht zuletzt die kleinteilige Tapezierung der Wände mit reichlich Schiffsromantik-Kitsch und Elvis-Fotos. Man fühlt sich hier rasch wohl, es lässt sich gut andocken. Wie zum Beweis dafür trinkt Leo Schatzl in der Original-Küche Kaffee und scherzt darüber, dass er jedesmal bei Hausführungen da sitzen muss, als bewegliche 3D-Installation. Mit Künstlern wie ihm und David Moises fungierte Time’s Up in der Vergangenheit etwa als temporäre Schiffswerft und nannte dies „Time’s Up Boating Association“ (TUBA). Was für dieses Projekt galt, gilt auch für andere als Modell der Zusammenarbeit: Um ein Kernteam von fünf bis sechs Personen gruppieren sich, projektbezogen und in unterschiedlicher Intensität, Kunstschaffende, Konsultierende, Grafiker_innen. Man versuche, daraus eine nachhaltige Zusammenarbeit entstehen zu lassen, ohne in zu starre Muster zu geraten, wie Tina Auer betont. Schatzl und Moises sind zwei Beispiele für langjährige Reisegefährten, neben Projektpartnern wie dem belgischen Netzwerk FoAM, das sich ebenfalls mit spekulativen Zukunftsszenarien beschäftigt, oder dem M-ITI (Madeira Interactive Technologies Institute), das interdisziplinär im Feld der Mensch-Computer-Interaktion forscht.

So offen und zugleich treu sich Time’s Up in der Partnerwahl gibt, so beständig ist auch die Neugierde auf neue Projekte und Prozesse. Thematische Ausgangspunkte liefern dafür in der Regel die eigenen Interessen. Ziel ist es, daraus Szenarien, also Erzählräume zu schaffen, in denen das Publikum explorativ unterwegs ist. Eine hohe haptische Qualität der Installationen sei dabei wichtig, sagt Tina Auer. Zum einen schaffe man damit einen Einstieg, ähnlich dem filmischen „Establishing Shot“. Zum anderen bekomme so auch jenes Publikum etwas, das sich nur oberflächlich auf das Szenario einlässt. „Wenn die Leute jedoch tiefer eintauchen“, ergänzt Timothy Boykett, „kriegen wir Geschichten von ihnen zurück, die oft viel spannender sind, als das, was wir uns selbst ausgedacht haben“. Die Herausforderung liege darin, Navigationsaspekte einzubringen, Orientierung für die Rezipienten zu schaffen, aber dabei eine Dramaturgie zu finden, die genug offen lässt. Gelingt dies, erlebe man immer wieder neue Überraschungen, auch dann noch, wenn man ein Projekt zum zwanzigsten Mal aufbaut. Dass Berühren auch Berührendes generieren kann, erfuhr man im Austrian Cultural Forum New York. Dort brachte die Installation von „Unattended Luggage“ Besucher_innen dazu, ihre eigenen Familiengeschichten zu erzählen, die mit der fiktiven der Familie Freudenstein enge Verwandtschaft hatten.

Hält Time’s Up solche Prozesse eigentlich fest? Für Momente wie in New York aber auch für andere Interaktionen von Besucher_innen sei die eigene Präsenz die relevanteste Form der Dokumentation, sind sich Timothy Boykett und Tanja Auer einig. Ein Fragebogen helfe hier kaum weiter, da jede Unmittelbarkeit dabei verloren geht. Erlebnisse bei Ausstellungen trägt Time’s Up gelegentlich in das „Loose Diary“ ein, das online betrieben wird, im Wesentlichen aber fließen sie in den Erfahrungs- und Erinnerungsschatz der Beteiligten. Ein Patentrezept, wie man vorgehe, eine gültige Formel habe Time’s Up zudem nicht. „Wir haben nur eine Ansammlung von Beobachtungen, Dinge die funktioniert haben, Dinge, die in die Irre geführt haben, Fragen, die wir uns gestellt haben und die wir als wertvoll erachtet haben“, führt Timothy Boykett aus. „Aber wir behaupten nach wie vor, dass wir weit davon entfernt sind, zu wissen wie man in einem dreitägigen Workshop von einem Konzept zu einer fertigen Physical-Narrativ-Planung kommt.“ Das Erzählsystem aufzusetzen, die Storyworld und die Charaktere samt ihrer Hinter- und Beweggründe zu entwerfen, könne dann schon langwierig sein, aber es sei ihnen eben wichtig, stets aufs Neue interessante Darstellungsmöglichkeiten und Interaktionen zu erproben.

Dass man auf dieser stetig Erfahrungen generierenden Reise durchaus ambitioniert unterwegs ist, davon zeugen die Projekte, die man im europäischen Kontext veranstaltet hat, wie PARN, “Physical and Alternate Reality Narratives” und zuletzt das alternative Zukunftserzählungen verhandelnde “Future Fabulators”. Dass die Reise meist weit weg geführt hat, ist daran abzulesen, dass die Mehrzahl der Aktivitäten im Ausland stattfand, bei aller lokaler Kooperation, etwa mit der Ars Electronica oder dem KunstRaum Goethestrasse. Time’s Up liege in Linz vor Anker, aber nicht fest, meint Timothy Boykett. Oder wie es Tina Auer formuliert: „Es gab für mich keinen Grund nach Linz zu kommen, es gibt keinen zu bleiben und auch keinen wegzugehen.“ Um gleich zu relativieren: Natürlich habe es in Linz eine prozessorientierte Kulturpolitik gegeben, als sie kam, Experimente wurden zugelassen, die Atmosphäre war offen. Was Wunder, wenn am Ende des Gesprächs beide ihre Skepsis angesichts aktueller Entwicklungen im Heimathafen Linz anmelden. Kreativität und Kunst gleichzusetzen, nach dem Motto: „If you are so clever, why aren’t you rich“, sei ein schwerer Fehler. Außerdem gehe durch die beinahe ausschließliche Hinwendung zu Großevents die Wertschätzung für längerfristige Prozesse verloren. Und davon versteht Time’s Up immerhin etwas.

www.timesup.org

Aktuelles Projekt: Mind the Map
Die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Migration steht im Zentrum von Mind the Map, der neuesten künstlerischen Arbeit von Time’s Up. Erarbeitet als „physical narrative“ – einer Erzählung, inszeniert im realen Raum und vom Publikum explorativ erfahrbar. Thematisch konzentriert sich das Projekt Mind the Map auf Praktiken der europäischen Migrations- und Asylpolitik, insbesondere auf die Flüchtlingsströme im Mittelmeer. Anhand der Lebensgeschichte einer fiktiven Figur werden die verschiedenen Ebenen der Auswirkungen des europäischen Umgangs mit Flucht und Migration auf das Leben und Handeln von uns allen diskutiert: Wie können, sollen und müssen Konzepte für eine europa- und weltweite Koordination von Migration aussehen, um den verschiedenen Anforderungen, den humanitären jedoch zuallererst, gerecht zu werden?
Times’s Up erweitert und vernetzt die gebräuchlich beschriebenen Grenzen der Disziplinen Kunst, Technologie, Wissenschaft und Unterhaltung.

Präsentiert wird Mind the Map
in Nantes/Frankreich im le lieu unique –
Zentrum für Gegenwartskunst
im Zeitraum vom 15. 9.–11. 10. 2015

www.lelieuunique.com
www.timesup.org/ffab/mtm/nantes

Ich habe mir meine Handlungsspielräume genommen

 

Von einem MAERZ-Mitglied zum anderen: Karin M. Hofer hat mit der „Ikone und Rebellin“ VALIE EXPORT über Kunst, Feminismus und Linz gesprochen. Der Anlass: Der Grundstein für das neue Linzer VALIE EXPORT Center wurde dieses Jahr gelegt.

Am 21. September wird im Museum Ludwig in Köln der Film „Ikone und Rebellin“ zur Person VALIE EXPORT erstmals gezeigt. Wie lange haben denn die Dreharbeiten gedauert?
Schwer zu sagen, zusammengefasst vielleicht ein bis eineinhalb Jahre. Die Drehtage, die mich betrafen, waren 15 Tage, davon einige Tage in Norwegen, Wien, Linz …

Haben Sie die Rohfassung schon gesehen?
Die Rohfassung des Filmes habe ich kurz gesehen, würde aber nie in die Gestaltung eingreifen; Das ist die Arbeit, das Werk der Regisseurin, Claudia Müller. Ich stellte ihr Material zur Verfügung, das sie wollte beziehungsweise was mir zu zeigen wichtig war, aber die Gestaltung ist jene der Regisseurin, natürlich wie immer.

Wie sehen Sie aus heutiger Sicht, mit heutigem Wissensstand auf ihre vergangenen Schaffensphasen zurück? Ist es Ihnen möglich, die Künstlerin im Film von ihrer heutigen Person zu trennen?
Nein, das könnte ich nicht, so etwas kann ich nicht. Nein … Das ist eine Identitätssache, diese Identitäten kann ich nicht abstrahieren.

Sie sind ja in Linz aufgewachsen, wie sahen sie das Kulturleben in Linz und was waren Ihre ersten künstlerischen Eindrücke?
Ja, ich bin in Linz aufgewachsen, aber das künstlerische Leben dort war sehr beschränkt. Ich hatte in der Neuen Galerie Kubin für mich entdeckt, meine Mutter hatte ihn mir nahegebracht. Sonst war aber nichts los. Es gab noch das Landesmuseum, aber soweit ich mich erinnere, waren dort keine besonderen Ausstellungen zu sehen. Aber das ist eben schon lange her.

Gab es Arbeiten von Ihnen, die in Linz entstanden sind?
Naja, in Linz weniger … In Linz war ich auf der „Kunstgewerbe“ und dann bin ich nach Wien übersiedelt. Aber jedoch mein erstes Selbstportrait ist mit 15 Jahren in Linz entstanden.

In der MAERZ fand ja eine ihrer frühen Performances statt …
Ja in der Maerz-Galerie, 1973 mit dem Titel „KAUSALGIE“. Soweit ich mich erinnere, ist der damalige Leiter der Maerz zurückgetreten. Zu dieser Zeit habe ich aber schon in Wien gelebt.

Vermutlich haben Sie sich bei ihren Performances lange überlegt, ob sie es wirklich in der Weise machen wollen. Weil es ja auch sehr belastend war und fordernd.
Sicher, das ist alles ganz genau überlegt. Manchmal während der Performance merkte ich, ich hätte noch etwas hinzufügen können. Wenn ich die Performance nochmals zeigte, machte ich das eventuell, erweiterte sie. Aber jede Performance, jede Aktion hängt auch vom Publikum und der Rezeption ab, es ist ein interagierender Prozess.

Wie genau war eine Choreographie geplant?
Überhaupt nicht, es war ein gewisser offener Ablauf vorhanden. Ich habe versucht, einen gewissen Zeitplan einzuhalten. Ein ungefährer Ablauf war schon geplant, weil es um verschiedene Schichten, Prozesse und Themen ging, ausgeführt mit verschiedenem Materialen und Medien. Vor der Performance ist natürliche Spannung vorhanden, danach muss man sich mit den Reaktionen und Angriffen auseinandersetzen. Das gehört auch dazu …

Für eine damals konservative Umgebung wie Linz stelle ich mir das spannend vor, wurde das von den anwesenden Rezipienten als Kunst verstanden?
Die wenigen Leute, die ich in Linz kannte, wie etwa Helmut Gsöllpointner und andere Künstler haben das verstanden, es fanden auch Gespräche statt. In dieser Zeit, als ich KAUSALGIE machte, stellte gerade Hermann J. Painitz in Linz aus, er war auch anwesend.
Anfang der 70er Jahre waren aktuelle Kunsttendenzen nicht ganz unbekannt, anders als während der 60er Jahre, es fanden Auseinandersetzungen um kulturelle Entwicklung statt.

Ein großer Unterschied zu Wien?
Na, es war anders, Wien ist schon eine sogenannte „Hauptstadt“. Es war allerdings in den 70er Jahren genauso restriktiv, konservativ und geprägt von der Nach-Kriegszeit. Es veränderte sich aber Vieles in der Ära Kreisky. Obwohl natürlich konservative Kreise auch ihren Teil dazu beitragen, da sie zu künstlerischer Opposition herausfordern. Opposition verstärkt die Utopien.

War das für Sie ein Ansporn zu Ihrem künstlerischen Tun?
Ansporn nicht, eher Selbstverständlichkeit. Wenn ich mich dem Gegebenen nicht anpassen will und kann, mache ich etwas anderes, provoziere das Gegebene. Aber als Auseinandersetzung, Ansporn ist nicht das richtige Wort.

Sie haben sich auch sehr früh mit Film- und Videotechnik auseinandergesetzt. War es auch bei Ihnen so, dass sie sich technische Kenntnisse selbst aneignen mussten?
Der Grund, warum man Video bzw. Digitaltechnik heute verwendet, unterscheidet sich grundlegend vom Ansatz der 70er Jahre. Mit der Film- und Videotechnik mussten wir uns eigenständig auseinandersetzen. Es hat keine Lehrenden gegeben. Ich habe dann zwar selbst in den 70er Jahren auf der Linzer Kunsthochschule Video unterrichtet, ich musste mir dazu die Technik immer ausleihen von einem Videogeschäft.

Von Ihnen stammen ja Experimentalfilme, die heute als kunsthistorische Meilensteine gelten – was ist aus heutiger Sicht dazu zu sagen?
Sie sind zu ihrer Zeit entstanden, sie haben immer noch ihre Gültigkeit, weil sie sich auf eine bestimmte Weise mit Medium und Inhalten beschäftigten, und durch sie eine Entwicklung sichtbar wird. Es sind Arbeiten, die im Laufe einer künstlerischen Auseinandersetzung entstehen.

Gibt es aus ihrer Sicht Arbeiten, die Sie als besonders wichtig oder als Wendepunkte betrachten?
Nein, könnte ich nicht sagen …

Empfinden Sie die Gesellschaft heute als freier als in den 70er Jahren?
Es sieht anders aus, das Restriktive zeigt sich heute in anderen Zusammenhängen. Trotzdem sind Restriktionen nach wie vor vorhanden, es ist sehr schwer, die Probleme der jetzigen Gesellschaft zu lösen – wie etwa die Flüchtlingsprobleme jetzt, vor allem die der Kinder, die unter traumatischen Umständen zu Flüchtlingen geworden sind und ihre Identität für die Zukunft erfassen und aufbauen müssen. Etwas, das gelöst werden muss; ignorieren verschärft die Situation, die Menschlichkeit fordert eine Lösung. Wie die Probleme gelöst, entschärft werden können, ist allerdings momentan sehr schwer darzustellen…
Wir hatten damals andere Probleme.

Es geht wohl um Handlungsspielräume. Am Beginn der 70er Jahre etwa waren die Handlungsspielräume von Männlich oder Weiblich noch sehr eingeschränkt.
Nicht für mich, ich habe mir den Spielraum genommen. Andere haben das nicht getan. Die Handlungsspielräume sind heute auf andere Weise wieder begrenzt. Es ist zwar eine scheinbare Toleranz da, aber wenn man genau hinterfragt, ist die Toleranz sehr eng angelegt.

Das hängt sehr stark damit zusammen, was die/der Einzelne für möglich hält …
… was man tut, oder umsetzt …

Sie arbeiten nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Kuratorin; Wie gehen Sie vor, wenn Sie Arbeiten von Anderen auswählen?
Die erste kuratorische Arbeit war 1975 die Organisation von „MAGNA. Feminismus: Kunst und Kreativität“, was nicht einfach war. Es gelang mir dann eine Ausstellung in Österreich (Anm.: Galerie nächst St. Stephan in Wien) von Künstlerinnen zur organisieren, im internationalen Rahmenprogramm waren auch männliche Vortragende vertreten.

Verstehen Sie sich nach wie vor als Feministin? Was ist Feminismus heute?
Natürlich sehe ich mich als Feministin, denn man kann nicht Feministin gewesen sein …
Aber natürlich in dem Kontext, in dem Feminismus entstanden ist, den ich zum Teil auch mitgeprägt habe. Bis heute sind ja die ökonomischen oder sozialen Verhältnisse immer noch ungleich. Im globalen Zusammenhang ist ja offensichtlich, wie immer noch Frauen benützt und eingesetzt werden – auch durch Kulturen und Religionen, was ja bei uns genauso war. Feminismus ist aber in expandierenden Zeitprozessen immer wieder anderen Kontexten zugeordnet.

Es hängt bis heute von Kultur und Erziehung ab, wie frau sich Dominanzgebaren gegenüber verhält … Ob es möglich ist, neue Handlungsweisen zu erproben.
Das ist schon richtig, allerdings, welche Frau kann sich in den repressiven Staaten selbst erproben oder selbst unabhängige Handlungsweisen setzen. Das ist etwas völlig Unmögliches. In den 1960er Jahren war die Auseinandersetzung mit kulturellen, gesellschaftlichen Unterschieden noch nicht so stark vorhanden, so stark im Bewusstsein, auch das Wissen von den kulturellen oder religiösen Unterschieden war noch nicht so deutlich angesprochen.
Ich habe es einmal in den USA der späten 1970er Jahre bei einer feministischen Diskussion erlebt, dass sich eine Afroamerikanerin zu Wort meldete und klar und deutlich feststellte: „Wo sind wir? Ihr sprecht immer nur von weißen Frauen und ihrem Feminismus. Wir, die auch in Amerika leben, wo sind wir dabei?“ Das ergab eine interessante und heftige Diskussionsbasis. Bei einer anderen Diskussionsveranstaltung in Deutschland zur weiblichen Genitalverstümmelung meinte eine afrikanische junge Frau in der Diskussion mit deutschen Feministinnen: „Wir bestimmen selbst, wie wir mit diesem Problem umgehen. Wir kümmern uns schon selbst darum, ihr braucht uns nicht zu sagen, wie wir vorgehen sollen. Wir müssen es selbst tun und wir tun es auch selbst.“ Dort prallte der europäische Feminismus auf einen Feminismus, der aus einer anderen kulturellen Zuordnung entsteht. Ich habe auch eine Installation zu diesem Thema für eine Ausstellung in Berlin gemacht.

Selbst Vorschläge von außen wirken leicht arrogant; in manchen Kulturen sind ja die Handlungsmöglichkeiten sowohl von Männern als auch von Frauen sehr eingeschränkt.
Genau, Feminismus ist eine politische Haltung, die je nach Kultur oder Religion ganz anders erarbeitet werden muss. Männer haben die Möglichkeit, Identität mit Macht- und Gewaltverhalten zu erreichen, Frauen verweigern sich dieser Identitätsbildung. Aber das kann nicht alleine mit Diskussionen gelöst werden, das ist ein langer Prozess.

Zurück zur Kunst: Was würden Sie jungen KünstlerInnen heute raten, um ihre Anliegen zu verwirklichen?
Naja, sie müssen konzentriert arbeiten, viel experimentieren, nicht sofort glauben, das ist jetzt das Kunstwerk. Die Dinge von ganz verschiedenen Seiten her betrachten, analysieren. Viele Variablen kommen von verschiedenen Kontexten. Wie ein Gedanke in einer andern Kultur sich ausdrücken lässt. Das ist ein künstlerisch-reflektierender Prozess. So könnten Arbeiten entstehen, mit denen die jungen Künstlerinnen und Künstler zufrieden sind.

Sie haben wahrscheinlich auch vieles, das sie sich ursprünglich überlegt haben, wieder verworfen …
Sagen wir eher, liegenlassen …

Eine abschließende Frage: Was sind Sie bisher noch nie gefragt worden?
Keine Ahnung (lacht).

 

Das VALIE EXPORT Center in Linz.

Linz erwirbt im April 2015 das VALIE EXPORT Archiv. Der Vorlass besteht aus Kunstwerken, Skizzen, Entwürfen, Negativen und weiteren umfangreichen Archivmaterialien aus dem Schaffen der in Linz geborenen Künstlerin. Das Archiv wird in den Sammlungsbestand des LENTOS Kunstmuseum eingebracht, das damit die größte Erweiterung seit Ankauf der Sammlung Gurlitt in den 1950er-Jahren erfährt. Mit diesem Schritt legt die Stadt Linz gleichzeitig den Grundstein für den Betrieb eines VALIE EXPORT Centers, einer internationalen Forschungsstätte für Medien- und Performancekunst.

Das VALIE EXPORT Archiv umfasst neben mehreren Kunstwerken wichtige Dokumente und Werkskizzen zu allen Schaffensperioden. Darin enthalten sind u. a. Projektskizzen, Konzepte, ein umfassendes Foto-, Film- und Videoarchiv, Korrespondenzen, Informationsmaterialien (Plakate, Folder etc.), Zeitungsausschnitte (Rezensionen, Reportagen etc.) und eine Bibliothek sowie Originale zu verschiedenen Werkgruppen.

Aufbauend auf dem VALIE EXPORT Archiv wird die Stadt Linz in Kooperation mit der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz ein international ausgerichtetes Forschungszentrum, das „VALIE EXPORT Center. Forschungszentrum für Medien- und Performancekunst“ betreiben. Der VALIE EXPORT Center ist damit neben dem Adalbert-Stifter-Institut des Landes OÖ. die zweite Forschungsstätte in Linz, die sich explizit dem Werk einer bedeutenden KünstlerInnenpersönlichkeit dieser Stadt widmet.

Ziel des Forschungszentrums ist es, professionelle Rahmenbedingungen für die wissenschaftliche Erforschung und Aufarbeitung des Archivs und die Vermittlung seiner Inhalte zu schaffen und dessen öffentliche Zugänglichkeit zu ermöglichen. Als Standort ist eine Unterbringung in der Tabakfabrik Linz vorgesehen.

Das VALIE EXPORT Center nahm mit Juni 2015 seinen Betrieb in Form einer Aufbauphase auf. Voraussichtlich ab 2017 beginnt das Center seinen Regelbetrieb. Mit kuratierten Einblicken kann man laut Pressekonferenz aber bereits 2016 rechnen.

highly emotive, introspektiv

 

Noch bis Anfang Oktober ist im Lentos die bisher größte Einzelschau einer der international einflussreichsten Künstlerinnen zu sehen: Cathy Wilkes hat Disparates installiert, Figuratives, Objekthaftes. Eine Menge Beziehungsgeflechte ermöglichen weitläufige Gedanken. Wer traut sich in den großen, spärlich befüllten Raum?

Dass das Werk der britischen Künstlerin mit Emotionen zu tun hat, scheint common sense in der Besprechung von Cathy Wilkes – und ist wohl auch wesentlicher Teil ihres Werkes. Betritt man den großen Raum, und die Autorin hat dies unter gänzlich verschiedenen Umständen getan, einmal bei der gut besuchten Ausstellungseröffnung, ein anderes Mal an einem Ausstellungstag, der weniger Besucherinnen und Besucher bereithielt, empfängt einen zunächst einmal der Raum selbst. Ein Raum, der ob der weitgehenden Leere zuerst unerwartetes Durchatmen ermöglicht, während man eine verloren wirkende Objektgruppe ausmacht, die sich trotz Abwesenheit von mächtiger Masse behauptet.
Nähert man sich der Objektgruppe, den „Figuren und Objekte von 5 Arbeiten“, oszilliert ab dem ersten Moment das Empfinden zwischen großer Würde, existenzieller Schäbigkeit, Detailreichtum und Verlust – eine Gemengelage, die vielleicht bezeichnend für das innerliche Dasein schlechthin ist, oder sogar für eine Seinsgeschichte der Menschheit selbst. Innerhalb der begehbaren Installation wird der neugierige schweifende Blick gefangen genommen von minimiert wirkenden Puppenfiguren, die in Brokatgewändern die Reste einer großen, lange vergangenen Zeit zu zitieren scheinen, ein anders Mal in beklemmende Ärmlichkeit gehüllt Assoziationen zur näheren Zeitgeschichte oder den aktuellen humanitären Katastrophen wecken. Gemeinsam mit Scherben, Objekten und kleineren Gegenständen sind Figuren zu eindeutigen und doch rätselhaften Szenerien verwoben; ein größeres Gebilde am Boden oder einige winzige Bündel vermeint das menschliche Auge als qualvoll verendetes Tier oder als mehrere am Boden liegende Säuglinge zu erkennen.

„Säuglinge“, die so gar nichts mit lebensecht nachgebildeten Puppen zu tun haben, sondern vielmehr in einer hohen Kunst der Minimierung manchmal lediglich aus einem Stück Knäuel und Stoff bestehen: Diese figurativen Elemente, die sich bei genauerem Hinsehen lediglich als Fragmente „von etwas“ erweisen, beziehungsweise das erahnte „Ganze“ lediglich innerhalb des Gesamtsystems der Installation spürbar machen, wirken in der Beobachterin, im Beobachter wie unmittelbar abrufbare Trigger, die etwas Starkes auslösen. Man möchte etwa diese herzzerreißend verloren wirkenden Bündel aufheben und in den Arm nehmen. Und vielleicht gerade deshalb, weil man über das Konkrete im objekthaften Geschehen nichts wissen kann, treten an die Stelle dieses Nicht-Wissen-Könnens die triggerhaft ausgelöste Erinnerung an persönliche Emotion, der Instinkt oder Bilder von gemeinsamer kultureller Erfahrung. Beziehungsweise tritt man möglicherweise selbst mitten hinein in ein Bedeutungs- und Beziehungsgeflecht, das Will Bradley als das Wesentliche für Wilkes‘ Arbeit identifiziert hat: „Den Versuch, sich auf ein System von Objekten einzulassen in vollem Bewusstsein um die komplexen Bedeutungen und Beziehungen, die ein solches System hervorbringen kann“1.

Als Besonderheit der Ausstellung sei an dieser Stelle angemerkt, dass selten der Unterschied von fotografischer Objekt-Abbildung und einer tatsächlich räumlichen Präsenz und Wirkung von figurativen Szenerien so deutlich hervortritt wie bei Cathy Wilkes Arbeit. In diesem Zusammenhang sei auf das veröffentlichte Bildmaterial der „Puppen“ und „Figuren“ verwiesen, die in der räumlichen Präsenz des Ausstellungsraums zweifelsohne andere Wirkungen entfalten. Und ebenso an dieser Stelle angemerkt sei eine andere Beobachtung, die aus den eingangs erwähnten unterschiedlichen Situationen der Ausstellungsbesuche resultiert: Wurden bei der Ausstellungseröffnung die Besucher und Besucherinnen, sozusagen aus der Ferne beobachtet, in dieses begehbare und rätselhafte Environment aus existenzieller Würde und Not wie von selbst involviert, sieht man sich jenseits einer Ausstellungseröffnung der einsameren und auch analytischeren Involvierung der eigenen Person in dieses System gegenüber.

Cathy Wilkes Arbeiten werden wegen ihrer unmittelbaren Wirkung oft mit Begriffen aus dem Theater beschlagwortet: als Bühnenbild, Kulisse, Kammerspiel in Moll – oder ähnlichem. Etwas ist passiert, etwas wurde (oder wird) gespielt in diesem Bühnenbild; in einem Environment von Kulisse oder Szenerie, wo Figuren oder BesucherInnen gleichermaßen zu DarstellerInnen gemacht werden können. So versammeln die „Figuren und Objekte von 5 Arbeiten“ verschiedene Werke – unter anderem etwa zwei bei der Biennale 2013 gezeigten Werke, „Ohne Titel (Possil, at last)“, „Ohne Titel (Biggar)“, sowie „Ohne Titel, Tramway“ von 2014 aus Glasgow. Anstatt einer herkömmlichen Werkschau wurden sie neu arrangiert und neu zueinander in Beziehung gesetzt. Ein künstlerischer Zugang, den der Tate-Kurator Nick Hackworth bereits anlässlich Wilkes Turner-Preis-Nominierung 2008 als „constantly involving installation“ bezeichnet hat und auch aktuell gemeint haben könnte.2
Dies ist insofern interessant, als dass durch das ständig neue miteinander in Beziehung setzen der Einzelbestandteile immer neue Aufladungen und Wirkungen zwischen den Objekten entstehen – und diese immer etwas andere Auswahl oder Anordnung von Objekten die starke Aufladung erklärt. Auf der Ebene „eines Geschehenen, einer Geschichte“ gibt es an das Werk Wilkes, neben den Begriffen aus dem Theater, auch eine Annäherung über den Begriff der Archäologie (etwas ganz anderes war in einer anderen Zeit) oder der des Traumes (etwas passiert auf einer anderen Realitätsebene oder im persönlichen Zeitsprung); und die BeobachterInnen sind aufgerufen, sich mit diesem Vergangenen, mit diesem kulturell Erinnerten – oder auch mit dem ins Abseits geratene, mit dem Verlust, mit diesem Eingefrorenen – gleichsam als lebendige Archäologen ihrer eigenen Assoziationen auseinanderzusetzen. Cathy Wilkes spricht selbst davon, „Mut zum Sehen“ zu machen.
Andererseits eröffnet dieser Zugang, sozusagen im weit aufgeschlagenen Inbetween von Theater, Traum und Archäologie, eine Interpretation eines künstlerischen Zugangs, der wie eine künstlerische Formabwägung auf die Wahrnehmung von Welt rückwirkt: So sind Teile der 2014er Glasgow-Präsentation „Ohne Titel“ in Glasgow entlang eines Tramway-Schienenstrangs angeordnet worden, der das Gefühl von „etwas ist passiert“ auch als Tatort konnotiert, und damit die BesucherInnen quasi zu Zeugen eines Geschehnisses – oder Zeugen ihrer subjektiven Sicht auf die Geschehnisse – macht.

Ist die Welt nun eine untergegangene Zivilisation, eine Erstarrung, ein Schaupiel, ist sie ein Ort der Betrachtung, der Introspektion, oder ist sie ein Tatort? In der Lentos-Schau erscheint diese Formabwägungen jedenfalls gut ausbalanciert zu sein zwischen der bereits angesprochenen Installation und zwei weiteren Tableaus, die vielleicht eher auf das museale Element Bezug nimmt: Auf zwei weiteren Plattformen sind auf Metallgittern kleinere Objekte befestigt (Bilder, Holz, Metall, Aussortiertes, Alltagsgegenstände, Puppen, Maschinenteile, anderes). Das Metallgerüst rückt die Objekte in Distanz, macht sie im Gegensatz zur anderen Installation unbegehbar. Ist die Welt also doch auch, trotz dieser involvierenden Aufladungen, trotz der eigenen Involvierung, sozusagen auch distanziert oder sogar museal betrachtbar?

Ein wichtiger abschließender Aspekt, der hier angesprochen sein soll, ist die Frage, ob Cathy Wilkes Werk politisch ist. Die Frage drängt sich im Zusammenhang mit Wilkes innerlich-subjektiver Rezeption ihres Werkes geradezu auf – noch einmal Nick Hackworth im O-Ton: „emotive, highly individual“. Im neuen Lentos-Ausstellungkatalog bevorzugte man das Wort „introspektiv“, das sicherlich zutreffend ist, erkennt man doch in Wilkes Arbeit eine Geometrie, eine genaue „innere“ Vermessung, Überprüfung und Ausbalancierung von Gegebenen. Lentos-Direktorin Stella Rollig verweist im Zusammenhang des Politischen auf die feministische Bürgerinnenrechtsbewegung-Parole „Das Private ist politisch“ – und auf die soziale Dimension des Familiären, des Ökonomischen, konkret etwa der Fabrikschließungen (die in „Possil“ verhandelt werden oder dem Verfall der Stadt „Biggar“).3 Zweifelsohne erweckt die Lentos-Schau darüberhinaus Assoziationen mit Not, Verlust, Flucht und Menschenwürde, appelliert sozusagen auch an das sozialpolitische Gewissen der Menschen – wenngleich diese Wirkung auch nicht in ihrem direkten Zweck intendiert sein mag. Dass Cathy Wilkes das Innerste des Menschen aber sehr wohl als in Not geratenen Hort der äußeren Welt verortet, könnte eine Ausstellungsbeteiligung belegen, die 2013 im Kunsthaus Bregenz unter dem Gesamttitel „Liebe ist kälter als das Kapital“ stattfand. Hier standen bei Wilkes beinahe nackte Schaufensterpuppen an der Supermarktkasse, Konsumreste lagen am Förderband. Auch hier drängt sich eine Idee von Reste-Reduktion auf, sozusagen als quantifizierbare Restemotion im Inneren, oder eine Müllmaterialität, die nur mehr auf Konsum-Trigger zu reagieren fähig ist. Und als Titel der Gesamtschau „Liebe ist kälter als das Kapital“ benannte dieser Zusammenhang das Innere in seinem vielleicht bittersten Verlust. Insofern stimmt die Lentos-Schau geradezu hoffnungsfroh, da sie trotz der bereits angesprochenen Themen des Verlustes und der Not eine ungemeine Schönheit, Würde und Fähigkeit des Menschen anerkennt: die Fähigkeit des Sehens, des Nachspürens von detailreicher Materialität, der Sensorik, dem Raumempfinden. Und vielleicht als politischste Aussage überhaupt macht es die eigene innere Sicherheit zum einzigen Ort der Überprüfung der äußeren Faktenlagen.

Bleibt am Schluss noch zu sagen: Es liegt ein wenig im Wesen der Schau, streunende, staunende und flüchtige Gedanken zu entwickeln. Dies aber umso mehr als Empfehlung! Und: Wer traut sich noch bis Anfang Oktober in den großen, spärlich befüllten Raum des Lentos um seine eigene Sicht zu entwickeln?

1    Will Bradley, Ausstellungskatalog zu Cathy Wilkes
2    www.tate.org.uk; „TateShots“, zu den 2008 Turnerpreis-Nominierten Goshka Macuga und Cathy Wilkes
3    www.lentos.at

www.lentos.at

Das LENTOS Kunstmuseum Linz präsentiert die bisher größte und umfassendste Schau der für den Turner Prize nominierten Künstlerin Cathy Wilkes (geb. 1966 in Belfast, lebt und arbeitet in Glasgow). Die Ausstellung versammelt Arbeiten aus mehr als einem Jahrzehnt, darunter mehrere große skulpturale Installationen, Gemälde, Arbeiten auf Papier und Archivmaterial. Tate Liverpool in Zusammenarbeit mit dem LENTOS Kunstmuseum Linz und dem Museum Abteiberg, Mönchengladbach. Die Schau ist noch bis 4. Oktober zu sehen.

The Act of Killing

Im November ist Österreich-Kinostart von Joshua Oppenheimers neuem Film „The Look of Silence“. Es ist das Nachfolgeprojekt der Dokumentation „The Act of Killing“, einer der bestürzendsten Filme der letzten Jahre: Indonesische Kriegsverbrecher „re-enacten“ als Schauspieler ihre Taten. Lisa Bolyos bespricht diesen Film als zeitlosen Beleg über die abgründigen Seiten der menschliche Verfasstheit und als Beleg für die Kraft der Kunst – nicht zuletzt als Einstieg in den im Herbst anlaufenden neuen Film.

„The Act“ bedeutet zweierlei: „etwas tun“ und „etwas auf die Bühne bringen“. In Joshua Oppenheimers „The Act of Killing“ bringen die Mörder der Indonesien-Massaker von 1965 ihr Morden auf die Bühne – nur, dass da keine Schauspieler sind, die für sie sprechen, und kein Drehbuch, das ihnen zum Auswendiglernen vorgelegt wurde. „Act“ bedeutet aber auch Akte, also Faktensammlung. Und der Film erweist sich dieser Bedeutung als würdig – er leistet einen maßgeblichen Beitrag dazu, dass über die Fakten von 1965 langsam gesprochen werden kann.

Anwar Congo wirkt im ersten Moment wie ein Gigolo, schlaksig, groß, fescher Anzug, er tänzelt ein bisschen vor der Kamera, geht mit seinem Freund Herman zum Bowling; früher haben sie in der cineastischen Schattenwirtschaft Medans Tickets für Hollywoodfilme verkauft; aber das wollten die Kommunist_innen verbieten, sagt Congo, und kurz darauf haben sie die Kommunist_innen umgebracht. Mit Draht erwürgen, das erzeugt keine Flecken auf der Kleidung, und es waren ja hunderte oder tausende, wie hätte man denn ausgesehen. Später, als er sich selbst auf Video bei dieser unglaublichen Variante eines Reenactments des Mordens sieht (die gedrehten Szenen werden gemeinsam angesehen und nachbesprochen), moniert er, dass er fälschlich weiße Hosen trägt. Wer würde denn beim Massenmorden weiße Hosen tragen! Unsinnig, nicht wahr.
Zuerst schluckt man und denkt, dass man sich vielleicht geirrt hat, dass das kein Dokumentarfilm ist, sondern irgendetwas in der Kategorie „creative non-fiction“. Man möchte nicht leugnen, dass alles hier Inszenierte genau so passiert ist, aber dass hier die echten Täter vor der Kamera stehen, und sie sind keine talking heads, sie sind Schauspieler ihres eigenen Täterseins – das ist so denkunmöglich, dass man nach Ausflüchten sucht. Im kontemporären Dokumentarfilm ist Reenactment ein vielerprobtes Mittel: weil etwas schwer erzählbar ist, weil es Distanz braucht, weil die „Echten“ nicht bereit sind zu sprechen. In Joshua Oppenheimers „The Act of Killing“ bestimmen die befragten Täter des Massakers von 1965, wie sie ihre Taten erinnern möchten. Und sie entscheiden sich dafür, sie nachzuspielen.

Diesen Sommer war das offizielle Indonesien damit beschäftigt, den siebzigsten Jahrestag seiner Unabhängigkeit von der niederländischen Kolonialherrschaft und der japanischen Besatzung zu feiern. Auf den runden Fünfziger, der sich auch anbieten würde, hat man „vergessen“: Fünfzig Jahre ist das Massaker von 1965 her, dem nach heutigen Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen eine Million Menschen oder vielleicht auch weit mehr zum Opfer fielen. Als geschichtlicher Abriss soll Folgendes genügen: Einem versuchten Militärputsch gegen die Diktatur unter Sukarno begegnete General Suharto mit einem Gegenputsch von Rechts, an dessen Ende die Entmachtung Sukarnos stand. Dieser Gegenputsch produzierte gleichsam den Gründungsmythos des Suharto-Regimes: dass kommunistische Kräfte, organisiert durch die PKI (die Kommunistischen Partei Indonesiens), sich der Regierung bemächtigen wollten, und dass die Niederschlagung dieser Kräfte die Freiheit Indonesiens bedeutete. Die Folterungen und massenhaften Ermordungen wurden von Armee und paramilitärischen Organisationen initiiert und dauerten zentral bis Anfang 1966, in Teilen des Landes aber bis 1968. Zielgruppe der Verfolgung waren jene Indonesier_innen, die als kommunistisch identifiziert wurden, und darüber hinaus die chinesische Minderheit Indonesiens. Suharto regierte das Land bis zu seinem Tod 1998, seither finden regelmäßig Wahlen statt. Eine Aufarbeitung der Massaker ist noch nicht in Sicht.

Joshua Oppenheimer hat mit „The Act of Killing“ einen Dokumentarfilm über indonesische Geschichtspolitik gedreht. Er wollte mit den Opfern sprechen, was ihm verboten wurde, und hat sich dann den Tätern zugewandt.
Die Einzigartigkeit seines Films besteht darin, dass es zwischen dem Morden und dem Sprechen über das Morden keinen Filter zu geben scheint. Kein Bedürfnis, zu verschleiern, die eigene Haut moralisch zu retten, keinen Wunsch, sich zu distanzieren. Es ist das die laborartige Situation einer Gesellschaft, in der auch fünfzig Jahre nach dem Massenmord nichts aufgearbeitet, keine Entschuldigung ausgesprochen, keine Einsicht gewonnen wurde. Gemeinhin ist Geschichtspolitik ein Konfliktfeld. Gesellschaften – man sehe sich nur die postnazistischen an – einigen sich nicht schnell mal auf ein gemeinsames Geschichtsbild, und erst recht nicht auf eines, das sich mit den Opfern solidarisiert. Diese Prozesse sind von Kämpfen getragen und sie sind zäh. Aber in der indonesischen Gesellschaft nach 1965 ist der Druck, die Schuld einzugestehen und die Opfer anzuerkennen, jung und gering und wird ständig wieder zurückgedrängt.
„The Act of Killing“ wirkt darum wie eine gelungene Dystopie: Man sieht den Mördern ein halbes Jahrhundert später dabei zu, wie sie ungerührt ihre Verbrechen nachspielen. Wie Kinder, die aus ihren Lieblingsfilmen ein Medley machen und sich selbst zu Superheld_innen, stellen die Protagonisten ihre Konfrontation der Opfer mit Folter und Tod nach. Sie inszenieren sich als Hollywood-Gangster in blau-verrauchten Kellern, in denen sie die Ermordung von Kindern und Erwachsenen spielen. Und ja, sagen sie, diese Gangsterfilme waren ihnen schon damals, beim wirklichen Morden, Vorbild. Sie stellen Brandanschläge und Überfälle auf ganze Siedlungen dar und zwingen die Bevölkerung vor Ort, mitzuspielen, sie erzählen sich lachend von Vergewaltigungen von Jugendlichen, und nur ganz, ganz selten gibt es kurze Momente der Unsicherheit, des Überspielens, „des Zweifelns“ wäre schon zu viel gesagt. Ob es Stolz ist, mit dem die Mörder sich an ihrem jahrzehntealten, staatlich legitimierten Narrativ festklammern, oder der letzte Ast, den sie noch ergreifen konnten, um nicht vor sich selbst zu kapitulieren? Das kann man beim Zusehen nicht durchschauen. Und es ist am Ende auch egal, denn hier geht es nicht um ein paar Einzeltäter, die noch aufzuspüren sind. Hier geht es um eine gemeinsame, große und zu weiten Teilen über jede Irritation erhabene Erzählung.

Das „Reenactment“ der Täter mag befremdlich wirken, aber das ist es letztlich nur wegen der Direktheit, mit der sie zum Erzählen bereit sind. Denn sieht man sich die Geschichte von vorne bis hinten an, so ist in ihr so viel Enactment enthalten, so viel strategisch konstruierte Unwahrheit zur Vorbereitung des Verbrechens, so viel Propaganda in den Involviertheiten der USA, Großbritanniens und Australiens, in der gleichgeschaltenen Medienberichterstattung in Indonesien wie im Westen, dass man sich zuletzt nicht mehr wundert, wenn die Grenzen von truth und fiction verschwimmen.
Die Kritik, die Oppenheimer sich durchaus gefallen lassen muss, ist, dass man vor lauter Acting und Reenacting zwischenzeitlich nicht mehr weiß, wie die Leute eigentlich dazu kamen, die Massaker der Armee so gründlich auszuführen. Denn letztlich ist es eben truth und nicht fiction, dass ein großer Teil der indonesischen Bevölkerung in diesen Monaten des Jahres 1965 ermordet wurde.
Zum Ende hin geht ein kleiner Knoten auf. Zwar sagt Oppenheimer später, dass es in „The Act of Killing“ keinen Moment der Erleichterung gäbe. Aber es liegt doch eine Nuance von Befriedigung darin, dass Anwar Congo einen Punkt erreicht, an dem er nicht mehr spielen kann – als er im blaurauchigen Gangsterfilm-Keller selbst das Opfer darstellen soll. Beim späteren Ansehen des Videos philosophiert er, dass er nun vielleicht wisse, wie sich ein Opfer gefühlt hat. Da widerspricht Oppenheimer ihm – nein, denn das damals war Mord und das jetzt ist ein Film. Der Unterschied scheint in Congos Bewusstsein kaum Bedeutung zu haben. Aber als er wieder antritt, einen Mord zu re-inszenieren, muss er sich erbrechen und verlässt die Szene.

Schlussendlich muss man das Reenactment bei Oppenheimer wieder auf seine Funktion als Forschungsmethode runtertunen. Mit dem Ziel vor Augen, Wahrheitsfindung zu betreiben, überlässt er den Protagonisten die Erzählweise, die ihnen am plausibelsten erscheint, und sie wählen etwas, was für die Zuschauerin als dem Wahnsinn nahe wirkt. Davon darf man sich nur so und so sehr beeindrucken lassen, sonst tappt man in die Falle, das ganze Massaker als Produkt von verrückten, irgendwie abgespaceten und dabei verstörend gut performenden Einzelpersonen zu verkennen, die entweder durch Verdrängung verrückt geworden sind oder das vorher schon waren. Geht die Methode über das Erzählen hinaus? Ist sie therapeutisch im Sinne eines Erkenntnisgewinns der Protagonisten? Sprich, speibt Anwar Congo sich vor sich selbst an? Beginnt hier ein Prozess der Anerkennung? Diese Fragen bleiben vorerst offen. Sie werden erst beantwortet werden, wenn es den Nachkommen der Opfer gelingt, ihre Stimmen kollektiv zu erheben.

Im November kommt Oppenheimers Nachfolgeprojekt „The Look of Silence“ ins Kino. Darin geht es um die Täterkonfrontation durch die Familie eines Ermordeten.

 

Der Regisseur Joshua Oppenheimer wendet sich im aktuellen Film „The Look of Silence“ noch einmal den indonesischen Massakern der 1960er Jahre zu.

Lukas Foerster schreibt auf perlentaucher.de über den aktuellen Film „The Look of Silence“

Interviews mit Joshua Oppenheimer anlässlich seines neuen Films in Negativ und der Berliner Zeitung.

Performance aka Hallo du

 

In der Kunst und vielleicht in der Performancekunst im Speziellen liegt die Möglichkeit zur Begegnung zwischen Menschen begraben. Diese Möglichkeit ernst zu nehmen, haben einige sich zum Ziel gemacht: Über die Fabrikanten, Live Art und chinesische PerformerInnen schreibt Theresa Gindlstrasser.

Kunst der Begegnung, das ist ein von Boris Nieslony initiiertes und kuratiertes Format, eine Art east-west-study-project, eine Art nomadisches Artist in Residence Programm. Seit 2005 werden jedes zweite Jahr Begegnungen zwischen künstlerischen Positionen aus Asien und dem deutschsprachigen Raum organisiert. 2013 beispielsweise reisten Performancekunstschaffende von den Philippinen nach Deutschland, Österreich und die Schweiz und machten in Linz halt für das von den Fabrikanten mitorganisierte Live Art Festival Die Kunst der Begegnung. Dort dann trafen diese Positionen mit jenen der mit-eingeladenen Performancekunstschaffenden aus Österreich aufeinander. Im Rahmen einer offenen Laborsituation haben insgesamt etwa 20 Personen vor Publikum in der Tabakfabrik versucht, einander mit dem jeweils eigenen Performance-Werkzeug zu begegnen.

Dieses Jahr wurden acht Kunstschaffende aus China eingeladen für folgende Tour: Wien, Linz, Basel, Burgbrohl in Rheinland-Pfalz, Essen, Köln, Bonn und Liège in Belgien. Die beteiligten Initiativen und Kulturvereine teilen sich die Kosten und kümmern sich gemeinsam um eine Reisebegleitung. In Linz kooperieren die Fabrikanten mit dem Kulturverein FAMA, mit dem Performancelaboratorium und dem bb15 offspace, wo am 18. September ein Showing stattfinden wird. Stand bei den vorangegangenen Veranstaltungen immer der Prozess und das gemeinsame Performen im Vordergrund, ist bei diesem Showing die klassische Einzelperformance vorgesehen, der prozesshafte Kontakt soll anderweitig stattfinden. Nämlich durch private Unterbringung von Feng Weidong, He Chengyao, Li Xiaomu, Qiao Shengxu, Wang Chuyu, Xiang Xishi, Zhou Bin und Chen Jin bei Menschen in Linz und durch ein abschließendes groß angelegtes Reflexionsgespräch nach dem Performance-Showing.

Nur einer aus der Gruppe der chinesischen Kunstschaffenden spricht Englisch, so nennt denn auch Wolfgang Preisinger von den Fabrikanten als eines der erklärten Ziele der Veranstaltung: dass „abseits der verbalen Sprache und des Nicht-Verstehen-Könnens eine Verständigungsebene berührt wird, die jenseits dieser liegt“. Das ist es auch, was Boris Nieslony anspricht, wenn er die Kunst der Begegnung als den Versuch des Berührens des Unberührbaren charakterisiert. Das Unberührbare, das Nieslony hier meint, lässt sich vielleicht mit dem Begriff der Undarstellbarkeit greifen. Die Gemeinschaft, also das Zusammensein der Menschen, ist wohl in der Art undarstellbar, als es, sobald ein solcher Versuch unternommen wird, zu einem monströsen Überbegriff wie Volk oder Staat mutiert. Das Unberührbare oder Undarstellbare der Gemeinschaft zeigt sich in dem die Dinge gemeinsam in Erscheinung treten. Diesen Gedanken weiterführend, beharrt Nieslony auf der Idee, dass Performance-Kunst stets zeigend und nicht beschreibend verfahren solle. Dann kann geschehen, was geschehen soll: „Performance als Bild gesellschaftsbildender Vorgänge und Handlungen.“

Insofern wäre Performance Kunst stets auch in Verbindung zu bringen mit dem Begriff der Gabe. Und genau als eine solche Gabe soll die Begegnung zwischen den jeweils eingeladenen Kunstschaffenden und den Organisierenden in Europa und dem an den Veranstaltungen teilnehmenden Publikum im Rahmen des Projekts Kunst der Begegnung auch funktionieren: als großzügige beiderseitige Gabe. Diese Absage an hierarchisierende Pädagogikkonzepte im Umgang mit Kunst prägt die Arbeit von Boris Nieslony und den Fabrikanten gleichermaßen. 1989 fand die erste Begegnung statt, seither herrscht reger Austausch zwischen Linz und Köln, wo Nieslony lebt und verschiedene Kunstinitiativen vorantreibt. Der 1945 in Deutschland geborene Künstler arbeitete zunächst mit Aktionen im öffentlichen Raum. 1985 war er Mitbegründer der Performancegruppe Black Market International. 1986 wurde die Art Service Association für Performancekunstschaffende und Theoriebildende, kurz ASA, gegründet. In verschiedenen Workshops und auch Lehrveranstaltungen an der Universität Linz versucht Nieslony, die Teilnehmenden für das, was schon da ist, zu sensibilisieren. Neben RedSapata und dem Verein FAMA stellen also Nieslony, die Fabrikanten und auch das Performancelaboratorium, dessen Initiatorin Elisa Andessner stark von Nieslonys Arbeitsweise beeinflusst wurde, ein starkes Netzwerk für Performance-Kunst im Sinne der Live Art für Linz dar.
Wolfgang Preisinger argumentiert für die Notwendigkeit eines solchen Netzwerks: „In Linz ist Live Art, zu der auch Performance Art gehört, total unterrepräsentiert. In ihr spiegeln sich für mich die vitalsten und überraschendsten kulturellen Neuerungen. Als Reaktion und Evolution unserer mediengetriebenen Wirklichkeitswahrnehmungen konfrontieren uns diese Kunstformen mit sehr unmittelbaren – oder wie beim aktuellen Projekt HOTEL OBSCURA – mit sehr intimen Begegnungen. Und eine globalisierte Welt braucht auch auf künstlerischer Ebene einen intensiven Austausch, damit nicht alles rein den Gesetzen der Ökonomie, der Effizienz, des Krieges oder der reinen Vernunft gehorcht.“

Der Begriff der Live Art, so wie er von den Fabrikanten verstanden werden will, kennzeichnet eine Art von Performance-Kunst, die vor allem ein Setting für das Publikum organisiert. Innerhalb dieses Settings soll spontan auf die Gegebenheiten reagiert werden, dergestalt ist das, was dann Performance genannt werden kann, eigentlich ein Ergebnis dessen, was sich zwischen Publikum und Performenden ereignet, oder um in der oben angeschnittenen Terminologie zu bleiben, was dort gemeinsam in Erscheinung tritt. Kunst der Begegnung, der Name soll eben Programm sein. Weil nicht nur geht es in diesem Projekt um eine Begegnung zwischen Kunstschaffenden aus China und solchen aus Europa. Vor allem geht es um eine spezifische Form der Kunstproduktion bzw. Kunsterfahrung. Dass nämlich Kunst nicht für einsame Konsumierende gemacht wird, sondern es zu einem gemeinsamen Erleben kommt.

Ganz in diesem Zeichen steht auch ein anderes aktuelles Projekt der Fabrikanten, das oben schon erwähnte Hotel Obscura. Da kooperieren seit zwei Jahren Kunst- und Kulturinitiativen aus Deutschland, Australien, Frankreich und Griechenland gemeinsam mit den Fabrikanten und organisieren an allen diesen Orten diverse Veranstaltungen. Nämlich Workshops, wie beispielsweise in Linz Ende Januar 2015, und Vorträge und Live Art Events. Nächster Programmpunkt dieses zeit- und raumgreifenden, durch Mitteln der EU geförderten Projektes ist Hotel Obscura Austria im magdas Hotel in Wien am 9. und 10. Oktober. Für 15 Minuten können kleine one-to-one Sequenzen in den Hotelräumen besucht werden. Sprich, immer eine Person aus dem Publikum trifft auf eine Situation, in der gemeinsam eine flüchtige, doch intime Begegnung geteilt werden kann.

Sowie Speed Dating, nur anders. Oder eigentlich ganz anders. Weil der Masterplan hinter diesen Projekten sieht natürlich schon vor, die beteiligten Menschen durch die Kunst, also durch die Begegnung, also durch die Kunst der Begegnung aneinander transformieren zu lassen. Also Speed Dating mit Ausblick auf dauerhafte Romanze. Im gesicherten Kunstkontext lassen sich Möglichkeiten des Miteinander ausprobieren, die im bestmöglichen Falle auch den Umgang mit der Welt da draußen und den Menschen in dieser Welt verändern. Wenn wir uns nämlich in Situationen wie dem Hotel Obscura so verhalten Als-ob-wie-wenn, wir also auf eine Art und Weise spielen und es immer auch eine andere Möglichkeit der Reaktion geben könnte, dann zeigt sich dort, dass der Modus des Als-ob-wie-wenn eine grundlegende Kategorie überhaupt sein kann. Und ein Als-ob-wie-wenn reißt scheinbar unausweichliche unabdingbare Konventionen der Kommunikation auf, stellt diese in Frage und andere Möglichkeiten in Aussicht. Das Problem am Speed Dating mit Ausblick auf eine dauerhafte Romanze ist natürlich immer der unsichere Boden, auf dem wir uns da bewegen. Wenn das schlecht organisiert ist, dann schmeckt er nach Manipulation und Pädagogik und dann wird das mit dem Verlieben nix. Genau in diesem vibrierenden Dazwischen von Zufälligkeit und Planhaftigkeit versuchen die hier vorgestellten Projekte zu agieren und laden zum selber Ausprobieren ein.

Die Kunst der Begegnung – PerformancekünstlerInnen aus China, bb15 offspace,
18. September, 19.00 h
Hotel OBSCURA AUSTRIA, magdas Hotel in Wien, Freitag, 9. Oktober, 18.00–23.00 h
und Samstag, 10. Oktober, 15.00–23.00 h

www.fabrikanten.at

Im Labyrinth der T/Raummaschine

Im Außenschauraum des KunstRaums Goethestrasse xtd. ist noch bis Ende September Bernd Oppl zu sehen. Pamela Neuwirth schreibt über die auf wenigen Quadratmetern und besonders nachts ihre Wirkung entfaltende Ausstellung „Keep it all inside“.

Es war einmal ein Telefonshop, der vom KunstRaum Goethestrasse xtd. zum erweiterten Schauraum umfunktioniert wurde; nur durch einen Hausdurchgang ist er vom eigentlichen KunstRaum getrennt. Das Ergebnis ist eine Art Aquariumsituation, durch über zwei Fronten verlaufende Schaufenster. Aktuell zeigt der KunstRaum „Keep it all inside” vom Wahlwiener Künstler Bernd Oppl. Es ist ein Werk, bestehend aus drei Objekten, das an das Motto des KunstRaums anschließt, wo „City of Respect“ auf unterschiedliche Dimensionen von Ängsten und Übergängen verweist. In dem Setting denkt Oppl über Architektur und Film nach. Alle drei Objekte im Ausstellungsraum referieren unmissverständlich Oppls Eintritt in die Erzählung, die von diskreten Spiegelungen der Hausfassaden im öffentlichen Raum handelt. Mitunter beziehen sich die Objekte latent auf den vierten Raum, den Schauraum.

Nachts in der Stadt

Stichwort Latenz: In der hellen Stimmung des Tageslichts setzt „Keep it all inside“ nicht an. Empfehlenswert ist eine andere Zeit, um zum KunstRaum zu schlendern; nachts zum Beispiel. Oppls filmische Umsetzung spielt sich nämlich im Spektrum von Dämmerung und Nachtstunden ab. Im Interview mit dorfTV zitiert Bernd Oppl dann auch Sigmund Freud. Steht man vor dem Schaufenster, erzeugt die stille Rotation der Fassaden in der Nachtsituation einen ganz bestimmten Ton; der Farbton des inszenierten Lokalkolorits im Film ist ein dunkler.
Mittels der konstruierten Raummaschine überlagern sich Hausfassaden, die durch Projektion in Monaden verlaufen. In dem im Schauraum befindlichen schwarzen Kubus verbirgt sich eine Konstruktion aus rotierenden Scheibenwischermotoren und Keilriemen, welche dreieckige Hausmodelle auf zwei kleinen Drehbühnen bewegt; eine Kamera nimmt diese Bewegungen auf. Der Film bricht sich in Echtzeit durch die Glasscheiben des Schauraums Bahn. Im inszenierten Wechselspiel aus Oberflächen und Übergängen sind die statischen Hausfassaden der Goethestraße aber miteinbezogen. Zufällig vorbeikommende Passanten wie Kunstbetrachter sind die einzigen Schausteller in Oppls Film. Nur, wovon erzählen diese Architekturen und welche Befindlichkeiten tauchen im Menschen auf, wenn er sich in einem Labyrinth aus Fassaden wiederfindet, ähnlich dem Kanalgewirr von Terry Gilliam? Wann kippt in den Kaskaden aus Fassaden die Gewissheit des Gewohnten? Wann erzeugen die stummen Zeugen – die Fassaden – eine Fremde und wann entsteht der unheimliche Moment? Die zweite Koordinate zum Raum ist die Zeit. Oppl bringt sie durch das Tempo des Rotierens zum Ausdruck. Die Langsamkeit, in der die Fassaden ineinander übergehen, ist ein erstes Indiz des Unheimlichen. In Bezug auf das Motto des KunstRaums steht die Arbeit gewissermaßen vor der Angst, denn sie lotet das noch Verborgene und das Unausgesprochene in einer (nächtlichen urbanen) Situation aus. Für den Künstler ist das Medium Film zumindest auch ein Ausstiegsszenario aus der Enge moderner Städte. Film wird in der städtischen Beengtheit zur Notwendigkeit, wird zu einer erdachten Erweiterung, wie Walter Benjamin das nannte.

Romantische Displays, dahinter das Leben

In der Raumkomposition stellt Bernd Oppl dem Film über städtische T/Raummaschinen zwei weitere Objekte bei. Die beiden dreidimensionalen Modelle fordern – jeweils als architektonische Solitäre gedacht – einen subjektiven Zugang des Betrachters heraus, der sich im Spannungsfeld von öffentlich und privat entspinnt. Die Geschlossenheit einer Hausfassade impliziert ja immer auch das private Leben dahinter.
Grundsätzlich gilt wohl, dass ein Plattenbau mit Satellitenschüsseln ebenso poetisch sein kann, wie ein pittoreskes Gebäude, manchmal ist er das sogar noch mehr, wegen der unverhofften Zartheit, die mitunter in der Gleichförmigkeit entdeckt werden will. Eine Zartheit, die auch dem ausgestellten, von innen beleuchteten Miniatur-Plattenbau innewohnt. Zwar handelt es sich um eine Poesie an der Oberfläche des Gebäudes, das wechselnde, an Fernsehlichtgeflacker erinnernde Lichtspiel deutet aber das Leben hinter der Fassade an. Immer bleibt da die Gewissheit des Nichtwissens. Welche Geschichten erzählten die Wohnungen der Menschen, könnte man Einblick nehmen? Was passiert in ihren von Vorhängen verschleierten Lebensräumen? Die Fremdheit bleibt bestehen, die Diskretion aufrechterhalten. Der Betrachter des Modells mag sich durch die pastellfarbigen Lichtpunkte auf der Fassade zum Versonnensein eingeladen fühlen, doch auch hier tritt inmitten des poetischen Lichtspiels das unheimliche Moment auf – in Form der bestehenden Anonymität, die konstant vermittelt bleibt.

Japanische Faltbögen um die Ecke gedacht

Das andere Modell versieht der Künstler mit einer so absurd anmutenden Krümmung, womit die Architektur vielleicht dahingehend dekonstruiert wird, als dass aus und mit dem Gebäude ein eigener Körper entsteht, der beinahe etwas Menschliches suggeriert. Das nach vorne zum Betrachter gebeugte Haus könnte beispielsweise auf etwas Verletzliches, auf etwas Schmerzhaftes hindeuten. O-Ton Oppl zur Krümmung: „Vielleicht ist dem Haus schlecht?” Oppls Eingriff in die Statik und die Verzerrung von zweidimensionalen Hausfassaden auf ein dreidimensionales Objekt mit Hilfe japanischer Faltbögen scheint zumindest neue Interpretationsmöglichkeiten anzudeuten, die auch offen für Zuschreibungen menschlicher Befindlichkeiten bleibt. Das Objekt Haus verrutscht, beziehungsweise krümmt es sich ins Subjekthafte hinein. Es stellt sich die Frage: Welche Gefühle kann man gegenüber Architekturen entwickeln?

Interessierte Besucher haben am 25. September die Möglichkeit neben dem Werk, auch den Künstler im KunstRaum Goethestrasse xtd anzutreffen, dann werden Bernd Oppl und Andreas Kurz in der Dämmerung (19.30 h) in einem Ausstellungsspecial Musik zur Architektur hörbar machen.

www.kunstraum.at

 

The city plays itself

Claus Harringer hat sich angehört, wie Architektur klingt.

Als neue universitäre Modedisziplin haben sich in den letzten Jahren „Sound Studies“ etabliert: Während das akademische Nachwuchspersonal dieses frische Feld durch programmatische Positionierungen pflügt und mit disziplinären Desiderata düngt, gehen Andere hin und forschen: Zu letzteren gehören Peter Androsch und Anatol Bogendorfer von „Hörstadt“. Dabei soll nicht der Eindruck entstehen, dass sie ohne genaue Vorstellungen zu Werke gehen – ihre thoughts about sound sind zugleich sound thoughts. Allerdings nehmen Sie ihren Gegenstand in seiner Eigenlogik ernst und dessen akustische Aspekte intensiv unter die Lupe, ohne ihn in ein vorgefertigtes Konzept einzuhegen. Im Falle von „Sonotopia“ handelt es bei dem – über mehrere Wochen beforschten – Gegenstand um den Bischofshof in der Linzer Herrengasse. Was bedeutet aber die Aussage, dass die Stadt sich selbst spielt? Auf den ersten Blick sind Gebäude keine Klanggeneratoren im strengen Sinne: Architektur modifiziert Klänge als Resonanzraum durch die Beschaffenheit ihrer Oberflächen und Strukturen. Dabei braucht es in zweierlei Hinsicht ein menschliches Agens: Menschen setzen Gebäude zusammen – komponieren sie – und die Gebäude wieder komponieren – verdichten – die Schwingungen, die sie aus ihrer Umgebung aufnehmen, welche wiederum ihren Ursprung meist in menschlichen Aktivitäten haben. Den Gedanken weitergetragen, ist das Medium, das Klang erst ermöglicht, letztlich Luft. An diesem Punkt werden die Übergänge zwischen Erzeugung und Formung fließend und hier setzt Sonotopia an: „Nothing was invented; the point was to pay attention to what was already there: the city as tonal space.“
Tonale Basis für die Arbeit waren die zuvor genau ermittelten (Eigen)Schwingungen des Gebäudeklangkörpers, die als dessen akustische Topographie kartiert und anschließend „re-injiziert“ wurden. Dies bedeutet Interaktion mit wechselnden Rollen: Während zuvor das Bauwerk Frequenzen vermittelte, werden bei diesem Schritt die Forschenden selbst zu Filtern, die die Klänge nehmen und perspektivisch gestalten. Inspirieren ließen sie sich dabei von Alfred Hitchcock: „Just as the great British director’s film sets included surrealistically enlarged or scaled-down architecture and objects in order to heighten their on-screen impact, they stylistically accentuated individual components of the urban soundscape in staging a Resounding City event.“
Inszeniert wurden die Ergebnisse der Forschung – unter Beteiligung des VOEST Alpine Chors und der Bruckneruniversität-Blechbläsersektion – am Ort der Klangentstehungen an einigen Abenden im Rahmen der Ars Electronica 2014. Warum aber erscheint dieser Text jetzt ein Jahr danach?
Am 20. August ist eine – exakt 30 Minuten lange – CD mit Ausschnitten aus den Aufführungen erschienen (deren Begleittext auch die bisherigen englischen Zitate entnommen sind). Jetzt stellt sich die Frage, inwieweit es sinnvoll ist, sich das abgelöst von Entstehungs- und Aufführungsort anzuhören – schließlich könnte das Material ebenso gut auf andere Weise zustande gekommen sein. Auch wenn das „Hier und jetzt“, das Sonotopia zu einer beeindruckenden Erfahrung machte, fehlt, vermittelt die Dokumentation zumindest einen Eindruck davon. Es könnte den Versuch wert sein – im Sinne eines akustischen Re-enactments – die Aufnahme mit Kopfhörern vor Ort anzuhören (schließlich war bei den Aufführungen die Klangquelle ebenso wenig zu sehen). Eher im Sinne der „Hörstadt“ wäre indes, sich das Prinzip zu eigen machen und genauer auf die Geräusche in der Stadt zu achten. Vielleicht müsste die – Berkeley zugeschriebene – erkenntnistheoretische Frage auch in diesem Sinne umformuliert werden: „If a tree falls in a forest and no one is around to hear it, was even anybody listening?“

CD-Präsentation von „Sonotopia“ bei der Ars Electronica Anfang September. Bezogen werden kann „Sonotopia“ über den AEC-Shop.

Feiern bis der Morgen naht

Derzeit noch eine lose Skizze. Aber ab 23. Oktober wird in der Musiktheater-Blackbox live gezeichnet. Bild: Mamut

Derzeit noch eine lose Skizze. Aber ab 23. Oktober wird in der Musiktheater-Blackbox live gezeichnet. Bild: Mamut

 

Die HipHop-Band Texta wird wieder mit Theater-Agitprop-Edutainment aktiv – und der ihnen eigenen popavantgardistischen Version vom totalen Theater. Ein Vorgeschmack auf „Welcome to Astoria“, das im Oktober im Musiktheater Premiere hat. Von Christian Wellmann.

Mit dem furiosen Stück „Max’n Morizz“ gelang einem entfesselten Ensemble 2013 ein Überraschungserfolg, Wiederaufführungen inklusive. So etwas kannte man bis dahin eigentlich gar nicht in Linz: modernes, risikoreiches, aufrüttelndes („Crossover“-)Theater und Publikumserfolg – ohne steifen Kragen, so ganz und gar nicht provinzmiefig. Wahrlich modernes Theater. Ein leicht verändertes Kollektiv geht nun in die zweite Runde: Welcome to Astoria ist eine Rap- & Live-Zeichen-Performance, mit der HipHop-Band Texta und Lukasz Aleksander Glowacki aka Mamut, frei nach Jura Soyfers Astoria – von Dominik Günther und Franz Huber.
Ein Landstreicher (gespielt von Aurel von Arx) erfindet einen Staat – dass dieser Staat real nicht existiert, ist bald allen egal: Das zeitlose Soyfer-Stück ist aktueller denn je, wo Asylsuchenden Menschenrechte abgesprochen werden – oder gar das Menschensein –, wo der Begriff „Staat“ gründlichst hinterfragt gehört und Passivität King ist. Verborgene Wahrheiten sollen zum Vorschein gebracht werden, das „Totale Theater“ (Antonin Artaud) beschwörend, und es gilt via ZuseherInnen-Einbindung und Nutzung möglichst verschiedener Bereiche künstlerischen Ausdrucks eine magische Sogwirkung zu erzielen: Begrifflichkeiten wie Staat/Vaterland/Utopie sind zu hinterfragen.
Dazu Agitprop und Edutainment von Texta, gewohnt stilsicher, als gelenkiger Soundtrack und politisches Bindemittel zum Umschiffen der Hoffnungen und Sehnsüchte der Astoria-ProtagonistInnen – inklusive einem veritablen Hit-Ohrwurm namens „Astoria Party“ und einem jazzigen Song namens „Reimverbot“. „Der Staat findet in unseren Köpfen statt“ (so Huckey von Texta) oder: „Der Staat ist Disco“ (Laima).
Spannend auch das zeichnerische Moment, eingebracht von Mamut: „Ich werde das Theaterstück künstlerisch begleiten, d. h. live Zeichnungen auf Papier anfertigen, die mit einer Kamera zeitgleich auf die Bühne übertragen werden. Damit sollen geplante Ideen umgesetzt werden, sowohl als auch spontan auf das Stück agiert und improvisiert werden. Jede einzelne Vorstellung wird etwas anders aussehen“, so der Linzer Graffiti-Künstler, der zur Crew Cancontrollers gehört. Mamut bemalt und besprüht Wände, Leinwände, macht mit Antilog Live-Painting-Performances, zeichnet viel spontan und versucht aus dem Moment heraus etwas zu kreieren. „Ich finde es immer spannend, wenn unterschiedliche Kunstformen – wie Schauspiel/Malerei – aufeinander treffen, man kann da am meisten voneinander lernen. Man darf sich bei Astoria aber kein klassisches Graffiti vorstellen: Es wird skizzenhaft, dekorativ werden, viel Schwarz/Weiß. Bei Ausstellungen sieht man nur fertige Bilder, bei Astoria wird man die Entstehung mitverfolgen können.“
Ab Oktober 2015 sollte man sich dieses neue Prunkstück unangestaubten Theaterhandwerks mit szenischen Kunstgriffen über der Gürtellinie nicht an sich vorbeiziehen lassen. Ach ja: schnell Karten sichern!
In der Folge gibt nun Dominik Günther (Inszenierung) einen ersten Einblick ins Astoria-Universum. Günther ist seit 2005 freier Regisseur mit Arbeiten am Thalia Theater Hamburg, Deutsches Theater Berlin, Landestheater Linz, etc. er arbeitet auch immer wieder in der freien Szene, zuletzt mit dem Stück „Die Dinge meiner Eltern“ von und mit Gilla Cremer. Er gewann den österreichischen Theaterpreis „Stella“ (2009) mit seiner Inszenierung „Clyde und Bonnie“. Inszenierte fürs Goethe Institut Hanoi den „Kaukasischen Kreidekreis“ von Brecht, heuer wird es eine weitere Inszenierung am Staatstheater Hanoi geben: Das Kinderstück „Der Fischer und seine Frau“. Darüber hinaus weiter als „Trashentertainer“ Nik Neandertal aktiv, mit seiner Band themotherfuckinggang, als Hymnensänger bei der Hamburger Kult-Veranstaltung Rock& Wrestling und mit einer eigenen Punk-Karaoke-Show auf St. Pauli.

Wie legst du die Inszenierung/Regie von Welcome to Astoria an, was ist speziell?
Günther: Welcome to Astoria ist kein geschlossenes Theaterstück, sondern es wird vieles an jedem Abend neu entstehen. Die Zuschauer sind zum Beispiel aktiv dabei. Sie werden zwar keinen direkten gestalterischen Eingriff in den Abend haben – sie haben aber die Möglichkeit, Bürger eines neuen Staates, dem Staat Astoria, zu werden und nehmen quasi an der Staatsgründungsparty teil. Somit ist jeder natürlich aufgefordert mit zu überlegen, in welchem Staat bzw. System er leben möchte. Und wo der Reiz, aber auch die Fallen von Utopien liegen. Grundvoraussetzung für die Teilnahme ist allerdings, dass man sich für ca. eineinhalb Stunden von seiner bisherigen Realität trennen muss, indem man sein Mobiltelefon nicht mit in den Saal bringen darf.

Du arbeitest als Regisseur oft mit „fächerübergreifenden“ Ensembles, mit Musik, Puppenspiel, etc.?
Da ich in meiner Band selbst ja auch noch Musiker bin, komme ich sowieso ständig mit diversen Kunstformen in Berührung und arbeite neben „klassischen Theaterformen“ immer wieder mit anderen Kunstgattungen zusammen. Somit ergeben sich neue theatrale Ausdrucksmöglichkeiten und überraschende Kombinationen. Ich kann Theater natürlich nicht neu erfinden, weil schon so ziemlich alles gemacht wurde, was möglich ist. Aber ich kann immer neu ansetzen und neue Impulse weiter entwickeln.

Wird Zeichnung und HipHop in Astoria verwendet, weil es provozieren/wachrütteln soll, wie das Stück selbst?
In Astoria soll es Wahrnehmungs- und Realitätsverschiebungen geben. Einmal die gezeichnete Realität, die sich mit einer filmischen, aber auch mit einer darstellerischen Ebene vermischen kann. Dazu kommt dann noch das gerappte Wort, das ebenfalls mit der Zeichnung, mit dem Zuschauer und auch mit Auszügen des Soyfer-Textes kollidiert bzw. koaliert. Ob alles Sein doch nur Schein sein wird, werden wir ja sehen. Das zeigt: wir haben viel vor mit diesem Abend! Ob sich dies alles einlöst, weiß man nie, sicher ist jedenfalls, dass diese Form absolut neu ist. Also: unbedingt teilnehmen!

Wie sind deine Erfahrungen mit dem Musiktheater, ihr habt ja dort das Stück „Max’n Morizz“ sehr erfolgreich aufgeführt?
Es ist toll, dass das Musiktheater offen ist für solch genreübergreifende Projekte und damit seinem Versprechen nachkommt, sich auch der Subkultur der Stadt zu öffnen. Natürlich ist das bei einem so großen Apparat wie dem Musiktheater ein enormer organisatorischer bzw. dispositorischer Aufwand, sodass der Planungsvorlauf für so ein Projekt sehr lang ist. Aber alle geben wie immer Vollgas – und ich bin sicher, dass am Ende genau wie bei Max’n Morizz etwas ganz Großes dabei herauskommen wird!

Welcome to Astoria, Uraufführung: 23. 10. 2015, BlackBox Musiktheater, Linz

www.texta.at
mamutizm.at
www.landestheater-linz.at