Bei der Leipziger Buchmesse wurden heuer zwei Bücher präsentiert, die beide in Österreich erschienen sind und sich dem kollektiven Arbeiten in der Literatur verschrieben haben. Grund genug, sich Bücher und Kollektiv genauer anzusehen. Über Absurditäten, lustvolles Schreiben, gesellschaftliche Utopien eines Miteinanders und das Kollektiv im Konkreten berichtet Elisabeth Lacher.
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Der Dichter Torma als pataphysische Erscheinung: Vent schreibt Torma. Grafik Nicole Szolga
„Wenn eine Person für sich alleine einen ganzen Roman schreiben kann, dann könnte man diese Arbeit ja auf mehrere Personen aufteilen. Bei elf Personen wäre das dann ein Elftel Roman. Das müsste doch zu schaffen sein …“. So erzählt einer der Autoren der Schreibtruppe kollektiv roman, welche im April in Linz ihren Debütroman „wollen schon“ präsentierte. Eine Geschichte rund um das Erbe eines Alt-68ers und voller Fragen, was freies Leben und Arbeiten heute bedeuten kann.
Die Geschichte beginnt mit dem Zusammentreffen von Professor Mewald und der jungen Wissenschafterin Hannah Wolmut. Der Professor wirft ihr, stellvertretend für eine ganze Generation an prekarisierten WissensarbeiterInnen vor: „Freiheit ist für euch doch nur ein Propaganda-Begriff. Eine leere Hülse! Ihr wollt in Wirklichkeit gar nicht frei sein, keiner von euch!“ Hannahs Rotwein landet an jenem Abend im Gesicht des Professors. Das nächste Mal, als sie von ihm hört, hat er ihr ein Wiener Seminarschlössl und einen beachtlichen Geldbetrag vererbt. Mit der Auflage, ein freies Institut zu gründen und WissenschafterInnen einzuladen, für drei Jahre dort im Kollektiv zu leben und zu arbeiten. Im weiteren Verlauf der Geschichte liest man dann über diverse Einladungen ans Institut und die Anfahrtsgeschichten der zukünftigen Mitglieder. Die einzelnen AutorInnen entwarfen je ein oder mehrere Mitglieder des Instituts. In Schreibklausuren, Skypekonferenzen und Mailaustausch wurde dann über den Zeitraum von drei Jahren hinweg gemeinsam geschrieben, überarbeitet, Texte verschränkt, eine gemeinsame Sprache gefunden. Und Freunde schrieben und arbeiteten hie und da auch noch mit.
Wie das gehen soll? Eine durchaus berechtigte Frage. Die AutorInnen meinen Unterschiedliches dazu. Zuerst natürlich muss man das miteinander Arbeiten auch wirklich wollen. Die Bereitschaft, selbst geschriebene Textteile der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen, gemeinsame Ideen zu entwickeln, auch mal das Eigene zurückstellen zu können, Ungleichzeitigkeiten auszuhalten; das ist im kollektiven Schreiben unumgänglich. Und dass das Kollektiv bei „wollen schon“ nicht nur als vielversprechende Worthülse am Buchcover prangt, sondern auch wirklich drin ist, das ist erfrischend. Trifft man doch derzeit in Kunst und Kultur allerorts auf die Nonplusultra-Modebegriffe: Kollektiv und Partizipation. Diese zieren zahlreichst Projektbeschreibungen und öffnen Fördertöpfe. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das Kollektiv meist als bloße Zusammenarbeit mit klarer Aufgabenverteilung, statt Partizipation findet sich lediglich Interaktion. Eine recht fade Erscheinung, die man dem kollektiv roman sicher nicht nachsagen kann. Und das sei der Truppe hoch angerechnet. Die haben wirklich miteinander geschrieben und produziert. „Manche von uns haben schon zuvor etwas veröffentlicht. Für andere ist es das erste Mal, dass sie an einem Buch schreiben. Aber eines haben wir alle gemeinsam: Schreibend sind wir zusammengekommen. Haben als eine Art Nachbarschaftshilfe für Texte gearbeitet. Und Situationen geschaffen, sowohl literarisch als auch in der Organisation des Schreibens, die ein kollektives Arbeiten überhaupt erst zulassen. Uns war es nicht nur wichtig, gemeinsam ein Buch zu schreiben, wir sehen Zusammenarbeiten und Kollektiv als gesellschaftliche Vision des Miteinanders.“
Eine schöne Vision. Was ist nun über den Inhalt des Romans, den literarischen Gehalt zu sagen? Wer vor dem Einschlafen gerne deutschsprachige Literatur à la Robert Musil, Marlene Streeruwitz oder Ingeborg Bachmann liest: zu diesem Nachtkästchenkollektiv wird und kann sich der Roman „wollen schon“ literarisch nicht dazugesellen. Dazu bräuchte es doch originellere Ergebnisse im Inhalt und etwas weniger linksliberale Selbstironie. Doch soweit die Gruppe zu verstehen ist, war es nicht das Ziel, ein Meisterwerk zu verfassen. Und das Resultat ist auf jeden Fall vorzeigbar. Ein im Kollektiv geschriebener Roman, der für ein lustvolles Miteinander steht und dem verbissenen Leistungsdruck und erfolgshaschenden Gegeneinander unserer Zeit gehörig in die Suppe spuckt.
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„Le Bord de la mer. An den Grenzen der Berge“ wurde von der Wiener Gruppe Vent schreibt Torma herausgegeben. Michael Bodenstein, Andreas Pavlic und Nicole Szolga begaben sich gemeinsam mit den BewohnerInnen von Vent, einem Bergdorf im hinteren Ötztal, auf die Spuren des französischen Schriftstellers Julien Torma. Dieser verschwand 1933 in Vent und gilt seither als verschollen. Falls er überhaupt jemals gelebt hat. Das ist nämlich nicht ganz so sicher. Es gibt immer wieder Quellen, die behaupten, dass Torma eine Erfindung des Instituts für Pataphysik sei.
So wurde Julien Torma zu einem kleinen, literarischen Mythos. Und seit seinem Verschwinden im Jahr 1933 machten sich immer wieder unterschiedliche Personen und Gruppen auf die Suche nach ihm und seinen Spuren. Wer suchet, der findet, heißt es. Das trifft hier aber nur eingeschränkt zu. Denn wer nach Torma suchet, der findet sehr viel; nur keine klaren Antworten oder belegbare Fakten. Diese sind jedoch, pataphysisch gedacht, auch gar nicht so wichtig. Ist die Pataphysik doch jene absurdistische Wissenschaft, welche Gedanken, Ideen und Vorstellungen in ihrer realen Existenz gleichwertig begreift wie naturwissenschaftlich belegbar Existentes. Der Begründer der Pataphysik war Alfred Jarry, welcher um die vorletzte Jahrhundertwende lebte. Und tatsächlich und nachgewiesenerweise als Person existierte. Genauso wie einige prominente Anhänger und Mitglieder des Collège de Pataphysique. Unter anderem Jean Dubuffet und Marcel Duchamp.
Wenig überraschend sind die Überschneidungen von Pataphysik mit Surrealismus und Dada. Sehr überraschend ist die Herangehensweise der Gruppe Vent schreibt Torma. Zu Beginn wurde über Existenz, beziehungsweise Nichtexistenz von Julien Torma noch einmal kräftig nachgeforscht, und das dürfte der Gruppe doch einige Nerven gekostet haben. So erzählt Nicole Szolga, dass eines Tages, als schon einiges an Recherchematerial zur Pataphysik und zu Julien Torma zusammengetragen war, Andreas Pavlic plötzlich wild schreiend vom Computer aufsprang: „Der hat vielleicht wirklich nicht gelebt, der Torma!“ Was für ein Dilemma, denn auch der Literaturwissenschafter der Gruppe, Michael Bodenstein, meint nach intensiverer Auseinandersetzung mit Tormas Gedichten, dass diese lediglich so wirken sollen, als wären sie aus den 1920er Jahren. Tatsächlich würde er die Entstehungszeit der Gedichte in den 1950er Jahren verorten.
Doch einen Mythos, hat man einmal Feuer gefangen, wird man halt so schnell nicht mehr los. So machten sich Michael Bodenstein, Andreas Pavlic und Nicole Szolga auf ins Tiroler Vent. Im Gepäck den Gedichtband „Le bord de la mer“ von Julien Torma, um die Gedichte in kollektiver Übersetzungsarbeit gemeinsam mit den VenterInnen vom Französischen ins Deutsche zu übertragen. An den Übersetzungsabenden in Vent war es übrigens keine Voraussetzung, die französische Sprache zu beherrschen. Und Deutsch durfte sich auch gerne mal mit dem Ötztalerischen vermischen. „Die Tatsache, dass weder wir noch die VenterInnen mit Sicherheit wussten, ob Tormas Gedichte „echt“ sind, hat zu einer entspannten und spielerischen gemeinsamen Übersetzungsarbeit beigetragen. Uns und den DorfbewohnerInnen ging es nicht – wie sonst beim Übersetzen – um Genauigkeit und Perfektion, sondern um eine gemeinsame Annäherung an Sprache und Dichtung.“
Das alles hört sich etwas irre an? Ja, vielleicht. Aber wer das kleine Buch „Le bord de la mer. An den Grenzen der Berge“ in Händen hält, wird feststellen, dass die Ergebnisse nicht nur spannend und kurzweilig zu lesen sind, sondern die grafischen Gestaltungen der Künstlerin Nicole Szolga so stimmig und schön gemacht sind, dass man es gerne durchblättert und darin liest.
Was ist nun übers kollektive Schreiben und Übersetzen zum Abschluss zu sagen? Ist das sozialromantische Bild des einsamen Dichters und Denkers, der einsamen Dichterin und Denkerin nun endgültig über Bord zu werfen? Ich bin mir nicht sicher. Auf jeden Fall aber sind mit „wollen schon“ und „Le bord de la mer. An den Grenzen der Berge“ zwei unterschiedliche und durchaus spannende literarische Projekte in Buchform erschienen. Worin sich alle Beteiligten einig sind: Es ist lustvoller, gemeinsam zu schreiben. Es ist produktiver, wenn man der Isolation des Schreibens oder Übersetzens entrissen ist. So kündigt kollektiv roman eine Fortsetzung der literarischen Arbeit an. Und wer weiß, vielleicht gelingt der sympathischen Schreibtruppe dann auch eine inhaltliche Schärfung der Erzählung. Und betrachtet man das Ganze pataphysisch, so ist sowieso immer alles möglich. Bleibt nur zu hoffen, dass weder Vent schreibt Torma noch kollektiv roman in den nächsten Jahren als verschollen anzusehen sind.
Aus „wollen schon“ hat das Schreibkollektiv bereits im April in der Alten Welt gelesen.
Ahoi, Julien Torma in Linz!
Am 24. Juni 2016 um 20 Uhr präsentiert die Gruppe „Vent schreibt Torma“ in einer Crossover-Lesung das Buch „Le bord de la mer. An den Grenzen der Berge.“ Bei freiem Eintritt auf dem Salonschiff Fräulein Florentine.
kollektiv roman
„wollen schon“
268 Seiten, 17,95 Euro, zaglossus Verlag
Mitglieder des kollektiv roman: Natalie Deewan, Florian Haderer, Heide Hammer, Alexandra König, Katja Langmaier, Sonja Mönkedieck, Fanny Müller-Uri, VezaQuinhones-Hall, Thomas Schmidinger, Eva Schörkhuber, Kurto Wendt
Vent schreibt Torma
„Le bord de la mer. An den Grenzen der Berge“
80 Seiten mit DVD, 10 Euro, ventschreibttorma@gmail.com
Vent schreibt Torma sind: Michael Bodenstein, Andreas Pavlic, Nicole Szolga und BewohnerInnen des Tiroler Bergdorfs Vent