SILK Fluegge: „Disappear“

Das eigene und das fremde Hintergrundrauschen. Im Dezember hatte „Disappear“ in der Linzer Gesellschaft für Kulturpolitik (gfk) Premiere. Die Performance mit dem Untertitel „Zum Verschwinden in der Welt des anderen“ positioniert zwei Welten zweier junger Menschen zueinander – sozusagen als Gedankenstrom und Hintergrundrauschen. Ein Stück von SILK Fluegge, dem Kollektiv, das sich seit mehreren Jahren urbane zeitgenössische Tanz- und Kunstformen mit Fokus Jugendarbeit vornimmt.
Zwei weitgehend am Rücken aneinander stehende Personen, Frau und Mann, offenbaren jeweils zwei gegenübersitzenden Zuschauergruppen ihre Beziehung zu sich und den anderen. Vom Band kommen eingesprochene Text- und Gedankenströme, die ihre Wirkung jeweils nur in eine Richtung des Publikums entfalten – sprich: der jeweils andere Part bleibt lediglich als Hintergrundrauschen zu hören, bleibt sozusagen nur erahnbar. Detto das zu Sehende: Im Fokus steht die Person, die frontal zur jeweiligen Publikumsgruppe ihren Gedankenfluss ausbreitet. Sie übersetzt den eigenen Gedankenstrom in Bewegung, die als körperliches Nachspüren des eigenen gedanklichen Hintergrundrauschens bezeichnet werden kann, quasi als körperlich bewegtes, reduziertes, minimales in Beziehung setzen mit sich selbst – immer vor der anderen Person, die in ihrer abgewandten Welt dasselbe macht, und folglich nur von hinten und im Hintergrund zu sehen und zu hören bleibt. Es folgen kleinere, auch kontrapunktisch gesetzte Aktionen des miteinander in Beziehung Tretens, Einschübe von Interaktion, Umrunden, es zeigen sich kurz und merkwürdig  aufbauende Personenkonstrukte; und nachdem fast so etwas wie eine Kontaktaufnahme erfolgt ist – in der Mitte des Stücks und nach etwa 50 Minuten – erfolgt ein Perspektivenwechsel des Publikums, das sich auf die andere Seite zu begeben hatte, um hinan „die andere Seite“ zu sehen und zu hören.

Nach diesem erstaunlich wortlos und zügig vonstatten gehenden Platzwechsel, der wohl auf Spannung im Publikum rückschließen lässt, wie es denn nun weitergeht auf der anderen Seite, stellt sich mit der einstellenden 1:1-Wiederholung kurz die Frage, ob sich Gedankenströme (noch dazu zwei Gedankenströme) tatsächlich derart wiederholbar zeigen sollten (Körper und Gedanken flottieren frei und niemals fix montiert) – oder ob es tatsächlich gut ist, das Hintergrundrauschen des Anderen derartig offenzulegen, zu entzaubern. Gerade wegen dieser fein gebauten Arbeit, deren Atmosphäre zu einem wesentlichen Teil aus der Magie des Moments, der Präsenz von „echten“ Menschen, und – wie es halt mit echten Menschen so ist – aus einem doch rätselhaft bleibenden nicht genauen Verstehen, aus einer nicht restlosen Aufklärbarkeit der eigenen sowie der anderen Gedanken- und Körperwelt aufgebaut scheint. Dann zeigt sich: Es gibt – der bisherigen Konzeption des Stücks folgend – ohnehin keine andere Seite, nur eine andere Welt. Sozusagen eine zweite Seite der Beziehungslosigkeit, oder auch einer ins Publikum gespiegelten Botschaft, dass es eventuell schwierig geworden ist, überhaupt schon einmal nur mit sich selbst in Beziehung zu treten. Es zeigt sich eine zweite Darstellung, von der ersten abweichend und dennoch ähnlich … Und während die junge Frau eine Tendenz zeigt, Gedanken zu wälzen, der Realismus wiegt hier in der körperlichen Überprüfung hinsichtlich allgemeiner Frohbotschaften – von „Balance“ oder „Relationship“ etwas abgeklärter – und ein „Being“ bleibt reduziert („Calmness of the soul, calmness of the body“, „And in the same time just being …“) –, läuft beim anderen schlichtweg ein Film ab. Der einer verschmitzten Leichtigkeit, wenn die Banalität des eben-nicht-in-Beziehung-Kommens zu irgendetwas überhöht wird, was gleichzeitig einladend lächelnd wie hochstilisiert ignorant scheint, durchaus humoresk angedeutet (und nach einer eingestreuten Vaterproblematik wie in eine klassisch männliche Beziehungsunfähigkeit hineingerannt: „Give space to the people“, „Do not influence them“, „Let them move on with their lives“, „Just try not to influence them“). Dies unter anderem beispielhaft angeführt.
Insgesamt ist „Disappear“ als vielschichtiges Bedürfnis nach der eigenen und der anderen Welt lesbar, als große Schwierigkeit, aber auch, trotz Erkenntnis über die schwierige Realität des eigenen und fremden Hintergrunds, als Ahnung dessen, dass man doch irgendwie und irgendwann mal in der Wahrnehmung der anderen Person auftauchen könnte. Als kleine charmante Feinheit zum Schluss auch die Ahnung dessen, dass auf der Suche nach der Appearance in der Welt des Anderen eine verständigende Sprache auch durch verschiedentliche Aspekte des Nichtverstehens erfolgen könnte: Ohnehin durch unsere Körper, die ihre eigene Wahrheit in sich tragen. Aber am Ende tauchen auch im Text kleinere Versatzstücke von Lachen, tierisch anmutende Geräuschen und Fremdsprachen auf … und wie Pflänzchen strecken sich die Arme der beiden zueinander. Kein Versprechen auf Happy End, sondern zarte Hoffnung im Moment. Die DarstellerInnen Olga Swietlicka und Matej Kubus überzeugen durch Präsenz – in einem textlich, dramaturgisch und darstellerisch fein gebauten, klug reduzierten und atmosphärisch einnehmenden Stück.

 
„Disappear“, 6. Dezember, gfk – Gesellschaft für Kulturpolitik, Linz

Editorial

Wir begrüßen unsere LeserInnen im Herbst und Winter 2016 mit recht eindeutigen Gefühlen zur Zeit und einem Cover, dessen Werk aus der Ausstellung „Gemischte Gefühle“ stammt. Die Ausstellung im Landesmuseum hat unsere jüngste Autorin Léonie Hubauer für uns auf Seite 3 besprochen. Einen größeren Zeitsprung – sowohl was das Alter der Autorin Lisa Spalt als auch die Wirkungsgeschichte eines Denkmodells aus dem 18. Jahrhundert anbelangt – machen wir mit dem Phänomen des Psittacismus, der einerseits vergessen, andererseits höchst wiederauferstanden seine freche Fresse ins Angesicht der Welt hält. Das erklärt so einiges emotionale Ungleichgewicht, das wir aktuell wahrnehmen. Pamela Neuwirth rundet den fühlenden Einstieg in die Herbst/Winterausgabe der Referentin ab – mit einem Porträt der Malerin Claudia Nickl und einer Haltung, die trotz lebensweltlicher und künstlerischer Schwierigkeiten nur als individuell und widerständig bezeichnet werden kann.
Einen kleineren Schock bescherte uns Stella Rollig, die nun – und wir gratulieren auf das Allerherzlichste – bereits im Jänner das Linzer Lentos verlässt, um künstlerische Direktorin des Belvederes zu werden. Wir erinnern uns an die vielen medialen Angriffe und Peinlichkeiten, die speziell die Anfangszeiten von Frau Rollig in Linz begleitet haben und nun zur Bekanntgabe ihres Abschiedes wohlmeinend verhüllt und auf kleiner Flamme wieder aufgekocht wurden. Elisabeth Lacher, die das Interview mit Stella Rollig geführt hat, stellt in den lokalen Mainstreammedien ein, wir zitieren, „quasi unbegrenztes Maß an Kleingeistigkeit, Ignoranz und Snobismus“ fest, weiter: „… welches Stella Rolligs großartige Arbeit für das Lentos Kunstmuseum und somit für Linz für die Öffentlichkeit verzerrt und in Schieflage darstellt. Gut, dass manche Faktenlage dann auch für sich spricht: nämlich die direkte Berufung aus der Direktion des Lentos in die Direktion des Belvederes“. Wir schließen uns dieser Einschätzung an und es bleibt zu hoffen, dass die Politik in der Nachbesetzung wieder genug Mut beweist, um hier Position zu beziehen. Wir schließen uns außerdem dem Schlusssatz von Robert Stähr an, der das Haus Salzamt betrifft – und der bitte selbst beim Text über das Projekt „Goodbye Wittgenstein“ nachzulesen ist. „Salzamt bleibt“ am Cover ist übrigens als Aufforderung an die Politik zu lesen, die Entscheidung, das Haus zuzusperren, nochmals zu überdenken. Außerdem bezeichnet es auch ein verwundertes Reflektieren eines Politikstils, der Holger Jagersberger, den Leiter des Salzamtes, mit einer angekündigten Schließung konfrontierte, die er selbst aus den Medien erfahren hatte. Insgesamt: Viele wünschen sich hier ein produktiveres Zusammenwirken der kulturellen Kräfte in der Stadt.
Wie immer bleibt die Aufforderung, sich selbst durch die vielseitigen Inhalte des Heftes zu lesen. 0% postfaktischer Müll meint jedenfalls für uns nicht nur Berichterstattung mit Menschen, die ihre Sache ernst meinen, sondern auch eine Haltung, den mittlerweile üblichen medialen Doublebind aus „knackiger Kritik“ und „zündelndem Bedauern“ nicht mitmachen zu wollen. Let’s make Kulturjournalismus great again: Psittacismus lässt grüßen.

Es grüßen außerdem
die Referentinnen Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

www.diereferentin.at

Gemischte Gefühle

Mit sachlicher Noblesse schreibt Léonie Hubauer (10) über das Ausstellungsformat Klasse Kunst.

In der Ausstellung „Gemischte Gefühle“ in der Landesgalerie Linz geht es um Gefühle und Emotionen.
In drei verschiedenen Bereichen werden sie altersgerecht für Kinder und Jugendliche behandelt.
An den Wänden hängen viele Porträts und Malereien, auf denen man Personen und Tiere sehen kann, deren Mimik und Gestik ein bestimmtes Gefühl ausdrücken.
Man kann selbst viele Sachen ausprobieren und sich über seine und die Gefühle der Menschen in seiner Umgebung Gedanken machen, zum Beispiel konnte man sich selbst in Handspiegeln betrachten und beobachten, wie man aussieht, wenn man verschiedene Gefühle zeigt.
Besonders gut haben mir der Raum mit den Spiegelwänden, wo Porträts ausgestellt waren, und ein bunter Raum mit Comic-Zeichnungen am Boden, wo CD-Player an der Wand befestigt waren, und man sich Lieder anhören konnte, die verschiedene Gefühle ausdrückten, gefallen. Ich finde die Ausstellung sehr sehenswert und kann sie nur weiterempfehlen.
Danach war ich noch in der Klemens-Brosch-Ausstellung, wo ich dessen Zeichnungen bewundert habe, weil sie besonders fein gezeichnet waren.

Gemischte Gefühle. KLASSE KUNST – noch bis 12. März 2017 in der Landesgalerie.

Auf diesen Bildern zu sehen: „Schrei“ von Oktavia Schreiner, eine Videoarbeit von 2014, und das „Spiegelzimmer“ mit vielen Porträts und Stimmungslagen. Zur Ausstellung von KLASSE KUNST gehört auch das Bild am Referentinnen-Cover: Es ist ein von der Redaktion fotografierter Bildausschnitt des Bildes „Juristische Grauzone auf Kuhhaut“ von Catharina Bond. Das ganze Bild und die Ausstellung selbst anschauen gehen!
Bereits zum fünften Mal zeigt das Landesmuseum das Ausstellungsprojekt KLASSE KUNST. Mit jährlich wechselnden Themen richtet sich dieses Format an Kinder, Jugendliche und Erwachsene und transformiert dabei Kunstvermittlung zu einem intellektuellen und sinnlichen Prozess. Mit der Ausstellung „Gemischte Gefühle“ greift KLASSE KUNST den Umstand auf, dass Kunst immer schon emotionale Sogwirkungen erzeugt hat, und verführt das Publikum, sich dargestellten sowie eigenen Emotionen hinzugeben. Damit knüpft das Projekt gezielt an kindliche und pubertäre Lebensrealitäten an und ermöglicht durch die Beschäftigung mit vor allem zeitgenössischen Kunstwerken eine Auseinandersetzung mit der eigenen Achterbahn der Gefühle.

Im Winde verlogen

Lisa Spalt hat im Herbst in der Reihe maerz_sprachkunst aus ihrem aktuellen Roman gelesen und ist außerdem am Podium zum Themenkomplex Literatur und Politik gesessen. Für die Referentin schreibt sie über die grassierende unerträgliche Gleichsetzung von Fiktion und Welt und erläutert ihr „Manisoft des Psittacismus“.

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Im Jahr 1552 veröffentlicht Gerolamo Cardano, der Erfinder der Kardanwelle, seinen Traktat „De Subtilitate“. Darin erwähnt er die Möglichkeit eines Sprechens, das ohne entsprechendes Denken auftritt, und vergleicht es mit dem einer Elster oder eines Papageis. In den Jahrhunderten darauf taucht dieses „Sprechen wie ein Papagei“ bei verschiedenen AutorInnen und unterschiedlich definiert wieder auf, so – um nur dieses eine Beispiel zu nennen – bei Leibniz, der in „Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ (1703/04) erstmals den Terminus „Psittacismus“I verwendet, um den sinnentleerten Gebrauch von Wörtern zu bezeichnen. Er spricht in diesem Zusammenhang von Gedanken und Raisonnements, die nicht empfunden sind, sondern anderen nachgeplappert werden. Die Worte gehen mithin an den ursprünglichen Überlegungen, die sie hervorgebracht haben, vorbei und sind „im Winde verlogen“, wie der Philosoph sich ausdrückt.II

Nun stellt sich die Frage, wie ein derart negativ behafteter Begriff in der Kunst fruchtbar gemacht wird und wie er zu diesem Behufe verstanden werden könnte.

Vielleicht ganz von vorne: Die Poetin beschäftigt sich in meiner Vorstellung mit der Erprobung von Sprache. Sprache schafft im Alltag Fiktionen von Welt, die poetische Fiktion erprobt diese Fiktionen des alltäglichen Sprachgebrauchs. Ich wähle hier bewusst nicht den Begriff des Experiments: Für mich schafft die Poesie keine wissenschaftlichen Versuchsanordnungen. Dennoch arbeitet sie an den Grundlagen. Sie erprobt die Möglichkeiten, sich in Sprache zu bewegen, es geht ihr darum, Bewegungsmöglichkeiten zu finden, zu testen und vor allem zu genießen, so wird sie eher nicht feststellen, einkasernieren, einengen. Eine spezifische Möglichkeit solcher Poesie wäre es daher auch, wie ich jetzt einmal behaupten möchte, sich psittacistisch zu betätigen. Und ich möchte diese Betätigung hier probeweise als ein „absichtliches Vorbeisprechen an den Fiktionen von Welt“ in den Raum stellen. Dieses „absichtliche Vorbeisprechen“, das ist der Psittacistin wichtig, soll jedoch keine endgültige Definition des poetischen Psittacismus sein. Das Wort „Definition“ stammt schließlich vom lateinischen Wort für Grenze („finis“), und Grenzen aufzuweichen liegt der Psittacistin doch wesentlich näher, als sie zu setzen, obschon es auch in diesem Zusammenhang Ausnahmen geben wird. Das Vorbeireden der Psittacistin an dem, was ihr als (sprachgewordene) Welt erscheint, wäre, das möchte ich probeweise in den Raum stellen, eines, das vielleicht als Erstellung von Fiktion im Sinn der „Philosophie des Als ob“ von Hans Vaihinger zu verstehen wäre: Eine Fiktion ist bei ihm eine gedankliche Konstruktion, von der man annimmt oder zu wissen glaubt, dass sie nicht der Welt entspricht, die aber helfen kann, mit der Welt umzugehen und sie zu erforschen. Der „Horror vacui“, die Angst vor der Leere, mit der man einst erklärte, warum Wassermoleküle zusammenhalten, ist ebenso eine dieser Fiktionen wie wahrscheinlich die Erklärung über das Phänomen der KohäsionIII eine gewesen sein wird. Nichtsdestotrotz boten und bieten derlei Fiktionen Möglichkeiten, die unterschiedlich beurteilt werden können. Auch „das Gute“ kann beispielsweise als eine solche Fiktion angesehen werden, und ihre Verwechslung mit der sogenannten Realität bringt immer wieder Folgen der einen oder anderen Art hervor. Mit Hilfe poetischer oder allgemein künstlerischer Fiktionen aber können wir nun vielleicht ein bisschen erproben, welche Möglichkeiten des Denkens und der Sprache es gibt, Welt zu fingieren, wohin die Extremierung gängiger Denk- oder Sprechweisen führt, was geschieht, wenn wir einzelne Verfahren des Denkens oder Sprechens isolieren, absolut setzen, völlig außer Acht lassen, wir können hier befreiende Erfahrungen von Nutzlosigkeit, von genüsslichem Delirieren machen, die uns der Alltag nicht erlaubt, die sich aber vielleicht auch später als ihr Gegenteil entpuppen, wir können spüren, wie wir normalerweise „ticken“, denn die absichtliche, phantastische Fiktion lässt uns in der Abweichung von unseren gewöhnlichen Verfahrensweisen erleben, was wir, ohne es zu merken, als normal oder wahr setzen. Poesie ist vielleicht die Erfahrung der Herstellung von Sinn und Bedeutung – eine Erfahrung, die den Menschen auszeichnen könnte, die womöglich nur ihm zugänglich ist. Nun muss hier dem Einwand begegnet werden, dass der Psittacismus derzeit doch keineswegs in der Kunst, sondern vor allem in der Politik fröhliche Urstände feiere. Aus dem Slogan „Heimatrecht ist Menschenrecht“, den ursprünglich die Vertriebenenverbände formulierten, weil sie in die vor dem II. Weltkrieg bewohnten Territorien zurückkehren wollten, wird hierzulande neuerdings ausgerechnet ein Recht abgeleitet, die als Heimat bezeichnete Nation vor Migration zu schützen. Die Rolle der „Verteidiger Europas“ wird komplett sinnentleert von dezidierten Gegnern der Europäischen Union beansprucht, die wie selbstverständlich europäischen Werten wie der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Gültigkeit von Rechten „ohne Ansehen der Person“ etc. gänzlich abhold sind. Man ruft nach Meinungsfreiheit, die man als Freiheit zu rassistischer, diskriminierender und geschichtsverfälschender Betätigung verdefiniert, man eignet sich Eigenschaftswörter wie „alternativ“ an und bedient sich überhaupt an jedem Sprech, der in irgendeiner Weise neue Anhänger generieren könnte. Und tatsächlich, diese politischen Psittacismen sind erfolgreich. Sie finden Anhänger, die – kaum zu glauben – noch gezielter an den Tatsachen vorbeigehen als ihre wirr redenden Propheten: In gänzlicher Verkennung der Situation laufen Scharen von Menschen diesen Führern nach, als würde man an den Schauplatz eines Unfalls rennen, um zu sehen, wie aus dem Fremden da am Boden das Blut herausrinnt. Man möchte rufen: „Das ist kein Schauspiel!“ Aber die verständnislosen Blicke der Umwelt lassen einen verstummen. Nicht selten könnte man als BetrachterIn dieser Auswüchse denken, man habe es nicht mehr nur im Netz mit den wahren Psittacisten der Stunde, nämlich mit Social Bots, zu tun – diesen kleinen Propaganda-Computerprogrammen, die die sozialen Netzwerke nach Reizwörtern durchsuchen und, wenn sie fündig werden, ihre aus einem vorgegebenen Pool zusammengeflickten Nachrichten platzieren. Nein, auch die Reden physischer Personen wirken bereits oft wie die von Robotern, die mit bedeutungsschwangeren sprachlichen Versatzstücken bis zum Platzen vollgestopft wurden. Warum hängt sich Hofer die Wendung „So wahr mir Gott helfe“ um? Man kennt sie hierzulande nur aus US-amerikanischen Filmen und Serien, in der österreichischen Angelobungsformel gibt es sie nicht. Will Hofer den Nimbus einer heldenhaften Filmfigur um sich breiten? Bedient sich der Mann bei Schwurformeln aus Ghana, der Türkei bzw. der Ukraine? Warum? Zu vermuten ist: Beim politischen Psittacismus geht es um einen im ursprünglichen Sinn des Wortes. Es geht um die Aneignung tönender Rede ohne jegliches Verständnis und ohne Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Folgen ihres Einsatzes, um die verständnislose Gleichsetzung von Fiktion und Welt usw. Der poetische Psittacismus dagegen wäre einer, der vor seiner Verantwortung größten Respekt zu zeigen pflegt. Er entspringt dem Gedanken, dass wir Welt nicht erkennen, sondern nur immer wieder erproben und erfahren dürfen. Er schafft Fiktionen, die so beschaffen sind, dass sie auf keinen Fall für wahr gehalten werden können: Ja, poetische Fiktionen sind im Idealfall immer zu schön, zu schiefmäulig, zu wild, zu abwegig etc., als dass sie Wahrheit postulieren könnten. Und als liebenswürdige, sehr persönlich formulierte Versuchsballons gebieten sie, wie persönliche Erfahrungen gezeigt haben, fast jedem Hassposting Einhalt, was beweisen könnte, dass Bots mit Liebenswürdigkeit nun wirklich nicht umgehen können. Jedenfalls: Ja, auch die poetische Psittacistin hält es für einigermaßen erwiesen, dass wir trotz aller Skepsis Handlungen in dem Raum setzen müssen. Wir müssen, so sieht es aus, alltäglich und künstlerisch innerhalb dieser Sprachwelt agieren, in der ständig Fiktion und Tatsache verwechselt werden. Wir müssen damit umgehen, dass verständnislose verbale Kraftmeierei vorgibt, wohin die Welt rollt, dass diese nur mehr die Marschrichtung als einzige Himmelsrichtung kennt usw. Die so missbräuchlich verwendete Sprache ist und bleibt auch vermutlich das Medium, über das wir unsere Welt zu organisieren haben, auch wenn wir noch so sehr an ihrer Brauchbarkeit zweifeln. Umso mehr erscheint es der Psittacistin geboten, sich mit dieser Sprache und ihrer Kraft, Welt hervorzurufen, auseinanderzusetzen. Es erscheint ihr wertvoll, die (harten) Manifeste all dieser weltweit aufstehenden starken Männer, die den Globus zu ihrem Jahrmarkt erklärt haben, mit ihrem nahezu täglich umformulierten „Manisoft des Psittacismus“ ein bisschen aufzuweichen …

1 Das Manisoft des Psittacismus ist so ungefähr eine immer wieder versuchte Annäherung an etwas, was wir gerne ein bisschen beschreiben würden.

2 Die Psittacistin phantasiert in Anerkennung der Hypothese, dass der Mensch die Natur sein könnte, welche von der Natur nicht unbedingt etwas versteht, dass der Mensch die Natur sein könnte, welche von der Natur, die er ist, nicht wirklich verstanden wird.

3 Es gibt in der Welt der Psittacistin wahrscheinlich kein Alles und kein Nichts, ganz sicher ist das aber nicht.

4 Die Psittacistin nimmt daher nicht wenig ein bisschen ernst, hat aber zum Teil eine ansehnliche Abneigung gegenüber Aspekten des Wichtignehmens.

5 Die Psittacistin versteht einigermaßen wenig. Ihr Leitspruch: Scio me parvum scire.

6 Obwohl die Psittacistin kaum etwas durchschaut, sollte sie sich dennoch zumindest in Ansätzen zu Teilen des Lebens verhalten. Dieser Umstand, den sie unvollständig erkennt, beunruhigt sie einigermaßen.

7 Die Psittacistin möchte durchaus irgendetwas ein bisschen verbessern. Sie sucht daher nach halbwegs passenden Werten und stolpert im Zuge dessen nicht selten leicht orientierungslos herum.

8 Die Psittacistin spricht zuweilen schon in der Kindheit laienhaft am Leben vorbei. Dann macht sie dieses Laientum zum Teilzeitberuf, um zumindest ein wenig von ihrer Unfähigkeit zu profitieren.

9 Die Psittacistin beschäftigt sich mit der Schaffung von Fiktionen, welche Fiktionen als Instrumente der Alltagsbewältigung auf die Probe stellen.

10 Auch für Nicht-Psittacistinnen haben derart gesetzte psittacistische Handlungen recht gute Auswirkungen und daneben weniger gute oder umgekehrt. Manche Auswirkungen werden von der Psittacistin zum Teil ignoriert, zum Teil übersehen. Es seien daher alle, die sich mit dem Psittacismus beschäftigen, eingeladen, die Gedankengebäude weiterzudenken und um glückbringende Möglichkeiten zu erweitern.

I von Griechisch „psittacos“ für Papagei

II Das große Werk über den Psittacismus trägt den Titel „Le psittacisme et la pensée symbolique: Psychologie du nominalisme“ (1886) und stammt von Ludovic Ducas.

III Die „Kohäsion“ bezeichnet in Chemie und Physik die Kräfte, welche Atome oder Moleküle innerhalb eines Stoffes zusammenhalten.

 

Von Lisa Spalt erscheint im März 2017 im Verlag Czernin das Buch „Die 2 Henriettas“. Deutsche und Österreicher, die im 19. und 20. Jahrhundert in die USA auswandern, stehen im Mittelpunkt einer Geschichte, in der nichts erfunden, aber alles Fiktion ist. Ausgangspunkt der Recherche ist ein Konvolut von Fotografien aus dem Nachlass eines Verwandten. Die Erzählerin verwächst zusehends mit den historischen Henriettas und knöpft sich, verbal ungebremst, das World Wide Web vor – jene einzige Informationsquelle, die sich mit widersprüchlichen Daten zunehmend zwischen sie und ihre Vorfahren stellt. Die Sehnsucht nach Wahrheit, Hintergründen und Räumlichkeit prallt an dem flachen Gebilde ihres Bildschirms ab, den sie auf der Suche nach Informationen vor Augen hat.

Aus dem Verborgenen …

… in die Unendlichkeiten gemalt, hat die Künstlerin Claudia Nickl bereits 2012 eine Arbeit, welche in großformatigen Malereien Wolkenformationen darstellen. Bei Interview-Spaziergang und Atelierbesuch zeigen sich sehr unterschiedlich umgesetzte Arbeiten und der hintergründige Zugang einer Malerin zu einem Medium, das in den letzten Jahrzehnten regelmäßig für tot erklärt worden ist.

Malerei im Informationszeitalter

Das Gespräch, das sich während der Interview-Tour durch die Innenstadt entspinnt, entwickelt sich bald als Gedankenstrom á la Virginia Woolf und verweigert im mäandernden Begehen der Route konsequenterweise bald den Interviewleitfaden. Ein umfangreicherer Fragenkomplex stellt sich vor dem Schaufenster der „Galerie Berghammer“ in der Herrenstraße ein, wo eine abstrakte Malerei der Künstlerin ausgestellt ist. Es sind Fragen zur alten Kulturtechnik Malerei und wie es heute um diese bestellt ist: Gibt der Zeitgeist etwas vor, was nach einer neuartigen, unorthodoxen Umsetzung verlangt? Und wenn ja, hemmt die unveränderte Fläche der Leinwand die Umsetzung einer Idee? Inwieweit dringen digitale Bildsprachen und neue Sehgewohnheiten in die Malerei ein? Vermag die stets mitvermittelte Stoa der Malerei in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomien, die sich im Netz unaufhaltsam befeuern und konkurrieren, bei den Betrachtern noch etwas auszulösen? Wortreich hat man manche Post-Art-Kuratoren schon vom Staffelei-Ismus reden gehört … Lange Rede, kurzer Sinn, ganz diesem wortwörtlichen Sinn folgend, fällt die Antwort Claudia Nickls entsprechend knapp, selbstsicher und etwas kryptisch aus: Das Format mag zweidimensional sein, doch was transportiert wird, lasse sich nicht in und durch eine Form begrenzen, da es neben dem Wirklichkeitssinn einen Möglichkeitssinn gibt, der in jedem Vorhaben das Faktische des 2D-Rahmens als gedachte Begrenztheit überwindet, sich Bahn bricht und etwas Einmaliges und Singuläres offenbart. Die Faszination, dass die Malerei eine Kunstform ist, die es schafft, sich auf das unzugängliche und unbeherrschbare Innere in Menschen zu beziehen ohne es dabei auszuliefern. Wie bei einem Porträt. Eine großformatige Porträtmalerei der Künstlerin kann man beispielsweise in der Nähe des Taubenmarktes sehen. Im vorderen Bereich des „Wirt am Graben“ ist eine Malerei ausgestellt, die in schrill-poetischer Farbgebung eine alte Frau abbildet. Das Bild zeigt die mittlerweile verstorbene Großmutter der Künstlerin, die im Leben der Malerin eine wichtige Bezugsperson war und für die Künstlerin in einer Phase der schweren Krise überraschend eine Schlüsselrolle gespielt hat. In der Nacht bevor sie stirbt, weilt Claudia Nickl zum Glück nicht in Paris, ihrem damaligen Aufenthaltsort, sondern in Linz. Ohne Ankündigung auf das Bevorstehende, sondern intuitiv einer Eingebung folgend, bricht sie auf und kann so noch die letzten Stunden an ihrer Seite verbringen.

Ahnenforschung, Trauma und unter 500 Claudias in Paris

Das Ziel Paris vor Augen, zog es die Studentin der Kunstuniversität Linz in den 00er Jahren zuerst aber in unterschiedliche Richtungen, als hätte sie einen Kompass eingebaut, bei dem die Nadel nervös-willkürlich diverse Richtungen anzeigt – und dort einrastet, wo schließlich die Orte ihrer Kindheit markiert sind. Auch zeitlich war nicht die eine Zukunft in die eine Freiheit angedeutet. Neben der Zukunft zielten Aufmerksamkeit und Wahrnehmung direkt in die Vergangenheit hinein, die durch einen dringlichen, dunklen Ruf einen regelrechten Sog entwickelte. Eine paradoxe Situation, in der die Realität bereits eine Zukunft andeutet, sich aber letztlich in einer unerklärbaren Gleichzeitigkeit auch auf das längst Vergangene beziehen will. Die Studienphase gleicht unter diesen Umständen einer verzerrten und gespannten Gegenwart, die viele Richtungen andeutet und bedeutet. Es geht nicht nur darum, ein Handwerk an der Universität zu erlernen, wo Nickl „die Experimentelle“ belegt, sondern sie lernt sich selbst zu experimentieren und damit ihr eigenes Selbstverständnis und ihre Biografie zu klären. Eine Reise in die Vergangenheit ohne Anleitung, welche die Studentin dazu führen wird, sich ihrem Trauma zu stellen. Mutterseelenallein, unverstanden sein. Der damalige Intendant des Landestheaters, Gerd Willert, wird ihr als Freund sagen, es handle sich um „Das Drama des begabten Kindes“. In der Phase der persönlichen Aufarbeitung, die sie bei unserem Gespräch als Ahnenforschung beschreibt, lotet sie seelische Untiefen aus, was sich als Askese im äußeren Leben manifestiert. Die Reduktion auf das Allernotwendigste, auf das Existenzielle, hat die Bewegungen im Inneren begleitet. Kunst und Pfandflaschen gegen Kleingeld eintauschen. Kunst und verhandeln lernen, mit männlichen, durchwegs sehr viel älteren Mentoren. Als ein Förderer sein Wort nicht hält, fordert die Neo-Reduktionistin das Versprechen ein und verwandelt Objekt und Situation in einem einzigen Akt. Trotz notorischer Not wird ein Geldschein zur Kunst erklärt; Nickl transformiert ihn, indem sie ihre Unterschrift darauf zeichnet. Kunst und Brachen für das Kunstschaffen finden. Kurz vor dem Aufbruch nach Paris legt sie noch mit einem Kollegen eine betonierte Leerstands-Brache in der Innenstadt offen, sie nutzen den Ort für ihre Kunst. Das aufgelassene Autohaus in der Dametzstraße werden nach dieser Aktion noch andere Künstler und Kollektive für ihre Vorhaben zu verwenden wissen. Bevor Claudia Nickl nach Paris aufbricht, werden ihr auch Warnungen mit auf den Weg gegeben: Denn dort wird sie nicht die Einzige sein – es warten bereits 500 andere Claudias in Paris! Und Claudia Nickl war im Künstlerviertel an der Seine dann tatsächlich nicht die Einzige. Am Montmartre lebt sie in einem sozialen Kaleidoskop von unterschiedlichen Individuen und Beziehungen auf. Neue Freundschaften und ein Atelierplatz. Durch den geheimen Trick der Mimikry (die eine scharfe Beobachtungsgabe erfordert) lernt sie leicht und schnell Französisch, sie spielt Schach und trinkt Whiskey mit den Porträtmalern; es ist wie eine Zeitreise in das alte Paris von Degas, van Gogh, Valadon und Matisse. Sie trifft auf das Künstlerkollektiv La Generale, dem sie sich temporär anschließt. Sie findet in Paris zur Malerei – und kehrt wieder nach Linz zurück. Zurück in Linz wird Nickl später dann erneut ein leerstehendes Hinterhaus besetzen.

SCHMUSEN ohne doppelten Boden und eine neue Farbtheorie

Fünf große Wolkenbilder der Diplomarbeit von 2012 sind im Museum Angerlehner ausgestellt. Werke, denen die Künstlerin ein hochformatig-bebildertes Buch mit dem Titel »Nuances des Nuages«, das Goethes Wolkentheorien beinhaltet, beigefügt hat. Die Malereien folgen einem radikal minimalistischen Duktus: entstanden durch einen immer wiederkehrenden Strich, in Form einer liegenden Acht. Diese Bewegung entspricht einem mathematischen Zeichen, dem Unendlichkeitszeichen, das durch die Wiederholung zu den Wolken wird, in denen die horizontalen Achter nur selten als diese zu erkennen sind. Die Idee, ein Schema fortlaufend zu wiederholen, hat ein meditatives Moment, ist aber auch zu verstehen durch den starken Bezug der Künstlerin zur Geometrie im Allgemeinen. Seelenverwandt ist ihr die, in der Kunstgeschichte weniger bekannte, schwedische Malerin Hilma af Klint, die universelle Formen auf ihren emotionalen Gehalt hin untersucht, ihr großes Œuvre jedoch zeitlebens nie ausgestellt hat. Andere an Geometrie angelehnte Malereien von Claudia Nickl findet man in Linz beim Friseur in der Klosterstraße, die im Gegensatz zur transzendenten Wolken-Serie, stark reduktionistisch sind. Abgesehen von geometrischer Ursachenforschung, asketischem Lebensstil ohne doppelten Boden und Hausbesetzung für die Kunst, schert Claudia Nickl in ihrem Kunstschaffen aus, wann immer es der Moment fordert. Manche erinnern sich noch an die Zeit, bevor der Donaustrand zur beliebten Sommerlocation avancierte und wo folgende Idee kurz vor dem Auftakt zu Linz09-Kulturhauptstadt Europas entstanden war: Für kurze Zeit wurden an der Nordseite der Schlossmauer von Nickl die blutroten SCHLOSSMUSEUM-Buchstaben in das Wort SCHMUSEN verwandelt. Das aktuelle Projekt von Claudia Nickl ist hingegen ein intellektuelles, das eine weibliche Perspektive des 21. Jahrhunderts mit Theorien abgleicht, die Jahrhunderte zurückliegen. Vertraut mit Farbe, Geometrie und seelischen Tiefen plant Nickl eine Dissertation bei Thomas Macho, in der ausgehend von Newtons und Goethes Farbtheorien ein hermeneutischer Prozess in Gang gesetzt werden soll, wo die neue Farbtheorie auf holistische Gefühlslagen hin untersucht wird. Dieses in personeller Konstellation ungewöhnliche Dreieck – Nickl, Newton, Goethe – lässt mit Spannung auf die Resultate warten.

Literatur sagt, was Sache ist

„Manchmal denkt er gar, aber darüber spricht er mit niemanden, dass das Gehirn der Menschen die Form der Wolken hat und dass demnach die Wolken gleichsam die Heimatstatt des himmlischen Denkens sind; oder aber, dass das Gehirn jene Wolke im Menschen ist, die ihn an den Himmel bindet. Manchmal träumt Goethe gar, dass das Denken selbst sich nicht, wie manche sagen, gleich einem steinernem Gebäude entwickelt, sondern vielmehr wie das Geäst der Wolken, das er so bewundert am immer neuen Himmel in Weimar.“

zitiert aus Claudia Nickls Diplomarbeit ∞ von 2012, die ihrerseits zitiert aus: Stéphane Audeguy, Der Herr der Wolken, Roman, 2006, S. 23

Der Zauber und der Schock der Anfänge

Lentos-Direktorin Stella Rollig wechselt im Jänner 2017 ins Belvedere. Elisabeth Lacher hat sie aus diesem Anlass zu Abschieden und Neuanfängen befragt – und natürlich zur künstlerischen Positionierung der Häuser und zur Gegenwartskunst.

Stella Rollig in der Ausstellung Die Sammlung. Klassiker, Entdeckungen und neue Positionen – während einer Führung mit Publikum. Foto MaschekS.

Stella Rollig in der Ausstellung Die Sammlung. Klassiker, Entdeckungen und neue Positionen – während einer Führung mit Publikum. Foto MaschekS.

EL: Sie sind seit dem Jahr 2004 Direktorin des Linzer LENTOS und haben damals den langjährigen Direktor Peter Baum abgelöst, ein Jahr nachdem die Neue Galerie zum LENTOS Kunstmuseum wurde und in den Museumsbau an der Donau übersiedelte. Vor zwei Wochen gaben Sie bekannt, dass Sie ab Jänner 2017 das Wiener Belvedere als künstlerische Direktorin übernehmen. Mit welchem Gefühl verlassen Sie Linz und das LENTOS, um Ihre neue Stelle in Wien anzutreten?

SR: Mit einem sehr guten Gefühl. Und zwar deshalb, weil ich im LENTOS, gemeinsam mit dem gesamten Team, in den beinahe dreizehn Jahren, die ich hier war, sehr viel erreicht habe. Wir konnten eine Vielfalt an Ausstellungen mit tollen Künstlerinnen und Künstlern realisieren. Wir haben an interessanten Themen, Forschungsschwerpunkten und Publikationen gearbeitet. Und genau diese Dinge waren es, die ich mir von Anfang an für meine Arbeit im LENTOS gewünscht habe. Es ist für mich wirklich ein sehr glücklicher und zufriedener Rückblick, mit dem ich das LENTOS verlasse. Und ich bin sehr froh über meine neue Aufgabe und Herausforderung im Belvedere.

EL: Wenn man zwei Zitate nebeneinander stellen würde: Das von Hermann Hesse sicher schon sehr oft gehörte Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne und der Volksmund, der sagt, Aller Anfang ist schwer, wo sehen Sie sich derzeit?

SR: (lacht) Auf jeden Fall bei Hesse, ganz spontan gesagt. Aber auch voller Überzeugung, denn ein solcher Aufbruch ist etwas so Reizvolles und Belebendes. Die Vorfreude ist wirklich sehr groß. Ich sehe meine neue Aufgabe natürlich auch als Herausforderung. Das Belvedere ist ein Haus, das ungleich größer als das Linzer LENTOS ist. Als österreichisches Bundesmuseum und als Ort mit einer einzigartigen Geschichte hat das Belvedere einen besonderen Stellenwert. Wie auch das 21er Haus auf seine eigene Weise eine besondere Geschichte hat. Die Identität des Belvedere mit seinen verschiedenen Standorten, ein viel größeres Team und ein deutlich höheres Budget sind natürlich eine größere Aufgabe. Und ähnlich wie zu Beginn im LENTOS folge ich auch im Belvedere einer sehr starken Vorgängerin nach, die ihre Handschrift hinterlassen hat. Und dem muss und möchte ich gerecht werden.

EL: Wenn Sie an das Jahr 2004 zurückdenken, als Sie das LENTOS übernommen haben, welches Zitat war damals zutreffender?

SR: Der Anfang hier war schon schwierig, obwohl ich mich natürlich auch damals sehr gefreut habe auf meine Aufgabe im LENTOS. Für mich kam das doch ziemlich unerwartet und auch ungeplant. Ich hatte mich zuvor eigentlich nie in einer Museumslaufbahn gesehen. Aber es war eine großartige Chance, auf die ich damals aufmerksam gemacht wurde. Ähnlich wie jetzt beim Belvedere, wurde ich auch damals angesprochen und zu einer Bewerbung motiviert. Und ich hatte für das LENTOS von Beginn an eine sehr starke Vorstellung und Vision davon, was für ein Haus es sein kann und was man bewirken will. Nun, fast dreizehn Jahre später, ist es dasselbe beim Belvedere. Ich sehe die Möglichkeiten des Hauses und habe eine Vision dazu entwickelt.

EL: In Ihrer Anfangszeit im Linzer LENTOS gab es ja diese politische und mediale Schlammschlacht gegen Sie als Person und das, wofür Sie stehen, wofür Ihr Kunstbegriff steht. Wenn Sie nun aus der Distanz darauf zurückblicken, gibt es von Ihrer Seite dazu noch etwas zu sagen?

SR: (überlegt kurz) Die Frage ist interessant formuliert. Ob es von mir noch etwas zu sagen gibt. Nein, eigentlich nicht.

EL: In unserem letzten Gespräch erwähnten Sie, dass die Arbeit als Museumsdirektorin in Ihrer Biografie ein Jump – nicht im Sinne von Crack – war. Können Sie diesen Jump noch einmal kurz umreißen?

SR: Genau, ich meinte einen Sprung, aber nicht im Sinne von Bruch. Die Arbeit als Direktorin des LENTOS war in vielerlei Hinsicht völlig anders als das, was ich zuvor machte. Der größte Unterschied zu meiner Arbeit davor war sicher das Publikum, zu dem ich mit meiner Arbeit sprach. In Linz war es ein Museumspublikum einer mittelgroßen Stadt, das größtenteils noch keine Erfahrung mit aktueller, zeitgenössischer Kunst hatte. Mein Vorgänger hat hier in Linz zwar Pionierarbeit geleistet, indem er die moderne Kunst des 20. Jahrhunderts nach Linz gebracht hat, sein Schwerpunkt lag jedoch bei Malerei Informel, nicht so sehr bei Konzeptkunst.

Ich habe dann als Erstes eine Medienkunstausstellung mit Darren Almond realisiert und erst im Nachhinein verstanden, welch ein Schock diese Ausstellung für ein unvorbereitetes Publikum gewesen sein muss. Damals hat sich dann auch dieser Konflikt entzündet, der auf einer sehr unangenehmen, persönlichen Ebene ausgetragen wurde, anstatt inhaltlich und sachlich ausgesprochen zu werden. Man hat sich damals vorgestellt, dass es im LENTOS weiterhin Ausstellungen geben sollte, wie Peter Baum sie gemacht hat. Mit bekannten Künstlern wie Picasso und Chagall, und dass diese nun vervielfacht auf einer größeren Fläche gezeigt werden.

Aber das wäre, realistisch gesehen, gar nicht möglich gewesen, und das ist es auch bis heute nicht, da das LENTOS hierfür gar nicht mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet war. Das prägt die Positionierung und die Arbeit des LENTOS Kunstmuseums bis heute, dass es finanziell mit den Mitteln einer mittelgroßen Kunsthalle auskommen muss.

EL: Wie sind Sie mit diesem Konflikt, dass ein Programm erwartet wurde, das aus budgetären Gründen unmöglich umzusetzen war, umgegangen?

SR: Als man mich als Direktorin ins LENTOS holte, war es ja aufgrund meiner Kompetenzen und meinem Ruf als Spezialistin für Gegenwartskunst. So habe ich, gemeinsam mit dem Team, ein aktuelles und zeitgenössisches Programm entwickelt, das zu den finanziellen Möglichkeiten des Hauses genauso gut passt wie zu einer Stadt wie Linz. Ich habe schon in meiner Bewerbung im Jahr 2004 erwähnt, dass die Stadt Linz nicht nur demografisch gesehen, sondern seit dem 2. Weltkrieg in ihrer Positionierung zunehmend an einer Neuerfindung des Images arbeitete, mit den Begriffen der Zukunftsorientiertheit, des Experimentierfreudigen, des Innovativen. Mit großen Leitprojekten wie der Ars Electronica. Dazu passte einfach ein Museum, das den Fokus auf Gegenwartskunst legt. So stärkte das LENTOS Kunstmuseum nachhaltig das Image von Linz als moderner Kulturstadt.

EL: Um auf das große Thema der Kunst und ihre Möglichkeiten zu sprechen zu kommen. Was kann die Kunst? Gerade in einer Stadt wie Linz?

SR: Kunst kann immer sehr viel. Das war besonders gut zu sehen im Jahr 2009, welches aus meiner Sicht ein sehr erfolgreiches Kulturhauptstadtjahr war. Die Kunst ist ein wichtiges Bildungsinstrument. Nicht im Sinne von reinem Faktenerwerb, sondern weit darüber hinaus. Kunst steht für einen offenen, integrativen Bildungsbegriff. Sie ermöglicht Menschen, unabhängig von medialer Manipulation zu denken, sich selbst ein Bild über die Welt zu machen. Kunst spricht nie eindimensional und aufs Erste verständlich. Man muss sich und der Kunst Zeit geben für eine Auseinandersetzung. Und was mir auch sehr wichtig ist, ist der Umstand, dass Kunst einfach auch glücklich macht. Das alles macht diesen hohen Wirkungsgrad der Kunst aus. Sie kann eine Begegnung mit mir selbst, mit meinem Ich, meinem Leben und meinen verborgenen Ideen und Wünschen sein. Gleichzeitig besitzt Kunst auch eine stark soziale Komponente. Das kann in der Auseinandersetzung mit sehr stillen Kunstwerken sein, wie das zum Beispiel in der Ausstellung von Cathy Wilkes letzten Sommer erlebbar war. Oder auch in partizipativen Kunst- und Vermittlungsprojekten.

EL: Sie haben im Lauf der Jahre immer wieder verschiedene Gruppen in das Museumsprogramm miteinbezogen, die ansonsten wohl nur als BesucherInnen ins LENTOS gekommen wären, wenn überhaupt. Ich denke an das Projekt mit den AsylwerberInnen letztes Jahr, oder die immer wiederkehrende Miteinbeziehung der Schwulen- und Lesbenbewegung Hosi Linz.

SR: Ich sehe das Aufeinanderzugehen, den Austausch und das Miteinander mit verschiedenen Menschen als eine wichtige Aufgabe des Museums. Diesen Ansatz möchte ich auch in das Belvedere mitnehmen. Ein Museum hat die Aufgabe, nicht nur gesellschaftliche Visionen zu entwickeln, sondern diese auch zu leben.

EL: Im Mission-Statement des LENTOS Kunstmuseums ist zu lesen: Kunst als Medium zum Verständnis der Welt, Kunst als Katalysator der Erfahrung der individuellen Lebensrealität, Kunst aber auch als Mittel zur Erprobung sozialer Möglichkeiten. Sie sprechen auch gerne vom Museum als einem Ort der Utopie. Wenn Sie auf Ihre Arbeitsspanne im LENTOS zurückblicken, welche Schritte und Impulse würden Sie als Ihre wichtigsten bezeichnen, um diesem Anspruch gerecht zu werden?

SR: Das erste und wichtigste Medium des Museums ist die Ausstellung. Und wenn ich mir die Ausstellungsgeschichte dieser letzten, fast dreizehn Jahre vor Augen führe, dann sind darin viele Themen und Positionen zu finden, die genau diesen Kunstbegriff vertreten. Wir haben im LENTOS sehr viele Ausstellungen gemacht, mit einzigartigen Künstlerinnen und Künstlern, die genau zu dieser Verfasstheit unserer heutigen Welt Aussagen machen. Dazu fallen mir spontan Ursula Biemann, Oliver Ressler oder Gil & Moti ein, und ich könnte jetzt unwahrscheinlich viele Künstlerinnen und Künstler aufzählen, mit denen wir zusammen gearbeitet haben. Es zieht sich eine Art emanzipatorisches Moment durch das Ausstellungsprogramm. Und auch eine Auffassung von Geschlechterpolitik als Gesellschaftspolitik, welche sehr viele dieser KünstlerInnenpositionen vereint. Bei vielen ist auch eine feministische Grundhaltung zu erkennen, zum Beispiel in der großen Ausstellung zu Valie Export. Mir selbst ist auch aufgefallen, dass wir viele schwule Künstlerpaare oder Beyond-Gender-Paare gezeigt haben, die mit ihrer Arbeit Geschlechterrollen, Klischees und Stereotypen infrage stellen, wie Eva & Adele, Gil & Moti oder Gilbert & George. Es gab auch große Themenausstellungen wie die Rabenmütter oder Der nackte Mann, die diese Lebensrealitäten und Lebensmöglichkeiten untersucht haben. Mit der Kunst an den Lebensrealitäten und an der Verfasstheit unserer Welt von heute dranzubleiben, zieht sich als roter Faden durch das gesamte Programm.

EL: Sie haben zuvor erwähnt, dass Ihr Vorgänger Peter Baum die moderne Kunst des 20. Jahrhunderts nach Linz gebracht hat. Man könnte hier fortsetzend sagen, dass Sie in den letzten dreizehn Jahren die zeitgenössische Kunst nach Linz gebracht und im LENTOS etabliert haben. Woher kommt Ihre Leidenschaft für die zeitgenössische Kunst?

SR: Dazu gibt es biografische Schlüsselmomente. Einerseits hatte ich das Glück, dass ich bereits in meiner Kindheit viel an zeitgenössischer Kunst gesehen habe. Meine Eltern waren mit uns Kindern genauso im Kunsthistorischen Museum, wie auch im 20er Haus. Als ich erwachsen wurde und meinen eigenen Weg eingeschlagen habe, war es vor allem die persönliche Bekanntschaft mit Künstlerinnen und Künstlern. In meiner Studienzeit habe ich viele Leute kennen gelernt, die Kunst studiert haben. Und ich habe das, was sie machten, gleichermaßen bewundert wie auch verstanden. Während meines Studiums der Kunstgeschichte habe ich mir auch sehr viel Wissen und Zugang zur Kunst selbst angeeignet. Vieles wurde am Kunstgeschichteinstitut auch gar nicht unterrichtet. Es gab also eine persönliche Entwicklung, die mich zur Gegenwartskunst gebracht hat. Ein Schlüsselmoment war dann dennoch die Christo-Ausstellung, die Ende der 1970er Jahre in der Wiener Secession gezeigt wurde. Es waren Aufnahmen seines Projekts running fence zu sehen. Christo hatte quer durch die kalifornische Landschaft bis zur Küste seine Vorhänge in die Landschaft gebaut. Bis zu diesem Zeitpunkt kannte ich selbst hauptsächlich Malerei und Skulptur. Dieses Projekt von Christo war für mich dann wirklich faszinierend und so schön anzusehen, und ich erkannte damals, welch unterschiedliche Erscheinungsformen Kunst haben kann. Ich war begeistert und von diesem Moment an auch gepackt von den Möglichkeiten der zeitgenössischen Kunst. Die 1970er Jahre blieben dann für mich so etwas wie eine Lieblingsepoche in der ganzen Kunstgeschichte.

EL: Wegen dem Aufbruch und der Erweiterung des Kunstbegriffs?

SR: Ja, diesen Aufbruch haben wir auch in einer Ausstellung des LENTOS dieses Jahr gesehen, in Ich kenne kein Weekend. Aus René Blocks Archiv und Sammlung. Hier konnte man den Zeitraum ab Ende der 1960er Jahre bis zum Ende der 1970er anhand des Wirkens einer Schlüsselfigur Revue passieren lassen. In den Dokumenten, Werken und Filmen, die zu sehen waren, konnte man noch einmal miterleben, wie Künstlerinnen und Künstler ganz neue Möglichkeiten für sich erschlossen haben. Wie alles neu definiert wurde. Allein die Fragen danach, was eine Ausstellung ist und was ein Kunstwerk ist. Plötzlich haben Kunstwerke auch geklungen, waren Musikstücke, Performances in Galerien und vieles mehr. Eine Besonderheit an dieser Zeit war sicher auch, all das zum ersten Mal machen zu können. Diese Freiheit, die spürbar wurde. Für mich ist das nach wie vor die schönste Zeit der Kunstgeschichte.

EL: Ich danke Ihnen für diese spannenden Einblicke in Ihre Gedanken über die Kunst und Ihre Begeisterung für die Kunst. Obwohl Sie sicher noch viele spannende Gedanken und Begebnisse erzählen könnten, muss ich zum Ende des Interviews kommen. Sie verlassen nun, nach fast dreizehn Jahren, das Linzer LENTOS. Was wünschen Sie Ihrer Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger?

SR: Ich wünsche ihr oder ihm, dass Linz sie oder ihn neugierig und gutwillig aufnimmt. Dass es eine gute, positive Anfangsenergie gibt. Für mich wäre es auch schön, wenn das Profil, das wir diesem Haus gegeben haben, auch aufgenommen und weiterentwickelt wird. Und ich wünsche ihr oder ihm, da die Nachfolge auch für das Nordico Stadtmuseum zuständig sein wird, dass es eine gute und sichere Zukunft für diese beiden Häuser gibt, da beide Häuser für Linz unverzichtbar und notwendig sind.

EL: Was wünschen Sie dem LENTOS Kunstmuseum?

SR: Eine strahlende Zukunft.

 

Stella Rollig (* 1960 in Wien) ist österreichische Kulturmanagerin, Autorin und Journalistin. Sie ist seit 2004 künstlerische Direktorin des LENTOS Kunstmuseums und seit 2011 zusätzlich des NORDICO Stadtmuseums in Linz.

Mit Jänner 2017 wird sie zur wissenschaftlich-künstlerischen Leiterin des Bundesmuseums Österreichische Galerie Belvedere berufen.

 

IMPULSFRAGEN

Welches ist ihr Lieblingskunstwerk in der derzeitigen Dauerausstellung Die Sammlung?

Egon Schieles Bildnis von Vater und Sohn (Doppelbildnis Heinrich und Otto Benesch)

Welche Ausstellung des Lentos war die für Sie eindrücklichste?

See This Sound. Versprechungen von Bild und Ton im Jahr 2009.

Haben Sie einen Lieblingsort in der Stadt Linz?

Den Donaustrand in Alturfahr.

Ein besonderes Bauwerk in Linz ist für Sie …?

… der Pavillon am Urfahraner Parkplatz. Ein leerstehendes Gebäude, in dem sich früher die Touristeninformation befand. Mich fasziniert dieser Pavillon.

Wären Sie ein Kunstwerk des Lentos, dann wären Sie …?

… die Ila von Albin Egger-Lienz, die in der Dauerausstellung zu sehen ist.

Marianne.von.Willemer Preis

Kathrin Stumreich hat mit ihrer Arbeit „What would Ted Kaczynski’s daughter do …?“ den diesjährigen, von Stadträtin Eva Schobesberger verliehenen, Marianne.von.Willemer Preis für digitale Medien, gewonnen. Wir gratulieren herzlich!

„Kathrin Stumreich wirft mit ‚What would Ted Kaczynski´s daughter do …?‘ einen humorvollen und medienkritischen Blick auf eine ambivalente Gesellschaft von technophoben und technikgläubigen NutzerInnen. Mit der von ihr geschaffenen Figur Crystal Tesla antwortet sie auf Fragen zu Überwachung, Anonymität und Identität in einer stark von digitalen Medien abhängigen Realität. Ihre fiktionale Geschichte ist durch medien- und kulturhistorische Zitate aufgeladen, und verweist in ihrer Form auf die Selbstinszenierung der Digital Natives. Mit ihren Apparaturen und DIY-Werkzeugen wehrt sie vermeintlich ein System der Kontrolle ab.

Kathrin Stumreich legt damit ein herausragendes Werk digitaler Medienkunst vor. Besonders überzeugt hat der transdisziplinäre Ansatz“, begründet die Jury ihre Entscheidung.

In unserer nächsten Ausgabe folgt ein Beitrag über die Künstlerin und deren Arbeiten, die zu Beginn 2017 im Rahmen einer Sonderausstellung im Ars Electronica Center zu sehen sein werden.

Infos: www.kathrinstumreich.com

www.linz.at/frauen/5021.asp

„Wittgenstein wandelt wehmütig widriger Winde wegen Wienwärts“

Notes on „Goodbye Wittgenstein“: Über das zurzeit im Salzamt ausgestellte qujOchÖ-Projekt, über eine Kooperation zwischen Linz und Birmingham, sowie über die Verbindung von Liebe und Logik schreibt Robert Stähr.

4. November abends, quitch//: Linz

Ein Mann, eine Frau, zwei weitere Männer, alle jüngeren bis mittleren Alters, nehmen nacheinander am Tisch Platz. Thomas Philipp und Verena Henetmayr, Proponenten des KünstlerInnenkollektivs qujOchÖ, sprechen mit ihren Gästen aus der britischen Stadt Birmingham über deren Selbstverständnis als KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen, ihre Arbeit in Birmingham und die im Rahmen ihres Aufenthalts in Linz geplanten Projekte. Emily Warner, Pete Ashton, Mike Johnston und Trevor Pitt sind im Rahmen eines kulturellen Austauschprogramms zwischen A3 Project Space (Birmingham) und qujOchÖ (Linz) nach Linz gekommen, um unter dem Titel Goodbye Wittgenstein vor Ort künstlerische Projekte zu realisieren, deren Ergebnisse ab 24. November in einer Ausstellung der „kristallin“-Reihe im Salzamt gezeigt bzw. dokumentiert werden.

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein und seine „romantische Liebesbeziehung“ (Website qujOchÖ) zu einem Studienkollegen namens David Hume Pinsent (einem Nachkommen des britischen Philosophen David Hume) bilden das Missing Link des Austauschs zwischen beiden Städten.

http//:qujochö.org

Bereits im vergangenen Sommer realisierten Verena Henetmayr, Thomas Philipp und Andre Zogholy in Birmingham, wo Ludwig Wittgenstein 1913 einen großen Teil seiner Notes on Logic verfasste, welche als Vorläufer des Tractatus Logico-Philosophicus gelten, darauf Bezug nehmende Arbeiten, die – dem Konzept von qujOchÖ entsprechend („qujOchÖ verwendet Alles und Nichts, zeigt, installiert, interveniert, lärmt, baut, diskutiert und verbindet“) – in einem hybriden Feld zwischen Soundart, Performance, Medienkunst und Installation angesiedelt waren. Das Bespielen des öffentlichen Raums, welches für das Kollektiv – einen losen Verbund von AktivistInnen aus unterschiedlichen künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen – ebenso wie ein gewisses Maß an Ironie und die Nähe zu popkulturellen sowie „trashigen“ Ausdrucksformen essentiell sein dürfte, bildete auch in Birmingham den Ansatz für ihre künstlerische Intervention in der britischen Großstadt. Die Bezugnahme auf Wittgensteins dortigen Aufenthalt und seine Beziehung zu David Hume Pinsent erfolgte im Wesentlichen auf einer symbolischen Ebene vornehmlich biographischer Verweise an entsprechenden Schauplätzen.

So bestand beispielsweise die Installation „LOGIC := LOVE“ aus zwei Papageien in Käfigen hinter der Mauer eines Grundstücks in der Lordswood Road 44, wo früher das Haus der Familie Pinsent stand, in dem Wittgenstein wiederholt zu Gast war. Auf einer alten Holzleiter konnten interessierte Passanten über diese Mauer steigen, um die beiden „Sprecher“ abwechselnd die Worte „Logic“ und „Love“ artikulieren zu sehen und zu hören. „Diese Arbeit bezieht sich auf den inneren Kampf von Wittgenstein und Pinsent und ihr Leben zwischen Vernunft und Emotion“ lautet das diesezügliche Statement im Projektbericht auf der Website von qujOchÖ.

„THE MEANING OF DICTATION“ thematisierte auf eine ganz konkrete Weise das Verhältnis von Phonetik und (Laut-)

Schrift: Vor dem ehemaligen Sitz der Berlitz School of Language, wo Wittgenstein 1913 die erwähnten Notes on Logic in deutscher Sprache diktierte, stand eine original Adler-Schreibmaschine aus dem Jahr 1911 auf einem alten Holztisch; (englischsprachige) PassantInnen wurden gebeten, nach Diktat der Notes das Gehörte niederzuschreiben und anschließend vorzulesen, was wiederum aufgezeichnet wurde.

Diese beiden sowie die restlichen vier Interventionen wurden in einer so bezeichneten „Pop-Up-Ausstellung“ im Rahmen eines eintägigen Kunstfestivals ein weiteres Mal in Birmingham realisiert.

23. November abends, Salzamt//: Linz

Knapp drei Wochen nach dem Info-Abend im quitch stehen Emily Warner, Trevor Pitt, Pete Ashton und Mike Johnston vor dem Vernissagenpublikum im Galerieraum des Salzamts an der Oberen Donaulände in Linz, wo der aus einer Wiener Industriellenfamilie stammende Philosoph zwischen 1903 und 1906 die „K.u.k.-Realschule“ besuchte, um die hier ausgestellten, im Laufe ihres Aufenthalts als Artists in Residence (weiter)entwickelten Projekte zu erläutern, welche sehr unterschiedliche Bezugnahmen auf Wittgenstein und Linz aufweisen.

Sowohl Pitt als auch Johnston stellen schriftliche Arbeitsmaterialien aus: Während Trevor Pitt eine Folge von Szenen seiner (bislang auditiv in Ansätzen realisierten) „21st Century Queer (P)opera David and Ludwig“ in einer Reihe von handzettelgroßen Blättern an eine Pinnwand geheftet hat, gewährt Mike Johnston anhand einer Fülle von mit Namen, Stichwörtern und Begriffen beschriebenen Zetteln und deren Anordnung (bzw. Verwerfung in Form von zerknüllten Zetteln) Einblick in seine „Schreibstube“, wo er am „Linz Chapter“ eines „ongoing written work inspired by Wittgenstein’s visits to Birmingham“ (Johnston) arbeitete. (Das Linz-Kapitel war auch Gegenstand einer den Abend beschließenden Lesung des Autors.)

Emily Warners Zugang zu Wittgenstein ist ein stärker physisch geprägter: Fokussierend auf Wittgensteins biographisch bezeugte Sehnsucht nach Isolation und Abgeschiedenheit („desire for isolation and seclusion“) entwickelte sie Objekte und unter Verwendung dieser Objekte performative Akte im öffentlichen Raum von Linz, deren Verlauf sie in einer Videoinstallation zeigt. Die beiden leicht enigmatisch anmutenden gelben Objekte in Form eines Quaders und einer Pyramide ergänzen die Ausstellung im Raum.

Pete Ashtons mehrteilige Arbeit „Wittgenstein wandelt wehmütig widriger Winde wegen Wienwärts“ ist die komplexeste der im Salzamt gezeigten Positionen. Sie fußt auf den verschiedenen Pfaden, die der Künstler – „Finding the direction of Vienna from the school“ – von der ehemaligen Schule Wittgensteins in der Steingasse in Richtung Donau einschlug. Ashton zeigt die gerahmte Übersetzung des zitierten Satzes in Englisch und verschiedene Zahlensysteme sowie mittels Algorithmen in einem Bild überlagerte 86 (!) entlang der Gehrouten aufgenommene Photographien. Mithilfe eines „neuralen Netzwerkes“ generierte Ashton zudem einen als Buchpublikation ausgestellten Text, der auf „Wittgenstein’s extant writings“ basiert.

Die dazugehörige Audioaufnahme korrespondiert mit dem in einem Nebenraum der Galerie nochmals ausgestellten „MEANING …“ von qujOchÖ. Direkt gegenüber können die BesucherInnen auf eine Leiter steigen und hinter einer Wand auf zwei Screens die beiden Papageien in ihren Käfigen krächzen hören. Kann denn LOGIK LIEBE sein?

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die Institution Salzamt budgetären Einsparungen nicht zum Opfer fallen darf.

 

Die Ausstellung „Goodbye Wittgenstein“ ist noch bis 9. Dezember im Atelierhaus Salzamt zu sehen.

Mehr Infos zu qujOchÖ: qujochoe.org

Ein bunter Hund oder unsichtbar

Unter anderem über „niemals angestrengte, niemals aufgelöste, stets glattrasierte Gesichter der Macht“ schreibt Otto Tremetzberger in seinem neuen Buch „Die Unsichtbaren“, das im November erschienen ist. Ines Schütz hat es gelesen.

Das Cover von Otto Tremetzbergers Roman „Die Unsichtbaren“ weckt Erinnerungen: Ein Kind in den Siebzigerjahren (darauf deuten jedenfalls die beigefarbene Cordhose mit Hosenträgern, das rot-weiß karierte Hemd und die roten Sandalen) hält sich die Augen zu – „einschauen“ hat man früher bei uns dazu gesagt. Vielleicht murmelt es noch die letzten Zahlen ganz schnell, um dann loszustürmen und die anderen zu suchen. Vielleicht möchte es aber auch selbst nicht gesehen werden – also Augen zu und weg. Daran haben wir doch alle einmal geglaubt, zumindest kurz, genauso wie der Ich-Erzähler im Roman. „Unsichtbarsein. Ein Bubentraum, denke ich. Als Kind habe ich mir vorgestellt, man könnte durch Wände gehen, einfach so, wenn man nur wollte, aber aus Angst, in der Mauer steckenzubleiben, habe ich es nie getan.“

Unsichtbarsein heißt in diesem Roman aber auch, zu wenig Bedeutung haben. Wer keine Spuren hinterlässt, wird auch leicht übersehen, wer schwach ist, zählt nicht. Zumindest nicht in der Welt, in der sich der Ich-Erzähler im ersten Teil des Buches bewegt: ein Büro im dreizehnten Stock der ACIM Technical Solution GmbH, einen Stock unter der Chefetage, die der Ich-Erzähler und sein Kollege wie zu Schulzeiten „Direktorium“ nennen. Ein Zuviel an Bedeutung macht offensichtlich auch unsichtbar, auf alle Fälle ununterscheidbar hinter dem gleichen Äußeren: „Immer aufs Neue staune ich über dieselbe graue, wie auf die Haut gemalte Tönung in ihren niemals angestrengten, niemals aufgelösten, stets glattrasierten Gesichtern der Macht. Oder ist es Make-up, oder sind es Masken aus Elfenbein?“

Bei Besprechungen in der vierzehnten Etage hat der Erzähler oft den Eindruck, er sehe und höre alles wie durch einen Filter hindurch und fühlt sich zurückversetzt in seine Kindheit: Schon damals hatte er die Welt wie durch ein Wasserglas gesehen, aber dafür gab es einen Grund: die Unverträglichkeit von künstlichem Licht.

Auf „seiner“ Etage geht es nicht viel besser. Hier scheinen zwar viele wichtig, aber ob das auch alles echt ist? „Was ich mir denke, was ich niemals ausspreche: Hier ist keiner er selbst. […] Wir tragen Bezeichnungen, Titel. Facility Manager. Senior Sales Manager … Rollenbeschreibungen. Rollen, das ist wahr, aber wir haben es nicht nötig, einen Text zu lernen. Eines Tages um acht sitzt man an seinem Schreibtisch. Man beginnt mit seiner Arbeit so selbstverständlich, wie man nachts schläft – und wie im Schlaf wacht man manchmal auf, für einen Augenblick verwirrt und orientierungslos.“

Der Ich-Erzähler ist Teil in diesem Spiel der Wichtigkeiten, auch wenn er ab und an gern ein wenig ausbrechen möchte. Herumblödeln im Aufzug zum Beispiel, allein vor dem Spiegel Grimassen schneiden und den Clown spielen. „Aber in der Kabinenwand sind Mikrofone, in den Deckenpaneelen ist eine Kamera eingebaut. Die Aufzüge werden seit dem Auffliegen einer Betriebsspionage überwacht.“ Manchmal kippt der Ich-Erzähler aus dieser eingespielten Maschinerie heraus. Dann scheinen die anderen über Menschen wie über Film- oder Romanfiguren zu reden, kommen ihm ihre Stimmen wie ein fernes Rauschen vor, dann spielt sich alles wie durch einen Schleier hindurch ab – und er steht daneben.

Zuhause wird Paella mit Kaninchen und französischer Rotwein aufgetischt, und plötzlich erscheint dem Erzähler auch seine Freundin, die Schauspielerin Anna, völlig fremd: „Unser Leben kam mir vor wie eine Erfindung; eines dieser Stücke, die jemand […] inszenierte, Abklatsche, Reste von Wirklichkeiten, Kulissen.“ Dabei hatte er selbst die Arbeit am Theater aufgegeben, um genau dem zu entgehen: „Mein Leben war mir schließlich wie eine Fälschung vorgekommen. Was ich erlebte, waren Kopien von Einbildungen und Fantasien, Ereignisse, von denen ich gelesen, von denen ich bloß geträumt hatte, eigene und fremde Vorstellungen, die sich eines Tages als wahr herausstellen würden. Wenn ich ins Theater ging, meist gegen Mittag, war ich nie sicher, wäre ich nachts noch derselbe?“

Trotz dieser gelegentlichen „Aussetzer“ spult sich der Alltag immer gleich ab. Doch dann ist da plötzlich diese Notiz auf dem Schreibtisch des Erzählers, er solle K. anrufen. Den Jugendfreund, der zu jenen gehört, die einem nicht im Gedächtnis bleiben. Wären da nicht immer wieder Zufälle, die den Erzähler an ihn denken lassen, er würde ihn glatt vergessen, er wäre für ihn nicht existent. Der Freund, mit dem er sich in Kindertagen Namenszettel mit „Ivan Lendl“ oder „Boris Becker“ an die Tennis-Tasche gehängt hatte – „Ein Stolz war in uns, wenn wir auf den Platz gingen, siegessicher, die Taschen geschultert, das Racket im Arm, die Büchse mit den gelben Filzbällen … Mit diesen Schildern, fanden wir, hatten wir das Recht, uns wie Lendl oder Becker zu fühlen, Lendl oder Becker zu sein.“ In der Erwachsenenwelt ist K. ganz eindeutig nicht zu den Siegern zu zählen: Er demonstriert „Gegen Staat und Kapital“, lebt in einem desolaten, verlassenen Haus – und liegt nach einem „Handgemenge“ im Krankenhaus. „Du sollst K. anrufen!“ – diese Worte bringen etwas zum Kippen im Leben des Erzählers und auch in der Erzählung selbst. Die Entscheidung, K. im Krankenhaus zu besuchen (in dem er selbst als Kind eine Zeit lang war), wirft ihn heraus aus seinem Alltag, aus dem, was er für seinen Alltag gehalten hatte, und erschließt ihm eine neue Welt. Vielleicht lässt sie ihn aber nur wieder eintauchen in ein Leben, das für ihn verschüttet war: „Später wurde mir klar, bei dieser Begegnung geschah etwas mit mir, als wäre eine Art Schalter betätigt worden; ein Weckruf wie für einen Schläfer. Nach und nach verstand ich dann: Nach zwanzig Jahren habe ich wieder damit begonnen, zu beobachten. Als hätte ich nach langer Zeit die Augen geöffnet. Augen, die nicht bloß in meinem Kopf, sondern auch an den Beinen, den Schultern, den Fingern säßen, mit denen ich alles um mich aufnähme, haufenweise späterer Erinnerungen sammelte, die ich schließlich aus mir herauspressen würde.“

Welches Leben ist das „echtere“? Gibt es hinter den Masken und Kulissen so etwas wie ein „wahres“ Leben oder konstruieren wir uns das auch immer nur selbst? Kann man der eigenen Wahrnehmung trauen oder geht nichts „ungefiltert“? Der Roman beantwortet keine Fragen, aber er wirft sie auf. Und er zeigt, dass wir die Grenzen, die wir um unser Konstrukt von Identität ziehen, nicht zu ernst nehmen sollten, weil sie auch fließend sein könnten: „Mir fällt ein, dass es egal ist, unter welchen Umständen man lebt oder nicht. Dass man in jedem Augenblick ebenso der eine wie ein anderer sein könnte.“ In seinem Roman „Die Unsichtbaren“ spielt Otto Tremetzberger diese Idee konsequent durch, so entsteht ein Text der Vielstimmigkeit, der Mehrgesichtigkeit. Klar umrissene Charaktere haben hier genauso wenig etwas verloren wie eine geradlinige, vorhersehbare Handlung. „Die Unsichtbaren“ erzählt von einer Fülle an Leben, von all dem, was sein könnte: „Man könnte ein bunter Hund sein oder unsichtbar.“ Und wer weiß, vielleicht funktioniert das mit dem Einschauen ja doch? n

 

Otto Tremetzberger, Die Unsichtbaren, 224 Seiten, Limbus Verlag, 2016