Editorial

Vom Cover blickt dieses Mal Gertrude Avi: Möglicherweise 1982 gerade mit ihrem Mercedes am Gelände des Urfahraner Marktes angekommen, ist sie Mitglied einer derjenigen Schaustellerfamilien, die Fahrgeschäfte für Jahrmärkte betreiben. Anlässlich der Ausstellung „Urfahraner Markt – 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“ haben wir Veronika Barnaš gebeten, speziell über die abenteurerischen wie unternehmerischen Lebensrealitäten dieser Berufsgruppe zu schreiben.

Es ist uns eine besondere Freude, in dieser Ausgabe zwei Textauszüge abdrucken zu können, die man vielleicht von „Faction-Roman“ bis hin zu einer literarischen Odyssee, in der „alles erfunden, aber nichts Fiktion“ ist, in einem Satz zusammenfassten könnte. Es handelt sich damit um die wunderbaren Texte aus Walter Kohls „Out Demons Out“ und Lisa Spalts „Die zwei Henriettas – Eine Odyssee“. Vom Inhalt und literarischem Ansatz sind diese beiden aktuell erschienen Bücher sicherlich grundverschieden. Jedoch entfliehen sie, jedes auf seine Weise, einer allzu simplen vorgefundenen Realität: Ist Spalts Buch ohnehin als Odyssee angelegt, ins Netz, in Vergangenheit und auf einen anderen Kontinent, so verhalf Kohl in den 60er und 70er Jahren der Psychedelik-Rock-Berserker Edgar Broughton, mitten in der österreichischen Enge, den größeren, weiteren Horizont zu entdecken.

Es geht weiter mit zwei Festivals, auf die wir hinweisen möchten: So hat Pamela Neuwirth bereits im Vorfeld von Crossing Europe die Filme der diesjährigen Filmkünstler Anke und Wilhelm Sasnal gesehen, denen heuer das Tribute gewidmet ist. Und natürlich ist Next Comic das zweite Festival, das wir als Must in unserer Frühjahrausgabe betrachten: Hier stellte uns Anna Haifisch diejenige Arbeit aus ihrer Artist-Serie zur Verfügung, die den Artist ins kühle Eis verfrachtet. Während sie selbst sich, man darf es sagen, als Next Comic-Artist-in-Residence im Salzamt pudelwohl fühlt.

Eine letzte inhaltliche Klammer hier am Ende dieses Editorials: Widmet sich Silvana Steinbacher in ihrem Interview mit Christoph Leitgeb der Angst, dem Fremden und dem Unheimlichen an sich, mit einem besonderen Fokus auf die Literatur, geht es im Interview mit Helena Waldmann auf tänzerische Weise zur Sache. In Waldmanns Stück, das bei den Posthof Tanztagen gezeigt wird, entspinnt sich – laut des noch während der Stückerarbeitung geführten Interviews – ein symbolisches Battle zwischen zeitgenössischen TänzerInnen und Artisten des „neuen Zirkus“. Neben der ungewöhnlichen, jedoch höchst bildhaften Entsprechung auf die feinen kulturellen Unterschiede geht es im Stück jedoch auch vielmehr um Bewertung, die Angst vor dem Fremden, um Grenzen und das Comeback von Mauern.

Wir meinen: Es geht in dieser Ausgabe, positiv gesprochen, also ums Fahren, Fliehen, Überwinden. Und stellen außerdem fest: Selbst so manches Inserat ziert diesmal eine Mauer.

Ihre Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

www.diereferentin.at

Fahren, Fahren, Fahren.

Das Schöne am Eintauchen in ein vermeintlich lokales kulturgeschichtliches Thema ist, welche Vielzahl an unerwarteten Welten sich eröffnen. Das erlebte Veronika Barnaš während der Mitarbeit an der Ausstellung „Urfahraner Markt – 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“. Für die Referentin schrieb sie über oberösterreichische SchaustellerInnen – von Urfahr bis in den „Orient“.

Beim Blick hinter die Kulissen des größten Jahrmarkts Österreichs war die größte Überraschung für mich die Entdeckung der Berufsgruppe der SchaustellerInnen. Als solche bezeichnen sich die BesitzerInnen und BetreiberInnen der unterschiedlichen Fahrgeschäfte wie Kettenkarussell, Autodrom, Riesenrad und Hochschaubahn sowie von diversen Schießbuden. Dass der Wiener Prater z. B. seit Generationen von einigen wenigen Schausteller-Familien betrieben wird, die dort auch leben, ist landläufig bekannt. Die Frage, wer die Kettenkarusselle und Autodrome auf den Kirtagen, Stadt- und Dorffesten sowie Weihnachtsmärkten betreibt, kam mir allerdings nie in den Sinn.

Die bewegten (Familien-)Geschichten, die sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nachvollziehen lassen und die sich in verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen widerspiegeln, sowie die Verwandtschaft der oberösterreichischen Schausteller-Familien untereinander, kamen zur Überraschung hinzu.

Wer kennt heute noch die „Erste europäische Todeskugelfahrerin“ Theresia Sonnberger – eine der fünf Sonnberger-Schwestern? Aus einer alten Schaustellerfamilie stammend, trat sie in den 1930ern mit Heinrich Straßmeier sehr erfolgreich unter dem Künstlernamen „Heinz und Gitta Gordon“ auf. Mit Motorrädern in einer Stahlkugel fahrend unterhielten sie die BesucherInnen – „Stirbt heute eine/r oder nicht?“ Theresia Sonnberger verließ zwar das Metier und wurde „privat“, ihre Schwester Olga heiratete allerdings in die Schausteller-Familie Rieger. Eine weitere der „Sonnberger-Girls“, Aloisia, heiratet wiederum Heinrich Straßmeier und auch ihre Nachfahren sind heute noch am Urfahraner Markt tätig.

Oder wer kennt heute noch die Geschichte von Johannes Mayerott (1840–1909), der mit seinem „Panorama“ (einer Vorstufe der Kinematografie) 30 Jahre lang durch Europa und bis den „Orient“ reiste? Das Panorama war ein in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts populäres Freizeitvergnügen. Es ermöglichte mehreren Personen gleichzeitig, stereoskopische Bilderserien in automatischer Abfolge durch ein Guckloch zu betrachten. Gezeigt wurden hauptsächlich exotische, aber auch erotische Motive. Mit der Erfindung der Kinematographie im Jahr 1895 ging die Zeit der Panoramen zu Ende. 1905 stellte Johannes Mayerott den Betrieb ein und starb 1909 in Urfahr. Seine Töchter Auguste, Franziska und Emma führten das Gewerbe der fahrenden Schaustellerinnen in unterschiedlichster Weise fort – Auguste Seitz betrieb ein Wanderkino, während ihre Schwester Emma Strobl u. a. als Wolfsdompteurin auftrat.

Auch den Ururenkel von Johannes Mayerott zog es sehr weit in die Welt hinaus: Erich Avi und seine Frau Elfriede fuhren, in den 1990er-Jahren, sieben Jahre lang mit dem selbsterfundenen Fahrgeschäft „Typhoon“ (600 qm Grundfläche, 200 t) über Hamburg und Antwerpen nach Zypern, wo sie mehrere Jahre Station machten. Der Anlass bzw. Auslöser für die Reise war simpel wie drängend – endlich der Kälte im Wohnwagen in den österreichischen Gefilden zu entkommen. Danach fuhren die Avis durch den Nahen Osten, mit Stationen u. a. im Libanon, Oman, Katar und Bahrain und weiter über Dubai bis nach China. Dort lebten und arbeiteten sie eineinhalb Jahre in Shanghai und Peking. Alles ohne vorherige Sprach- und Ortskenntnisse, natürlich selbst am Steuer der tonnenschweren Lastenzüge und mit dem Ziel, zumindest genügend Geschäft für den Rücktransport zu verdienen (rund 150 000 Euro). Die sogenannten „Rekommandier-Kommandos“ („Kommen Sie! Steigen Sie ein! Bitte anschnallen!“ etc.) wurden von Elfriede Avi von z. B. arabischer Lautschrift abgelesen. Mit dabei immer zwei Reisepässe und das gesamte Bargeld am Körper, um gegebenenfalls rasch das Land verlassen zu können, was sich zumindest einmal als notwendig erwies. Im Nahen und Fernen Osten herrschen andere Gesetze. In China verkaufte das Ehepaar Avi schließlich „Typhoon“, welches heute noch in Dubai in Betrieb ist. Heute betreiben sie noch einige Kindergeschäfte u. a. am Urfahraner Markt und die Ideen für neue gehen ihnen nicht aus.

Natürlich sind dies zwei sehr außergewöhnliche Geschichten, bei der die Faszination neben der Abenteuerlust der SchaustellerInnen, wohl nicht zuletzt mit den Klischees und dem Sehnsuchtsort des „Orients“ zusammenhängt.

Die sicher auch abenteuerliche wie typische Route oberösterreichischer SchaustellerInnen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts führte vom Urfahraner Frühjahrsmarkt über Ried, Kufstein, Wörgl und Schwaz wieder zurück nach Wels und Ried. Der Urfahraner Herbstmarkt im Oktober markierte für viele das Ende der Saison. Die größere Tour folgte immer der Sonne nach – im Sommer über Villach in den Norden nach Deutschland und im Herbst über den Brenner nach (Süd-)Italien, wo man gerne den Winter verbrachte. Im Winter wurden die Fahrgeschäfte und Wohnwagen repariert und teilweise auch Saisonarbeit angenommen. Bis in die 1930er-Jahre reisten die SchaustellerInnen oft nur mit von Pferden gezogenen Wohn- und Lastenwagen (auch über die Alpen). Später wurden die Wohnwägen und Fahrgeschäfte mittels Zug transportiert. Die Kinder waren selbstverständlich immer dabei, mussten/durften mitarbeiten und lernten das Handwerk und Geschäft von der Pike auf. Dieser Umstand brachte mit sich, dass Kinder und Jugendliche bis in die 1970er-Jahre offizielle „WanderschülerInnen“ waren, was bedeutete, dass sie oft alle paar Tage, je nach Jahrmärkten und Route, die Schule wechselten. Schulstempel dokumentieren dies im sogenannten „Wanderschulbuch“. Die WanderschülerInnen waren beliebte KlassenkollegInnen, da sie natürlich auch Jetons verteilten und so Freifahrten ermöglichten. Ab der Mitte der 1970er-Jahre war das WanderschülerInnenleben dann zu Ende und wurde durch ein anderes Extrem ersetzt – das Internat.

In den Gesprächen mit den verschiedenen SchaustellerInnen bestätigte sich auch, dass sie lange mit den Stereotypen und Vorurteilen des so genannten „Fahrenden Volkes“ – im positiven wie negativen Sinne – assoziiert und konfrontiert wurden. Früher wurden unter diesem Begriff zahlreiche Professionen zusammengefasst wie mobile HändlerInnen, wandernde Heilkundige, Quacksalber, Theater- und Puppenspieler und Artisten wie Seiltänzer, Athleten oder Zauberer.

Die „Freiheit“ des Unterwegsseins, das Risiko, das Spektakel und das „Fremde“, mitunter Exotische, das sie lebten und in entlegene Ortschaften brachten, hatte seinen Reiz. Ihre durch und durch „anti-bürgerliche“ Lebensweise wurde zugleich mit Sehnsucht und Abwehr belegt. Und doch waren SchaustellerInnen durch ihre Hautfarbe und Sprache und nicht zuletzt durch die entsprechenden Lizenzen und Genehmigungen anerkannt, „zugehörig“. Ganz im Gegensatz zu vielen Roma und Sinti, die v. a. als fahrende Händler arbeiteten. Diese hatten kaum Genehmigungen oder Staatsbürgerschaften, was sich nach dem Überleben und Ende des Zweiten Weltkriegs als fatal für ihren weiteren Lebensweg herausstellte. Die österreichische Bürokratie verweigerte ihnen ob der „fehlenden“ Nachweise teilweise bis in die 1990er-Jahre die Staatsbürgerschaft, und somit auch Gewerbelizenzen, verunmöglichte also legales Arbeiten. Schausteller-Familien besitzen übrigens bis heute Wanderbücher, in denen man Route und Standorte durch offizielle Stempel von Gemeinden bis über 150 Jahre zurückverfolgen und nachweisen kann.

Viele der Schausteller-Familien erwarben erst ab den 1950er-Jahren Grund und wurden oft erst in den 1970er-Jahren quasi sesshaft. Christine Avi (geb. Schlader) verkaufte z. B. über amerikanische Besatzungssoldaten ein Pferdekarussell in die USA und konnte dadurch einen Grund in Wels erwerben, auf dem dann ein Wohnhaus und Lager gebaut wurde.

Die Rolle der Schaustellerinnen und Frauen von Schaustellern war schon immer eine starke und sehr präsente, und dies nicht erst seit dem Männermangel während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. Sie waren und sind nicht nur für Kinder und Haushalt verantwortlich, sondern auch in alle Bereiche des Unternehmens eingebunden – als Buchhalterin, Logistikerin, Erfinderin, Lastwagenfahrerin, Kassiererin und mehrsprachige Rekommandeurin am Mikrofon.

Bei den zahlreichen Gesprächen mit den zwei Familien Schlader (Linz und Wels), Avi, Gschwandtner, Straßmeier und Rieger wurde immer wieder erwähnt, dass sie alle irgendwie verwandt seien. Einen gemeinsamen Stammbaum gäbe es aber nicht. Ob meiner Leidenschaft in unterschiedlichster Form mit und zu Biographien sowie Lebenswegen zu arbeiten, war dies gleich ein besonderer Reiz. Nach und nach, wie ein Puzzle und durch viele Telefonate konnte ich die erste Fassung eines gemeinsamen Stammbaums von einigen oberösterreichischen Schausteller-Familien erstellen: ausgehend von Georg Schlader (1841–1847) und seiner Gattin Theresia (geb. Juretka, 1847–1928), deren Nachfahren die Familien Schlader (Wels und Linz) und Gschwandtner sind, die durch Heirat mit den Familien Avi, Bachmair und Wiesbauer verbunden sind, sowie auch mit den Familien Deisenhammer und Schorn verwandt. Die erste Version dieses Stammbaums ist neben zahlreichen Photos, Dokumenten, Interviews und Exponaten von und zu den Schausteller-Familien in der Ausstellung „Urfahraner Markt. 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“ im NORDICO Stadtmuseum Linz zu sehen und kann dort auch ergänzt und erweitert werden.

Was allen Schausteller-Familien, die ich traf, gemein ist, ist eine ungebrochene Leidenschaft für ihren Beruf, der starke Familienzusammenhalt, eine große Menschenfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Außerdem ein gewisser Stolz auf ihre Berufsgruppe, der sich nicht zuletzt dadurch ausdrückt, dass zugeheiratete Personen, die nicht aus Schausteller-Familien stammen, „Private“ genannt werden. Der oder die sei ja „von Privat“.

Trotz der Begeisterung für ihr Metier erteilen sie geschlossen einer falschen Romantik eine Absage. Sie sind UnternehmerInnen, die seit dem Aufkommen der Kinderfahrgeschäfte auf Weihnachtsmärkten und der inzwischen zahlreichen Nachfrage von Firmenfeiern quasi das ganze Jahr arbeiten. Teils unter widrigsten (Wetter-) Bedingungen und weder Gewinn noch Verlust des Tages wirklich voraussehend. Und vor allem fahren sie weiterhin. Inzwischen allerdings sternförmig von ihrem jeweiligen Wohnsitz weg (u. a. Wels, Linz, Traun, Marchtrenk) und mit entsprechend schweren und modernen Lastenzügen.

Ihr Geschäft ist es, weiterhin die Leute glücklich zu machen.

 

Veronika Barnaš arbeitete bei der Ausstellung „Urfahraner Markt. 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“ im NORDICO Stadtmuseum Linz im kuratorischen Team gemeinsam mit Andrea Bina und Georg Thiel sowie als Redakteurin für den Ausstellungskatalog. Für die Ausstellung hat sie, an einem Berührungspunkt zur eigenen künstlerischen Arbeit, eine erste Fassung eines gemeinsamen Stammbaums von einigen oberösterreichischen Schausteller-Familien erstellt, der ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. Die Referentin hat Veronika Barnaš gebeten, quasi von hinter den Kulissen des Jahrmarkts zu berichten, und speziell an der Überscheidung zu den eigenen künstlerischen Interessen ganz konkret über die Schausteller-Familien zu schreiben.

 

Veronika Barnaš ist Künstlerin, Kuratorin und Projektentwicklerin. Sie arbeitet forschend, orts-/kontextbezogen und genreübergreifend (Bildende Kunst/Literatur/Theater) – von Inszenierungen und Bühnenbildern über Installationen bis hin zu Mappings von historisch-biografischen Zusammenhängen („Subjektive Kartographien“). Produktionen für das Volkstheater Wien: u. a. Ich bin Zeuge! (Ge-)denksoirée zu den Novemberpogromen 1938, 2014; Ich gehe. Ein szenisches Essay nach Texten von Brigitte Schwaiger, 2013; Auftauchen gemeinsam mit Julya Rabinowich, 2010. Sowie freie Produktionen: u. a. Souvenir. Subjektive Kartographien von Israel (2013–), unORTnung – Eine Ausstellungsreihe in Wien (2006–2010).

Geboren 1978 in Wien. 1999–2006 Studium an der Kunstuniversität Linz – Meisterklasse „Metall“ und MA in der Studienrichtung „raum & designstrategien“. Seit 2014 Univ. Ass. für Künstlerische Praxis am Institut für Kunst und Bildung, Kunstuniversität Linz. Lebt und arbeitet in Wien und Linz.

www.veronikabarnas.net

 

Ausstellung

„Urfahraner Markt. 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“

NORDICO Stadtmuseum Linz

3. Februar bis 21. Mai 2017

 

Katalog

Andrea Bina, Georg Thiel

Urfahraner Markt

200 Jahre Linzer Lustbarkeiten

Herausgeber: NORDICO Stadtmuseum Linz

ISBN: 978-3-7025-0859-3

Verlag Anton Pustet, Salzburg

Wenn ein Toter plötzlich niesen muss …

Wodurch entsteht das sogenannte Unheimliche? Durch das Fremde, wenig Vertraute? Sigmund Freud vertritt eine entgegengesetzte These und formuliert in seinem Essay Das Unheimliche eine erstaunliche Erkenntnis: Unheimlich kann nur sein, was uns einst vertraut und nahe war. Den in Linz lebenden Literaturwissenschaftler Christoph Leitgeb interessiert in literarischen Texten vor allem das Unheimliche der Erinnerung an den Nationalsozialismus.

Das Unheimliche im Fokus. Foto Cornelia Hülmbauer, Tate Modern.

Das Unheimliche im Fokus. Foto Cornelia Hülmbauer, Tate Modern.

Das Unheimliche begleitet Christoph Leitgeb schon seit vielen Jahren. Derzeit schreibt er an einem Buch zu Unheimlichkeit und Erinnerung, das nächstes Jahr erscheinen wird. In seinem letzten Buch arbeitete Leitgeb über Ironie. Das Unheimliche und das Komische der Ironie sieht er aber keineswegs als Widerspruch. Wir treffen uns an einem Sonntagnachmittag, es sollte ursprünglich ein Gespräch über sein neues Buch und seine Forschungsarbeit zum Unheimlichen in der Literatur werden, doch bald drängen sich auch andere Themen auf, und so spannen wir gemeinsam einen Bogen in die aktuelle Gegenwart. Christoph Leitgeb analysiert den gezielten Einsatz des Begriffs Flüchtlingswelle, die Fremdheit der Herrschenden, das Bedürfnis nach dosierter Angst und was es bedeutet, wenn ein Toter auf der Bühne plötzlich niesen muss.

Du beschäftigst dich in deiner wissenschaftlichen Arbeit derzeit mit dem Begriff des „Unheimlichen“, was versteht man darunter?

Da gibt es mehrere mögliche und sinnvolle Definitionen. Allgemein geht es um ein Grenzphänomen zwischen zwei Bereichen oder Räumen, einem bekannten und einem nicht bekannten, und die Theoretiker des Unheimlichen gehen davon aus, dass bei der Grenzverletzung Angst auftritt. Freud etwa vertrat spezifisch die These, dass Verdrängtes Angst auslöst. Wenn Elemente, die ins Unbewusste verdrängt wurden, wiederkehren, entsteht Angst, der Grund der Verdrängung wird bewusst und löst dann das Unheimliche aus. Alle im weitesten Sinn psychoanalytischen Definitionen des Unheimlichen arbeiten mit einem Begriff der Angst. Philosophinnen und Philosophen wie etwa Jacques Derrida haben die Bestimmung der beiden Räume aber später modifiziert und weniger psychoanalytisch als kulturtheoretisch interpretiert.

Du analysierst in diesem Zusammenhang hauptsächlich literarische Texte, auf welchen Begriff des Unheimlichen fokussierst du dabei?

Eigentlich möchte ich mich nicht wirklich für eine eigene, einheitliche Definition des Unheimlichen entscheiden. Das klingt unseriös, aber vielleicht kann ich das am Beispiel von Ilse Aichinger erklären. In Kleist, Moos, Fasane hat sie eine Poetologie der Angst vertreten. „Die Stille zur Angst mißbrauchen“ (1954); „Jeden Tag mit Grauen und unabgeschwächter Angst beginnen, kein schlechter Rat“ (1971); das sind so ein paar ihrer Tagebuchnotizen diesbezüglich. In ihrem Werk findet sich die Angst ständig, der Begriff kehrt immer wieder.

Ist Ilse Aichinger in dieser Hinsicht herausragend?

Ja, es gibt wenige Autorinnen und Autoren, die sich so fundamental auf ihre Angst berufen. Ein Ansatz könnte nun darin bestehen, diese Angst auf den Moment zu beziehen, als ihre Großmutter ins Konzentrationslager deportiert wurde, das war der Moment, in dem Wien für sie als Heimat ins Unheimliche gekippt ist. Ilse Aichinger wurde auch von ihrer Zwillingsschwester Helga, die nach England geflohen ist, getrennt; sie ist zurückgeblieben, um ihre Mutter vor den Rassengesetzen zu schützen.

Freud nennt zum Unheimlichen den Ödipuskomplex, das ist für ihn eine allgemeine Formel für: ein Trieb wird verdrängt und kehrt als Unheimliches wieder. Aichingers Vater – er stammte übrigens aus Linz – hätte Mutter und Tochter schützen können und hat sie verlassen, auch hier könnte eine psychoanalytische Interpretation der Angst ansetzen. Diese Möglichkeit der Interpretation möchte ich anbieten, aber zugleich andere Möglichkeiten offenhalten.

Wenn Ilse Aichinger in ihrer Erzählsammlung Schlechte Wörter heimische Balkone unheimlich macht, dann kann man das in diesem Rahmen psychoanalytisch deuten, sich aber auch die Frage stellen: Warum ausgerechnet Balkone? Der Text Zweifel an Balkonen stammt aus den frühen 1970er-Jahren, ich lese ihn trotzdem als eine Replik auf den Beginn der Zweiten Republik, auf den Balkon, von dem Leopold Figl die Zweite Republik verkündet hat. Für Menschen mit der Vergangenheit Aichingers musste dieser Gründungsakt unheimlich sein, der einen neuen Staat gleichsam im Handstreich mit der Stunde null beginnt. Der Text wäre also Replik auf die Wiederkehr einer „Verdrängung“ innerhalb der Kultur, und diese Interpretation ist mit einem theoriegeschichtlich späteren Begriff des Unheimlichen, mit Derrida etwa, besser zu fassen als mit Freud.

Freud verortet das Unheimliche im Bereich des Eigenen, was zunächst erstaunt. Wenn wir die heutigen Ängste betrachten, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich das Unheimliche zum überwiegenden Teil nicht auf das Bekannte, sondern auf das Fremde bezieht. Ist da eine Situation mit veränderten Vorzeichen entstanden?

Naja. Dieses Problem drückt sich am direktesten in Theorien des Postkolonialismus aus, die mit der psychoanalytischen Tradition davon ausgehen, dass man sich das „Eigene“, also auch das Persönlichste, Individuellste nicht ohne den Blick in den Spiegel des Anderen bewusst machen kann. Das Unheimliche der kolonialen Situation – beispielsweise für Engländer in Indien – ist, dass die Kolonialisierten nicht einfach „die Fremden“, „die Anderen“ bleiben. Situationsabhängig beginnen sie, sich in einer Art Mimikry anzupassen, und sie beginnen zugleich, ein schwer ausrechenbarer Spiegel für das „Eigene“ zu sein: Für den Kolonialherrn ist weniger der fremd gebliebene, traditionelle indische Bauer unheimlich als der angestellte Lakai, der im englischen Anzug steckt und Englisch mit merkwürdigem Akzent spricht.

Um das also auf die jetzige Situation zu übertragen: Wenn uns syrische oder afghanische Männer ängstigen, dann ist es vielleicht am wenigsten das Syrische oder Afghanische an diesen Menschen, das uns unheimlich ist. Darüber wissen die meisten von uns wirklich konkret auch fast nichts. Aber was wir in ihnen wie in einem Zerrspiegel erkennen, ist zum Beispiel ein kultureller und ökonomischer Anpassungsdruck, unter dem nicht nur sie stehen und vielleicht auch ihre rückwärtsgewandte Orientierung auf den Krieg. So angedeutet, ist das Wiedererkennen des Eigenen im Unheimlichen vielleicht zu abstrakt und abgehoben von der jeweiligen Situation. Aber es ist nie einfach nur „das Fremde“, das uns unheimlich ist.

Ich selbst habe drei Jahre in Japan gelebt und fand das Land weniger unheimlich als etwa England oder Tschechien. Für Japan setzte ich voraus, dass dort alles völlig fremd ist. In Japan glaubte ich von vornherein zu wissen, dass ein Lächeln etwas anderes bedeutet als bei uns. Darauf bin ich in England oder Tschechien nicht vorbereitet. Und gerade, wenn dann das Lächeln in einer Situation doch etwas anderes bedeutet, kann es unheimlich wirken.

Du beschäftigst dich in deiner Forschung vor allem mit Autorinnen und Autoren, die sich literarisch mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen, wieso gerade dieser Bereich?

Die österreichische Literaturwissenschaft hat sich mit einigen dieser Texte von Lebert über Jelinek bis Haderlap schon ausführlicher beschäftigt. Wenn man diese Texte also durch die Brille des Unheimlichen neu beschreibt und interpretiert, dann muss sich diese Interpretation zugleich vor einer bestimmten Forschungstradition bewähren.

Der jüngst verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman hat den Zustand einer permanenten, unbestimmten Angst in der Gesellschaft als „Titanic-Syndrom“ beschrieben: als Gefühl, durch eine dünne, tragende Oberfläche durchzubrechen und in der Tiefe des Meeres zu verschwinden. Findest du dieses Bild auch in der Literatur?

Mit den Bildern der „dünnen Membran“ und des „Ozeanischen“ hat auch schon Freud den Übergang vom Bewussten ins Unbewusste beschrieben. Die Meeresmetaphorik findet man in Texten über Krieg und Holocaust, auch in der österreichischen Literatur. Maja Haderlap beschreibt in Engel des Vergessens, wie ihre slowenische Protagonistin die Kärntner Täler wahrnimmt, als seien sie in einem Eispanzer eingeschlossen, über den Krabben, Schnecken und Quallen kriechen. Sie kehrt das Bild also um und beschreibt das Ozeanische als Überschwemmung. Und auch diese Metapher taucht in der Alltagssprache auf, wenn wir zusätzlich zur „Überschwemmung“ an das Bild des „Flüchtlingsstroms“ oder an die „Flüchtlingswelle“ denken. Solche Bilder wirken unheimlich und kanalisieren Angst.

Seit einigen Jahren boomt die Kriminalliteratur. Zusätzlich ist ein Trend festzustellen, dass besonders grausame Krimis, wie sie auch aus dem Norden zu uns schwappen, besonders erfolgreich sind. Könnte ein Erklärungsversuch dafür auch darin bestehen, dass ein vom Leben irritiertes oder verängstigtes Publikum seine Angst durch unheimliche Lektüre kontrollieren möchte? Kann man sich durch die Fiktion von realer Angst distanzieren?

Ja, so würde ich diesen Krimiboom erklären. Angst, die man oft gar nicht fassen, geschweige denn aussprechen kann, wird auf die unheimliche Lektüre projiziert. Man kann dann die Angst mit der Gewalt in der Fiktion dem Anschein nach ausagieren und die Lösung des Krimis beseitigt das Unheimliche dann schließlich ganz, wenn auch fiktiv. Der Soziologe Luc Boltanski hat in einem seiner Bücher vor allem klassische Krimis analysiert. Er behauptet, dass die Lust am Krimi dadurch entsteht, dass die scheinbar vertraute Wirklichkeit durch das Rätsel des Kriminalfalls unheimlich gemacht wird. Regeln werden außer Kraft gesetzt, im Unheimlichen wird die sichere, langweilige Wirklichkeit zur Welt erweitert. Und durch die Auflösung des Falls kippt alles wieder ins Vertraute, der Krimi ist konservativ.

In einem deiner Bücher thematisierst du zentral die Ironie, siehst du eine Verwandtschaft zwischen dem Unheimlichen und der Ironie?

Eine bestimmte Sicht der Ironie gab mir den Impuls, mich mit dem Unheimlichen zu beschäftigen. Robert Pfaller zitiert in seinem Buch Die Illusionen der anderen das Beispiel eines Schauspielers, der als Toter auf der Bühne liegt und plötzlich niesen muss. Diese Situation kann für Theaterbesucher komisch sein, sie kann aber auch unheimlich sein für jene, die in der Theaterillusion befangen sind.

 

Christoph Leitgeb, Univ. Doz. Für Neuere deutsche Literatur, Literaturwissenschaftler, wissenschaftlicher Redakteur der Zeitschrift Sprachkunst.

Literatur sagt …

„… aber im Anfang“, sagst du, „war das Wort, und das Wort war eine Mordsgeschichte in einer dieser Umsonstzeitungen, die neuerdings die ganze Stadt bedecken. Ja, sie sind dafür gemacht, zu- und nicht aufzudecken, und siehe, das Wort wurde wahr.“

Zitat vom Beginn von „Die zwei Henriettas. Eine Odysse“ von Lisa Spalt.

The Sun. The Sun blinded me.

Das Tribute beim diesjährigen Filmfestival Crossing Europe ist Anka und Wilhelm Sasnal gewidmet. Pamela Neuwirth hat den diesjährigen Eröffnungsfilm The Sun bereits gesehen und einen Blick auf das Filmschaffen des Regie-Ehepaares geworfen. Politische Haltung, Polen, die Tristesse am Land und ein unverhohlenes Interesse an den menschlich dunklen Seiten: Wegen Vieldeutigkeit und existenzieller Offenheit der Filme garantiert kein Spoileralarm.

The Sun. The Sun blinded me – die letzte Filmarbeit der Sasnals von 2016. Bild The Sun. Filmstill.

The Sun. The Sun blinded me – die letzte Filmarbeit der Sasnals von 2016. Bild The Sun. Filmstill.

Wenn The Sun mit einer Sequenz zweier aufeinandertreffender, trauriger, sich nicht weiter bekannter Männer, deren Wege sich ebenso abrupt wieder trennen, beginnt, ist noch nicht offensichtlich, warum gerade diese Geschichte als Eröffnungsfilm des Crossing Europe Filmfestival ausgesucht ist. Das Vexierspiel aus Angst und Konvention und Verrat entspinnt sich erst langsam mit dem laufenden Protagonisten; nennen wir den Helden im Folgenden den Läufer. Er, der Läufer, der jeden Tag seine Runden dreht, gerät in einen Sog, in den er sich weitgehend unkommentiert und scheinbar unbeteiligt hineinziehen lässt. Später werden andere die tödliche Eskalation erklären und als Nichtbeteiligte die Tat und ihn richten. Dem KünstlerInnenpaar Anka und Wilhelm Sasnal, die neben der bildenden Kunst (Wilhelm Sasnal) Spielfilme wie auch Kurzfilme produzieren, haben mit dem heurigen Eröffnungsfilm von Crossing Europe einen Rückgriff auf das 1942 erschienene Buch Der Fremde von Albert Camus gemacht und eine filmische Neuadaption realisiert. Der Fremde ist die Geschichte eines Mordes. Camus’ Geschichte und deren Tatort haben die Filmemacher Sasnal für The Sun. The Sun blinded me an einen namenlosen Strand im heutigen Polen verlegt, das, wie jedes andere Land und jede andere Gesellschaft in Europa, mit den aktuellen Migrationsentwicklungen zurechtkommen muss. Das Polen der Sasnals ist ein enges Gehäuse aus Staatsreligion und ihrer orthodoxen Riten, aus xenophoben Gerede über Ebola und „den Ukrainern“, das während einer Feier beim polnischen Barbecue unverhohlen ausbricht. Das Heilige trifft auf das Profane, wobei die beiden naturgemäß gegensätzlichen Pole – an anderer Stelle auch in der Figur des Pfarrers vereint – ins Bodenlose zu stürzen scheinen. In der Stille seines kleinen Lebens wird der Geistliche ohne seine heiligen Insignien etwa zum gewöhnlichen Menschen, der in Unterhosen sein Käsebrot isst und zu viel Aftershave benutzt, bevor er später wortreich die Auferstehung verkündet. Erlösung, Mitgefühl und Gnade, Werte, denen der Geistliche und seine fromme Schar bei einem Begräbnis huldigen, werden letztlich niemandem zuteil und reduzieren sich auf Konventionen und Rituale. Nur der eingangs erwähnte Läufer schweigt und läuft emotionslos seinem Schicksal entgegen, das mit dem Fremden auf geheimnisvolle Weise verbunden scheint. Durch die Filmkunst des polnischen Regie-Paars ist die Erzählung nahe an die Untiefen der Gesellschaft herangeführt. Ein Kunstgriff ist es auch, dass jener, der vordergründig Schuld auf sich geladen hat, seltsamerweise – um in der religiösen Diktion zu bleiben – davon trotzdem unbefleckt scheint. Es gibt Dinge und Verhältnisse im Leben, die nicht begründet und auch durch Urteile nicht mit Sicherheit geklärt werden können. Die Dinge und Verhältnisse sind meistens größer, als es das Individuum ist und sie verweisen sehr oft auf gesellschaftliche Kräfte im Hintergrund. So bleibt das Motiv der Tat eines Vereinzelten vordergründig rätselhaft und kann auch vor der Gerichtsbarkeit nur mit unzureichenden Gründen erklärt werden: The Sun. The Sun blinded me. Es wird jemand anderer die Runden des Läufers im Weltgeschehen drehen müssen.

Von der Idylle des Landlebens freilich kann man sich beim Eintritt ins Kino auch bei Swineherd (2008) verabschieden. Swine­herd versteht sich als Referenz auf das gleichnamige Märchen von Hans Christian Andersen und ist im Film als absurd-perverser Kosmos auf einem fast normalen polnischen Bauernhof angesiedelt. Swineherd ist ein Paralleluniversum, indem die Währung der Menschen aus Brotkrumen und Habseligkeiten besteht, die man sich heimlich zusteckt oder stiehlt. Swineherd erzählt vom technologiefreien Leben, von Kitteln und Hosentaschen, die als Kommunikationskanäle für Zettelchen dienen – falls man kein Analphabet ist. Swineherd zeigt eine Welt, in der der Bauer längst selbst zum Knecht degradiert worden ist und trotzdem das Hegelsche Herr-Knecht-Verhältnis weiterspielt. Und so vom Gutsbesitzer-Knecht kontrolliert, entwickelt auch das rare soziale Leben seine täglichen Heimsuchungen und Sabotagen, wodurch auch das einzige moderne Kommunikationsgerät – ein Radio – bald ertränkt wird, somit niemand sich daran erfreuen kann. Wer hat etwas zu sagen und wer ist der Gute in der Geschichte vom Schweinehirten? Ist es der dem Gutsbesitzer-Knecht unterstellte junge Knecht-Knecht, der mit einem Stock im sprichwörtlichen Trüben fischt und doch nur Nazi-Devotionalien aus dem Schlammloch angelt? Sind es die jungen Leute, die ein Dorffest veranstalten und von Hippie- bis neuerer Musik beschallt, etwas zu sagen haben? Die Jugend, das Fest, ein Musikant in Lumpen, der des Weges kommt und später in einer eigentümlichen Bondage-Variante im Schweinestall zurückgelassen wird – Szenen in Schwarz/Weiß zwischen unverputzten Häusern, Stacheldraht, Nutztieren, seltsamen Stillleben aus Wurst auf Brot auf Hut, und ein noch merkwürdigeres Ende als Ausstieg: Nur ein bisschen Swing aus dem ertränkten Radio und vielleicht könnte die Flucht aus der Trostlosigkeit letztlich doch noch gelingen?

In Polen bleibt es auch in drei weiteren Filmen rätselhaft: It Looks Pretty Nice From A Distance, ein Film von 2011, stellt keine eindeutige Aussage in den Vordergrund. Verfremdete Geräusche und zumeist Stille halten eine sich grausam am ländlichen und menschlichen Minimum dahinentwickelnde Geschichte in der Schwebe. Eine Stringenz der Erzählung wird auch durch eine fast aufgehoben wirkende Zeit verunmöglicht. Dass auch so das klassische Anfang-Mitte-Schluss-Paradigma des Films aufgehoben wird, kann jedoch das Filmpublikum näher an ihre eigene Lebensrealität heranführen, wo diese Scheinordnungen ja trotzdem auch nur schwerlich existieren. Alexander (2013) zeigt ebenso, jedoch etwas freundlicher, die ländliche Lebenswelt als Niemandsland in der polnischen Weite, Menschen organisieren im Familienbund ihren Alltag. Die heute wieder vielfach verklärte Natürlichkeit des Landlebens wird uns nüchtern vor Augen geführt. Beispielsweise wird die Schlachtung eines Hasen minutiös dokumentiert: als Anatomie des Lebens und des Sterbens. Und last, but not least: Parasite, der 2014 übrigens seine Österreich-Premiere bei Crossing Europe hatte, ist wiederum ein Film, in dem die menschliche Existenz in ihrer Endlichkeit reflektiert wird. Das Leben eines Säuglings wird gegengeschnitten mit dem Leben eines alten Mannes, der mal in der schmutzigen Fabrik, dann im sterilen Krankenhaus zu sehen ist. Der Gegensatz fällt dort zusammen, wo das Künstlerpaar betont, mit wie wenig die Menschen von Beginn bis zum Ende zurechtkommen müssen. Er wird für einen kurzen surrealen Moment, der fast wie auf ein Gemälde gebannt wirkt, zärtlich, wo der alte Mensch mit dem Baby auf der Brust zu sehen ist. Der Trost auf einen Kreislauf des Lebens wird jedoch gleich wieder auf Reverse gesetzt: als künstlerisches Stilmittel kehrt etwa der aufsteigende Fabriksrauch aus dem Schornstein wieder in diesen zurück.

Neben den fünf Spielfilmen präsentiert Crossing Europe auch Kurzfilme aus dem Sasnal-Kosmos. Allen Filmen des Regieduos liegt zwar ein gemeinsamer existentieller Ton zugrunde, oftmals spielen diese Kurzfilme aber nicht im ländlichen Polen und an seinem existenziellen Minimum. Sondern es spielt sich neben der Tristesse etwas Kreatives in den Vordergrund, immer taucht da auch etwas klar Lebensbejahendes auf, mit der eine Schwierigkeit überwunden wird: Mit dem Skateboard über ein zuvor abgesägtes Autodach fahren, mit Protest der Unterdrückung begegnen – popkulturelle Bezüge und Freiheitsgefühl helfen aus der Enge eines regulierten Lebens. Ein Werk, das insgesamt am feinen Grat zwischen Pessimismus, Dystopie und existenzieller Offenheit angesiedelt ist.

 

Crossing Europe findet 25.–30. April in Linz statt.

Das umfangreiche Programm findet sich auf crossingeurope.at

Theorie sagt …

„Übergang oder Austausch müssen dann nach Umwegen oder paradoxen Verbindungen suchen, nach Korridoren, deren schräge Durchquerung nicht immer der exakten Identität der Dinge folgt.“

Wir zitieren „Die zwei Henriettas. Eine Odyssee“ von Lisa Spalt, die wiederum dieses Zitat von Michel Serres’ „Atlas“ ihrem neuen Buch vorangestellt hat.

Die Odysse der zwei Henriettas

„Henrietta“, sagst du dir, „jetzt hast du es kapiert: Die Frage an dich lautet, ob du überhaupt existierst.“. Von Lisa Spalt ist soeben der Roman „Die zwei Henriettas“ erschienen – eine Geschichte, in der nichts erfunden, aber alles Fiktion ist. Ausgangspunkt einer Recherche von hier bis in die USA ist ein Konvolut von Fotografien. Die Sehnsucht nach Wahrheit, Hintergründen und Räumlichkeit prallt auf der Suche nach Information am flachen Bildschirm ebenso ab wie an einer ganz normal irrealen Realität. Ein Textauszug.

Henrietta Goeritz aus dem Roman „Die zwei Henriettas“. Foto Privat

Henrietta Goeritz aus dem Roman „Die zwei Henriettas“. Foto Privat

Henrietta. Das Bild tritt mit deinem Jahrhundert in Verbindung. Ein Paket von Scans vergilbter Fotografien liegt auf deinem Schreibtisch, mit Rändern, die diese bösartige Schlampe von Zeit, in der du lebst, an den Ecken angeknabbert hat, als wären es Tafeln von im Schrank der Oma weiß angelaufener Schokolade. Du sagst dir: Henrietta, schau dir diese Zeit an, in der du ungefähr so lasziv herumliegst wie eine Dame im Burkini irgendwo am Ballermann. Schau dir diese Zeit an, die in ihrem Messie-Haushalt einfach alles vergammeln lässt, die jeden Käse so lange liebt, bis er sich aufbläst und vor Eitelkeit aufrecht zu gehen beginnt, wahlweise in Gestalt eines schnittigen Lehrers aus Nordrhein-Westfalen im vielleicht gewollt unvorteilhaften, mit Kreuze bildenden Karos bedruckten Look, der vor dem Mikro des landesweiten Broadcastings zu flirren beginnt mit dem Ziel, den Hohlraum um sich herum mit einer Art Vervielfältigung seiner selbst zu stopfen, diesen Raum, den man ihm zugemessen hat wie einen zu großen Taucheranzug. Und in deiner Geschichte, die, wenn sie gelungen ist, ein Gleichnis sein wird, geht es natürlich um die letzte Frage. Es geht um die Frage: Ist dieser Käse ein Gedicht. Ja, darum hat dieser vorhin hier eingeführte Mann jetzt etwas zur längst fälligen Schulreform zu sagen, nämlich dass man doch bitte endlich den Konjunktiv zwei und, seien wir uns ehrlich, den Geschichtsunterricht stanzen solle im Lehrplan et cetera, aber sagen wir ruhig „und so weiter“. Du stellst dir vor, wie die Jugend, unsere Zukunft, in irgendeiner beliebigen Bäckerei herumsteht und stottert: „Ich habe so gern ein Kipferl, bitteschön.“ Ja, da käme es zu unschönen Szenen, die der Pfarrer nicht goutieren würde / Schrägstrich / da kommt es zu unschönen Szenen und so fort. Und natürlich lässt du diesen unappetitlichen Tragödienkeks hier angebissen liegen. Denn deine Zeit ist eine Einkäuferin und Nicht-Konsumentin, ein Jahrhundert der Buyies, Messies und Schmeißies, eine Karikatur ihrer ernsten, älteren Geschwister, die vielleicht erwachsener, aber natürlich auch völlig irre waren. Jeden Tag zieht das Gespenst des Jahrhunderts, das seit Menschengedenken immer wieder eine neue Verkleidung annimmt, die Gesichter der Menschen von den Köpfen ab, indem es sie in Pixel übersetzt. Jeden Tag erzeugt es tausende von zusammenhanglosen Bildern, von denen die meisten am Gängelband toter Links verschimmeln und nie ihrer Bestimmung des Betrachtetwerdens zugeführt werden. Dennoch existieren die oft noch, wenn die abgelichteten Menschen schon lange in allen angesagten Shops Hausverbot haben oder sich die Augenbrauen, die sie sich ein Leben lang weggezupft haben, wieder rauftätowieren haben lassen, weswegen manche jetzt aussehen wie nicht ganz fertig gewordene Repliken der Schwester Tutanchamuns. Ja, die Menschen, die heute zu hundert Prozent davon leben, als Models für irgendwelche Bilder zu dienen, welche hauptsächlich dazu da sind, weggeklickt werden, gibt es nur einmal, und das in einem einzigen, unförmigen, länglichen Zeitstück. Diese Menschen werden immer noch in der Zeit spaghettifiziert, sie werden miteinander verknüpft und langgezogen, bis sie als ihre Lebensfäden reißen, während die bunten und perfekten Gesichter derselben Personen aus verschiedenen Zeiten in Filmen und Fotos als Erben nebeneinandertreten, um gegeneinander vollkommen unversöhnlich zu wirken; während sogar die total unterschiedlichen Gesichter der gesamten Menschheit einander gegenübertreten und sich selbstständig um die Sendezeit im Stadt-TV prügeln. Da trifft die Soldatin als Foltermagd aus dem Mittelalter auf den futuristischen Sternenreisenden, der beleidigt die Mundwinkel runterzieht, weil es immer noch keine App gibt, die ihm die Zehennägel in Lachsrosa lackiert. Und für beide stand kurz zuvor dieselbe Darstellerin Modell, aber trotzdem passen die Bilder nicht zusammen. Denn von uns billigen Props schaffen es eben nur ganz wenige, zu hundert Prozent gefilmt zu werden. Es klaffen meist Lücken zwischen unseren schlecht bezahlten, schlecht beleumundeten Auftritten; der Morphing-Prozess des Alterns, der zwischen zwei Bildern vermitteln könnte, ist aus Kostengründen komplett gestrichen. Die erwähnten Zombies von Gesichtern dagegen sind wirklich erst, wenn der letzte Online-Speicher eingeht, auf dem sie herumliegen, erledigt. Da tut es dann auch nichts mehr zur Sache, ob die Schauspielerin, die sie geschnitten hat und darum denkt, es sei irgendwann auf sie angekommen, sich nun irgendwo noch „Fuck you Goethe“ reinzieht und meint: „Ego video, also bin ich“. Die sitzt dann an diesem Punkt ihres Lebens mehr oder weniger unsichtbar in ihrer ungeheizten Blockhütte eines stromlosen Jenseits und denkt darüber nach, ob sie sich mit einer Bombe in die Nachrichten und damit zurück ins Leben sprengen könnte. „Henrietta“, sagst du dir, „jetzt hast du es kapiert: Die Frage an dich lautet, ob du überhaupt existierst.“

Hey, freie Dienstnehmerin. Du bist heute im Krankenstand, was eben gerade nicht bedeutet, dass deine Arbeitszeit ausgeht, will sagen: was eben gerade nicht bedeutet, dass deine Arbeitszeit ins Gewand des Feiertags schlüpft, sondern vielmehr, dass sie, wenn ihre Nachfolgerin aus der nächsten Woche sich bereits zur Tür reinschwingt in ihrem heißen Lederkostüm, seit Längerem ungeduldig auf dich wartet wie die Braut am Wochenende auf ihren Schatz, der sie auf seinem Motorrad mit ins Grüne nimmt. Und die beiden Damen werden natürlich nächste Woche keppelnd vor dir stehen und sich in die Wolle kriegen, weil jede von ihnen deinen Luxus-Körper ganz für sich allein haben will. Bezahlen aber musst du sowieso für beide mit deinem Leben, aber nur für eine kriegst du zur Hälfte bezahlt. Also klickst du jetzt, eine quasi nicht existierende Zeit wie ein aus einem Comic entkommenes Sauerstoffbläschen im Weltall nutzend, probeweise auf www.vorname.com, um zu sehen, wie Henrietta, dein neues Ich, beim altgedienten Personal deines Lebens ankommt. Vielleicht solltest du die Rolle annehmen? Henrietta, Herrin des Hauses: gilt durchwegs als intelligent und extravertiert. Schart ihre Leute mit einfachem Runterziehen eines Mundwinkels um sich. Nun, vielleicht hättest du eine bescheiden die Beine übereinanderschlagende junge Dame mit leiser, rauchiger Stimme, die sich bei Partys in einer dunklen Ecke ihre Slim-Zigarette reinzieht und der heimliche Magnet des männlichen Teils der anwesenden Gesellschaft ist, bevorzugt. Du hattest dir ja eigentlich fix vorgenommen, dieses Mal auf die Glamour-Karte zu setzen. Aber schon wieder wird das alles hier nur ein Knallbonbon. Okay, du klickst, klickst, klickst, das geht dann so hin und her, und am Ende übernimmst du die Rolle der Protagonistin, weil du klamm bist und nie weißt, ob morgen ein anderer Auftrag reinkommen wird. Dein momentaner Job läuft sowieso bald wieder aus beziehungsweise ist das eigentlich immer gerade der Fall, so dass du die Bemerkung stehen lassen kannst, auf dass sie ihre Präsenz eines Sich-Wiederholens im Dableiben entfalte. Also auf ähnliche Weise bleibst ja auch du selbst du selber, während du vorübergehend Betreuerin, Leih-Sandsack diverser Danke-dann-doch-nicht-Chefs oder Schulkrankenschwester Henrietta bist. Das alles bist du, dieser Umstand ist so verbürgt wie die Tatsache, dass Melchisedek, Haile Selassie und Jesus von ein und demselben Gott gespielt wurden, der nur aufgrund dieser drei Rollen ein Stipendium für die Unendlichkeit aushandeln konnte. Dagegen gerätst du bei deinen immer schneller aufeinanderfolgenden Engagements zunehmend in einen Zustand manischer Panik, ein bisschen so, als würde der Zugangscode zu deinem System fortlaufend gewechselt und als würde dir daher dreimal täglich ein Adrenalinschub diesen Schrecken, die gerade aktuelle Zahlenkombination vergessen zu haben, durch die Adern jagen. Aber du musst dich ja nur immer wieder ruhig mit deinem neuesten Unternehmen identifizieren, du musst nur immer wieder alles geben, dann wirst du immer wieder anfangen dürfen, ein bisschen etwas zu werden; daher also – unter anderem – derzeit das Unternehmen Henrietta. Kriegst du die Sache diesmal gebacken? Verflixt: Henrietta hat es dir, das merkst du an den vom Beginn der Unternehmung an freiwillig und entgeltfrei geleisteten Überstunden, bereits angetan. Sie hat, das wird dir klar, tatsächlich dich ausgesucht, um sich zu verkörpern, nicht umgekehrt. Ja, das historische Bild sucht sich den Menschen aus, den es als sein Ebenbild formen kann, aber bei der allgemein herrschenden Blasphemie, die wie alle anderen Erscheinungen des heutigen Lebens zunächst auch als ein verlockendes Bild existiert hat, denkt man jetzt, es gehe auch umgekehrt, und hält sich für den Prototypen des Menschen, nach dem das Ideal produziert werden könnte. Es ist sicher kein Zufall, dass die schöne Henrietta gerade in deinem unzulänglichen Körper geboren werden will: Es gibt da etwas an dir, das hoffnungslos antiquiert ist, und in so einem Biotop fühlt sich ein Gespenst eben wohl, es befindet sich da sozusagen in seiner ihm von einem evolutionären Schneider angemessenen ökologischen Nische. Also freu dich jetzt einfach mal, dass die Benutzeroberfläche von Henrietta schön und cool erscheint, so assoziierst du dich leichter mit ihr. Ist doch ein guter Job, auf jeden Fall um Längen besser, als sich zum Beispiel mit einem Hersteller von lustigen rosafarbenen Weichplastik-Kaktus-Penissen, die inzwischen den größten Teil des Umsatzes von Schreibwarenketten ausmachen, zu identifizieren, nur damit man ein bescheidenes Einkommen hat, mit dem man dann, wenn man, weil man ja selber einfach nicht so bescheiden sein kann wie das Einkommen, nebenbei ein ganz kleines bisschen auf einer der städtischen Müllhalden die Kunststoff-Sammlerin gibt, recht gut auskommen kann. Rohstoffe sind Wertstoffe, like me, like me!, Daumen hoch. Du bohrst deinen rechten Daumen in die darob glücklich erstrahlende Bildschirmluft, die wieder einmal nicht merkt, was ihr widerfährt, und fragst dich, ob Facebook für die Länder, in denen diese Geste als obszön gilt, eigentlich ein eigenes Symbol erfunden hat. Klick, klick. Im Netz, in dessen vieldimensionalem Koordinatensystem du tagtäglich mit eingeklippt wirst, scheint es, als du neugierig nachhakst, die Frage nicht zu geben. Sie ist, technisch gesehen, stellbar, also formulier- respektive ins Suchfeld eintippbar, aber das kollektive Gehirn kann auf sie offensichtlich keine Antwort generieren. Dieses ganz persönliche Auffang­netz für deine Gegenwärtigkeit dreht dir auf diese Weise gerade die hellrosa Schulter einer Schaufensterpuppe kaukasischen Typs ins Blickfeld, sodass dir wieder einmal die Angst vor einem europaweiten Stromausfall wie ein kalter Kuschelhormon-Entzug den Rücken hochkriecht. Du weißt, was dir in diesem Fall blüht! Dantes Inferno wäre der blühende Dachgarten eines Penthouses bei Abendrot dagegen. Die rund um die Uhr lächelnde und sich bedankende Koreanerin im Sushi-Laden, die, das hast durch ein paar einfache Frage-und-Antwort-Spielchen herausgefunden, in Wirklichkeit ein Pflege-Roboter ist, könnte sich nicht merken, was du bestellt hast. Die Leute wüssten ohne soziale Netzwerke nicht, ob sie gerade beliebt sind oder nicht, Massenselbstmorde würden einer beispiellosen, alle erfassenden Verunsicherung, die man als endlose Challenge einer beliebten Reality-Show empfinden würde, auf dem Fuße folgen. Am Ende würden sich die U-Bahn-Garnituren in den Schächten zu Haufen von Blech verspießen, und wir würden alle auf der Suche nach unseren Liebsten zerlumpt durch die Städte humpeln – Städte, die aufgrund massenhaft auftretender Aspartam-Hypos von in der Folge randalierenden Familienvätern wie zerbombt wirken würden unter dem stinkenden Gelbfilter, den das trotz aller Notstrom-Aggregate und mit extra-langer Laufzeit punktender Smartphone-Akkus am Aufmerksamkeitsentzug langsam verreckende Internet ausdünsten würde. Der Tod der Medien wäre unausweichlich und damit der des einzigen Instruments, das es unserer unterentwickelten Logik ermöglichen konnte, jemals unsere Kohorte zu finden. Mensch, beschäftige dich zur Beruhigung ein bisschen mit der schönen Henrietta, die zu verkörpern du dir vorgenommen hast – eine Frau aus einer Zeit, die zu einem großen Teil ohne Elektrizität klarkommen konnte. Bewundere ihre schlanke Datengestalt. Erkenne, dass, je weiter du bei deinen Recherchen in der Zeit zurückgehst, die Leute, die an den zugigen Ecken der Links rumlungern, immer prominenter und daher immer seltener werden. Es sind fast keine Frauen darunter, und so wunderst du dich nicht, dass die Geschichte immer wieder abreißt: Mit wem hätten die Herren Nachkommen zeugen sollen? Allein: Henrietta ist zu finden.

Wir nähern uns den Fakten, wir nähern uns der Welt. Du sagst dir: Die Daten werden heute in so großen Mengen aus den Tuben gepresst, dass die Geschwindigkeit ihres Erscheinens über ein kritisches Maß der Wahrnehmbarkeit hinausgetreten ist. Auf diese Weise lernten sie als Erfahrungen in vier Dimensionen laufen. Und das ist so ähnlich passiert, wie einst die Bilder im Film beweglich geworden sind. „Was willst du mit dieser Henrietta, geboren, gelebt, gestorben“, fragst du dich. „Hm“, sagst du dir, „du willst eigentlich nur auf die Kommode deiner Vergangenheit deinen Plasma-Schirm der Gegenwart stellen.“ Dazwischen liegen dann die polsternden Luftmaschen einer gehäkelten Zeit – nicht, um die Zeitfenster und ihre Aussichten zu verbinden, sondern damit sie, weil sie allem Anschein nach spröde sind, nicht aneinander zersplittern. Nimm das Deckchen weg, und du ragst zappelnd aus Henriettas gepolstertem JPEG-Sofa vom Anfang der Zwanzigerjahre – genau, das mit den stoffüberzogenen Knöpfen, das jetzt an deiner Stelle steht. Nimm sie weg, und die Zweige der Zimmerpalme lappen schmerzhaft aus dir heraus. Oder du siehst kurz an dir herunter und entdeckst, dass du bereits im Körper der bildschönen Henrietta steckst, dass du in einer Runde von kleinen Gören hockst, die die Kaffeetassen in den Händen gegen die Untertassen klappern lassen. Gerade liest deine Protagonistin, die du fährst wie die Kranführerin ihre Maschine, mit der sie im Laufe ihrer Dienstjahre verwachsen ist, die Zukunft aus ihrem Törtchen. Ihr Singsang erinnert dich an etwas, was sie dereinst werden wird. Gleich machst du daher den Mund auf, weil schließlich du hier leibhaftig die Zukunft darstellst, welche über sich schon so einiges zu erzählen wüsste. Und natürlich entwickeln sich in diesem Setting tumulthafte Szenen, weil du dich in der Zeit Henriettas überhaupt nicht auskennst und dementsprechend unverständlich wirkst. Du dagegen verstehst zwar alles – aber auch wirklich alles falsch. Die Zeit scheint aufgeplatzt wie der Stoffbauch einer alten, mit seltsam harten Kunststoffgliedmaßen versehenen Plinkerpuppe. Das ganze von Babyspucke aus mehreren Kindheiten imprägnierte Füllmaterial quillt raus, aber du hast den Eindruck, man stopfe es dir in den Mund. Und so erzählst du, dumpf brabbelnd, wie durch das undeutliche Gleichnis eines Romans hindurch irgendetwas Verqueres von einer Wohnung, die du gerade besichtigt hast – da erwartete dich vor der Tür ganz Österreich, das hier in Denver keiner auf einer Landkarte fände, ja, ein Österreich, das an diesem Ort der Welt wahrscheinlich gar nicht existiert, wartete auf dich mit blutunterlaufenem Blick, wieder mal ziemlich blöd personifiziert als ein zitternder Alkoholiker, der dich, indem er dir im jammernden Ton versicherte, er sei schlicht für gar nichts, wirklich gar nichts zuständig oder haftbar zu machen, mit taumelndem Schweißgruß willkommen hieß.

Textauszug: Lisa Spalt „Die zwei Henriettas. Eine Odyssee“, Czernin Verlag, Wien 2017

Buchpräsentation 04. Mai 2017 im StifterHaus

www.stifter-haus.at

Feminismus und Krawall

Fotos: Skizzen Ausstellungsbeitrag Feminismus und Krawall (f.u.k.) bei Kristallin#33 im Salzamt Linz

www.feminismus-krawall.at

Out Demons Out

Ein altgewordener Fan aus Österreich trifft den einstigen Polit-Rock-Berserker Edgar Broughton und versucht ihm klarzumachen, wie dessen Musik ihn damals vor der Enge und Bedrückung im dörflichen Post-Nazi-Österreich gerettet hat. „Out Demons Out!“ ist ein Faction-Roman über die Edgar Broughton Band – Walter Kohl hat einen Textauszug des eben erschienenen Buches zur Verfügung gestellt.

… do you wanna be a hero?

Oh Sir, I do.

One more question:

Right, Sir.

Do you wanna go to war, boy?

Oh yes please Sir, yes please Sir!

Charly hatte sie immer beneidet, die Rockmusiker. Wegen der vielen Frauen, der Hotelnachtorgien, der langen Haare und wilden Bärte, hatte er gedacht, als er selber sechzehn war und ihm Hilda und der Maurer und die Klosterschule, auf die sie ihn geschickt hatten, vorschrieben, wie lang seine Haare sein durften. Nicht sehr lang nämlich. Nur unwesentlich länger, als sie der Maurer getragen hatte, damals, bei der Hitlerjugend und im Reichsarbeitsdienst und beim U-Boot-Corps.

Im Kino sah er den Woodstock-Film, die unsägliche frühe deutsche Synchronfassung mit der oberlehrerhaften Kommentarstimme, die mit leicht empörter Besorgtheit vor Drogenmissbrauch warnt. Am tiefsten beeindruckten ihn Grace Slick, weil sie so schön war, und Country Joe McDonald, weil er so wütend anschrie gegen – ja, wogegen eigentlich? Charly wusste nicht, wogegen dieser Mann im Army-Parka wütete, doch es war gut. In der Wiener Stadthalle sah er Hair. Die Progressiven aus der Maturaklasse hatten die Busreise in die Hauptstadt organisiert, gegen zähen Widerstand des Gymnasialdirektors hatten sie durchgesetzt, dass auch Schüler aus der fünften und sechsten Klasse teilnehmen durften.

Charly verstand nichts von dem, was vorne vorging. Irgendwie drehte es sich um Vietnam. Er wusste nichts von Vietnam. Er kannte die Fotos aus dem Stern, das rennende nackte Kind mit der verbrannten Haut, der eine Vietnamese, der einem anderen Vietnamesen in kariertem Hemd mitten auf der Straße mit einer kleinen Pistole in den Schädel schoss, die riesigen Flugzeuge, die irgendwie zu eckig und zu lang aussahen, aus denen die Bomben träufelten wie Regentropfen. Er hatte wahrgenommen, dass die paar Gammler aus den Nachbardörfern, die manchmal mit ihren auffrisierten Mopeds durch das Dorf geknattert waren, in Lederjacken und mit Ketten behängt, auf einmal alle die grünen Armeejacken trugen, Ami-Jacken nannten sie sie. Sie gaben an vor den jüngeren Buben und den Mädchen, es seien original amerikanische Uniformjacken aus Vietnam, gebraucht, die Zellstofffabrik drüben beim Flughafen kaufe die auf, um daraus Papier zu machen, die Arbeiter suchten die wenig beschädigten Jacken raus und verkauften sie unter der Hand. Da, sagten die Burschen auf den Mopeds und zeigten auf Löcher im grünen Stoff, das sind Einschusslöcher.

Die Welt draußen wurde einem einfach erklärt, wenn man als junger Mensch in einem Dorf lebte. Die Vietnamesen waren die Guten, die Amerikaner die Bösen. Die Mopedrocker mit ihren Country Joe-Jacken waren auf der richtigen Seite. Warum viele von ihnen die amerikanische Flagge auf den Parka-Rücken genäht und etliche die Tanks ihrer Mopeds und ihre Helme mit den Stars and Stripes bemalt hatten, wie Fonda in Easy Rider, das irritierte keinen, die Rocker nicht, und auch nicht die jüngeren Burschen, die sein wollten wie sie. Und auch nicht, dass sich sogar die Väter irgendwie klammheimlich zu freuen schienen, weil die amerikanischen Soldaten jetzt die Arschlöcher waren, die Amerikaner, denen sie sich ergeben hatten müssen, die dann zehn Jahre lang das Kommando hatten, mit denen ihre Mädchen vögelten, denen ihre Kinder um Kaugummi bettelnd nachliefen.

Es hatte für junge Menschen einfach alles, was jung und neu und aufregend war, irgendwie mit Vietnam zu tun in diesen Jahren. Doch in der Wiener Stadthalle sah Charly auf der Bühne in all dem Hippie-Flower-Power-Getue nur die nackten Brüste und Ärsche der Schauspielerinnen im Trockeneis-Nebelgewabber.

Charly und sein Bruder waren Buben gewesen, wie sie in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Krieg zu Zigtausenden auf den Dörfern lebten: Simpel gestrickt, an nicht viel mehr interessiert als möglichst wenig Zeit mit der Schule und den Hausaufgaben zu verschwenden, als Winnetou und Old Shatterhand über die Kuhwiesen und durch das Unterholz in der Au zu schleichen, sich Nachmittage lang mit verfeindeten Bubenbanden zu prügeln und die bunten Bildchen aus den Verpackungen der Schokoladeriegel mit dem italienischen Namen zu sammeln, zu tauschen und in die Alben zu kleben, zuerst Tiere der Welt und dann Szenen aus Karl May-Romanen. Abends dann ein bisschen fernsehen.

Nichts Besonderes war an so einem Landleben junger Menschen. Musik spielte keine Rolle. Musik, das war das Gedudel aus dem Saal des Wirtshauses, das in den Nächten der Feuerwehr- und Kameradschaftsbund- und Landjugendbälle im halben Dorf zu hören war, Polkas und Märsche und Walzer, wenn die Kapelle des Musikvereins aufspielte, schlecht interpretierte Schlager, wenn eine Tanzcombo ihre elektrifizierten Instrumente quälte. Musik, das waren scheppernde Klänge aus den Musicboxen in den Wirtshäusern. Von hundert Singles, die zur Auswahl standen, war die Hälfte von Slavko Avsenic und seinen Original Oberkrainern, die andere Hälfte Schlagerlieder, so überarrangiert und im Studio aufgemotzt, dass sie unwirklich klangen. Ganz zu schweigen von den Texten, die wirklich aus einer nirgendwo existierenden Unwirklichkeit kommen mussten. Am Abend träumen sie von Santo Domingo und weißen Orchideen. Die Liebe ist ein seltsames Spiel, sie kommt und geht von einem zum andern. Es hörte sich genau so schmalzig und bescheuert an wie die Opern, die sich Hilda manchmal im Fernsehen ansah. Am Tag als der Regen kam, lang ersehnt, heiß erfleht, klang wie ein schlechter Witz in dieser feuchten kalten Donau- und Voralpenlandschaft. Aber da sah wenigstens die Sängerin auf dem Single-Cover, das innen an die Glaswand der Musicbox geklebt war, geil aus, ganz anders als die Frauen und Mädchen im Dorf.

Zaghaft und anfangs kaum wahrnehmbar kam die Rockmusik in die Provinz. Neben Connie Francis und Dalida und Wanda Jackson und den Oberkrainern tauchte was auf in den Musicboxen, das anders klang. Jack the Ripper von Casey Jones, Keep on running von Spencer Davis, Paint it black von den Rolling Stones. Es gefiel Charly, weil es die Alten deutlich sichtbar ärgerte, wenn man eine Fünf-Schilling-Münze einwarf und fünf mal hintereinander Led Zeppelins Whole Lotta Love laufen ließ, stellt die Negermusik ab!, brüllten sie im Wirtshaus. Aber zu einem Fan, einem fanatischen Anhänger, machte es Charly nicht.

Dann hörte er das erste Mal Edgar und seine Band. Und sah ihn. Im Fernsehen, im Beat-Club aus Bremen. American boy soldier hieß der Song. Fasziniert saß er vor dem Bildschirm und wusste sofort: Das ist etwas anderes. Die meinen es ernst. Da geht es um mehr als bei den Troggs und Tremeloes und Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick und Tich.

Es musste um Vietnam gehen, um Krieg jedenfalls, die Panzerattrappe, das viele Yes Sir-Gerede ließen keine andere Interpretation zu. Doch Vietnam war Charly egal. Was ihn gebannt zusehen ließ, war der erste Satz, den er von Edgar Broughton hörte. Der erste Frage in dem Song: What d’you wanna do boy? Genau. Das war es. Das war die Frage. DIE Frage.

Charly konnte die Popmusik nicht ernst nehmen. Es schien ihm Mädchenzeugs zu sein. Ihm, dem Kind, kam dieses Getue und Gesinge vor wie Kinderkram. Letzten Endes kamen diese Erwachsenen, die sich seltsam verkleideten und einfache Lieder trällerten, dem Kind Charly vor wie Kinder. Wohingegen er und die anderen männlichen Kinder im Dorf die Erwachsenen waren, in ihren Spielen. Sie beschäftigten sich mit ernsthaften Erwachsenendingen. Sie waren Krieger. Soldatenkinder. Kindersoldaten.

Alle Buben trugen Waffen, immerzu, einige schon vor Erreichen der Schulpflicht. Spielzeugrevolver, Stoppelgewehre, Luftdruckgewehre. Auf den Kirtagen in den umliegenden Dörfern gab es mehrere Stände, die nichts anderes verkauften als Faustfeuerwaffen für Kinder. Meist Revolver, möglichst langläufig, in Halftern aus Kunstleder an breiten Gürteln mit rundum laufenden Schlaufen für die Patronen, wie sie die Cowboys in den Wildwestfilmen trugen, am beliebtesten waren silbern lackierte Colts mit Griffschalen aus rotem Plastik, darauf als flache Reliefs Köpfe von Pferden oder Indianerhäuptlingen im Profil, mit wehenden Mähnen.

Die Mütter und Väter hatten nichts einzuwenden gegen diese Spiele. Es schien ihnen eine Selbstverständlichkeit zu sein für Buben. Es war gerade ein paar Jahre her, da hatten die Väter alle Pistolen getragen und Karabiner. Was sie aber nicht duldeten, und was man vor den Alten verstecken musste, waren echte Waffen. Die gab es in großen Mengen. Die Söhne der einstigen Wehrmachtssoldaten fanden Bajonette und HJ-Dolche überall in den Wäldern rund ums Dorf. Die Landser hatten sie weggeworfen, als es vorbei gewesen war, damals im Mai.

Die Klingen waren rostig, und die Heftschalen fehlten meistens. Die Buben schnitzten flache Holzstücke, die sie an den Griff klebten und dann dick mit Isolierband umwickelten. Mit Schleifpapier rieben sie den Rost von den Klingen, schärften sie mit Wetzsteinen, die die Bauern für ihre Sensen benutzten. Und dann zogen sie durch die Gegend, rechts am Patronengürtel die silbernen Colts, links die Bajonette, und fühlten sich für eine Weile stark und sicher.

Eigentlich waren wir auch boy soldiers, sagte Charly, noch immer den Arm um die Schulter des Bruders gelegt.

Ja, sagte der Bruder, kleine Scheißer mit Kapselrevolvern und Jungschar-Dolchen und stumpfen Bajonetten. Und voller Angst.

Ich spüre heute noch ein Kribbeln, so was wie Aufregung, wenn ich American Boy Soldier höre, sagte Charly. Ich mag dieses Lied.

Ich mag es auch sehr, sagte Edgar. Da sind so viele Geschichten damit verbunden.

Es war bei den Konzerten die langsame Nummer. Die Fans warteten darauf. Aber nicht weil es die Ballade war, die jede Rockband im Repertoire hatte. Sondern weil es den Leuten, die den Song hörten und ihn mochten, etwas bedeutete. Das Lied galt als das Underground-Protestlied gegen den Krieg. Doch es verbreitet keine Parolen, verkündet keine Botschaften. Es legt einfach los wie ein kleiner Sketch, eine Vertonung des damals in vielen Jugendzimmern und Wohngemeinschaften hängenden Posters vom klischeehaft dargestellten Uncle Sam mit den bösen stechenden Augen, der mit dem Zeigefinger wie mit einem Revolver auf den Betrachter zielt, I want YOU for US-Army!

Zwei Stimmen, ein Rekrutierungswerber, der einem unbedarften gelangweilten Jungen das Soldatenleben schmackhaft macht, das ein Held-Sein, ein kurzer Dialog wie auf einer Theaterbühne, sparsamste Gitarrenakkorde, dann ein paar hingetupfte Klopfer auf den Becken, anschwellender Trommelwirbel wie bei Militärmusik, so fängt es an.

Also, die Version, die Charly und sein Bruder an diesem späten Märznachmittag 1970 im Fernsehen sahen, beginnt so. Magst du die Farbe Grün? Davon gibt’s massenhaft dort, wo du hingehst! Magst du kleine gelbe Menschen? Möchtest du nicht ein paar umlegen!? Möchtest du in den Krieg ziehen? Und Arthur Grant sagt nur noch und immer wieder, oh ja Sir, bitte Sir, bitte Sir, und Steve Broughton trommelt heftig los, aber nur ganz kurz, gleich wird aus dem Ganzen ein folkiges nettes Liedchen, aber was Edgar singt, ist gar nicht nett, sie schicken mich heim, die Knochen zerschossen, Arthur und Steve pfeifen dazu und spicken Edgars Zynismus – lasst mich euch erzählen, was für ein gutes Leben die Army einem jungen Mann bieten kann – mit la-la-la und shoo-bee-doo-wah und Zeilen aus Baby Love von den Surpremes.

In jener Zeit, als Charly und sein Bruder das erste Mal Wasa Wasa auf den Plattenteller legten und sich American Boy Soldier wieder und wieder anhörten, war die Edgar Broughton Band auf Tournee, unterwegs in ganz Deutschland.

Da ist diese Geschichte mit amerikanischen Soldaten, sagte Edgar. Wir hatten drei Gigs in einer Woche, ich weiß die Orte nicht mehr, in Bonn war einer, und die anderen recht nahe. Darum waren wir die ganze Zeit im selben Hotel, was auf Tour sonst nicht oft vorkommt. Irgendwann mal wollten wir was rauchen, wir haben einfach Typen gefragt, wo kriegen wir hier Gras oder Haschisch. Fahrt in den und den Ort, haben die uns gesagt, da hängen immer zwei Schwarze rum, Soldaten, Amerikaner, da kriegt ihr was. Und so war es auch. Wir haben die getroffen, sie sind rein in unseren Range Rover. Die haben einen Chillum dabei gehabt, ein Riesending!

Edgar lachte und hob die Hände, um die Länge des Tonrohrs zu zeigen, dreißig Zentimeter mindestens. Oh Mann, stöhnte er, die haben mehr Hasch reingepackt, als wir in einer ganzen Woche geraucht haben. Da hast du dir Schwaden reingezogen! Lachte wieder und spielte vor, wie er an dem Rohr gesaugt hatte, röchelnd wie einer der am Ersticken ist. Und geriet ins Schwärmen: Das waren so wunderschöne Kerle! Absolut fit, muskelbepackt, mit strahlenden Augen. Der Löwe und der Tiger, so haben wir sie genannt, sagte Edgar. Die hatten drei Einsätze in Vietnam hinter sich und warteten nun auf den Flug zurück in die Heimat.

Ist irre, Mann, sagten die Musiker, wie schafft ihr das? Wenn du einen überlebst, ist es Glück, zwei ist der Wahnsinn, aber drei!?

Kein Problem für uns, lachten der Löwe und der Tiger. Uns hat es dort gefallen.

Die GIs und die Band trafen sich ein paar Mal während dieser Woche in der Nähe von Bonn. Sie zogen sich den Rauch aus dem Riesen-Chillum rein, und erzählten Geschichten, die Musiker über ihre Konzerte und die verrückten Fans und die Groupies. Und über ihre aktuellen Schwierigkeiten mit dem Tour-Management, da gab es Streitereien wegen Abrechnungen, unangenehme Geldgeschichten. Der Löwe und der Tiger redeten von Vietnam. Was sie dort getan hatten. Es waren schlimme Dinge.

Die beiden waren Killer, sagte Edgar in der oberösterreichischen Terrassennacht. Sondereinsätze. Marines. Oder Navy Seals, irgend so was. Wirklich üble schlimme Geschichten haben die erzählt.

Am Tag der Abreise lud die Band den Löwen und den Tiger ein zum Frühstücken im Hotel. Wieder fingen sie an zu schwärmen von ihren Abenteuern im Dschungel, Apocalypse-Now-Drogentrips voller Gewalt und Mord.

Hey, sagte dann der Tiger. Ihr seid coole Typen. Wir mögen euch. Wir kommen zu euch nach London.

Ja, sagte der Löwe. Ihr habt doch dieses Problem mit dem Management. Wir kommen und lösen es!

Wir machen das für euch, sagte der Tiger. Kostet euch nichts. Wir mögen euch.

Ihr sagt uns den Namen von jedem, der euch Probleme macht, sagte der Löwe, ihr sagt uns, wo er lebt, und dann müsst ihr euch nie wieder Gedanken machen wegen der Sache.

Edgar fiel das Herz in die Hose. Nein, nein, nein, stammelte er, so wild ist das nicht, wir regeln das am Zivilgericht. Danke euch, Jungs, das ist toll – aber wir wollen wirklich keine Auftragskiller, die für die Edgar Broughton Band arbeiten! Die Fans würden es nicht verstehen. Niemand würde es verstehen!

„Charly, längst jenseits der sechzig angelangt, trifft auf den Helden seiner Jugendtage: Edgar Broughton, der mit seiner Band in den siebziger Jahren Leben und Weltsicht einer Generation von Jugendlichen geprägt hat. In einem trostlosen Dorf aufgewachsen, idealisierte Charly Broughton, der seine Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse nie verleugnete und für die raue, politische Facette der Rockmusik stand. Seine Musik (vor allem aber, was Charly in deren Texte hineinfantasierte) erhob ihn aus der spießigen Idylle in eine größere, mutigere Gedankenwelt. Nun, Jahrzehnte später, ergreift Charly die Gelegenheit und bucht sein Idol für die Geburtstagsfeier seines Bruders. Es folgen Abende, Nächte, Tage, in denen nicht nur Edgar sich erinnert, sondern in denen Charly lernt, sein Leben ein wenig mehr zu akzeptieren.“ So heißt es im Verlagstext und weiter: „Walter Kohl nähert sich in seiner Huldigung an eine der prägenden Figuren der britischen Rockmusik literarisch an – und erfährt ganz nebenbei seine eigene Geistervertreibung.“

 

Out Demons Out

Ein Roman über die Edgar Broughton Band

von Walter Kohl

erschienen im Frühjahr 2017

im Picus Verlag, Wien

 

Buchpräsentationen am 20. April im Tunnel Wien und am 25. April im StifterHaus Linz.

An beiden Abenden wird Edgar Broughton persönlich das musikalische Begleitprogramm gestalten.

„Don’t Dance with Fear and the Rain will disappear“

Christine Hinterkörner sorgte bereits im Winter mit dem ersten Album „Fat Black Spider“ ihres Avantgarde-Pop-Projekts Madame Humtata in der Musikwelt für Aufsehen. Daniel Steiner hat sie getroffen und fragt nach, was Madame Humptata aktuell betreibt.

Mit einer auf Klavier, Bass und Schlagzeug basierenden Instrumentierung und von der herausragenden Gesangsleistung Hinterkörners lebend, erntete Fat Black Spider in den Rezensionen der Musikpresse großes Lob. Referenzen auf Björk, Soap and Skin bis zu Kate Bush wurden gemacht. Doch Madame Humtata wird den – gerne in Schubladen kategorisierenden – MusikjournalistInnen das Leben in Zukunft nicht leicht machen und mit dem sich gerade in Arbeit befindlichen neuen Werk musikalisch gänzlich neue Wege gehen. Das Wort Techno steht im Raum!

Gleich vorweg möchte ich anmerken, dass es sich bei diesem Artikel um keine Rezension des neuen Madame Humtata-Albums handeln wird. Die Arbeiten am Werk sind noch im Gange, folglich gibt es für produktionsfremde Ohren auch noch keinen Ton zu hören. Das Erscheinungsdatum des neuen Albums, dessen Titel noch geheim ist, ist für Herbst 2017 anvisiert. Gespräche mit Labels laufen, Details können hier aus verhandlungstaktischen Gründen selbstredend nicht veröffentlicht werden. Alle meine Informationen über die neuen Stücke stammen aus einem im Cafe Traxlmayr geführten Gespräch mit Christine Hinterkörner. Trotzdem erscheint es mir opportun, bereits jetzt zu versuchen, die in mir in diesem Gespräch geweckte Neugier durch einige Zeilen auf die geneigte LeserInnenschaft zu übertragen.

Bereits Werner Gröbchen bemerkte zu Fat Black Spider, dass „permanente Verwandlung und Zurückverwandlung, dieses Hin- und Her, die ständige Häutung und Freilegung immer neuer, tiefer und tiefer liegender Persönlichkeitsschichten“1 zentral für das Verständnis des Projekts Madame Humtata sind. Musik, Choreographie und Kostüme bei der Life-Performance sowie die Videoarbeiten stellen vielmehr gleichberechtigte Teile eines Ganzen dar, die zwar auch einzeln für sich genommen funktionieren, ihre ganze Kraft jedoch erst in Kombination entfalten. Ganzheitlich betrachtet könnte also auch der angekündigte radikale musikalische Paradigmenwechsel Madame Humtata an sich gar nicht so radikal verändern wie zuerst gedacht.

Christine Hinterkörner beschreibt die musikalische Gefühlslage ihrer neuen Arbeiten als großstädtisch, gegenüber einem mediterranen, mit Sicherheit ihren häufigen Barcelona-Aufenthalten geschuldeten Grundgefühl der Fat Black Spider-Zeit. Fast-Forward statt Laid Back, eine Aufforderung zum Ausbruch durch Tanz. Komponiert am Klavier funktionieren die neuen Stücke auch als Songs2, die elektronische Umsetzung erfolgt erst in einem weiteren Schritt. Hier kommt wie bereits beim Debüt-Album Jazzpianist Michael Hornek als Produzent ins Spiel. Die Inspiration für die Kompositionen bezieht Hinterkörner von Außen, von neuen Städten, Landschaften, durch das Ausloten von Grenzen. Im Schaffensprozess eines Lieds steht daher der Text an der zweiten Stelle, nicht von der Wertigkeit, sondern ganz profan in der Reihenfolge des Machens. Während sie die Texte der Fat Black Spider-Songkollektion selbst schrieb, werden diese beim neuen Album von Patrik Huber aka Georgie Gold beigesteuert. Fasziniert von dessen tiefgründiger bildhafter Sprache wollte Christine Hinterkörner für Madame Humtata das Experiment wagen, diese Texte mit ihrer Stimme und ihrer Art zu singen kollidieren lassen.

In puncto Kostüm hingegen greift Hinterkörner wieder auf eine bewährte Zusammenarbeit zurück. Basierend auf eigenen Entwürfen entsteht die oft surreale „Humtata Couture“ gemeinsam mit der bekannten Modeschöpferin Daniela Karlinger, die unter anderem auch für die Konkurrenz wie Lady Gaga tätig war. Bereits fertig ist die „Sculpture of Zig Zag“, ein analoges 3D-Kostüm aus Spitzen, welches auch als schattenwerfender, organisch-digitaler Kristall oder als dunkle Erleuchtung zu beschreiben ist.

Diejenigen, welche ich erfolgreich mit meiner Neugier angesteckt habe, müssen sich, wie eingangs erwähnt noch bis zum Herbst gedulden. Zur Überbrückung der Wartezeit kann ich aber folgende Projekte, bei denen Christine Hinterkörner mitwirken wird, empfehlen: „End of the Rain“, ein interdisziplinärer Ausbruch basierend auf Texten aus dem Buch „Poems for Anarchy“ von Patrik Huber im Rahmen des Tanzhafenfestivals am 29. Mai in Linz. Und „Wallflowering“, eine Performance gemeinsam mit Iris Heitzinger und Franceoise Boillant in der ARGE Salzburg am 8. März. Viel Vergnügen!

 

1 www.be24.at/blog/entry/651693/madame-humtata-fat-black-spider

2 Als Nebenprojekt ist eine spätere Veröffent­lichung in reduzierter Version angedacht