Ort und Werkzeug

2015 fuhr der Bildhauer Hans Schabus für sein Kunstprojekt „The Long Road from Tall Trees to Tall Houses“ mit dem Rennrad von San Francisco nach New York. Johannes Staudinger fuhr nun mit seinem Rennrad von Linz nach Wien, legte dabei in 8 Stunden und 57 Minuten 232 km zurück, verbrannte 8506 Kalorien und führte mit Hans ein Ateliergespräch über das Fahrrad in seiner künstlerischen Arbeit.

Hans, wir kennen uns seit 1998 und ich hab dich ja nicht kennengelernt als Radfahrenden. Aber bei einem Treffen 2014 fiel mir auf, dass du total süchtig nach Radfahren warst und mir erzählt hast, „Ich schau beim Fenster raus und sobald ich merke, dass das Wetter halbwegs passt, sitz ich am Rad“. Was hat dich am Ende doch zum Radfahren gebracht?

In meiner Kindheit habe ich als 13-Jähriger bei einem Zeichenwettbewerb teilgenommen und da gewann ich ein 10-Gang- Rennrad. Aber keines von der Sorte, welches man heute noch gerne besitzen würde, nichts Cooles, sagen wir so. Es hat in meinem Umfeld keine Radfahrer gegeben. Mit fünfzehn, sechzehn Jahren waren für uns Motorräder, Schifahren und im Sommer Fußballspielen interessant, aber nicht Radfahren. Ich hab mir immer gedacht, wenn ein Radfahrer bei uns auf das Nassfeld, auf den Passo di Pramollo raufgefahren ist, um Himmelswillen, das möchte ich nie in meinem Leben machen, das ist das Verrückteste, was man im Leben machen kann. Später, als ich bereits in Wien war, bin ich immer zu Fuß gegangen, weil ich so in der Stadt viel gesehen habe, Sachen, die für mich neu waren, in den Geschäften, den ganzen Stadtvierteln usw. Ich habe für mich so etwas wie eine Kultur daraus gemacht, nämlich die des Erwanderns, oder des Ergehens. So um 1997 bezog ich ein neues Atelier in einem anderen Bezirk, wo das tägliche zu Fuß Gehen dann zu weit wurde. Ich kaufte mir dann ein altes Rennrad, ein Francesco Moser, eine Spur zu klein, aber mit dem fuhr ich in der Stadt herum. Leider wurde mir dieses Rad 2001 gestohlen. Von einem Onkel, der früher Rennradfahrer war, bekam ich daraufhin ein altes Dancelli. Ich bin aber noch immer nicht richtig Rennradfahren gegangen. Es hat lange gedauert, nämlich bis 2010. Da hab ich mit dem Rauchen und dem Fernsehen aufgehört, und mit dem Rennradfahren begonnen. Eigentlich über einen Freund, der mir das Buch von Robert Penn „Vom Glück auf zwei Rädern“ schenkte. Ich las dieses Buch und war praktisch infiziert! Daraufhin ergab sich eins aufs andere. Hier im 20. Bezirk gab es CAPO, das schönste Fahrradgeschäft, welches gerade vor ein paar Wochen zugesperrt hat, in den 80ern umgebaut wurde und eine Betonfassade mit einem kreisrunden Fenster hatte, welche vom Architekten Carlos Scarpa hätte sein können. Ich wusste, CAPO baut Räder, ich bin zu ihm rein, ließ mir ein Rad bauen und war dann gleich in dieser ganzen Welt gefangen.

Es ist also alles noch nicht solange her. Es hat nicht lange gedauert und bei einem Residency-Projekt auf Sri Lanka hast du ein Fahrrad in deine Arbeit eingebaut?

Genau, das war dann ein bisschen später. Im Winter von 2011 auf 2012. Dort hatten wir eine Ausstellung in Colombo. Ich war damals dabei, etwas mit einem alten, rostigen Rad eines Arbeiters der Residency zu machen. Man muss sich vorstellen, die Räder dort sind alle komplett verrostet wegen der hohen Luftfeuchtigkeit und der salzigen Luft. Der Rahmen hatte richtig große Rostlöcher, wo man hindurchsehen konnte. Andererseits haben die Menschen dort einen Materialbegriff, dass alles was glänzt, dauerhaft ist, d.h. Chrom, Glas und Poliermittel sind must-haves. Ich habe dieses Fahrrad dann zerlegt, die Teile abgelaugt, verchromt, wieder zusammengebaut und sozusagen so etwas wie eine rückwärtige Veredelung durchgeführt, wobei die Oberfläche noch immer zerfressen war, aber jetzt eben verchromt. Doch irgendwann wird sich der Rost wieder durch die neue Chromschicht arbeiten. Anschließend fuhr ich mit dem Rad in einer Tagesfahrt 150 km zur Ausstellung. Die Straße, der Verkehr sind dort anders, es sind Fußgänger, Fahrradfahrer, Auto-, Lastwagen- und Motorradfahrer alle dichtgedrängt beisammen. Das ist, wenn man so sagen möchte, ein visuelles Unterfangen, jeder schaut auf jeden, aber es ist auch brandgefährlich, weil der Verkehr einfach anders funktioniert als bei uns.

Mit diesem verchromten Rad möchte ich die Brücke zur letzten Ausstellung schlagen, wo du 2015 5352 km durch Amerika geradelt bist, „The Long Road from Tall Trees to Tall Houses“. Wie ist es dazu gekommen?

Man muss hier einen Schritt zurückgehen, weil mit dieser Radreise in Sri Lanka und gleichzeitig in Wien, das Begreifen meiner Umgebung mit dem Fahrrad, da hat sich bei mir einiges getan. Nämlich, wie groß so ein Wirkungskreis mit einem Rennrad sein kann. Man kommt relativ weit und sieht sehr viel. Ich bin von Grund auf ein sehr neugieriger Mensch und entdeckte das Fahrrad als Werkzeug, um meine Abenteuerlust zu stillen. Ich hab dann auch begonnen, Wien geographisch ganz anders zu begreifen. Das hat mich irre beflügelt. Das mit dieser amerikanischen Reise hat dann so angefangen, dass diese Radfahrlust immer größer und größer wurde, fast schon unstillbar, d.h. es ist in mir dieser Wunsch größer geworden einfach einmal nichts anderes zu tun als Rad zu fahren. Da ich mit den USA gute Erinnerungen verbinde, weil ich einmal in L.A. eine längere Residency hatte, habe ich einfach die Liebe zum Radfahren, zur USA und das Verlangen nach Alleinsein und einfachen Tätigkeiten, wie das Treten der Pedale, miteinander verknotet. Anfangs war es gar nicht als künstlerisches Projekt gedacht, sondern wirklich als Auszeit. Dann aber ist der künstlerische Egoismus zurückgekommen und hat gesagt, du musst eine Ausstellung daraus machen.

Wie ist dieses Projekt, die Reise mit dem Rad durch Amerika dann generell vom Kunst-Publikum aufgenommen worden?

Es ist ja wirklich schwierig, weil was ich nicht möchte ist, dass es sozusagen so etwas Heroisches ist, wenn man so etwas macht. Weil, das Einzige, was wirklich herausfordernd ist, ist die dafür notwendige Zeit auf die Seite zu schaufeln. Bei mir waren das sechs Wochen, mit An- und Abreise, 50 Tage, die man organisieren muss. Ich kann es jetzt schwer einschätzen, wie so etwas gelesen wird, wie man so was verstehen kann. Für mich war es sehr interessant, es zu machen.

Werden jetzt in deiner Kunst öfter Fahrräder vorkommen?

Nein, das denk ich jetzt nicht, aber… wer weiß? Aber interessant ist ja tatsächlich, wie Konrad Paul Ließmann gesagt hat, dass Fahrräder Reflexionsmaschinen sind. Also, dass das so ein Ort ist, so ein Werkzeug, um über bestimmte Dinge nachzudenken.

In deinen Arbeiten gibt es immer wieder Zitate auf die endlose Säule von Brancusi. Das hat bereits Anfang der 2000er begonnen, wo du die Säule auch in Rumänien, in Targu Jiu besucht hast. Jetzt gibt es die Idee von dir, mit deinen Studierenden mit dem Fahrrad von Wien nach Targu Jiu zu reisen. Was können sich davon Studierende erwarten bzw. mitnehmen?

Was interessant ist für Studierende, diese Reise zur endlosen Säule zu machen, ist erstens einmal, dass man so was wie ein Ziel hat, ein Ziel fokussiert, adressiert. Das Ziel ist diese Skulptur von Brancusi, die endlose Säule, die wichtigste Skulptur des 20. Jahrhunderts, und um diese Skulptur zu begreifen, müssen wir für uns den Raum erobern, der hier dazwischenliegt. Erobern im Sinne einer Aneignung, dass man es auch körperlich begreift und erfährt, als Gruppe, dazu ist das Fahrrad ein wunderbares Werkzeug. Deswegen denke ich, dass das für uns alle einfach eine tolle Erfahrung werden kann, etwas gemeinsam zu machen. Es auch zu sehen, was da dazwischen ist, und es auch aufzunehmen mit allen zur Verfügung stehenden Synapsen.

 

Links:

Aktuelle Ausstellung: Hans Schabus’ Cafe Hansi im Mumok, Wien:
www.mumok.at/de/events/cafe-hansi

Hans Schabus’ Blog „The Long Road from Tall Trees to Tall Houses“:
from-tall-trees-to-tall-houses.blogspot.co.at

Buch „The Long Road from Tall Trees to Tall Houses“, Harpune Verlag: www.harpune.at/schabus.html

Nachschau: Ausstellung im Salzburger Kunstverein „The Long Road from Tall Trees to Tall Houses“:
www.salzburger-kunstverein.at/at/ausstellungen/vorschau/2016-02-20/hans-schabus

Nachschau: Ausstellung in Kunsthalle Darmstadt „The Long Road from Tall Trees to Tall Houses“:
www.kunsthalle-darmstadt.de/Programm_3_0_gid_1_pid_151.html

Das Professionelle Publikum

Die Referentin hat für diesen Herbst Abby Lee Tee, Patrick Huber, Linde Klement, Elisabeth Kramer, Klemens Pilsl, Us(c)hi Reiter, Gerda Ridler und Jerneja Zavec um ihre Empfehlungen gebeten und bedankt sich an dieser Stelle dafür.
Für unsere Leserinnen und Leser diese ganz persönlichen Tipps hier wieder im Überblick:

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Foto Helga Traxler

Foto Helga Traxler

Abby Lee Tee
beschäftigt sich mit Musik, Field Recordings und umliegenden Gefilden.

The Future Sound #74 mit Lukas Lauermann & Instant Choir
Independent Publishing #10

 

 

Foto Thomas Smetana

Foto Thomas Smetana

Patrik Huber
ist freischaffender Künstler mit interdisziplinären Projekten zwischen Theater/Performance/Musik.

SPOTTER TRIP
ARS Electronica Festival

 

Foto Wolfgang Wimmer

Foto Wolfgang Wimmer

Linde Klement
Mitarbeiterin im afo architekturforum Oberösterreich, freischaffende Fotografin.

Neue Standards – Zehn Thesen zum Wohnen
G.R.A.M. − Der Regenschirm, die Schaufeln und der koreanische Tanz

 

 

Foto Simon Hipfli

Foto Simon Hipfli

Elisabeth Kramer
ist Buchhändlerin, Holzbildhauerin und arbeitet als freischaffende Künstlerin mit den Methoden des Räumlichen. Sie lebt und arbeitet im Hausruckviertel und in Linz.

OUT OF DÖRFL – Der Film
OUT OF DÖRFL – Die Ausstellung
Egon-Hofmann-Haus – Film und Diskussion
Jam-Sessions im Jazzkeller Burghausen

Foto ZoeFotografie

Foto ZoeFotografie

Klemens Pilsl
ist Soziologe, Text- & Kulturarbeiter. Er arbeitet und schreibt meistens für die KUPF – Kulturplattform OÖ.

Lehrgang Kunst- & Kulturmanagement
Ausdrucksspiel

 

Uschi Reiter

Us(c)hi Reiter
beschäftigt sich mit digitalen Medien, alternativer Software, neuen Technologien und gesellschaftlichen Implikationen einer vernetzten Gesellschaft.

„From C to X: networked feminisms, explores the theories and practices of cyberfeminism, xenofeminism and feminist critiques of technology“
Sternführung: Sternhaufen: Wo 100 Sonnen funkeln

Foto Oö. Landesmuseum, A. Bruckböck

Foto Oö. Landesmuseum, A. Bruckböck

Gerda Ridler
ist wissenschaftliche Direktorin des Oberösterreichischen Landesmuseums.

Oberösterreich ist überdurchschnittlich!
STERNE. Kosmische Kunst von 1900 bis heute

 

 

 

Foto Petra Moser

Foto Petra Moser

Jerneja Zavec
ist Philosophin und Politikwissenschaftlerin, sie arbeitet bei FIFTITU% – Feministisches Forum für Frauen* in Kunst und Kultur in Oberösterreich. Ihre Schwerpunkte sind Feminismus und Migration in Beziehung zu Kunst und Kultur.

Wie wird hier gesprochen?
City of Women

Tipps von Die Referentin
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Turnton Docklands
SPOTTER TRIP
CARNEVAL OF FEAR Life starts when fear ends
music unlimited 31
maerz sprachkunst 5: Autorenmusik sprechbohrer
MYTHOS VON THEUTH

Die kleine Referentin

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Editorial

Beginnen wir mit unseren Linernotes vom Cover und merken wir zu Zahlenmystik und verquer geknüpften Verbindungen an: Mit Gegensätzen arbeiten will gelernt sein! Sonst kommt am Ende unendlicher Schwurbel raus. Derzeit besser bekannt als Fake News und alternative Fakten.

Damit zu Beginn dieses Editorials ein Hinweis auf die am 16. Juni in Salzburg stattfindende Mediana, eine auch von unseren KollegInnen von Radio FRO und der Kupf mitorganisierte Konferenz zu Medien, Kultur & Demokratie: Hier wird des roten Medienministers Entwurf zur Medienförderung diskutiert, der laut Positionspapier der Mediana sehr wohl festmachbare Qualitätskriterien einfach beiseitegelassen hat. Nachzulesen auf mediana.at.

Wir lassen in diesem Editorial Konkretes zum Inhalt weg und verweisen lediglich auf unsere Kolumnistin Wiltrud Hackl, die sich, zwar ganz „Work Bitch“ wie immer, aber diesmal eben nicht nur, in die Diskrepanzen der Politik verstiegen hat. Lesen sie selbst zur Krise der Politik. Wir als Redakteurinnen eines Kunst- und Kulturheftes, respektive BildanalystInnen, möchten an dieser Stelle anmerken, dass auf den aktuellen Amtsantrittsplakaten des anderen großen Schwarzen, des neuen oberösterreichischen Landeshauptmanns („Die neue Zeit“) das Sujet im rechten oberen Ecke verdammt nach Ausschaltknopf aussieht. Es ist uns ein Rätsel, wie sowas passieren konnte.

Wir setzen hier fort mit einer weiteren Bild-Anmerkung zur Politik: Der blaue Linzer Infrastrukturstadtrat wirbt gerade auf seinen Inseraten unter dem Slogan „Ein neues Stadtviertel entsteht“ damit, dass er „Lebensraum schafft“. Wohlgemerkt diesmal nicht im Osten, sondern im Linzer Süden, außerdem geht es um „qualitätsvollen“ Lebensraum. Als Kunst- und Kulturredaktion setzen wir die Bildanalysen fort und meinen, dass der Hintergrund irgendwie nach Gauforum aussieht, aber da sind wir mit unseren Nazikeulen in den zierlichen Handtäschchen wohl wieder selber schuld. Der Stadtrat scheint außerdem sein gegendertes Ampelmännchen-Trauma vom Amtsantritt noch nicht verwunden zu haben und gibt einen ganzen Flyer zur Ampel an sich heraus, so als ob er die Ampel und den Verkehr gerade neu erfunden hätte („Sicherheit für Fußgänger“, zum Beispiel: „Ampel zeigt grün, Info: Wenn die Ampel auf Grün steht, darf die Fahrbahn am Schutzweg überquert werden“). Jaja, ganz was Neues und sicher, der Verkehr muss ordentlich geregelt sein, am besten auch der zwischen Mann und Frau.

Die hiesigen Mainstream-so-genannten-Qualitätsmedien sind währenddessen auch mit wichtigen Beobachtungen zur Zeit und zum wahren Sexus beschäftigt. Zum Beispiel attestierten sie der zurückgetretenen Parteiobfrau der Grünen immer noch eine „Mannequinfigur“, trotz ihrer 48 Jahre … wichtige Sache, stimmt schon, so positiv fürs Frauenbild! Aber das ist nur der übliche Kleinscheiß, wirklich drastisch arbeitet sich der Regress hier an die Textoberfläche: Wir zitieren die OON anlässlich Chelsea Mannings „frühzeitiger“ Haftentlassung: Ihre Motive zum „Geheimnisverrat“ hatte Manning so beschrieben: „Wenn Du freien Zugang zu Geheimdokumenten hast und unglaubliche, schreckliche Dinge siehst, Dinge, die an die Öffentlichkeit gehören, was würdest Du tun?“ Sie wollte, so ihre Verteidigung, dass „die Menschen die Wahrheit sehen.“ Die Wahrheit über ihr Leben ist, dass Chelsea wohl eine unglückliche Kindheit gehabt hatte. Dann ein paar lapidare Sätze über Alkoholikereltern, in der Schule gehänselt, Transsexualität. Bei solchen Wahrheiten bleibt einem schlichtweg das Hirn stehen. Geht’s eigentlich noch??

Mit diesem Schwurbel aus der realen Welt möchten wir abschließen. Und gar nicht real kontradiktisch unvereinbar, und auch gar nicht zahlenmystisch, sondern ganz realer Geldfluss: Die acht Seiten mehr in dieser geheimnisvoll erweiterten Ausgabe #8 wurden durch eine großzügige Spende von Andrea Tippe finanziert. Dafür bedanken wir uns herzlich. Und, was wir am Ende auch noch sagen wollen: Manfred Berghammer imponiert uns auch.

Viel Spaß beim Lesen, die Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

www.diereferentin.at

Unfreiwillig ungebeten

Unter dem Motto Ungebetene Gäste thematisiert das Festival der Regionen 2017 in Marchtrenk Aspekte des Flüchtens und der Bewegung, der Gastfreundschaft und des Ressentiments. Mit der Produktion des Festivaltrailers wurde die Filmemacherin, Musikerin und bildende Künstlerin Karin Fisslthaler beauftragt. Daniel Steiner, beeindruckt von Fisslthalers Zäunen, zitiert zuerst Wikipedia.

Hybrid produzierter Festivaltrailer von Karin Fisslthaler aka Cherry Sunkist. Filmstill Karin Fisslthaler

Hybrid produzierter Festivaltrailer von Karin Fisslthaler aka Cherry Sunkist. Filmstill Karin Fisslthaler

„Ein Zaun ist eine Form der Einfriedung. Er trennt zwei Bereiche dauerhaft oder auf Zeit durch eine von Menschen geschaffene Abgrenzung. Geschieht dies speziell um Tiere einzuschließen, spricht man auch von Gatter oder Pferch. Ein Zaun besteht gewöhnlich aus Holz, Metall (festem Guss- oder Schmiedeeisen oder auch biegsamem Draht) oder Kunststoff. Aus Stein oder Beton errichtete Abgrenzungen heißen Mauer; eine Mittelstellung zwischen Zaun und Mauer nimmt die Gabionenwand ein. Gelegentlich sind Zäune auch farbig gestrichen, lasiert oder lackiert, moderne Holzzäune meist imprägniert, Drahtzäune oft kunststoffbeschichtet. Häufig verwendete robuste Holzarten sind Edelkastanie, Lärche, Eiche, Kiefer oder biegsame – und billige – wie Fichte und Weide. Anders als eine Mauer oder Wand ist er jedoch im Prinzip transportabel und begrenzt durchlässig. Von einem Hindernis, einer Barriere oder Absperrung trennt ihn die klar definierte Grenzziehung, wenn auch die Begriffe gelegentlich in synonymer Bedeutung verwendet werden.“

Karin Fisslthaler hat die Einladung, den Trailer für das Festival der Regionen, zum Thema „Ungebetene Gäste“ zu produzieren, genutzt, um eine künstlerische Replik zu dem sich leider durchsetzenden europäischen Umgang mit Schutzsuchenden zu finden, ohne dabei zwanghaft politisch zu werden, beziehungsweise: in einem zuerst privat anmutenden Gestus. Vordergründig und laut FdR-Site „als faszinierendes Licht- und Schattenspiel inszeniert“, eröffnen sich in diesem Sinn und bei genauerer Betrachtung des Kurzfilms weitere Bedeutungsebenen. Ausgehend von einem Lokalaugenschein am diesjährigen Austragungsort des Festivals, fokussierte sich das Interesse der Künstlerin – inmitten dieser angesprochenen und allgemein sehr homogenen Abschottungstendenzen – auf die Verschiedenartigkeit von Designs von Zäunen und deren intendierter Wirkung: Abgrenzung und Schutz, Repräsentation und Protz, Ein- oder Aussperren. Oder auch nur aussagekräftige Klein-Konvention in der Einfamilienhaussiedlung? Entgegen ihrer bisherigen filmischen Arbeitspraxis hat Fisslthaler bei diesem Projekt gänzlich auf die Verwendung von Found Footage verzichtet und nur selbstgedrehtes Material benutzt. Alleine mit dem Fahrrad im nächtlichen Marchtrenk unterwegs, kam sie während der Dreharbeiten dem Gefühl des Eindringlings bzw. des ungebetenen Gasts sehr nahe. Das kurze Aufleuchten des Blitzlichts, der generell spärliche Einsatz von Licht bei diesen Nachtaufnahmen und das profan Abweisende der von Menschenhand errichteten Begrenzungsanlagen erzeugen eine düstere, beklemmende Grundstimmung, die in Richtung eines Alltagshorrors Ulrich Seidlscher Prägung geht. Spätestens hier stellt sich die Frage: Kann man hinter diesen Zäunen Schutz finden? Hier Gast zu sein – unfreiwillig ungebeten – das will man nicht, das muss man. Im Sinne einer für Karin Fisslthaler typischen hybriden Herangehensweise an künstlerische Projekte, beauftragte sie sich in Form ihres musikalischen Alter Egos Cherry Sunkist quasi selbst mit der Komposition und Produktion der Filmmusik und dem Sounddesign. Die oben angesprochene, beklemmend düstere, ja kalte, menschenfeindlich wirkende Atmosphäre der Bildebene wird durch die Verwendung eines auf Beats, Gitarre und Stimme reduzierten Popsongs kontrastiert, das Gesamtbild durch eine emotionale Ebene erweitert. Zu guter Letzt fand auch noch das Festivalmaskottchen, der Rottweiler auf den Festival-Bildsujets, und siehe die zu Beginn im Wikipedia-Eintrag zitierten, durch Zäune eingeschlossenen Tiere, in Form kurzen Rottweilergebells augenzwinkernd Eingang in den Trailer.

 

Im Rahmen der Festivaleröffnung am 30. Juni kann man Karin Fisslthaler aka Cherry Sunkist dann auch vor Ort Live erleben: Ab 21.30 h im Festivalzentrum auf der Marchtrenker Welserstraße bzw. bei Schlechtwetter im Kulturraum TRENK.S.

www.fdr.at

Auf den Netzseiten der Referentin findet sich außerdem ein Überblick über andere aktuelle Ausstellungen und Projekte von Karin Fisslthaler.

Auf Durchzug ausrasten

Avanti avanti, jalla jalla und weiter und weiter rollt der Verkehr viel­spurig, mehrsprachig und breit gefächert an fahrenden Pflastersteinen vorbei bis über den Rand gefiedert durch die Heide. Hajde hajde! ruft Angela Flam als diesjährige Chronistin des Festivals der Regionen – und liefert uns vorneweg Tempo, Vergangenheit und Atmosphäre aus Marchtrenk in Oberösterreich.

Hier ein Werbeplakat, dort eine Tankstelle, zwischen Häusern große Hecken und Industrie und hin und wieder eine wandernde Schotterpyramide mit Bachstelzen auf den vorgelagerten Pfützen. Fasten your seatbelts! Marchtrenk, eine rastlose Raststätte. Man könnte ein drive-in, drive-through, drive out, ein drive me crazy als Wahrzeichen vermuten. Oder eine rotierende Tankstelle auf Achse. Fehlgeschlagen. Das Wahrzeichen ist der Wasserturm außerhalb des Zentrums.

Wo bitte ist das Zentrum? Zwischen den Kreisverkehren. Zwischen dem Kreisverkehr beim Lidl und dem Kreisverkehr beim Interspar entlang der alten Bundesstraße, dazwischen der Kreisverkehr beim Corner Cafe & ehemaligen Greißler ums Eck, zurzeit ein DHL-Paketshop. Take a seat, relax and enoy! Rechts und links die alte und neue Kirche sowie alte Wirtshäuser, die neu umgebaut wurden. Die alten Heidehäuser sind aus dem Stadtbild verschwunden und die Soldaten auch. Wo sind sie geblieben? Es gibt Bänke, Banken, Cafes, Geschäfte, das Stadtamt und Marktplatzcenter, darin das World of Travel, das Athina und ein Coworking-Space für digitale Nomaden. Geschäfte kommen und gehen. Was läuft, läuft durch, greift nicht am Schotterboden. Eine Prachtstraße zum Meer wird man keine finden, auch keinen Palast (außer China Moon Palast), keinen Wolkenkratzer mit reich verzierten Balustraden im Netz rautenförmiger Friese konzipiert, nein, nichts von alledem. Aber Bahnübergänge gibt es, die es nicht mehr gibt: sie sind durch Schranken gesichert. Und Straßen, die im Nichts enden. Manche sind seit Jahren zurzeit gerade in Arbeit und nicht befahrbar und vor der Autobahnbrücke steht eine Ampel, die gestohlen wurde. Wenn es blinkt, wird es entweder rot oder grün.

Das Denkmal von Kaiserin Maria Theresia sind Schwarzföhren, mit denen sie die Heide aufforsten ließ, als Windschutz & um den Boden fruchtbar zu machen. Wo sind die schwarzen Föhren? Sie sind rissig geworden, vom Wind gebeutelt/geknickt. Von der Wirtschaftswunderblume verweht. Geht das durch? Der Schotter als Symbol für Ursprung und Unendlichkeit?

Marchtrenk ist als Wirtschaftsfaktor modern und menschlich geworden & wurde 2016 die beliebteste Gemeinde im Herzen Europas. And whatever you need. We will provide! Die Heide ist kein Streudorf mehr mit Heidekräutern & strohgedeckten Heidehäusern entlang der Pferdeeisenbahn und dem Funkenflug der K&K Elisabethbahn, sondern ein dicht besiedeltes Wohn- und Industriegebiet mit Anschluss an die Autobahn, Schiene und darüber kreisenden Airbussen vom Blue Danube Airport. La dolce vita! Man kann die Uhr nach dem Flieger stellen oder sich außerhalb der Zeit treffen. Mit dem Dröhnen der Motoren wird es 10 Uhr 10, die Lufthansa startet nach Frankfurt, um 13:05 nach Paris, DO um 17:20 erhebt sich die Small Planet über der Wäschespinne nach Heraklion, gefolgt von der Austrian nach Rhodos, DI 12:00 startet die Eurowings nach Palma, FR 15:40 die Air Cairo nach Marsa Alam … Warum reitet/fliegt ihr durch dieses giftige Land? fragt der Junker den Marquis in Rilkes Ballade. Um wiederzukehren! ist die Antwort.

Was macht ein Wasserturm im Überschwemmungsgebiet der Traun, wo früher das Tethysmeer war? Er versorgt 35.000 ungebetene Gäste: Soldaten in Kriegsgefangenschaft, die unfrei, nach Haager Konvention zwischen 1914–18 in ‚Feindesland‘ Arbeit verrichteten mussten. „Nobody is left behind!“ Wir lassen keinen zurück! 1879 Soldaten sind in Marchtrenk zurückgeblieben: 1382 Italiener, 467 Russen, 1 Rumäne, 11 Serben und 18 Unbekannte, die nach Hause gehen wollen und jene, die anderswo zurückgelassen wurden und endlich nach Hause kommen wollen, um festzustellen, dass es kein Zuhause mehr gibt. Aber wohin reist ihr dann? „Immer nach Hause“, ist die Antwort jeder Odyssee, jeder Irrfahrt von Wilhelm Meister bis Heinrich von Ofterdingen. Die schwarze Barackenstadt von damals im Dorf ist verschwunden. Das Theater hinter Stacheldraht gibt es nicht mehr. Auch keinen Stacheldraht. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Generation „auf der Flucht“, der nachfolgenden Generation „sich verflüchtigen“ und einem „flüchtigen Durchzugsort“ auf durchlässigem Schotterboden?

Seit 1946 wurden auf dem ehemaligen Lagerareal Flüchtlinge (sog. Heimatvertriebene) angesiedelt und die Bevölkerungszahl hat sich verdreifacht. Der Zustrom setzt sich laufend fort, auch heute, in vielschichtiger Schichtung, unter ihnen immer wieder Vertriebene & Asylsuchende, ein stetig ansteigender Strom zwischen sichtbaren und unsichtbaren Zu(Ein)Flüssen, von Schicksalen und Traumata und Spuren, die darin wandern, die wir nicht lesen können. Haben sie sich angewurzelt? Wie die Föhren der Maria Theresia? Wurden sie nach den gängigen Vorstellungen von Integration und Zugehörigkeit umgetopft/eingebürgert, in Zwischenräumen verfrachtet/verortet? Wir sind geronnene Zeit, schreibt Marisa Madieri. Nicht nur Menschen, auch Orte sind geronnene Zeit, mehrfache Zeit. Ein Ort ist nicht nur seine Gegenwart, sondern ein Zeitenlabyrinth aus verschiedenen Epochen. Manche Orte sprechen, andere hüllen sich in Schweigen & beinhalten ein undurchsichtiges Geheimnis, das sorgfältig entschärft und geborgen werden will, so wie die im Juli 2014 gefundene 50-Kilo-Fliegerbombe in der Traun und so manche, die noch im Umkreis verborgen liegen.

„Unsere Eltern räumten die Trümmer der zerstörten Häuser mit den Händen weg – wir, die nächste Generation, sind mit dem Aufräumen der seelischen Trümmer beschäftigt“ schreibt Bettina Alberti. Den generationsübergreifenden (Kriegs)Themen ist nachzuspüren, den verdrängten, den verschwiegenen, den unausgesprochenen, die immer noch & immer wieder neu überschatten und vielleicht gar nicht geweckt werden wollen, die (wie die Sternmühle?), im Dornröschenschlaf schlummern, bis die Zeit reif ist oder „Es ist Zeit, dass es Zeit wird?“ „Es ist Zeit“, schreibt Paul Celan „dass der Stein sich blühen bequemt“ & die darin herumirrenden Themen (Identität/ Unzugehörigkeit / Rastlosigkeit / Suche / …) umgeschichtet, belichtet und neu gestimmt werden. 2014 wurde in Marchtrenk ein Friedensweg errichtet.

Die Heide ist einen Abstecher wert! Man kann durchziehen, einkehren, absteigen oder zum Advokaten in Vaduz aufsteigen und Marie Antoinette auf der Durchfahrt nach Frankreich zuwinken. Die Römer waren hier, die Bayern keltischen Ursprungs aus dem heutigen Frankreich, Napoleons Truppen, die spanische Grippe, Plünderer, Brandstifter, amerikanische Panzer rollten durch, während Schulkinder im Unterricht Kartoffelkäferlarven auf den Feldern abpflückten, streitende Eheleute wurden in einer Wiege an den Pranger gestellt usw., bis zum nächsten Heckenschnitt, zum nächsten Reifenplatzer, zum nächsten Trachtensonntag, zur nächsten Steuerreform, zur nächsten Tankstelle, zur nächsten Maikäferinvasion, zum nächsten Fitnessrun, darunter Schützengräben und verzierte Tonscherben einer jungsteinzeitlichen Siedlung und Sperrmüll, darüber Sieg, Summer in the City, Seuchen, Zugverspätungen, ein abstürzendes Sportflugzeug, Mord- und Totschlag an der Tankstelle, es lebe der Kaiser, es lebe der Führer, es lebe der Pagenkopf, es lebe der Hula Hoop.

Auf Reisen kann man eine bestimmte Richtung einschlagen oder sich im Strudel der Dinge verirren, seine Identität verlieren oder den Sinn des Lebens finden oder ständig vorwärtsstrampeln. Was ist das Ziel solcher Fahrten? – „Reisen, nicht um anzukommen, sondern um zu reisen, um so spät wie möglich anzukommen, um möglichst niemals anzukommen“, ist die Antwort von Claudio Magris. Ankommen, abfahren oder durchreisen? Alles bewegt sich, mal pulsierend, mal flüssig, mal schleppend bis zäh, Stau. Stopp. Speed. Der Verkehr als Lebensader – das Ende der Gemütlichkeit? Ständig durchströmt werden? Rien ne va plus. Haltmachen. Pausieren. Im Durchzugsgebiet wird auch gerastet. Früher Herberge & Pferdetränke, heute Terminal & Avanti. Man kann sich Outdoor beim Radfahren entspannen oder beim After-Work im Fitnesszentrum verschnaufen, am Bahnhof eine Zwischenstation einlegen & Containerzüge von Hamburg Altona nach Istanbul und weiter bis China beobachten. Oder im eigenen Garten gemütlich relaxen, im Pool untertauchen, am Trampolin die Schwerkraft überwinden, sich mit dem Hund hinter der Hecke verschanzen und Landkarten studieren, Reiseberichte lesen. My home is my castle! Vorhang zu & mit dem (Traum)Schiff in See stechen? Oder vor dem rotierenden Globus sitzen und sich von der Fliehkraft erfassen und weiter bis über die Unendlichkeit hinaus treiben lassen …

Marchtrenk – I spend my lifetime running. El Camino! Der Pilgerweg bis ans Ende der Welt verläuft am nördlichen Traunufer. Am südlichen Traunufer (dem einstigen Jenseits) erinnert ein Denkmal an ein Massengrab – hier führte im April 1945 der Todesmarsch ungarischer Juden vom KZ Mauthausen nach Gunskirchen und weiter nach Ebensee bis ins Grab in den Wolken … Am Jakobsweg kann man bis Santiago gehen und bei der Turteltaube Liegestützen machen, unter laufenden Turbinen im Sprühregen stehen oder in umgekehrter Richtung dem Jerusalemweg folgend im FKK Club Solearis alle Hüllen fallen lassen, Kormorane und Reiher sichten, Enzian und Frauenschuh und Hummelorchidee, die man sonst nur im Hochgebirge antrifft. Der Pilgerweg verläuft in diesem Abschnitt als Fitnessparcours, wo man bei Föhnwetter bis zum Traunstein sehen und mit den Federwolken weiterziehen kann –

Marchtrenk – eine vom eiszeitlichen Gletscher geformte Terrasse mit Ausblick bis zu den Korallenriffen, den heutigen Kalkalpen.

Marchtrenk – Transitzone & Zufluchtsort, ein aufgeladener Raum? Ein vielschichtiges Konglomerat?

Marchtrenk – ein rasender Rastplatz zum Auftanken und Haltmachen, zum Einkehren und Pausieren, zum Abstürzen und Entgleisen. Früher zogen Pferde durch, heute Pferdestärken. Ob flüchtige Station, ob (durch)läufiger Rastplatz, man kann auf Durchzug sein, auf Durchzug stellen und auf Durchzug ausrasten – im doppelten Sinn und das Ganze dazwischen: haltmachen pausieren auftanken verschnaufen abspannen abchillen abspacen ausklinken auszucken überschnappen und durchknallen.

Man kann auch warten. Warten auf was? Warten, bis wer vorbeikommt. Ungebetene Gäste beispielsweise. Vom 30. Juni bis 09. Juli 2017 wird Marchtrenk vom FDR aufgestört. Don’t worry don’t cry, ride a horse and fly!

Festival der Regionen, 30. Juni – 09. Juli 2017 in Marchtrenk

Das umfangreiche Programm: fdr.at

 

Eröffnung: HYMN TO LOVE von Marta Górnicka

HYMN TO LOVE for orchestra, stuffed-animal choir, and others is a show about Europe closing ist ranks. Nation after nation is crying out: “Give us back our country!” It is also a show about how every nation loves to forget. And how human time bombs are so furious they’re blowing their fuses. Thus, history repeats itself. HYMN TO LOVE is the last piece in the Polish director’s European triptych inspired by Mother Courage. The Holocaust and the image of an orchestra playing music in death camps are a starting point for Górnicka to address the rise of present-day European nationalism and the migration crisis. In her libretto to HYMN TO LOVE, Marta Górnicka exposes the obscene language of politics today, quoting statements by fundamentalist fighters and terrorists, alongside speeches made by legitimate politicians. Górnicka mashes up Internet hate-speech with pop lyrics and patriotic songs.

Counted out, Running Light

Das Wahrzeichen von Marchtrenk wird beim FdR mit zwei Projekten bespielt.

Das Wahrzeichen. Foto Norbert Artner

Das Wahrzeichen. Foto Norbert Artner

Ein Wahrzeichen repräsentiert eine Stadt. Für Machtrenk ist das der Wasserturm, ein Relikt aus dem 1. Weltkrieg mit Einschusslöchern, wo heute Tauben nisten. Architektonisch steht der 24 m hohe Betonturm am Durchbruch der Moderne „form follows function“ und ist der letzte erhaltene Militärbau aus dem 1. Weltkrieg in OÖ. Nicht verstecken, sondern stolz sein? Der Krieg im Fokus einer Stadt. Wer will darauf stolz sein? Oder andersrum: Eine Stadt bekennt sich zu ihrer Geschichte. Von was erzählt uns dieser Turm? Vom anbrechenden 20. Jhdt. & vom Ausbruch einer Gesellschaft aus der sinnentleeren Fassadenkultur, vom Rausch der Geschwindigkeit, von aufbrechenden Experimenten in allen Kunstrichtungen, die sich selbst aus dem Korsett sprengten, vom Untergang eines Großreiches, von der Relativitätstheorie über den Reißverschluss bis zum elektrischen Schneebesen, von lachenden Gesichtern, die als Helden in den Krieg hinauszogen und nicht mehr oder erblindet, verstümmelt und traumatisiert zu zweit auf drei Beinen zurückzukehren. Mit Shell Shock Syndrom.

Der Wasserturm wird im Rahmen des Festivals mit zwei Projekten in Szene gesetzt: Innen mit einer begehbaren Klanginstallation (Angezählt/Counted out von Katarina Matiasek): Wie durch Schichten der Zeit dringen die Stimmen ehemaliger italienischer Kriegsgefangener aus der Vergangenheit herüber, die zwischen 1914–18 im Lager waren. Außen eine Lichterkette (Running Light von Miriam Hamann), die als Lichtkörper Bezug auf die Signale der Hochsee-Navigation nimmt und unaufhörlich rund um den Turm kreist. Der Wasserturm wird so zu einer Assoziation und einem symbolischen Leuchtsignal für alle, die auch heute ins Kanisterboot der Hoffnung steigen und den Fluchtweg über das Meer nehmen. Wohin der Weg? In einen rettenden Hafen? Oder in ein Massengrab?

Die Fetische der Chrystal Tesla

Kathrin Stumreich wurde 2016 für ihre Arbeit „What would Ted Kaczynski’s daughter do …?“ der Marianne-von-Willemer-Preis für digitale Kunst verliehen. Im Sommer wird es im AEC eine Ausstellung zu ihren Arbeiten geben. Lisa Spalt bleibt im Medium und beschreibt einen ausufernden Versuch, Kathrin Stumreich über das Internet kennenzulernen.

Aus vielerlei Gründen konnte ich Kathrin Stumreich und ihre Arbeiten bis jetzt nicht live erleben. Also googeln: Kathrin Stumreich bezeichnet sich auf ihrer Website selbst als interdisziplinär arbeitend. Und aus ihrer Biografie ist zu ersehen, dass sie tatsächlich beängstigend umfassend interessiert und ausgebildet ist. Immerhin hat sie in Antwerpen und Michelbeuern Mode studiert, hat sich in Wien mit Philosophie und Ethnologie beschäftigt, vor allem aber an der Angewandten das Studium der Digital Arts mit Auszeichnung absolviert. Ach ja, und Physiotherapie kann sie auch noch.

Aber ich will mich ja vor allem mit ihren Arbeiten beschäftigen, eigentlich zuerst mit der einen, mit der Stumreich den Marianne-von-Willemer-Preis 2016 gewonnen hat. Dann allerdings fällt mir doch eine andere auf. Sie trägt den Titel „Sonnenlauf“ und stammt aus der Serie „oetztal augmented“. Ein mich heimelig anrührender Heureiter gerät da – auf eine bewegliche Konstruktion montiert – in Bewegung. Das Ding scheint, so der Beipacktext, eine Art Sonnenuhr darzustellen, doch die Sonne lenkt den Heureiter, der da seinen künstlich induzierten Schatten wirft, eben nicht, es ist ein bisschen Technik, und das sagt doch schon einiges über unsere Zeit aus, in der man nicht von der Sonne abhängig ist, wenn man Licht braucht, in der man aber dennoch immer noch mit dem Kopf im Heureiterzeitalter steckt.

Plötzlich erinnere ich mich, wie oft ich als Kind dachte, dass diese Heureiter dastehen wie Leute, die ihre Arme zum Himmel strecken und Beschwörungsformeln dazu murmeln. Die Heureiter Vorarlbergs oder eben des Ötztals – das waren für mich die Joshua-Trees der Mojave-Wüste, eine Art von Figuren, die mit dem Himmel kommunizieren. Ich denke mir: Wenn ich will, kann ich dieses Hochstrecken der Heureiter-Arme als einen magischen Akt sehen. Ich kann behaupten: Der alte Heureiter war in Wirklichkeit eine für mächtig gehaltene Priesterin, die es möglich machte, der Natur zu trotzen, eine Stellvertreterin der Menschen, die zwar mit Hilfe von Beschwörungsformeln gutes Wetter herbeizaubern mussten, aber schließlich dafür nicht den ganzen Tag auf dem Feld stehen konnten. Die Heureiter sind die Entsprechung zu den Gebetsfahnen der Tibeter. Und die Beschwörung, die da über die Heureiter simuliert wurde, schien früher eben lebensnotwendig angesichts der Natur, die ihre Likes und Dislikes nach Lust und Laune verteilte und ihre Gladiatoren, die wir einmal waren, nach Belieben leben oder töten ließ. Ich erinnere mich nun auch wieder, welches Machtgefühl die Arbeit mit dem Gerät erzeugte: Da produziert ein ganz kleiner Mensch Vorräte und schafft es dadurch, seine ziemlich irre Mutter Natur zu überlisten, die ihn immer nur dann füttert, wenn es ihr gerade passt bzw. ihm meistenteils nur den Po verhaut, wenn sie keine Lust zum Kochen hat. Und ich denke mir: Diese Überlistung ist heute nötiger denn je. Oder sind wir nicht inzwischen zu groß geworden, als dass wir noch an den Brüsten der Natur hängen dürften? Wir wären doch schlecht beraten, darauf zu vertrauen, dass die Gute am Mittag eine Pfanne auf den Tisch knallt, in die wir dann alle unsere Löffel stecken. Nix da mit „Sie säen nicht, sie ernten nicht“. Die Menschheit ist erwachsen und weiß kaum noch, wo die Mama eigentlich wohnt, so lange hat diese die Jungen schon nicht mehr zum Sonntagskaffee eingeladen. Begonnen aber hat die Entfremdung und Selbstermächtigung – das behaupte ich jetzt einmal – mit dem Heureiter. Der führte – von der Form her – direkt zur Antenne. Und was aus ihm geworden ist, können Sie jeden Tag erleben, wenn die Kinder am Mittagstisch ihre Smartphones streicheln. So sehr sich aber die Gerätschaften verändert haben – die Notwendigkeiten und Bedürfnisse bleiben auf ewig dieselben: Liebe, Nahrung, Information, Coca Cola und ein tolles Profilfoto beim Lieblingsnetzwerk – das macht einen großen Teil unseres Lebens aus. Und das alles verschafft uns heute die Technik.

Was aus dem Wunsch nach der Kontrolle der Natur hervorgegangen ist, endete aber auch in der Kontrolle des Menschen durch den Menschen. Ja, der Mensch ist heute in doppelter Weise das Unberechenbare geworden: als Bürgerin, die abgehört werden muss, und als Geheimdienst, der überwacht.1 Berechenbarkeit und Beeinflussbarkeit erscheinen so verlockend wie nie, an sie glauben wir.

Kennen Sie das Paar-Zahlen-Experiment? Es geht so: Eine Versuchsperson bekommt immer zwei Zahlen vorgelegt und muss sagen, ob sie zusammenpassen. Die Experimentatorin beurteilt die Antworten, und zwar ganz simpel einer Gauß’schen Kurve folgend, mit „wahr“ und „falsch“. In Wirklichkeit gibt es also kein System, nach dem man sinnvolle Urteile fällen könnte, die ProbandInnen setzen das aber wie selbstverständlich voraus. Während ihnen immer neue Zahlenpaare vorgelegt werden, adaptieren sie ihre Erklärungen und versuchen, ein Muster hinter dem Ganzen zu entdecken. Irgendwann erreicht die Kurve der Wahr-Aussagen hier 75%. Und die Befragungen zeigen: Alle ProbandInnen haben spätestens in diesem Moment ein kompliziertes System von Regeln entwickelt, die ihrer Ansicht nach die Urteile der Experimentatorin regeln. Ja, manche behaupten sogar noch nach der Aufdeckung des Schwindels, sie hätten WIRKLICH das System entdeckt, mit dem man Urteile vorhersagen könne. Dieses Schlussfolgern ist aber trotz aller Absurdität nicht dümmlich, es beruht auf einer Notwendigkeit: Wenn wir den Hintern des Tigers aus dem Busch herausragen sehen, wäre es klug, sich den Vorderteil dazuzudenken, wenn wir nicht gefressen werden wollen. So funktioniert das Denken, so funktioniert Berechenbarkeit, so funktionierte der Kult und so funktioniert die Technik: „Wenn – dann“ ist die Formel, nach der wir agieren.

In Melanesien landeten im Zweiten Weltkrieg US-amerikanische Militärs, bauten Rollfelder und wurden von Flugzeugen mit Gütern versorgt. Die Einheimischen sahen diesem Zauber gebannt zu. Ihrer Logik nach konnte – Schlussfolgerung! – nur das Bauen des Rollfelds diese immensen Vögel angelockt haben, die in ihren Bäuchen „Cargo“ mitbrachten – phantastische Güter, die man hierzulande noch nie gesehen hatte. Es war also auch nur zu logisch, dass die Menschen nach dem Abzug der US-Truppen ihre eigenen Rollfelder bauten und – um dem göttlichen gefüllten Geflügel zu zeigen, wo es hingehörte – auf diese holprigen Bahnen ihre Flugzeuge aus Stroh oder Holz stellten. Diese Beschwörung sollte die Götter beeinflussen.

Die Objekte und Installationen, die Kathrin Stumreich baut, erinnern mich nun auf eine packende Weise an solcherart Kulte. Sie alle haben etwas eigenartig Tröstliches für mich – ob es nun um die automatisch gesteuerte Heureiter-Sonnenuhr geht oder eben die Arbeit, mit der Stumreich den Marianne-von-Willemer-Preis gewonnen hat: Sie vermitteln mit den Eindruck von Kultobjekten, die Berechenbarkeit und Beeinflussbarkeit simulieren, den Schutz vor Mächten, die wir nicht im Griff haben, und sie bieten die Möglichkeit, das ganze Gewurstel zu reflektieren.

„What would Ted Kaczynski’s daughter do …?“ lautet der Titel von Stumreichs ausgezeichneter Arbeit, die aus einem Video, einem Wikipedia-Eintrag auf einem I-Pad, einem Audioguide und ein paar Objekten besteht, auf die ich noch zurückkommen werde. Jedenfalls: Wenn die Priesterin einst der Natur entgegentrat und die NSA der unberechenbaren Menschheit, dann tritt hier eine neue Agentin auf den Plan, die nun wiederum der Macht von NSA und Konsorten entgegentritt. Die Frau ist die fiktive Ingenieurin und Ethnolinguistin Chrystal Tesla, Tochter von Ted Kaczynski, der als der UNA-Bomber bekannt geworden ist. Chrystal, deren Vorname wohl nicht von ungefähr an die Droge Crystal Meth erinnert, ist etwas schizophren, nämlich technikaffin und technophob, sie denkt logisch nach, zieht ihre Schlüsse und baut dann Geräte, die sie in ähnlichem Sinn vor den Abhörorgien der NSA schützen sollen, wie das William S. Burroughs in den 70er-Jahren von seinen Tapes behauptete: Er entwickelte in seinem Text „Electronic Revolution“ nach den Abhörorgien Nixons eine ganze Sammlung von künstlerischen Taktiken, die die Technik, die sich die Politik unter den Nagel gerissen hatte, aneignen und gegen jene selbst wenden sollten.

Auch Stumreichs Geschichte spiegelt ihre Zeit. Darin spielt nun Genetik ebenso eine Rolle wie die Settings der Digital Natives oder die DIY-Bewegung; am wichtigsten aber die uns schon so vertraute Atmosphäre mittlerweile allgegenwärtiger digitaler Überwachung, die neuerdings schon unser Überich formt, sodass wir am Abend wie die Kindlein zu ihr beten, damit ihr großes Auge auch dann auf uns ruhen möge, wenn wir im Schlaf von einem psychopathischen Weltverschwörer niedergemetzelt werden. Aus dieser unserer Zeit heraus entwickelt Tesla ihre Simulationen von Abwehrgeräten, ihre Fetische. Und diese Fetische des 21. Jahrhunderts sehen natürlich aus wie technische Geräte. Dennoch ruft Stumreich den DIY-Aspekt der alten Kult-Objekte auf, wie wir sie aus dem ethnologischen Museum kennen. Es geht hier um Selbstermächtigung, und die kann nicht in Serie gekauft werden. So erschafft Chrystal Tesla, diese Heldin unserer Tage, mit Hilfe der alten Technik des Brettchenwebens zum Beispiel Kupferbänder, die die Verortung von Handys stören sollen. Oder sie erzeugt einen von ihr erfundenen, ganz speziellen Faraday’schen Käfig, in dem sich die NSA-Argusaugen verfangen sollen etc. Ich will die Geräte hier nicht alle beschreiben – sehen Sie sich die Sache im AEC selber an!

Wichtig scheint mir an der Sache, dass hier ein Gebrauch von Technik gepflegt wird, der vom Pfad abweicht, den ein paar mächtige Leute vorgezeichnet haben. Und so einem schiefen Gebrauch wohnt eben immer ein spezieller Zauber inne. Das hat u. a. Michel de Certeau in seinem Buch „Kunst des Handelns“2 bemerkt: Es ist der Zauber der Auflehnung, der uns zum Beispiel anrührt, wenn Menschen ein seelenloses Gelände völlig gegen seine Intention verwenden, indem sie es für ihr Parkour-Training oder eine Flashmob-Rezitation der „Ode an die Freude“ benützen. Da geht es um tatsächliche kleine Aneignungen, um tatsächliche kleine Möglichkeiten des Überlistens von Macht oder zumindest um Geschichten, die von einer solchen Überlistung erzählen. Ja, es geht um solche Geschichten, um moderne Mythen und Märchen, die nicht ausschließlich der Ohnmacht entstammen, wie das bei Verschwörungstheorien der Fall ist, sondern auch der Freude an der Entdeckung und am Spiel. Kunst kann Geschichten anbieten, die komplett abheben und uns gerade damit auf einen – allerdings gewendeten – Boden der Tatsachen zurückholen. Darüber muss ich nachdenken, seit ich im Netz ein paar Arbeiten von Kathrin Stumreich gesehen habe.

1 An dieser Stelle sei der Film „Das Netz“ von Lutz Dammbeck genannt, den Stumreich auf ihrer Website zitiert. In „Das Netz“ wird die Geschichte des UNA-Bombers mit den LSD-Experimenten der US-Regierung, geheimen ExpertInnentreffen und künstlerischen Bewegungen in Beziehung gesetzt (YouTube!).

2 Michel de Certeau: „Arts de Faire“, Paris 1980. (Deutsch: „Kunst des Handelns“, Berlin 1988)

 

Die Ausstellung wird am 21. Juni, um 18.30 h, im Ars Electronica Center eröffnet.

www.kathrinstumreich.com

www.linz.at/frauen/5021.asp

Kunst sagt …

Kunst und Gewalt sind aber nun ein klassischer Plot der Moderne, und von Anfang an lüstern miteinander verbandelt. Ebenso alt ist das Kokettieren des Künstlers mit der wirklichen Tat, die Ernst macht und ihm damit ein Entkommen aus Kunst- und Gedankenräumen ins wirkliche Leben ermöglicht.

Zitiert nach dem Film „Das Netz“ von Lutz Dammbeck, den wiederum Kathrin Stumreich im Zusammenhang mit der prämierten Arbeit „What would Ted Kaczynski’s daughter do …?“ auf kathrinstumreich.com zitiert.

fuck consent, we want conflict!

Der österreichische Außenminister twittert am Abend der französischen Präsidentschaftswahlen darüber, dass mit Emmanuel Macron linke Politik abgewählt wurde – kaum jemand kann sagen, was uns der junge Mann damit eigentlich mitteilen will. Bereits knapp ein halbes Jahr davor beginnt Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek am Tag nach der Wahl zum amerikanischen Präsidenten mit der Arbeit an einem Theaterstück über Verwirrungen, Unschärfen und einen Zustand politischer Blindheit, in dem nur noch die Orakel Wahrheit sprechen1. Weil ohnehin alles, was so schnell und öffentlich ausgeschieden und abgesondert wird, nicht lange genug lebt, um auf Wahrheitsgehalt hin überprüft werden zu können. Und das ist gut so – denn um Wahrheit, Wahrheit sprechen und Wahrheit besitzen geht es längst nicht mehr. So eine Kolumne braucht Zeit und deshalb liegen zwischen diesen ersten Zeilen und dem Moment, in dem ich nun schreibe, ein paar Tage (oder Wochen). Und in dieser Zeit hat der österreichische Außenminister die Realität in seinem Geilomobil überholt, ist mittlerweile nicht nur Außenminister, sondern auch Obmann seiner Partei, hat Neuwahlen ausgerufen und seiner Partei die Bedingungen diktiert, unter denen er bereit ist, sie zu führen. Um sie kurz darauf namentlich zu eliminieren. Er meint, zwar als Parteiobmann, nicht aber als Vizekanzler zur Verfügung zu stehen, mit der Begründung, ein anderer als er sei für diesen Job besser geeignet, was die Frage aufwirft, warum derjenige dann nicht auch die Partei führt. Rhetorische, strategische Spielchen, die an die Anfangssätze dieser Kolumne anschließen: Um Wahrheit, Wahrheit sprechen oder besitzen geht es nicht. Das wäre mir an und für sich kein großes Problem, denn an die Stelle einer „Suche nach Wahrheit“ und eines stets anzuzweifelnden Gültigkeitsanspruches könnte die Frage nach welcher Wahrheit denn treten. Oder auch nur die Idee, etwas (das Gegenüber, die andere Wahrheit?) kommentarlos ein paar Minuten auch mal so stehen zu lassen, sowie die Einsicht, dass konzentriertes Schweigen eine Form von Kommunikation ist.

Das Gegenteil aber ist der Fall. Jene, die Nachdenkpausen stets als Aufforderung missdeuten, anderen ihre Wahrheit um die Ohren zu hauen, sind weder bereit zu verstummen noch sich zu besinnen. Es sind jene, die erkannt haben, dass die Wahrheit ein instabiles und ungreifbares Konstrukt ist und das Volk sich mit täglich neu gebastelter nicht nur zufrieden gibt, sondern dies als dynamisch! männlich! führungsstark! nachgerade einfordert. Punks wie Trump haben die Macht übernommen. (Es sind nicht dieselben Punks, an die wir dachten, als wir uns das eine Sekunde lang wünschten.) Kapitalismus-Anarchos, die sich einen Dreck darum scheren, ob das, was sie heute sagen, morgen noch Gültigkeit hat und wer von den Gesetzen, die sie verabschieden, in welcher Art betroffen und behindert wird. Dass Sebastian Kurz seine eigene Partei in ihrer Existenz gefährdet, indem er ihren Erfolg von seinem Namen abhängig macht und damit das System ÖVP zerschlägt – wird nicht als systemgefährdend kritisiert, im Gegenteil, er wird dafür bejubelt: bemerkenswert die Gelöstheit, mit der viele ÖVP-Menschen laut Hurra! schrien, als ihr Alphatierchen im Handstreich jene Partei, die ihn aufgebaut hat, abschaffte – juhu, schrieben sie etwa auf Facebook, das ist gut, endlich wieder einer, der sagt, wo es langgeht. Endlich wieder einer, der sich was traut, ein starker Mann, wie schön, wir folgen ihm. Sebastian Kurz ist auf dem besten Weg ein rechter Populist zu sein und bedient mit seinem Handeln und der Art, wie er sich seines Vorgängers entledigt hat, archaische Sehnsüchte. Und dabei ignoriert er nicht einmal die Systematik des politischen Umsturzes, er ignoriert bloß, dass dieses unschöne Absägen und der überdeutliche Wille zur Macht bislang nicht ganz so offen zur Schau gestellt wurden. Und liegt dabei voll im Trend, hey! Eleganz hat ausgedient, auch und vor allem in der Politik. Postpolitisch und postdemokratisch – so beschreibt die belgische Politikwissenschafterin Chantal Mouffe die aktuelle Situation, in der die gekannten Parteiensysteme ausgedient haben und Menschen nicht länger Konsens einfordern, sondern Konflikte. Das Volk will Blut sehen, das Volk will sich entscheiden können, am besten stündlich neu. Unterhaltet uns! Spannend nebenbei bemerkt, wie ausgerechnet in der Postdemokratie mehr (direkte! also meine!) Demokratie eingefordert wird. Zur Hölle, es ist verwirrend.

Im Kontext dieser Streit- und Provokationssehnsucht liest sich auch der ganz offen zur Schau gestellte Sexismus wieder ganz logisch und macht es sich gemütlich. Wie er es tatsächlich gemeint hat, sei dahingestellt und ich glaub ihm gerne, dass er sich selbst nicht als einen Sexisten sieht. Jedenfalls hat Hans Bürger, immerhin ORF-ZiB-Ressortleiter Innenpolitik/EU, mit einem Satz deutlich gemacht, zwischen welchen Wahrheiten wir hin und her gebeutelt werden: „Das wird der brutalste und härteste Wahlkampf, dieser, 2017, da gilt es auch gegen Männer zu bestehen2.“ Einige meiner Meinung nach zu Recht kritische Bemerkungen später fühlt er sich ungerecht behandelt: „Wie kann man etwas nur so missverstehen“, schreibt er auf Twitter und bestätigt damit jede vorangegangene Kritik. Hach, Frauen sind einfach nicht hart genug für dieses Politdings und dann missverstehen sie einen auch noch … Eva Glawischnig, so betont er, habe sich von seiner Aussage ja gar nicht betroffen gefühlt, so als dürften sich deshalb alle anderen Frauen nicht von der Schnoddrigkeit betroffen fühlen, mit der Hans Bürger zwei Lager auftut und Zuschreibungen macht, die andernorts längst als passé erachtet werden.

Als Politanalyst hätte er wissen können, wie auf einen ungeschickten Stolperer in einer Liveanalyse zu reagieren sein könnte. Hätte. Könnte.

Schon kommt ihm ohnehin der Kollege vom Standard zur Rettung: „Unsere Krise von Politik und Journalismus kommt vielleicht auch daher, dass manche etwas nicht wahrhaben wollen, obwohl es doch evident ist“ schreibt Thomas Mayer als Kommentar zur Kritik an Hans Bürger3.

Da ist sie wieder, die Wahrheit und ihre Verteidiger. Umgekehrt würde ich formulieren: unsere Krise – ganz generell – kommt vielleicht daher, dass ein Teil der Menschheit seit Jahrhunderten die andere mit ihrer Überzeugung zu wissen, was evident, wahr oder halt einfach so ist, quält und langweilt.

Ich spüre den Fatalismus den Nacken raufkriechen, lehne mich zurück und wohne – mittlerweile nicht einmal mehr überrascht – einem Schauspiel bei, das sich in klirrender Eindeutigkeit vorführt, keinen Zweifel daran lässt, wer welche Absichten hegt oder gar elegant mit Zwischentönen oder Mehrdeutigkeiten spielt. Eleganz ist weder eine politische noch eine revolutionäre Größe, ich weiß, und dennoch sehne ich mich manchmal nach ihr.

 

1 Anm. WH: „Auf dem Königsweg“ wurde gekürzt und auf Englisch („The Burgher King“) am 27. 03. 2017 in New York als Lesung aufgeführt, darüber hinaus ist zu diesem Theatertext zu/über Donald Trump von Elfriede Jelinek aktuell nichts zu erfahren oder auf der Homepage der Schriftstellerin zu finden. Dass Jelinek sofort nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten mit der Arbeit daran begonnen hat, ist in einem Artikel der Welt nachzulesen: www.welt.de/kultur/article163225150/Das-Schweinchen-mit-den-komischen-blonden-Haaren.html

2 derstandard.at/2000057870537/Kritik-an-ORF-Journalist-Buerger-wegen-Glawischnig-Analyse

3 twitter.com/TomMayerEuropa/status/ 865487716300972032