Editorial

Beginnen wir mit unseren Linernotes vom Cover und merken wir zu Zahlenmystik und verquer geknüpften Verbindungen an: Mit Gegensätzen arbeiten will gelernt sein! Sonst kommt am Ende unendlicher Schwurbel raus. Derzeit besser bekannt als Fake News und alternative Fakten.

Damit zu Beginn dieses Editorials ein Hinweis auf die am 16. Juni in Salzburg stattfindende Mediana, eine auch von unseren KollegInnen von Radio FRO und der Kupf mitorganisierte Konferenz zu Medien, Kultur & Demokratie: Hier wird des roten Medienministers Entwurf zur Medienförderung diskutiert, der laut Positionspapier der Mediana sehr wohl festmachbare Qualitätskriterien einfach beiseitegelassen hat. Nachzulesen auf mediana.at.

Wir lassen in diesem Editorial Konkretes zum Inhalt weg und verweisen lediglich auf unsere Kolumnistin Wiltrud Hackl, die sich, zwar ganz „Work Bitch“ wie immer, aber diesmal eben nicht nur, in die Diskrepanzen der Politik verstiegen hat. Lesen sie selbst zur Krise der Politik. Wir als Redakteurinnen eines Kunst- und Kulturheftes, respektive BildanalystInnen, möchten an dieser Stelle anmerken, dass auf den aktuellen Amtsantrittsplakaten des anderen großen Schwarzen, des neuen oberösterreichischen Landeshauptmanns („Die neue Zeit“) das Sujet im rechten oberen Ecke verdammt nach Ausschaltknopf aussieht. Es ist uns ein Rätsel, wie sowas passieren konnte.

Wir setzen hier fort mit einer weiteren Bild-Anmerkung zur Politik: Der blaue Linzer Infrastrukturstadtrat wirbt gerade auf seinen Inseraten unter dem Slogan „Ein neues Stadtviertel entsteht“ damit, dass er „Lebensraum schafft“. Wohlgemerkt diesmal nicht im Osten, sondern im Linzer Süden, außerdem geht es um „qualitätsvollen“ Lebensraum. Als Kunst- und Kulturredaktion setzen wir die Bildanalysen fort und meinen, dass der Hintergrund irgendwie nach Gauforum aussieht, aber da sind wir mit unseren Nazikeulen in den zierlichen Handtäschchen wohl wieder selber schuld. Der Stadtrat scheint außerdem sein gegendertes Ampelmännchen-Trauma vom Amtsantritt noch nicht verwunden zu haben und gibt einen ganzen Flyer zur Ampel an sich heraus, so als ob er die Ampel und den Verkehr gerade neu erfunden hätte („Sicherheit für Fußgänger“, zum Beispiel: „Ampel zeigt grün, Info: Wenn die Ampel auf Grün steht, darf die Fahrbahn am Schutzweg überquert werden“). Jaja, ganz was Neues und sicher, der Verkehr muss ordentlich geregelt sein, am besten auch der zwischen Mann und Frau.

Die hiesigen Mainstream-so-genannten-Qualitätsmedien sind währenddessen auch mit wichtigen Beobachtungen zur Zeit und zum wahren Sexus beschäftigt. Zum Beispiel attestierten sie der zurückgetretenen Parteiobfrau der Grünen immer noch eine „Mannequinfigur“, trotz ihrer 48 Jahre … wichtige Sache, stimmt schon, so positiv fürs Frauenbild! Aber das ist nur der übliche Kleinscheiß, wirklich drastisch arbeitet sich der Regress hier an die Textoberfläche: Wir zitieren die OON anlässlich Chelsea Mannings „frühzeitiger“ Haftentlassung: Ihre Motive zum „Geheimnisverrat“ hatte Manning so beschrieben: „Wenn Du freien Zugang zu Geheimdokumenten hast und unglaubliche, schreckliche Dinge siehst, Dinge, die an die Öffentlichkeit gehören, was würdest Du tun?“ Sie wollte, so ihre Verteidigung, dass „die Menschen die Wahrheit sehen.“ Die Wahrheit über ihr Leben ist, dass Chelsea wohl eine unglückliche Kindheit gehabt hatte. Dann ein paar lapidare Sätze über Alkoholikereltern, in der Schule gehänselt, Transsexualität. Bei solchen Wahrheiten bleibt einem schlichtweg das Hirn stehen. Geht’s eigentlich noch??

Mit diesem Schwurbel aus der realen Welt möchten wir abschließen. Und gar nicht real kontradiktisch unvereinbar, und auch gar nicht zahlenmystisch, sondern ganz realer Geldfluss: Die acht Seiten mehr in dieser geheimnisvoll erweiterten Ausgabe #8 wurden durch eine großzügige Spende von Andrea Tippe finanziert. Dafür bedanken wir uns herzlich. Und, was wir am Ende auch noch sagen wollen: Manfred Berghammer imponiert uns auch.

Viel Spaß beim Lesen, die Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

www.diereferentin.at

Unfreiwillig ungebeten

Unter dem Motto Ungebetene Gäste thematisiert das Festival der Regionen 2017 in Marchtrenk Aspekte des Flüchtens und der Bewegung, der Gastfreundschaft und des Ressentiments. Mit der Produktion des Festivaltrailers wurde die Filmemacherin, Musikerin und bildende Künstlerin Karin Fisslthaler beauftragt. Daniel Steiner, beeindruckt von Fisslthalers Zäunen, zitiert zuerst Wikipedia.

Hybrid produzierter Festivaltrailer von Karin Fisslthaler aka Cherry Sunkist. Filmstill Karin Fisslthaler

Hybrid produzierter Festivaltrailer von Karin Fisslthaler aka Cherry Sunkist. Filmstill Karin Fisslthaler

„Ein Zaun ist eine Form der Einfriedung. Er trennt zwei Bereiche dauerhaft oder auf Zeit durch eine von Menschen geschaffene Abgrenzung. Geschieht dies speziell um Tiere einzuschließen, spricht man auch von Gatter oder Pferch. Ein Zaun besteht gewöhnlich aus Holz, Metall (festem Guss- oder Schmiedeeisen oder auch biegsamem Draht) oder Kunststoff. Aus Stein oder Beton errichtete Abgrenzungen heißen Mauer; eine Mittelstellung zwischen Zaun und Mauer nimmt die Gabionenwand ein. Gelegentlich sind Zäune auch farbig gestrichen, lasiert oder lackiert, moderne Holzzäune meist imprägniert, Drahtzäune oft kunststoffbeschichtet. Häufig verwendete robuste Holzarten sind Edelkastanie, Lärche, Eiche, Kiefer oder biegsame – und billige – wie Fichte und Weide. Anders als eine Mauer oder Wand ist er jedoch im Prinzip transportabel und begrenzt durchlässig. Von einem Hindernis, einer Barriere oder Absperrung trennt ihn die klar definierte Grenzziehung, wenn auch die Begriffe gelegentlich in synonymer Bedeutung verwendet werden.“

Karin Fisslthaler hat die Einladung, den Trailer für das Festival der Regionen, zum Thema „Ungebetene Gäste“ zu produzieren, genutzt, um eine künstlerische Replik zu dem sich leider durchsetzenden europäischen Umgang mit Schutzsuchenden zu finden, ohne dabei zwanghaft politisch zu werden, beziehungsweise: in einem zuerst privat anmutenden Gestus. Vordergründig und laut FdR-Site „als faszinierendes Licht- und Schattenspiel inszeniert“, eröffnen sich in diesem Sinn und bei genauerer Betrachtung des Kurzfilms weitere Bedeutungsebenen. Ausgehend von einem Lokalaugenschein am diesjährigen Austragungsort des Festivals, fokussierte sich das Interesse der Künstlerin – inmitten dieser angesprochenen und allgemein sehr homogenen Abschottungstendenzen – auf die Verschiedenartigkeit von Designs von Zäunen und deren intendierter Wirkung: Abgrenzung und Schutz, Repräsentation und Protz, Ein- oder Aussperren. Oder auch nur aussagekräftige Klein-Konvention in der Einfamilienhaussiedlung? Entgegen ihrer bisherigen filmischen Arbeitspraxis hat Fisslthaler bei diesem Projekt gänzlich auf die Verwendung von Found Footage verzichtet und nur selbstgedrehtes Material benutzt. Alleine mit dem Fahrrad im nächtlichen Marchtrenk unterwegs, kam sie während der Dreharbeiten dem Gefühl des Eindringlings bzw. des ungebetenen Gasts sehr nahe. Das kurze Aufleuchten des Blitzlichts, der generell spärliche Einsatz von Licht bei diesen Nachtaufnahmen und das profan Abweisende der von Menschenhand errichteten Begrenzungsanlagen erzeugen eine düstere, beklemmende Grundstimmung, die in Richtung eines Alltagshorrors Ulrich Seidlscher Prägung geht. Spätestens hier stellt sich die Frage: Kann man hinter diesen Zäunen Schutz finden? Hier Gast zu sein – unfreiwillig ungebeten – das will man nicht, das muss man. Im Sinne einer für Karin Fisslthaler typischen hybriden Herangehensweise an künstlerische Projekte, beauftragte sie sich in Form ihres musikalischen Alter Egos Cherry Sunkist quasi selbst mit der Komposition und Produktion der Filmmusik und dem Sounddesign. Die oben angesprochene, beklemmend düstere, ja kalte, menschenfeindlich wirkende Atmosphäre der Bildebene wird durch die Verwendung eines auf Beats, Gitarre und Stimme reduzierten Popsongs kontrastiert, das Gesamtbild durch eine emotionale Ebene erweitert. Zu guter Letzt fand auch noch das Festivalmaskottchen, der Rottweiler auf den Festival-Bildsujets, und siehe die zu Beginn im Wikipedia-Eintrag zitierten, durch Zäune eingeschlossenen Tiere, in Form kurzen Rottweilergebells augenzwinkernd Eingang in den Trailer.

 

Im Rahmen der Festivaleröffnung am 30. Juni kann man Karin Fisslthaler aka Cherry Sunkist dann auch vor Ort Live erleben: Ab 21.30 h im Festivalzentrum auf der Marchtrenker Welserstraße bzw. bei Schlechtwetter im Kulturraum TRENK.S.

www.fdr.at

Auf den Netzseiten der Referentin findet sich außerdem ein Überblick über andere aktuelle Ausstellungen und Projekte von Karin Fisslthaler.

Auf Durchzug ausrasten

Avanti avanti, jalla jalla und weiter und weiter rollt der Verkehr viel­spurig, mehrsprachig und breit gefächert an fahrenden Pflastersteinen vorbei bis über den Rand gefiedert durch die Heide. Hajde hajde! ruft Angela Flam als diesjährige Chronistin des Festivals der Regionen – und liefert uns vorneweg Tempo, Vergangenheit und Atmosphäre aus Marchtrenk in Oberösterreich.

Hier ein Werbeplakat, dort eine Tankstelle, zwischen Häusern große Hecken und Industrie und hin und wieder eine wandernde Schotterpyramide mit Bachstelzen auf den vorgelagerten Pfützen. Fasten your seatbelts! Marchtrenk, eine rastlose Raststätte. Man könnte ein drive-in, drive-through, drive out, ein drive me crazy als Wahrzeichen vermuten. Oder eine rotierende Tankstelle auf Achse. Fehlgeschlagen. Das Wahrzeichen ist der Wasserturm außerhalb des Zentrums.

Wo bitte ist das Zentrum? Zwischen den Kreisverkehren. Zwischen dem Kreisverkehr beim Lidl und dem Kreisverkehr beim Interspar entlang der alten Bundesstraße, dazwischen der Kreisverkehr beim Corner Cafe & ehemaligen Greißler ums Eck, zurzeit ein DHL-Paketshop. Take a seat, relax and enoy! Rechts und links die alte und neue Kirche sowie alte Wirtshäuser, die neu umgebaut wurden. Die alten Heidehäuser sind aus dem Stadtbild verschwunden und die Soldaten auch. Wo sind sie geblieben? Es gibt Bänke, Banken, Cafes, Geschäfte, das Stadtamt und Marktplatzcenter, darin das World of Travel, das Athina und ein Coworking-Space für digitale Nomaden. Geschäfte kommen und gehen. Was läuft, läuft durch, greift nicht am Schotterboden. Eine Prachtstraße zum Meer wird man keine finden, auch keinen Palast (außer China Moon Palast), keinen Wolkenkratzer mit reich verzierten Balustraden im Netz rautenförmiger Friese konzipiert, nein, nichts von alledem. Aber Bahnübergänge gibt es, die es nicht mehr gibt: sie sind durch Schranken gesichert. Und Straßen, die im Nichts enden. Manche sind seit Jahren zurzeit gerade in Arbeit und nicht befahrbar und vor der Autobahnbrücke steht eine Ampel, die gestohlen wurde. Wenn es blinkt, wird es entweder rot oder grün.

Das Denkmal von Kaiserin Maria Theresia sind Schwarzföhren, mit denen sie die Heide aufforsten ließ, als Windschutz & um den Boden fruchtbar zu machen. Wo sind die schwarzen Föhren? Sie sind rissig geworden, vom Wind gebeutelt/geknickt. Von der Wirtschaftswunderblume verweht. Geht das durch? Der Schotter als Symbol für Ursprung und Unendlichkeit?

Marchtrenk ist als Wirtschaftsfaktor modern und menschlich geworden & wurde 2016 die beliebteste Gemeinde im Herzen Europas. And whatever you need. We will provide! Die Heide ist kein Streudorf mehr mit Heidekräutern & strohgedeckten Heidehäusern entlang der Pferdeeisenbahn und dem Funkenflug der K&K Elisabethbahn, sondern ein dicht besiedeltes Wohn- und Industriegebiet mit Anschluss an die Autobahn, Schiene und darüber kreisenden Airbussen vom Blue Danube Airport. La dolce vita! Man kann die Uhr nach dem Flieger stellen oder sich außerhalb der Zeit treffen. Mit dem Dröhnen der Motoren wird es 10 Uhr 10, die Lufthansa startet nach Frankfurt, um 13:05 nach Paris, DO um 17:20 erhebt sich die Small Planet über der Wäschespinne nach Heraklion, gefolgt von der Austrian nach Rhodos, DI 12:00 startet die Eurowings nach Palma, FR 15:40 die Air Cairo nach Marsa Alam … Warum reitet/fliegt ihr durch dieses giftige Land? fragt der Junker den Marquis in Rilkes Ballade. Um wiederzukehren! ist die Antwort.

Was macht ein Wasserturm im Überschwemmungsgebiet der Traun, wo früher das Tethysmeer war? Er versorgt 35.000 ungebetene Gäste: Soldaten in Kriegsgefangenschaft, die unfrei, nach Haager Konvention zwischen 1914–18 in ‚Feindesland‘ Arbeit verrichteten mussten. „Nobody is left behind!“ Wir lassen keinen zurück! 1879 Soldaten sind in Marchtrenk zurückgeblieben: 1382 Italiener, 467 Russen, 1 Rumäne, 11 Serben und 18 Unbekannte, die nach Hause gehen wollen und jene, die anderswo zurückgelassen wurden und endlich nach Hause kommen wollen, um festzustellen, dass es kein Zuhause mehr gibt. Aber wohin reist ihr dann? „Immer nach Hause“, ist die Antwort jeder Odyssee, jeder Irrfahrt von Wilhelm Meister bis Heinrich von Ofterdingen. Die schwarze Barackenstadt von damals im Dorf ist verschwunden. Das Theater hinter Stacheldraht gibt es nicht mehr. Auch keinen Stacheldraht. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Generation „auf der Flucht“, der nachfolgenden Generation „sich verflüchtigen“ und einem „flüchtigen Durchzugsort“ auf durchlässigem Schotterboden?

Seit 1946 wurden auf dem ehemaligen Lagerareal Flüchtlinge (sog. Heimatvertriebene) angesiedelt und die Bevölkerungszahl hat sich verdreifacht. Der Zustrom setzt sich laufend fort, auch heute, in vielschichtiger Schichtung, unter ihnen immer wieder Vertriebene & Asylsuchende, ein stetig ansteigender Strom zwischen sichtbaren und unsichtbaren Zu(Ein)Flüssen, von Schicksalen und Traumata und Spuren, die darin wandern, die wir nicht lesen können. Haben sie sich angewurzelt? Wie die Föhren der Maria Theresia? Wurden sie nach den gängigen Vorstellungen von Integration und Zugehörigkeit umgetopft/eingebürgert, in Zwischenräumen verfrachtet/verortet? Wir sind geronnene Zeit, schreibt Marisa Madieri. Nicht nur Menschen, auch Orte sind geronnene Zeit, mehrfache Zeit. Ein Ort ist nicht nur seine Gegenwart, sondern ein Zeitenlabyrinth aus verschiedenen Epochen. Manche Orte sprechen, andere hüllen sich in Schweigen & beinhalten ein undurchsichtiges Geheimnis, das sorgfältig entschärft und geborgen werden will, so wie die im Juli 2014 gefundene 50-Kilo-Fliegerbombe in der Traun und so manche, die noch im Umkreis verborgen liegen.

„Unsere Eltern räumten die Trümmer der zerstörten Häuser mit den Händen weg – wir, die nächste Generation, sind mit dem Aufräumen der seelischen Trümmer beschäftigt“ schreibt Bettina Alberti. Den generationsübergreifenden (Kriegs)Themen ist nachzuspüren, den verdrängten, den verschwiegenen, den unausgesprochenen, die immer noch & immer wieder neu überschatten und vielleicht gar nicht geweckt werden wollen, die (wie die Sternmühle?), im Dornröschenschlaf schlummern, bis die Zeit reif ist oder „Es ist Zeit, dass es Zeit wird?“ „Es ist Zeit“, schreibt Paul Celan „dass der Stein sich blühen bequemt“ & die darin herumirrenden Themen (Identität/ Unzugehörigkeit / Rastlosigkeit / Suche / …) umgeschichtet, belichtet und neu gestimmt werden. 2014 wurde in Marchtrenk ein Friedensweg errichtet.

Die Heide ist einen Abstecher wert! Man kann durchziehen, einkehren, absteigen oder zum Advokaten in Vaduz aufsteigen und Marie Antoinette auf der Durchfahrt nach Frankreich zuwinken. Die Römer waren hier, die Bayern keltischen Ursprungs aus dem heutigen Frankreich, Napoleons Truppen, die spanische Grippe, Plünderer, Brandstifter, amerikanische Panzer rollten durch, während Schulkinder im Unterricht Kartoffelkäferlarven auf den Feldern abpflückten, streitende Eheleute wurden in einer Wiege an den Pranger gestellt usw., bis zum nächsten Heckenschnitt, zum nächsten Reifenplatzer, zum nächsten Trachtensonntag, zur nächsten Steuerreform, zur nächsten Tankstelle, zur nächsten Maikäferinvasion, zum nächsten Fitnessrun, darunter Schützengräben und verzierte Tonscherben einer jungsteinzeitlichen Siedlung und Sperrmüll, darüber Sieg, Summer in the City, Seuchen, Zugverspätungen, ein abstürzendes Sportflugzeug, Mord- und Totschlag an der Tankstelle, es lebe der Kaiser, es lebe der Führer, es lebe der Pagenkopf, es lebe der Hula Hoop.

Auf Reisen kann man eine bestimmte Richtung einschlagen oder sich im Strudel der Dinge verirren, seine Identität verlieren oder den Sinn des Lebens finden oder ständig vorwärtsstrampeln. Was ist das Ziel solcher Fahrten? – „Reisen, nicht um anzukommen, sondern um zu reisen, um so spät wie möglich anzukommen, um möglichst niemals anzukommen“, ist die Antwort von Claudio Magris. Ankommen, abfahren oder durchreisen? Alles bewegt sich, mal pulsierend, mal flüssig, mal schleppend bis zäh, Stau. Stopp. Speed. Der Verkehr als Lebensader – das Ende der Gemütlichkeit? Ständig durchströmt werden? Rien ne va plus. Haltmachen. Pausieren. Im Durchzugsgebiet wird auch gerastet. Früher Herberge & Pferdetränke, heute Terminal & Avanti. Man kann sich Outdoor beim Radfahren entspannen oder beim After-Work im Fitnesszentrum verschnaufen, am Bahnhof eine Zwischenstation einlegen & Containerzüge von Hamburg Altona nach Istanbul und weiter bis China beobachten. Oder im eigenen Garten gemütlich relaxen, im Pool untertauchen, am Trampolin die Schwerkraft überwinden, sich mit dem Hund hinter der Hecke verschanzen und Landkarten studieren, Reiseberichte lesen. My home is my castle! Vorhang zu & mit dem (Traum)Schiff in See stechen? Oder vor dem rotierenden Globus sitzen und sich von der Fliehkraft erfassen und weiter bis über die Unendlichkeit hinaus treiben lassen …

Marchtrenk – I spend my lifetime running. El Camino! Der Pilgerweg bis ans Ende der Welt verläuft am nördlichen Traunufer. Am südlichen Traunufer (dem einstigen Jenseits) erinnert ein Denkmal an ein Massengrab – hier führte im April 1945 der Todesmarsch ungarischer Juden vom KZ Mauthausen nach Gunskirchen und weiter nach Ebensee bis ins Grab in den Wolken … Am Jakobsweg kann man bis Santiago gehen und bei der Turteltaube Liegestützen machen, unter laufenden Turbinen im Sprühregen stehen oder in umgekehrter Richtung dem Jerusalemweg folgend im FKK Club Solearis alle Hüllen fallen lassen, Kormorane und Reiher sichten, Enzian und Frauenschuh und Hummelorchidee, die man sonst nur im Hochgebirge antrifft. Der Pilgerweg verläuft in diesem Abschnitt als Fitnessparcours, wo man bei Föhnwetter bis zum Traunstein sehen und mit den Federwolken weiterziehen kann –

Marchtrenk – eine vom eiszeitlichen Gletscher geformte Terrasse mit Ausblick bis zu den Korallenriffen, den heutigen Kalkalpen.

Marchtrenk – Transitzone & Zufluchtsort, ein aufgeladener Raum? Ein vielschichtiges Konglomerat?

Marchtrenk – ein rasender Rastplatz zum Auftanken und Haltmachen, zum Einkehren und Pausieren, zum Abstürzen und Entgleisen. Früher zogen Pferde durch, heute Pferdestärken. Ob flüchtige Station, ob (durch)läufiger Rastplatz, man kann auf Durchzug sein, auf Durchzug stellen und auf Durchzug ausrasten – im doppelten Sinn und das Ganze dazwischen: haltmachen pausieren auftanken verschnaufen abspannen abchillen abspacen ausklinken auszucken überschnappen und durchknallen.

Man kann auch warten. Warten auf was? Warten, bis wer vorbeikommt. Ungebetene Gäste beispielsweise. Vom 30. Juni bis 09. Juli 2017 wird Marchtrenk vom FDR aufgestört. Don’t worry don’t cry, ride a horse and fly!

Festival der Regionen, 30. Juni – 09. Juli 2017 in Marchtrenk

Das umfangreiche Programm: fdr.at

 

Eröffnung: HYMN TO LOVE von Marta Górnicka

HYMN TO LOVE for orchestra, stuffed-animal choir, and others is a show about Europe closing ist ranks. Nation after nation is crying out: “Give us back our country!” It is also a show about how every nation loves to forget. And how human time bombs are so furious they’re blowing their fuses. Thus, history repeats itself. HYMN TO LOVE is the last piece in the Polish director’s European triptych inspired by Mother Courage. The Holocaust and the image of an orchestra playing music in death camps are a starting point for Górnicka to address the rise of present-day European nationalism and the migration crisis. In her libretto to HYMN TO LOVE, Marta Górnicka exposes the obscene language of politics today, quoting statements by fundamentalist fighters and terrorists, alongside speeches made by legitimate politicians. Górnicka mashes up Internet hate-speech with pop lyrics and patriotic songs.

Counted out, Running Light

Das Wahrzeichen von Marchtrenk wird beim FdR mit zwei Projekten bespielt.

Das Wahrzeichen. Foto Norbert Artner

Das Wahrzeichen. Foto Norbert Artner

Ein Wahrzeichen repräsentiert eine Stadt. Für Machtrenk ist das der Wasserturm, ein Relikt aus dem 1. Weltkrieg mit Einschusslöchern, wo heute Tauben nisten. Architektonisch steht der 24 m hohe Betonturm am Durchbruch der Moderne „form follows function“ und ist der letzte erhaltene Militärbau aus dem 1. Weltkrieg in OÖ. Nicht verstecken, sondern stolz sein? Der Krieg im Fokus einer Stadt. Wer will darauf stolz sein? Oder andersrum: Eine Stadt bekennt sich zu ihrer Geschichte. Von was erzählt uns dieser Turm? Vom anbrechenden 20. Jhdt. & vom Ausbruch einer Gesellschaft aus der sinnentleeren Fassadenkultur, vom Rausch der Geschwindigkeit, von aufbrechenden Experimenten in allen Kunstrichtungen, die sich selbst aus dem Korsett sprengten, vom Untergang eines Großreiches, von der Relativitätstheorie über den Reißverschluss bis zum elektrischen Schneebesen, von lachenden Gesichtern, die als Helden in den Krieg hinauszogen und nicht mehr oder erblindet, verstümmelt und traumatisiert zu zweit auf drei Beinen zurückzukehren. Mit Shell Shock Syndrom.

Der Wasserturm wird im Rahmen des Festivals mit zwei Projekten in Szene gesetzt: Innen mit einer begehbaren Klanginstallation (Angezählt/Counted out von Katarina Matiasek): Wie durch Schichten der Zeit dringen die Stimmen ehemaliger italienischer Kriegsgefangener aus der Vergangenheit herüber, die zwischen 1914–18 im Lager waren. Außen eine Lichterkette (Running Light von Miriam Hamann), die als Lichtkörper Bezug auf die Signale der Hochsee-Navigation nimmt und unaufhörlich rund um den Turm kreist. Der Wasserturm wird so zu einer Assoziation und einem symbolischen Leuchtsignal für alle, die auch heute ins Kanisterboot der Hoffnung steigen und den Fluchtweg über das Meer nehmen. Wohin der Weg? In einen rettenden Hafen? Oder in ein Massengrab?

Die Fetische der Chrystal Tesla

Kathrin Stumreich wurde 2016 für ihre Arbeit „What would Ted Kaczynski’s daughter do …?“ der Marianne-von-Willemer-Preis für digitale Kunst verliehen. Im Sommer wird es im AEC eine Ausstellung zu ihren Arbeiten geben. Lisa Spalt bleibt im Medium und beschreibt einen ausufernden Versuch, Kathrin Stumreich über das Internet kennenzulernen.

Aus vielerlei Gründen konnte ich Kathrin Stumreich und ihre Arbeiten bis jetzt nicht live erleben. Also googeln: Kathrin Stumreich bezeichnet sich auf ihrer Website selbst als interdisziplinär arbeitend. Und aus ihrer Biografie ist zu ersehen, dass sie tatsächlich beängstigend umfassend interessiert und ausgebildet ist. Immerhin hat sie in Antwerpen und Michelbeuern Mode studiert, hat sich in Wien mit Philosophie und Ethnologie beschäftigt, vor allem aber an der Angewandten das Studium der Digital Arts mit Auszeichnung absolviert. Ach ja, und Physiotherapie kann sie auch noch.

Aber ich will mich ja vor allem mit ihren Arbeiten beschäftigen, eigentlich zuerst mit der einen, mit der Stumreich den Marianne-von-Willemer-Preis 2016 gewonnen hat. Dann allerdings fällt mir doch eine andere auf. Sie trägt den Titel „Sonnenlauf“ und stammt aus der Serie „oetztal augmented“. Ein mich heimelig anrührender Heureiter gerät da – auf eine bewegliche Konstruktion montiert – in Bewegung. Das Ding scheint, so der Beipacktext, eine Art Sonnenuhr darzustellen, doch die Sonne lenkt den Heureiter, der da seinen künstlich induzierten Schatten wirft, eben nicht, es ist ein bisschen Technik, und das sagt doch schon einiges über unsere Zeit aus, in der man nicht von der Sonne abhängig ist, wenn man Licht braucht, in der man aber dennoch immer noch mit dem Kopf im Heureiterzeitalter steckt.

Plötzlich erinnere ich mich, wie oft ich als Kind dachte, dass diese Heureiter dastehen wie Leute, die ihre Arme zum Himmel strecken und Beschwörungsformeln dazu murmeln. Die Heureiter Vorarlbergs oder eben des Ötztals – das waren für mich die Joshua-Trees der Mojave-Wüste, eine Art von Figuren, die mit dem Himmel kommunizieren. Ich denke mir: Wenn ich will, kann ich dieses Hochstrecken der Heureiter-Arme als einen magischen Akt sehen. Ich kann behaupten: Der alte Heureiter war in Wirklichkeit eine für mächtig gehaltene Priesterin, die es möglich machte, der Natur zu trotzen, eine Stellvertreterin der Menschen, die zwar mit Hilfe von Beschwörungsformeln gutes Wetter herbeizaubern mussten, aber schließlich dafür nicht den ganzen Tag auf dem Feld stehen konnten. Die Heureiter sind die Entsprechung zu den Gebetsfahnen der Tibeter. Und die Beschwörung, die da über die Heureiter simuliert wurde, schien früher eben lebensnotwendig angesichts der Natur, die ihre Likes und Dislikes nach Lust und Laune verteilte und ihre Gladiatoren, die wir einmal waren, nach Belieben leben oder töten ließ. Ich erinnere mich nun auch wieder, welches Machtgefühl die Arbeit mit dem Gerät erzeugte: Da produziert ein ganz kleiner Mensch Vorräte und schafft es dadurch, seine ziemlich irre Mutter Natur zu überlisten, die ihn immer nur dann füttert, wenn es ihr gerade passt bzw. ihm meistenteils nur den Po verhaut, wenn sie keine Lust zum Kochen hat. Und ich denke mir: Diese Überlistung ist heute nötiger denn je. Oder sind wir nicht inzwischen zu groß geworden, als dass wir noch an den Brüsten der Natur hängen dürften? Wir wären doch schlecht beraten, darauf zu vertrauen, dass die Gute am Mittag eine Pfanne auf den Tisch knallt, in die wir dann alle unsere Löffel stecken. Nix da mit „Sie säen nicht, sie ernten nicht“. Die Menschheit ist erwachsen und weiß kaum noch, wo die Mama eigentlich wohnt, so lange hat diese die Jungen schon nicht mehr zum Sonntagskaffee eingeladen. Begonnen aber hat die Entfremdung und Selbstermächtigung – das behaupte ich jetzt einmal – mit dem Heureiter. Der führte – von der Form her – direkt zur Antenne. Und was aus ihm geworden ist, können Sie jeden Tag erleben, wenn die Kinder am Mittagstisch ihre Smartphones streicheln. So sehr sich aber die Gerätschaften verändert haben – die Notwendigkeiten und Bedürfnisse bleiben auf ewig dieselben: Liebe, Nahrung, Information, Coca Cola und ein tolles Profilfoto beim Lieblingsnetzwerk – das macht einen großen Teil unseres Lebens aus. Und das alles verschafft uns heute die Technik.

Was aus dem Wunsch nach der Kontrolle der Natur hervorgegangen ist, endete aber auch in der Kontrolle des Menschen durch den Menschen. Ja, der Mensch ist heute in doppelter Weise das Unberechenbare geworden: als Bürgerin, die abgehört werden muss, und als Geheimdienst, der überwacht.1 Berechenbarkeit und Beeinflussbarkeit erscheinen so verlockend wie nie, an sie glauben wir.

Kennen Sie das Paar-Zahlen-Experiment? Es geht so: Eine Versuchsperson bekommt immer zwei Zahlen vorgelegt und muss sagen, ob sie zusammenpassen. Die Experimentatorin beurteilt die Antworten, und zwar ganz simpel einer Gauß’schen Kurve folgend, mit „wahr“ und „falsch“. In Wirklichkeit gibt es also kein System, nach dem man sinnvolle Urteile fällen könnte, die ProbandInnen setzen das aber wie selbstverständlich voraus. Während ihnen immer neue Zahlenpaare vorgelegt werden, adaptieren sie ihre Erklärungen und versuchen, ein Muster hinter dem Ganzen zu entdecken. Irgendwann erreicht die Kurve der Wahr-Aussagen hier 75%. Und die Befragungen zeigen: Alle ProbandInnen haben spätestens in diesem Moment ein kompliziertes System von Regeln entwickelt, die ihrer Ansicht nach die Urteile der Experimentatorin regeln. Ja, manche behaupten sogar noch nach der Aufdeckung des Schwindels, sie hätten WIRKLICH das System entdeckt, mit dem man Urteile vorhersagen könne. Dieses Schlussfolgern ist aber trotz aller Absurdität nicht dümmlich, es beruht auf einer Notwendigkeit: Wenn wir den Hintern des Tigers aus dem Busch herausragen sehen, wäre es klug, sich den Vorderteil dazuzudenken, wenn wir nicht gefressen werden wollen. So funktioniert das Denken, so funktioniert Berechenbarkeit, so funktionierte der Kult und so funktioniert die Technik: „Wenn – dann“ ist die Formel, nach der wir agieren.

In Melanesien landeten im Zweiten Weltkrieg US-amerikanische Militärs, bauten Rollfelder und wurden von Flugzeugen mit Gütern versorgt. Die Einheimischen sahen diesem Zauber gebannt zu. Ihrer Logik nach konnte – Schlussfolgerung! – nur das Bauen des Rollfelds diese immensen Vögel angelockt haben, die in ihren Bäuchen „Cargo“ mitbrachten – phantastische Güter, die man hierzulande noch nie gesehen hatte. Es war also auch nur zu logisch, dass die Menschen nach dem Abzug der US-Truppen ihre eigenen Rollfelder bauten und – um dem göttlichen gefüllten Geflügel zu zeigen, wo es hingehörte – auf diese holprigen Bahnen ihre Flugzeuge aus Stroh oder Holz stellten. Diese Beschwörung sollte die Götter beeinflussen.

Die Objekte und Installationen, die Kathrin Stumreich baut, erinnern mich nun auf eine packende Weise an solcherart Kulte. Sie alle haben etwas eigenartig Tröstliches für mich – ob es nun um die automatisch gesteuerte Heureiter-Sonnenuhr geht oder eben die Arbeit, mit der Stumreich den Marianne-von-Willemer-Preis gewonnen hat: Sie vermitteln mit den Eindruck von Kultobjekten, die Berechenbarkeit und Beeinflussbarkeit simulieren, den Schutz vor Mächten, die wir nicht im Griff haben, und sie bieten die Möglichkeit, das ganze Gewurstel zu reflektieren.

„What would Ted Kaczynski’s daughter do …?“ lautet der Titel von Stumreichs ausgezeichneter Arbeit, die aus einem Video, einem Wikipedia-Eintrag auf einem I-Pad, einem Audioguide und ein paar Objekten besteht, auf die ich noch zurückkommen werde. Jedenfalls: Wenn die Priesterin einst der Natur entgegentrat und die NSA der unberechenbaren Menschheit, dann tritt hier eine neue Agentin auf den Plan, die nun wiederum der Macht von NSA und Konsorten entgegentritt. Die Frau ist die fiktive Ingenieurin und Ethnolinguistin Chrystal Tesla, Tochter von Ted Kaczynski, der als der UNA-Bomber bekannt geworden ist. Chrystal, deren Vorname wohl nicht von ungefähr an die Droge Crystal Meth erinnert, ist etwas schizophren, nämlich technikaffin und technophob, sie denkt logisch nach, zieht ihre Schlüsse und baut dann Geräte, die sie in ähnlichem Sinn vor den Abhörorgien der NSA schützen sollen, wie das William S. Burroughs in den 70er-Jahren von seinen Tapes behauptete: Er entwickelte in seinem Text „Electronic Revolution“ nach den Abhörorgien Nixons eine ganze Sammlung von künstlerischen Taktiken, die die Technik, die sich die Politik unter den Nagel gerissen hatte, aneignen und gegen jene selbst wenden sollten.

Auch Stumreichs Geschichte spiegelt ihre Zeit. Darin spielt nun Genetik ebenso eine Rolle wie die Settings der Digital Natives oder die DIY-Bewegung; am wichtigsten aber die uns schon so vertraute Atmosphäre mittlerweile allgegenwärtiger digitaler Überwachung, die neuerdings schon unser Überich formt, sodass wir am Abend wie die Kindlein zu ihr beten, damit ihr großes Auge auch dann auf uns ruhen möge, wenn wir im Schlaf von einem psychopathischen Weltverschwörer niedergemetzelt werden. Aus dieser unserer Zeit heraus entwickelt Tesla ihre Simulationen von Abwehrgeräten, ihre Fetische. Und diese Fetische des 21. Jahrhunderts sehen natürlich aus wie technische Geräte. Dennoch ruft Stumreich den DIY-Aspekt der alten Kult-Objekte auf, wie wir sie aus dem ethnologischen Museum kennen. Es geht hier um Selbstermächtigung, und die kann nicht in Serie gekauft werden. So erschafft Chrystal Tesla, diese Heldin unserer Tage, mit Hilfe der alten Technik des Brettchenwebens zum Beispiel Kupferbänder, die die Verortung von Handys stören sollen. Oder sie erzeugt einen von ihr erfundenen, ganz speziellen Faraday’schen Käfig, in dem sich die NSA-Argusaugen verfangen sollen etc. Ich will die Geräte hier nicht alle beschreiben – sehen Sie sich die Sache im AEC selber an!

Wichtig scheint mir an der Sache, dass hier ein Gebrauch von Technik gepflegt wird, der vom Pfad abweicht, den ein paar mächtige Leute vorgezeichnet haben. Und so einem schiefen Gebrauch wohnt eben immer ein spezieller Zauber inne. Das hat u. a. Michel de Certeau in seinem Buch „Kunst des Handelns“2 bemerkt: Es ist der Zauber der Auflehnung, der uns zum Beispiel anrührt, wenn Menschen ein seelenloses Gelände völlig gegen seine Intention verwenden, indem sie es für ihr Parkour-Training oder eine Flashmob-Rezitation der „Ode an die Freude“ benützen. Da geht es um tatsächliche kleine Aneignungen, um tatsächliche kleine Möglichkeiten des Überlistens von Macht oder zumindest um Geschichten, die von einer solchen Überlistung erzählen. Ja, es geht um solche Geschichten, um moderne Mythen und Märchen, die nicht ausschließlich der Ohnmacht entstammen, wie das bei Verschwörungstheorien der Fall ist, sondern auch der Freude an der Entdeckung und am Spiel. Kunst kann Geschichten anbieten, die komplett abheben und uns gerade damit auf einen – allerdings gewendeten – Boden der Tatsachen zurückholen. Darüber muss ich nachdenken, seit ich im Netz ein paar Arbeiten von Kathrin Stumreich gesehen habe.

1 An dieser Stelle sei der Film „Das Netz“ von Lutz Dammbeck genannt, den Stumreich auf ihrer Website zitiert. In „Das Netz“ wird die Geschichte des UNA-Bombers mit den LSD-Experimenten der US-Regierung, geheimen ExpertInnentreffen und künstlerischen Bewegungen in Beziehung gesetzt (YouTube!).

2 Michel de Certeau: „Arts de Faire“, Paris 1980. (Deutsch: „Kunst des Handelns“, Berlin 1988)

 

Die Ausstellung wird am 21. Juni, um 18.30 h, im Ars Electronica Center eröffnet.

www.kathrinstumreich.com

www.linz.at/frauen/5021.asp

Kunst sagt …

Kunst und Gewalt sind aber nun ein klassischer Plot der Moderne, und von Anfang an lüstern miteinander verbandelt. Ebenso alt ist das Kokettieren des Künstlers mit der wirklichen Tat, die Ernst macht und ihm damit ein Entkommen aus Kunst- und Gedankenräumen ins wirkliche Leben ermöglicht.

Zitiert nach dem Film „Das Netz“ von Lutz Dammbeck, den wiederum Kathrin Stumreich im Zusammenhang mit der prämierten Arbeit „What would Ted Kaczynski’s daughter do …?“ auf kathrinstumreich.com zitiert.

fuck consent, we want conflict!

Der österreichische Außenminister twittert am Abend der französischen Präsidentschaftswahlen darüber, dass mit Emmanuel Macron linke Politik abgewählt wurde – kaum jemand kann sagen, was uns der junge Mann damit eigentlich mitteilen will. Bereits knapp ein halbes Jahr davor beginnt Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek am Tag nach der Wahl zum amerikanischen Präsidenten mit der Arbeit an einem Theaterstück über Verwirrungen, Unschärfen und einen Zustand politischer Blindheit, in dem nur noch die Orakel Wahrheit sprechen1. Weil ohnehin alles, was so schnell und öffentlich ausgeschieden und abgesondert wird, nicht lange genug lebt, um auf Wahrheitsgehalt hin überprüft werden zu können. Und das ist gut so – denn um Wahrheit, Wahrheit sprechen und Wahrheit besitzen geht es längst nicht mehr. So eine Kolumne braucht Zeit und deshalb liegen zwischen diesen ersten Zeilen und dem Moment, in dem ich nun schreibe, ein paar Tage (oder Wochen). Und in dieser Zeit hat der österreichische Außenminister die Realität in seinem Geilomobil überholt, ist mittlerweile nicht nur Außenminister, sondern auch Obmann seiner Partei, hat Neuwahlen ausgerufen und seiner Partei die Bedingungen diktiert, unter denen er bereit ist, sie zu führen. Um sie kurz darauf namentlich zu eliminieren. Er meint, zwar als Parteiobmann, nicht aber als Vizekanzler zur Verfügung zu stehen, mit der Begründung, ein anderer als er sei für diesen Job besser geeignet, was die Frage aufwirft, warum derjenige dann nicht auch die Partei führt. Rhetorische, strategische Spielchen, die an die Anfangssätze dieser Kolumne anschließen: Um Wahrheit, Wahrheit sprechen oder besitzen geht es nicht. Das wäre mir an und für sich kein großes Problem, denn an die Stelle einer „Suche nach Wahrheit“ und eines stets anzuzweifelnden Gültigkeitsanspruches könnte die Frage nach welcher Wahrheit denn treten. Oder auch nur die Idee, etwas (das Gegenüber, die andere Wahrheit?) kommentarlos ein paar Minuten auch mal so stehen zu lassen, sowie die Einsicht, dass konzentriertes Schweigen eine Form von Kommunikation ist.

Das Gegenteil aber ist der Fall. Jene, die Nachdenkpausen stets als Aufforderung missdeuten, anderen ihre Wahrheit um die Ohren zu hauen, sind weder bereit zu verstummen noch sich zu besinnen. Es sind jene, die erkannt haben, dass die Wahrheit ein instabiles und ungreifbares Konstrukt ist und das Volk sich mit täglich neu gebastelter nicht nur zufrieden gibt, sondern dies als dynamisch! männlich! führungsstark! nachgerade einfordert. Punks wie Trump haben die Macht übernommen. (Es sind nicht dieselben Punks, an die wir dachten, als wir uns das eine Sekunde lang wünschten.) Kapitalismus-Anarchos, die sich einen Dreck darum scheren, ob das, was sie heute sagen, morgen noch Gültigkeit hat und wer von den Gesetzen, die sie verabschieden, in welcher Art betroffen und behindert wird. Dass Sebastian Kurz seine eigene Partei in ihrer Existenz gefährdet, indem er ihren Erfolg von seinem Namen abhängig macht und damit das System ÖVP zerschlägt – wird nicht als systemgefährdend kritisiert, im Gegenteil, er wird dafür bejubelt: bemerkenswert die Gelöstheit, mit der viele ÖVP-Menschen laut Hurra! schrien, als ihr Alphatierchen im Handstreich jene Partei, die ihn aufgebaut hat, abschaffte – juhu, schrieben sie etwa auf Facebook, das ist gut, endlich wieder einer, der sagt, wo es langgeht. Endlich wieder einer, der sich was traut, ein starker Mann, wie schön, wir folgen ihm. Sebastian Kurz ist auf dem besten Weg ein rechter Populist zu sein und bedient mit seinem Handeln und der Art, wie er sich seines Vorgängers entledigt hat, archaische Sehnsüchte. Und dabei ignoriert er nicht einmal die Systematik des politischen Umsturzes, er ignoriert bloß, dass dieses unschöne Absägen und der überdeutliche Wille zur Macht bislang nicht ganz so offen zur Schau gestellt wurden. Und liegt dabei voll im Trend, hey! Eleganz hat ausgedient, auch und vor allem in der Politik. Postpolitisch und postdemokratisch – so beschreibt die belgische Politikwissenschafterin Chantal Mouffe die aktuelle Situation, in der die gekannten Parteiensysteme ausgedient haben und Menschen nicht länger Konsens einfordern, sondern Konflikte. Das Volk will Blut sehen, das Volk will sich entscheiden können, am besten stündlich neu. Unterhaltet uns! Spannend nebenbei bemerkt, wie ausgerechnet in der Postdemokratie mehr (direkte! also meine!) Demokratie eingefordert wird. Zur Hölle, es ist verwirrend.

Im Kontext dieser Streit- und Provokationssehnsucht liest sich auch der ganz offen zur Schau gestellte Sexismus wieder ganz logisch und macht es sich gemütlich. Wie er es tatsächlich gemeint hat, sei dahingestellt und ich glaub ihm gerne, dass er sich selbst nicht als einen Sexisten sieht. Jedenfalls hat Hans Bürger, immerhin ORF-ZiB-Ressortleiter Innenpolitik/EU, mit einem Satz deutlich gemacht, zwischen welchen Wahrheiten wir hin und her gebeutelt werden: „Das wird der brutalste und härteste Wahlkampf, dieser, 2017, da gilt es auch gegen Männer zu bestehen2.“ Einige meiner Meinung nach zu Recht kritische Bemerkungen später fühlt er sich ungerecht behandelt: „Wie kann man etwas nur so missverstehen“, schreibt er auf Twitter und bestätigt damit jede vorangegangene Kritik. Hach, Frauen sind einfach nicht hart genug für dieses Politdings und dann missverstehen sie einen auch noch … Eva Glawischnig, so betont er, habe sich von seiner Aussage ja gar nicht betroffen gefühlt, so als dürften sich deshalb alle anderen Frauen nicht von der Schnoddrigkeit betroffen fühlen, mit der Hans Bürger zwei Lager auftut und Zuschreibungen macht, die andernorts längst als passé erachtet werden.

Als Politanalyst hätte er wissen können, wie auf einen ungeschickten Stolperer in einer Liveanalyse zu reagieren sein könnte. Hätte. Könnte.

Schon kommt ihm ohnehin der Kollege vom Standard zur Rettung: „Unsere Krise von Politik und Journalismus kommt vielleicht auch daher, dass manche etwas nicht wahrhaben wollen, obwohl es doch evident ist“ schreibt Thomas Mayer als Kommentar zur Kritik an Hans Bürger3.

Da ist sie wieder, die Wahrheit und ihre Verteidiger. Umgekehrt würde ich formulieren: unsere Krise – ganz generell – kommt vielleicht daher, dass ein Teil der Menschheit seit Jahrhunderten die andere mit ihrer Überzeugung zu wissen, was evident, wahr oder halt einfach so ist, quält und langweilt.

Ich spüre den Fatalismus den Nacken raufkriechen, lehne mich zurück und wohne – mittlerweile nicht einmal mehr überrascht – einem Schauspiel bei, das sich in klirrender Eindeutigkeit vorführt, keinen Zweifel daran lässt, wer welche Absichten hegt oder gar elegant mit Zwischentönen oder Mehrdeutigkeiten spielt. Eleganz ist weder eine politische noch eine revolutionäre Größe, ich weiß, und dennoch sehne ich mich manchmal nach ihr.

 

1 Anm. WH: „Auf dem Königsweg“ wurde gekürzt und auf Englisch („The Burgher King“) am 27. 03. 2017 in New York als Lesung aufgeführt, darüber hinaus ist zu diesem Theatertext zu/über Donald Trump von Elfriede Jelinek aktuell nichts zu erfahren oder auf der Homepage der Schriftstellerin zu finden. Dass Jelinek sofort nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten mit der Arbeit daran begonnen hat, ist in einem Artikel der Welt nachzulesen: www.welt.de/kultur/article163225150/Das-Schweinchen-mit-den-komischen-blonden-Haaren.html

2 derstandard.at/2000057870537/Kritik-an-ORF-Journalist-Buerger-wegen-Glawischnig-Analyse

3 twitter.com/TomMayerEuropa/status/ 865487716300972032

Das Naturereignis der „unpolitischen“ Brunhilde Pomsel

Brunhilde Pomsel arbeitete als Sekretärin für NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, einen der größten Verbrecher des Dritten Reichs. Im Film Ein deutsches Leben erlebte Silvana Steinbacher eine der letzten Zeitzeuginnen an den Schaltstellen des Massenmords. Die Erinnerungen dieser skrupellosen MitläuferInnen weisen unangenehme Parallelen auf.

Und immer wieder: Die ganze Menge konnte nichts dafür? Foto Blackbox Film

Und immer wieder: Die ganze Menge konnte nichts dafür? Foto Blackbox Film

Ich habe die Szenerie noch deutlich vor Augen. Bei einem familiären Geburtstagsfest stritten einige Verwandte lange über die Volksabstimmung zur Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf, mein Vater versuchte mehrmals zu beruhigen. Einige Male habe ich von diesem Fest erzählt, bis meine Cousine und mein Bruder meine Erinnerungen an einigen Stellen gravierend zurechtrückten: Das Fest sei damals friedlich verlaufen und über Zwentendorf wurde nur kurz und in einhelliger Meinung gesprochen. Ich muss wohl einige Erinnerungssplitter über beinahe vierzig Jahre verschoben oder falsch abgelegt haben. Was also können wir über Jahrzehnte hinweg verlässlich und wahrheitsgetreu abrufen, inwiefern können wir unserem Gedächtnis überhaupt trauen?

Diese Gedanken beschäftigen mich, während ich auf den Beginn des Films Ein deutsches Leben warte. Brunhilde Pomsel musste sich an Begebenheiten vor mehr als siebzig Jahren erinnern. Musste sie? Wollte sie nicht eher ihr Gewissen erleichtern, sich rechtfertigen? Wie sehr lässt sich abgesehen davon dem Denkvermögen einer Frau trauen, die über einhundert Jahre alt ist? Ich bin skeptisch, doch bei letztem Punkt zu Unrecht. Brunhilde Pomsel erweist sich in diesem Film als geistig sehr rege. Doch gleich vorweg: Diese Eigenschaft wird die einzige bleiben, die ich an dieser Frau als beeindruckend hervorheben kann.

An einem Sonntagnachmittag sehe ich mir gemeinsam mit rund fünfundzwanzig Menschen diese Dokumentation an. Neben mir sitzt ein Mann um die dreißig, die langen Einstellungen, Nachdenkpausen und die mitunter langsame Sprechweise der alten Frau, denen der Film seinen Platz einräumt, strapazieren seine Seh- und Hörgewohnheiten spürbar, er rückt unruhig auf seinem Sitz hin und her, in der Mitte des Films schläft er kurz ein. Nach dem Ende des Films wird er aber mit seiner Begleiterin sofort über Brunhilde Pomsel zu diskutieren beginnen. Neben mir eine alte Frau, die die Dokumentation aufmerksam verfolgt, vereinzelte Besucher verlassen aber auch bald den Saal. Im Raum, so empfinde ich, herrscht eine Atmosphäre der Nervosität und Ungeduld. Erst als in einer Einspielung eine Leichenentsorgung im Warschauer Ghetto zu sehen ist, hören wir alle nur noch das Knistern des historischen Materials, kein Rascheln im Saal, nichts. Seltsam, denke ich, denn die Aussagen von Brunhilde Pomsel sind für mich so ungeheuerlich, dass sie von Beginn an Stille erzeugen müssten.

Worum geht’s? Die Blackbox Film & Medienproduktion Ein deutsches Leben ist am 7. April in den Kinos angelaufen. Brunhilde Pomsel war von 1942 bis Kriegsende im NS-Propagandaministerium Sekretärin von Joseph Goebbels. (Was hat er ihr diktiert, denke ich schon bald.) Goebbels war bekanntlich einer der engsten Vertrauten Hitlers und durch seine antisemitische Propaganda einer der wesentlichen Wegbereiter des Holocaust.

In Schwarz-Weiß-Bildern und stark ausgeleuchteten Close-ups erzählt Pomsel über diese Zeit. Ihre Erinnerungen, die oft im Plauderton daherkommen, ergänzen die vier Regisseure durch teils nie zuvor gezeigte historische Aufnahmen und Zitate aus Goebbels Tagebuch.

Ich bemerke während des Films – habe ich das Recht dazu? –, dass ich viele Pomsel’sche Wortmeldungen kaum aushalte. Eine Auswahl:

„Ist es denn wirklich so schlimm, wenn man für sich selbst versucht, das Beste herauszuholen.“

„Schuldig fühle ich mich nicht. Es sei denn, man wirft dem ganzen deutschen Volk vor, dass es letzten Endes dazu beigetragen hat, dass diese Regierung überhaupt ans Ruder gekommen ist. Das sind wir alle gewesen. Auch ich.“

„Nichts haben wir gewusst.“

„Auch das Schöne hat Flecken und auch das Schreckliche hat Sonnenstellen.“

„Wir haben mitgeklatscht, es ging nicht anders, es war ein Naturereignis. Die ganze Menge konnte nichts dafür.“

(Anm.: Diese Aussage bezieht sich auf Joseph Goebbels Zitat: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ in seiner Rede im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943).

Spätestens bei diesem Zitat packt es auch den Mann neben mir. Er wird für ein paar Minuten ruhig sitzen bleiben. Was hat Goebbels ihr diktiert, rast es mir immer wieder durch den Kopf, und hat sie bei der Reinschrift nur an ihr perfektes Zehnfingersystem gedacht? Über den Inhalt ihrer Arbeit spricht sie nämlich nicht. Wurde sie nicht gefragt, wollte sie nicht oder hat sie sich nicht mehr „erinnert“?

Vor einigen Jahrzehnten hat mir ein Ehepaar erzählt, wenn es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte, hätte es sich nicht kennengelernt und wäre jetzt nicht glücklich verheiratet. Auch das schwingt in meinem Kopf mit, als ich Brunhilde Pomsel zuhöre, denn sie erzählt vom Büroalltag, als hätte sie in einer Modeagentur gearbeitet, in der es gar lustig zugegangen sei. Der gepflegte, modische Chef, sein sensibles Hündchen, seine lieben Kinder. Und vor allem: Ihr tolles Gehalt, um das sie alle beneideten. Immer wieder erwähnt sie, sie sei ein völlig unpolitischer Mensch gewesen. Ein Leben in der Idylle also, wenn man bereit war alles beiseite zu schieben, so wie auch Hitlers Sekretärin Traudl Junge in dem 2006 entstandenen Film Im toten Winkel, so wie einige meiner Verwandten. Der zeitliche Bogen kann bis heute gespannt werden, – natürlich in einer anderen Dimension des Elends.

Ein paar Tage nach diesem Film lese ich von einer Studie, deren Ergebnisse ich nicht in dieser Drastik erwartet hätte: 56 Prozent der Befragten stimmen der Aussage sehr oder ziemlich zu, dass die Diskussion über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust beendet werden sollte. Außerdem sieht ein Drittel der Befragten Gutes wie Schlechtes an der NS-Zeit, wobei jeder zweite 15- bis 20-Jährige ein mangelndes Wissen über den Hitlerfaschismus angibt. Junge und mäßig gebildete Menschen zeigen eine erhöhte Tendenz für autoritäre Zugänge.

Dieses Ergebnis animiert mich, mir die Postings zu eben jenem Film der Zeitung Der Standard1 anzusehen. Laut Umfrage sind deren LeserInnen jung, gebildet, urban und mobil. Wie ich erwartet hatte, reagiert eine Mehrheit der siebzehn Postenden ablehnend bezüglich der skrupellosen und verdrängenden Pomsel’schen Welt, doch ich finde auch einige verworren formulierte Textbeiträge. Ein Leser oder eine Leserin meint „Sekretärinnen waren nur Frauen ihrer Zeit“ (Aha! Was meint er/sie damit? Wie wären diese denn charakterlich ausgestattet? Waren Männer anders strukturiert?) Ein Kommentar nimmt zum Film gar nicht Stellung. Eine Thematik dieser Dimension sei zu komplex, lese ich, um sie in einem Zeitungsforum diskutieren zu können. Summa summarum empfinde ich das Ergebnis dieser Wortspenden eines sogenannten gebildeten Publikums als eher verzichtbar. Vielleicht müssen sie aber auch verzichtbar bleiben?!

Ich frage mich, warum die Regisseure zu den bereits zahlreich vorhandenen Materialien über ZeitzeugInnen noch diesen Film hinzugefügt haben? Brunhilde Pomsel wird voraussichtlich eine der letzten sein, die über die NS-Diktatur sprechen konnte und: Sie saß – äußerst bequem – im Epizentrum der Schreckensherrschaft, auch wenn sie sich verdächtig oft als unpolitisch und kleines Rädchen bezeichnet. Interessanterweise gibt einer der Regisseure zu Protokoll, sie sei „eine scharfe politische Beobachterin“ gewesen. Also doch? Wann hat sich dieser grundlegende Wandel bei ihr vollzogen? So vieles passt da für mich nicht zusammen. Warum sind die Regisseure offensichtlich bemüht auch ein eher positives Bild von Pomsel zu zeichnen? Wahrscheinlich haben sie Nähe und Sympathie zu dieser Frau entwickeln müssen, um diesen Film überhaupt drehen zu können.

Einige Tage später stelle ich mir die für viele unvermeidliche Frage, wie ich mich während der NS-Zeit verhalten hätte. Ich bin mir sicher, dass ich diese Jahre nicht als Heldin erlebt hätte. Wenn mir zu einer Sophie Scholl also leider der Mut gefehlt hätte, so nehme ich doch an, dass ich nicht für ein gutes Gehalt und ein angenehmes Leben alles verdrängt und meine Sinne völlig ausgeschaltet hätte. Aber das bleibt natürlich Theorie.

Den Kinostart konnte Brunhilde Pomsel übrigens nicht mehr erleben. Sie starb am 27. Jänner 2017 – zynisch wie der Zufall manchmal spielt – in der Nacht auf den Internationalen Holocaust-Gedenktag.

 

1 „Ein deutsches Leben“: Kronzeugin mit eingeschränkter Sicht. Der Standard, 04. 04. 2017

 

Ein deutsches Leben

A/D 2016, 113 Minuten

Regie: Christian Krönes, Olaf S. Müller, Roland Schrotthofer, Florian Weigensamer.

Von meinem Privaten in dein Politisches

In den Galerieräumen des Forum Wels war im Frühjahr die Ausstellung Vor und Zurück zu sehen. Mit der zugrundeliegenden Thematik der Erinnerung wurden Objekte, Bilder und Installationen von Bibiana Weber, Edith Stauber und Alenka Maly gezeigt. Über Erinnerung, die Verbindung des Privaten mit dem Politischen, über persönliche Kunstbeziehungen sowie „das Gefühl einer geringeren Einsamkeit“ haben die drei Künstlerinnen mit Tanja Brandmayr gesprochen.

Die Einladung zur Ausstellung in die Welser Galerie Forum kam über Bibiana Weber. Edith Stauber hatte bereits Bilder mit dem Titel Vor und Zurück. Und während des langen, fallweise gemeinsam zurückgelegten Lebensweges sind bereits einige andere Arbeiten entstanden, die „in Räumen vor und zurückgehen“, wie Alenka Maly ergänzt (etwa 2009 mit Malys Ausstellung zur Arbeitersiedlung Hammerweg). Die drei Künstlerinnen teilen die gegenseitige Wertschätzung für ihre Arbeiten, sie haben zudem, was das Kunstverständnis betrifft, „gemeinsamen Vergangenheitsduft eingeatmet“. Sprich: Die künstlerischen Arbeiten und Wahrnehmungsebenen werden gegenseitig verstanden, auch wenn sie sich – wie wir später sehen werden – doch auch wesentlich im Zugang voneinander unterscheiden. Und wie zu erwarten war, ging es bei der Ausstellung, also mit dem Vor- und Zurückgehen in der Zeit weniger um Nostalgie. Wenngleich es auf Nachfragen scheint, dass der Begriff der Wehmut nicht ganz von der Hand zu weisen ist, allerdings stärker im politischen Kontext des Verlustes einer Zeit, in der Solidarität, Häuser besetzen oder ein radikaler Feminismus möglich war und trotz des Kampfes doch irgendwie zum guten Grundton einer Gesellschaft gehörte. Alenka Maly: „Ich habe keine Antwort, was Wehmut betrifft. Die 70er waren dahingehend eine goldene Zeit, vorher war Armut, dann war Protest und Solidarität möglich, jetzt ändert sich alles rasend“. Also weniger persönliches Sentiment als ein Blick über verlustig gegangene gesellschaftliche Errungenschaften. Und damit gehen wir wieder zurück in den „Duft“ der frühen Jahre: Alenka Maly und Bibiana Weber, beide mit ähnlicher sozialer Herkunft, ausgebrochen aus der Arbeiterschicht, haben etwa in einem Schritt der emanzipatorischen Selbstermächtigung Kunst studiert. Und auf die generelle Frage, wie sich denn die Erinnerung, das Private und das Politische in den Arbeiten treffen, merkt Maly an, dass sie in einer Familie aufgewachsen sei, wo immer politisch gedacht wurde, demnach sei auch das Private politisch gewesen. In die folgende kurze Diskussion über die Durchdringung des Privaten und Politischen, über Bibiana Webers künstlerische Transformation des Persönlichen in eine allgemeinere Gültigkeit, über einige Details in den Arbeiten der drei Künstlerinnen, kommen wir zu Edith Staubers für mich zumindest im Moment überraschenden Aussage, dass sie ihre Arbeiten als „rein privat“ verstehe. Dass es ihr um einen „Weg ins Private“ gehe, präzisiert sie mit den Worten: „Jeder hat etwas Privates“. Und dass mit der somit ableitbaren Definition „Alles ist privat“ ein Prozess von Mein-Privates-findet-sofort-einen-Zugang-in-dein-Privates möglich ist, verdeutlicht für mich, auch in Kombination mit den beiden anderen Künstlerinnen, den persönlichen, eigenständigen, wie auch äußerst bemerkenswerten egalitären Zugang, der in der Ausstellung insgesamt zu spüren ist. Beginnen wir also mit Edith Stauber.

Edith Stauber hat ihr Werk zwischen Malerei, Zeichnung und Film angesiedelt. In bester Erinnerung ist ihr animierter Film Parkbad (bzw, eigentlich: Eintritt zum Paradies um 3€20), der die Szenen eines Freibades in detailreicher Genauigkeit darstellt. Hier porträtiert nicht nur ihre „Lust am Gesamtbild“ den Ort, sondern Staubers „Frage der Beobachtung“ erweckt im Zuseher, in der Zuseherin die eigenen erinnerten Eindrücke: Quasi wie das letzte im Glas schwimmende Essiggurkerl, das mit der Gabel herausgefischt werden will (wie im angesprochenen Film) scheinen Erinnerungen kurz und deutlich zugänglich, entwischen letztlich aber doch immer wieder. In Wels wurden auch neuere Filme gezeigt. Außerdem, auch gar nicht nostalgisch, ein von Edith Stauber so bezeichneter „Bilderdurchfall“. Dieser zeigte fast tagebuchartig skizzierte und gezeichnete Eindrücke, halbwegs unverdauter Alltag also, in seiner speziellen Zusammensetzung aus verträglichen und unverträglichen Elementen, in ebenso verschiedenen Formaten und Techniken in den Welser Galerieräumen präsentiert. Diese Zeichnungen sind entsprungen aus einem Impuls der fast zeichnerischen Befreiung, so Edith Stauber, wohl auch gegenüber einer recht eindrücklichen Gegenwart. Wie im Gegensatz dazu widmete sie sich mit der Serie „Am Balkon“ der Vergangenheit. So hat sie alte Fotografien des Vaters aufgenommen, der die Familie immer wieder am Balkon abfotografiert hatte, schmucklos und im Motiv wiederkehrend, wie es wohl zu dieser Zeit nicht untypisch war. Stauber hat das aus künstlerischer Sicht „formal Strenge“ in Folge einer malerischen Bearbeitung unterzogen. Hat über eine lange Zeit des „nicht bewussten Nachdenkens“ während des Malens bemerkt, dass nach und nach Eindrücke aus der Vergangenheit hochkamen. Jedenfalls künden diese Momente auf dem Balkon von einer fast verlassen wirkenden Monochromie, sie haben aber auch etwas ungemein Lebendiges, dieses Baby Edith zum Beispiel, das frech, skeptisch oder schreiend, jedenfalls mit der einzigen Aufgabe eines Babys, nämlich zu wachsen und zu gedeihen, in die Welt blickt … oder die Jugendliche Edith, die mit zusammengezwickten Augenlidern in der strahlenden Sonne steht.

Während Edith Stauber ihren Blick auf Situationen und die damit einhergehende persönliche Erfahrung richtet, widmet sich Bibiana Weber den Dingen bzw. der Kommunikation mit den Dingen. In einem Zugang des Lost-and-Founds zeigte die Objektkünstlerin zwei Herangehensweisen – wobei sich die eine als eine Spur emotionaler erwies als die andere, die dem Sentiment die Ordnung beifügte. Kleine Wunderkammern aus gefundenen Objekten haben sich so angesammelt, etwa beim Spazierengehen; und ihre so entstandene Sammlung sei selbst „ein Kommen und Gehen“, sagt Weber. Sie weist in ihren Arbeiten auf Qualität(en) hin, gibt den Dingen Aufmerksamkeit, denn die Dinge „haben Spuren, haben Spuren hinterlassen, erzählen selbst Geschichten.“ Dass so Geschichten neu erzählt oder anders weitererzählt werden, ist selbstredend für den künstlerischen Prozess. Bibiana Weber sei dabei, so die Kolleginnen, „die Übersetzerin der Dinge“. Als vordergründig etwas weniger spielerisch (Weber arbeitet übrigens auch mit Stahl), erweist sich der zweite Ansatz Webers, der zum Beispiel in den Arbeiten Linz oder Telefonauskunft 11 88 77 zu sehen war. Dafür rollte sie aus dem Papier alter Stadtkarten, Zeitschriften, aus blauen Wahlkarten oder im Falle von „11 88 77“ aus dem Telefonbuch von ihr so bezeichnete Papierperlen. Dass diese Papierperlen, eine neben der anderen in Schaukästen aufgereiht, dabei nicht nur „je nach Lichtsituation Schatten werfen und Bewegung ins Spiel bringen“, sondern gewitzt wie grotesk Erinnerung zu verarbeiten und beinahe wissenschaftlich geordnet zu systematisieren scheinen, scheint dabei ganz klar Bezug auf die von ihr formulierte Absicht zu nehmen, „das Persönliche zu etwas allgemein Gültigerem zu transformieren“. Das Persönliche also fein säuberlich ausgeschnitten, quasi zu Erinnerungsperlen aufgewickelt und im Schaukasten platziert? Sozusagen eine gerollte Geschichte des Einzelnen und des Allgemeinen? Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass die hier beispielhaft genannte Nummer der Telefonauskunft nicht nur über alte Zeiten und die neueren Zeiten der Digitalisierung spricht. Sondern ich entwickle so etwas wie einen kleineren Horror, dass die persönlichen Erinnerungen, jede für sich einzeln so schön durchlebt und deshalb für einen selbst so besonders wertvoll, irgendwann selbst wie tote Kleinstlebewesen in einem Schmetterlingskasten gleich, von einem selbst also aufwändig als Erinnerung präpariert, aufgerollt und platziert, zu einem System werden, das Bibiana Weber in ihrem Ausstellungstext so beschrieben hat: „Still ruhen diese Kleinstobjekte auf weißen, gerasterten Flächen in Objektkästen“. Bibiana Weber scheint in ihren Arbeiten jedenfalls eine beinahe wissenschaftliche, erkenntnistheoretisch anmutende Fragestellung platziert zu haben: Was ist den Dingen und was ist der Erinnerung immanent? Was kann man über den Kern der Dinge oder die Vergangenheit sicher wissen?

Im hinteren, letzten Raum hat Alenka Maly eine Rauminstallation aufgebaut, die aus mehreren Komponenten bestanden hat – und die als Gesamtsituation Anklänge von Reisen, Durchreisen, des insgesamt Unbeständigen evozierte; oder der großen Ungeheuerlichkeit des unkalkulierbar Improvisiertens eines jeden Lebens, das sich zuletzt und am Ende sozusagen immer als flüchtig erweist; und eines Raumes, in dem „großes Glück und großes Leid“ quasi miteinander leben, wie Alenka Maly angemerkt hat. So spürt man die in die Gegenwart strahlende Erinnerung an die Familie Malys – durch zwei im Raum einander gegenüberliegende installative Settings, die den letzten Campingurlaub mit dem Vater wieder auferstehen haben lassen. Die Erinnerungen erweisen sich als schön wie schmerzhaft. Ein Video zeigt den Vater und Musiker Gust Maly, im Süden auf einem Campingplatz Gitarre spielend. Er und die Familie wussten zu diesem Zeitpunkt bereits von seinem nahenden Tod. Die zum Loop geschnittene Melodie begleitet ein an die Wand gehängtes Tischtuch des Campingtisches, aufgehängt als Beleg des Gemeinsamen, als Ort, wo die Familie selbstverständlich zusammengekommen ist, um zu reden, zu essen, zu trinken und zu streiten – nicht zuletzt um die privaten sowie größeren Angelegenheiten einer an sich politischen Familie zu debattieren. Dieses Stück Tuch, das wie als Beweis des Gemeinsamen und gleichzeitig als Anklage des Verlustes gelesen werden kann, schlägt zudem eine andere Verbindung zu einem weiteren „Größeren“ im Ausstellungsraum auf: Gleichsam im persönlichen Leid verankert, scheint Maly das Wissen um den Schmerz zu multiplizieren, transformiert persönlichen Schmerz und Mitgefühl mit den vielen Familien und Menschen auf der Flucht. In Wäsche bearbeitete sie Pressefotos aus den Flüchtlingscamps, indem sie etwa diese Bilder verblassen ließ, um Wäschestücken auf Wäscheleinen wieder Farbe einzuhauchen, inklusive kleiner Maschen und Schleifen auf kleinen Mädchenpullovern: Wäsche als bereits des Öfteren von Maly gewähltes Mittel, als Symbol für das der Haut am nähesten Liegende; als Symbol für Nähe, die sich mitfühlend mit dem Leid anderer zu verbinden weiß, in einer zutiefst humanistischen Positionierung. Nach dem Verlassen der Räume klingt die Melodie des Vaters noch lange nach.

Gemeinsames vor und zurück in der Zeit also, verschiedenes hin und her in den Beziehungen. Wunderbare Beiträge in den einzelnen Räumen. Und trotz aller anskizzierten Unterschiede in der künstlerischen Herangehensweise: Gemeinsam scheint die Übersetzungsarbeit in einen „größeren Zusammenhang“ mit Menschen, Dingen, Situationen und nicht zuletzt in eine Kommunikation gemeinsamer Erfahrungen hinein. Mit diesem Sichtbarmachen, Spürbarmachen ginge es schlichtweg auch um das „Gefühl einer geringeren Einsamkeit“, so Edith Stauber. Rückbezogen auf die Ausstellung: nicht nur eingebettet, sondern durch vielfache mögliche Bezüge weit und frei.

 

www.edithstauber.at/bibiana-weber

www.edithstauber.at/edith-stauber

www.edithstauber.at/alenka-maly

Es mäandert alles so parallel dahin.

Derzeit sind in der 44er Galerie am Stadtplatz von Leonding ausgewählte Arbeiten der Linzer Künstlerin Astrid Esslinger in Tonkell zu sehen – einer Gruppenausstellung über sexualisierte Gewalt als gesellschaft­liche Selbstverständlichkeit. Elisabeth Lacher hat mit Astrid Esslinger gesprochen: über Bilder als Projektionsfläche und ein Atelier als Isolations-Tank.

Eisheilige V von Astrid Esslinger, 100 x 90 cm, 2013. Foto Otto Saxinger

Eisheilige V von Astrid Esslinger, 100 x 90 cm, 2013. Foto Otto Saxinger

Die in der Ausstellung Tonkell gezeigten Gemälde Esslingers sind eine Auswahl aus ihrem künstlerischen Werk der letzten Jahre. Die Gemälde sind zwar ursprünglich nicht unter dem Aspekt des Ausstellungsthemas entstanden, dennoch vermögen sie in unerwartet deutlicher Weise ein Netz aus optischen Impulsen in der Ausstellung zu flechten, das die Betrachterin und den Betrachter, durch die Meta-Ebene der gesellschaftlichen Thematik von sexualisierter Gewalt hindurch, in ein individuelles Wahrnehmen und in innere Betroffenheit führen. Und somit ein erweitertes Feld des Sehens, Fragens, Verstehens und Verständnisses eröffnen.

So begegnet man im ersten und kleinsten Raum der Ausstellung der Arbeit Eisheilige V aus dem Jahr 2013: Ein gebeugter Mensch, einsam und verlassen, den Kragen seines Mantels hochgeklappt. Er will weggehen. Sich verstecken. Voller Scham. Sich abwenden. Von einem Dunkel, in dem er nicht sein kann. In dem niemand sein kann. Der Kopf eingesunken, Abkehr, alleine, trostlos. Die Enge des realen Raums wird durch die Weite einer gemalten, gottverlassenen Landschaft ausgeglichen. Der Eisheilige berührt und macht betroffen. Und ist ein beeindruckendes Intro in eine Ausstellung, die in großer Bildgewalt den Raum aufmacht für das Überthema der gezeigten künstlerischen Arbeiten: Sexualisierte Gewalt als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Die Ausstellung thematisiert den geheimen, privaten, sprachlosen und alltäglichen Raum, in dem sexuelle Gewalt häufig stattfindet. Jenseits von medialen Skandalmeldungen, die kurzfristig Empörung und Abscheu hervorrufen, schafft die Ausstellung generell ein tieferes Bewusstsein und einen differenzierteren Blick auf gesellschaftliche Strukturen, Machtverhältnisse und tradierte Rollenbilder von Mann und Frau.

Esslingers Bilder bieten sich als offene Projektionsflächen in Zusammenhang mit dem Thema der Ausstellung an. So zeigt das Bild Monokultur eine Gruppe junger, weißer Männer im schwarzen Anzug. Stellvertretend für das europäische Bild von Erfolg, Business, Macht. Das eigentlich nur wenigen etwas, und denen auch nur sehr wenig, zu bieten hat. Und neben eintönig und schwarz-weiß auch ziemlich aggressiv ist. Die Arbeit Under Cover zeigt zwei Frauen: die eine verbirgt ihr Gesicht durch einen Schleier, die andere durch eine Sonnenbrille. Sowohl die Sonnenbrille, wie auch ein Schleier können normale Mode und Alltagsgegenstände sein, gleichzeitig aber auch Spuren häuslicher Gewalt verbergen. Astrid Esslinger erzählt über ihre Arbeiten in der Ausstellung Tonkell, dass sie den Besucherinnen und Besuchern ihre Bilder als Projektionsfläche für eigene Gedanken und Erfahrungen anbieten möchte. Es läge ihr fern, fertige Erklärungen abzugeben oder die Betrachterin, den Betrachter auf die Suche nach der richtigen Interpretation ihrer Gemälde zu schicken. Vielmehr sollen ihre Arbeiten ein offenes System darstellen, die zwar in einen inhaltlichen Kontext eingebaut sind, jedoch verschiedenste Assoziationen und Gedanken nicht nur zulassen, sondern auch initiieren. Für Esslinger hat Kunst nichts Lehrhaftes, nichts Auratisches, nichts Erklärendes oder Abgeschlossenes. Sie selbst sieht ihre Bilder auch nie als „fertig“ an: weder in ihrem Atelier gibt es einen Zeitpunkt, an dem ein Bild fertiggestellt wird, noch sind es die Bilder, die sie in Ausstellungen bringt. Für Esslinger sind es die Personen, die ihre Bilder ansehen, sich einlassen, Gedanken machen, die die Bilder im Endeffekt fertigstellen. So hört sie zum Beispiel auch lieber dem zu, was ihr andere über ihre Bilder erzählen, als selbst viele Worte darüber zu verlieren.

Eine Haltung, die sich auch in ihrem Arbeitsstil im Atelier niederschlägt. Sie malt nie nur an einem Bild, es sind immer mehrere Bilder gleichzeitig in Arbeit. Manche Bilder werden über Jahre hinweg gemalt, stehen dann auch länger herum und warten oft sehr lange, bis wieder eine Farbschicht, eine Figur, ein Motiv hinzukommt. Eigentlich, erzählt Astrid Esslinger, gibt es in meinem Atelier keine Bilder, von denen ich sagen würde, dass sie fertig gemalt sind und ich nichts mehr hinzufügen werde. Solange sie im Atelier sind, verändern sie sich: oder können sich verändern. Erst wenn ich ein Bild weggebe, höre ich auf, daran zu malen. Und danach wird es erst fertig: durch die Personen, die es ansehen. Durch die Gedanken, Erfahrungen und Eindrücke, die daraus entstehen.

Die eigene Erfahrung nimmt in Astrid Esslingers Arbeit in vielerlei Hinsicht einen wichtigen Stellenwert ein. Ich beginne immer bei mir selbst, erzählt sie. Was ich nicht selbst in irgendeiner Form erfahren habe, darüber kann ich nichts erzählen, das ist nicht relevant. Meine Arbeit beginnt immer bei mir, bei meinen Erfahrungen, meiner Intuition. Was sich weniger auf konkrete Themen und Inhalte bezieht, sondern auf den eigenen Prozess des Malens, der entkoppelt ist von intellektuellen oder inhaltlichen Fragestellungen. So entstehen Bilder, die sich nicht konkret an einem Thema oder Inhalt festmachen lassen, aber später in unterschiedlichen Kontexten eine eigene Wirkung entfalten und oftmals mit der ursprünglichen Erfahrung der Künstlerin gar nicht mehr so viel zu tun haben müssen. Die Verbindung entsteht eher durch das eigene Einlassen auf Gesellschaft und sich selbst. Am Anfang der Arbeit steht das Tun, die Intuition, das Ausprobieren, die Absichtslosigkeit beim Malen. So bezeichnet Astrid Esslinger ihr Atelier gerne als Isolations-Tank. Am besten arbeitet sie, wenn sie hinter sich den Schlüssel im Schloss umdreht und alle Reize, die der Alltag und das Leben jeden Tag bieten, für die Zeit im Atelier aussperrt: aber nicht als abgegrenzt und autark stehend, sondern als unterschiedliche Ebenen, die zwar verschieden sind, einander jedoch bedingen. Im Atelier geht es ihr darum, Unbewusstem nachzusinnen, oder vielleicht auch gar nichts nachzusinnen. Zu tun oder nichts zu tun. Was in der Zeit im Atelier passiert, das passiert eben.

Und wenn ich nur rauchend dasitze. Oder fünf Leinwände um mich herum stehen, auf denen ich gleichzeitig male. Wichtig ist mir lediglich, dass die Gedanken draußen bleiben. Und das eigene Ego. Das wäre beides hinderlich beim Malen, erzählt Astrid Esslinger über ihren Arbeitsprozess im Atelier. Das Nachdenken kommt erst später hinzu, zum Beispiel bei der Wahl der Titel. Eine gesellschaftliche Relevanz ist für mich und mein Arbeiten schon sehr wichtig. Da verfolge ich durchaus den Ansatz: Das Private ist politisch. Aber das alles passiert erst in einem viel späteren Schritt, diese gesellschaftliche Meta-Ebene. Und eigentlich mäandert alles so parallel dahin bei mir …

Dass sich das alles ausgeht und Sinn macht, davon zeugen nicht nur die Bilder in der Leondinger Ausstellung, sondern ein mittlerweile recht umfassendes Werk und Ausstellungen im In- und Ausland. Neben ihren Gemälden, die durch den sehr intuitiven Arbeitsprozess entstehen, arbeitet Astrid Esslinger auch regelmäßig an ihrer zweiten künstlerischen Produktionsschiene: den Cut Outs. Oder auch bekannt als Strichcode Sklaven. Für die konzeptuelle Handgepäckproduktion bereist Astrid Esslinger unterschiedlichste Orte und Städte, und schneidet dort Figuren zwischen 10 und 40 Zentimetern Höhe aus: aus vor Ort gefundenen Kartonagen und Schachteln. Die, unterschiedlich arrangiert, dann unterschiedliche Geschichten erzählen: übers Reisen, über verschiedene Orte, über Handelswege, über Vereinheitlichung und Normierung, Konsum und Wegwerfprodukte. Für Astrid Esslinger ist die Arbeit an den Strichcode Sklaven eine wichtige Ergänzung zu ihrer Arbeit im Atelier. Durch die Cut Outs bekommen Reisen und Aufenthalte in verschiedenen Ländern eine ganz eigene Bedeutung. Zum Beispiel nimmt sie einen neuen Ort ganz anders wahr, wenn sie auf der Suche nach verwertbaren Schachteln und Kartonagen für die Strichcode Sklaven ist.

So entstanden in Esslingers Cut Out-Schiene die Barcode Slaves_New York und die Barcode Slaves_Sao Paolo im Jahr 2011. 2012 folgten die Barcode Slaves_Teheran. Weitere Barcode Slaves entstanden in den letzten Jahren in Wien, Los Angeles, Bangkok, Berlin und Böhmen.

Bis 25. Juni sind Esslingers Bilder nun in Leonding zu sehen. Ein Besuch der Ausstellung Tonkell sei hier von meiner Seite unbedingt empfohlen. Zumal es unvergleichlich ist, in den Räumen der 44-er Galerie vor den Gemälden zu stehen und sie wirken zu lassen. Wem der Weg ins suburbane Leonding allerdings zu weit ist oder aus sonstigen Gründen unmöglich, kann sich auf der umfassenden Webseite der Künstlerin einen guten Eindruck über ihre Arbeiten machen. Zum Abschluss des Textes bleibt von meiner Seite zu sagen: Ich bin beeindruckt. Astrid Esslinger schafft ein interessantes und vielfältiges künstlerisches Werk, das wie die Künstlerin selbst im Raum steht: Klar, stark, und mit einem unglaublich hohen Maß an Authentizität.

 

esslinger.servus.at

 

Tonkell

Gruppenausstellung Astrid Esslinger und Anna Rafetseder

44er-Galerie, Leonding Stadtplatz

Öffnungszeiten bei freiem Eintritt sind: Di, Mi, Fr 15.00–19.00 h, Do 17.00–21.00 h, So 10.00–16.00 h

Noch bis 25. Juni 2017 zu sehen

 

Zur Zeit sind noch zwei Ausstellungen von Astrid Esslinger in Graz zu sehen:

Transit in der Werkstadt Graz und Strichcode Sklaven in der Galerie Grazy

werkstadt.at/aktuelle-ausstellung

 

Außerdem ab September und bis zum Jahres­ende 2017 zu sehen:

Transit II, im Gesindehaus des Schlosses Freistadt. Ausstellungseröffnung am 01. September: Begleitend zu Arbeiten der bildenden Künstlerin Astrid Esslinger interpretiert der Klarinettist des Klangforums Wien, Bernhard Zachhuber Werke von Salvatore Sciarrino, Gerhard Stäbler u. a.