Das Naturereignis der „unpolitischen“ Brunhilde Pomsel

Brunhilde Pomsel arbeitete als Sekretärin für NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, einen der größten Verbrecher des Dritten Reichs. Im Film Ein deutsches Leben erlebte Silvana Steinbacher eine der letzten Zeitzeuginnen an den Schaltstellen des Massenmords. Die Erinnerungen dieser skrupellosen MitläuferInnen weisen unangenehme Parallelen auf.

Und immer wieder: Die ganze Menge konnte nichts dafür? Foto Blackbox Film

Und immer wieder: Die ganze Menge konnte nichts dafür? Foto Blackbox Film

Ich habe die Szenerie noch deutlich vor Augen. Bei einem familiären Geburtstagsfest stritten einige Verwandte lange über die Volksabstimmung zur Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf, mein Vater versuchte mehrmals zu beruhigen. Einige Male habe ich von diesem Fest erzählt, bis meine Cousine und mein Bruder meine Erinnerungen an einigen Stellen gravierend zurechtrückten: Das Fest sei damals friedlich verlaufen und über Zwentendorf wurde nur kurz und in einhelliger Meinung gesprochen. Ich muss wohl einige Erinnerungssplitter über beinahe vierzig Jahre verschoben oder falsch abgelegt haben. Was also können wir über Jahrzehnte hinweg verlässlich und wahrheitsgetreu abrufen, inwiefern können wir unserem Gedächtnis überhaupt trauen?

Diese Gedanken beschäftigen mich, während ich auf den Beginn des Films Ein deutsches Leben warte. Brunhilde Pomsel musste sich an Begebenheiten vor mehr als siebzig Jahren erinnern. Musste sie? Wollte sie nicht eher ihr Gewissen erleichtern, sich rechtfertigen? Wie sehr lässt sich abgesehen davon dem Denkvermögen einer Frau trauen, die über einhundert Jahre alt ist? Ich bin skeptisch, doch bei letztem Punkt zu Unrecht. Brunhilde Pomsel erweist sich in diesem Film als geistig sehr rege. Doch gleich vorweg: Diese Eigenschaft wird die einzige bleiben, die ich an dieser Frau als beeindruckend hervorheben kann.

An einem Sonntagnachmittag sehe ich mir gemeinsam mit rund fünfundzwanzig Menschen diese Dokumentation an. Neben mir sitzt ein Mann um die dreißig, die langen Einstellungen, Nachdenkpausen und die mitunter langsame Sprechweise der alten Frau, denen der Film seinen Platz einräumt, strapazieren seine Seh- und Hörgewohnheiten spürbar, er rückt unruhig auf seinem Sitz hin und her, in der Mitte des Films schläft er kurz ein. Nach dem Ende des Films wird er aber mit seiner Begleiterin sofort über Brunhilde Pomsel zu diskutieren beginnen. Neben mir eine alte Frau, die die Dokumentation aufmerksam verfolgt, vereinzelte Besucher verlassen aber auch bald den Saal. Im Raum, so empfinde ich, herrscht eine Atmosphäre der Nervosität und Ungeduld. Erst als in einer Einspielung eine Leichenentsorgung im Warschauer Ghetto zu sehen ist, hören wir alle nur noch das Knistern des historischen Materials, kein Rascheln im Saal, nichts. Seltsam, denke ich, denn die Aussagen von Brunhilde Pomsel sind für mich so ungeheuerlich, dass sie von Beginn an Stille erzeugen müssten.

Worum geht’s? Die Blackbox Film & Medienproduktion Ein deutsches Leben ist am 7. April in den Kinos angelaufen. Brunhilde Pomsel war von 1942 bis Kriegsende im NS-Propagandaministerium Sekretärin von Joseph Goebbels. (Was hat er ihr diktiert, denke ich schon bald.) Goebbels war bekanntlich einer der engsten Vertrauten Hitlers und durch seine antisemitische Propaganda einer der wesentlichen Wegbereiter des Holocaust.

In Schwarz-Weiß-Bildern und stark ausgeleuchteten Close-ups erzählt Pomsel über diese Zeit. Ihre Erinnerungen, die oft im Plauderton daherkommen, ergänzen die vier Regisseure durch teils nie zuvor gezeigte historische Aufnahmen und Zitate aus Goebbels Tagebuch.

Ich bemerke während des Films – habe ich das Recht dazu? –, dass ich viele Pomsel’sche Wortmeldungen kaum aushalte. Eine Auswahl:

„Ist es denn wirklich so schlimm, wenn man für sich selbst versucht, das Beste herauszuholen.“

„Schuldig fühle ich mich nicht. Es sei denn, man wirft dem ganzen deutschen Volk vor, dass es letzten Endes dazu beigetragen hat, dass diese Regierung überhaupt ans Ruder gekommen ist. Das sind wir alle gewesen. Auch ich.“

„Nichts haben wir gewusst.“

„Auch das Schöne hat Flecken und auch das Schreckliche hat Sonnenstellen.“

„Wir haben mitgeklatscht, es ging nicht anders, es war ein Naturereignis. Die ganze Menge konnte nichts dafür.“

(Anm.: Diese Aussage bezieht sich auf Joseph Goebbels Zitat: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ in seiner Rede im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943).

Spätestens bei diesem Zitat packt es auch den Mann neben mir. Er wird für ein paar Minuten ruhig sitzen bleiben. Was hat Goebbels ihr diktiert, rast es mir immer wieder durch den Kopf, und hat sie bei der Reinschrift nur an ihr perfektes Zehnfingersystem gedacht? Über den Inhalt ihrer Arbeit spricht sie nämlich nicht. Wurde sie nicht gefragt, wollte sie nicht oder hat sie sich nicht mehr „erinnert“?

Vor einigen Jahrzehnten hat mir ein Ehepaar erzählt, wenn es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte, hätte es sich nicht kennengelernt und wäre jetzt nicht glücklich verheiratet. Auch das schwingt in meinem Kopf mit, als ich Brunhilde Pomsel zuhöre, denn sie erzählt vom Büroalltag, als hätte sie in einer Modeagentur gearbeitet, in der es gar lustig zugegangen sei. Der gepflegte, modische Chef, sein sensibles Hündchen, seine lieben Kinder. Und vor allem: Ihr tolles Gehalt, um das sie alle beneideten. Immer wieder erwähnt sie, sie sei ein völlig unpolitischer Mensch gewesen. Ein Leben in der Idylle also, wenn man bereit war alles beiseite zu schieben, so wie auch Hitlers Sekretärin Traudl Junge in dem 2006 entstandenen Film Im toten Winkel, so wie einige meiner Verwandten. Der zeitliche Bogen kann bis heute gespannt werden, – natürlich in einer anderen Dimension des Elends.

Ein paar Tage nach diesem Film lese ich von einer Studie, deren Ergebnisse ich nicht in dieser Drastik erwartet hätte: 56 Prozent der Befragten stimmen der Aussage sehr oder ziemlich zu, dass die Diskussion über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust beendet werden sollte. Außerdem sieht ein Drittel der Befragten Gutes wie Schlechtes an der NS-Zeit, wobei jeder zweite 15- bis 20-Jährige ein mangelndes Wissen über den Hitlerfaschismus angibt. Junge und mäßig gebildete Menschen zeigen eine erhöhte Tendenz für autoritäre Zugänge.

Dieses Ergebnis animiert mich, mir die Postings zu eben jenem Film der Zeitung Der Standard1 anzusehen. Laut Umfrage sind deren LeserInnen jung, gebildet, urban und mobil. Wie ich erwartet hatte, reagiert eine Mehrheit der siebzehn Postenden ablehnend bezüglich der skrupellosen und verdrängenden Pomsel’schen Welt, doch ich finde auch einige verworren formulierte Textbeiträge. Ein Leser oder eine Leserin meint „Sekretärinnen waren nur Frauen ihrer Zeit“ (Aha! Was meint er/sie damit? Wie wären diese denn charakterlich ausgestattet? Waren Männer anders strukturiert?) Ein Kommentar nimmt zum Film gar nicht Stellung. Eine Thematik dieser Dimension sei zu komplex, lese ich, um sie in einem Zeitungsforum diskutieren zu können. Summa summarum empfinde ich das Ergebnis dieser Wortspenden eines sogenannten gebildeten Publikums als eher verzichtbar. Vielleicht müssen sie aber auch verzichtbar bleiben?!

Ich frage mich, warum die Regisseure zu den bereits zahlreich vorhandenen Materialien über ZeitzeugInnen noch diesen Film hinzugefügt haben? Brunhilde Pomsel wird voraussichtlich eine der letzten sein, die über die NS-Diktatur sprechen konnte und: Sie saß – äußerst bequem – im Epizentrum der Schreckensherrschaft, auch wenn sie sich verdächtig oft als unpolitisch und kleines Rädchen bezeichnet. Interessanterweise gibt einer der Regisseure zu Protokoll, sie sei „eine scharfe politische Beobachterin“ gewesen. Also doch? Wann hat sich dieser grundlegende Wandel bei ihr vollzogen? So vieles passt da für mich nicht zusammen. Warum sind die Regisseure offensichtlich bemüht auch ein eher positives Bild von Pomsel zu zeichnen? Wahrscheinlich haben sie Nähe und Sympathie zu dieser Frau entwickeln müssen, um diesen Film überhaupt drehen zu können.

Einige Tage später stelle ich mir die für viele unvermeidliche Frage, wie ich mich während der NS-Zeit verhalten hätte. Ich bin mir sicher, dass ich diese Jahre nicht als Heldin erlebt hätte. Wenn mir zu einer Sophie Scholl also leider der Mut gefehlt hätte, so nehme ich doch an, dass ich nicht für ein gutes Gehalt und ein angenehmes Leben alles verdrängt und meine Sinne völlig ausgeschaltet hätte. Aber das bleibt natürlich Theorie.

Den Kinostart konnte Brunhilde Pomsel übrigens nicht mehr erleben. Sie starb am 27. Jänner 2017 – zynisch wie der Zufall manchmal spielt – in der Nacht auf den Internationalen Holocaust-Gedenktag.

 

1 „Ein deutsches Leben“: Kronzeugin mit eingeschränkter Sicht. Der Standard, 04. 04. 2017

 

Ein deutsches Leben

A/D 2016, 113 Minuten

Regie: Christian Krönes, Olaf S. Müller, Roland Schrotthofer, Florian Weigensamer.

Von meinem Privaten in dein Politisches

In den Galerieräumen des Forum Wels war im Frühjahr die Ausstellung Vor und Zurück zu sehen. Mit der zugrundeliegenden Thematik der Erinnerung wurden Objekte, Bilder und Installationen von Bibiana Weber, Edith Stauber und Alenka Maly gezeigt. Über Erinnerung, die Verbindung des Privaten mit dem Politischen, über persönliche Kunstbeziehungen sowie „das Gefühl einer geringeren Einsamkeit“ haben die drei Künstlerinnen mit Tanja Brandmayr gesprochen.

Die Einladung zur Ausstellung in die Welser Galerie Forum kam über Bibiana Weber. Edith Stauber hatte bereits Bilder mit dem Titel Vor und Zurück. Und während des langen, fallweise gemeinsam zurückgelegten Lebensweges sind bereits einige andere Arbeiten entstanden, die „in Räumen vor und zurückgehen“, wie Alenka Maly ergänzt (etwa 2009 mit Malys Ausstellung zur Arbeitersiedlung Hammerweg). Die drei Künstlerinnen teilen die gegenseitige Wertschätzung für ihre Arbeiten, sie haben zudem, was das Kunstverständnis betrifft, „gemeinsamen Vergangenheitsduft eingeatmet“. Sprich: Die künstlerischen Arbeiten und Wahrnehmungsebenen werden gegenseitig verstanden, auch wenn sie sich – wie wir später sehen werden – doch auch wesentlich im Zugang voneinander unterscheiden. Und wie zu erwarten war, ging es bei der Ausstellung, also mit dem Vor- und Zurückgehen in der Zeit weniger um Nostalgie. Wenngleich es auf Nachfragen scheint, dass der Begriff der Wehmut nicht ganz von der Hand zu weisen ist, allerdings stärker im politischen Kontext des Verlustes einer Zeit, in der Solidarität, Häuser besetzen oder ein radikaler Feminismus möglich war und trotz des Kampfes doch irgendwie zum guten Grundton einer Gesellschaft gehörte. Alenka Maly: „Ich habe keine Antwort, was Wehmut betrifft. Die 70er waren dahingehend eine goldene Zeit, vorher war Armut, dann war Protest und Solidarität möglich, jetzt ändert sich alles rasend“. Also weniger persönliches Sentiment als ein Blick über verlustig gegangene gesellschaftliche Errungenschaften. Und damit gehen wir wieder zurück in den „Duft“ der frühen Jahre: Alenka Maly und Bibiana Weber, beide mit ähnlicher sozialer Herkunft, ausgebrochen aus der Arbeiterschicht, haben etwa in einem Schritt der emanzipatorischen Selbstermächtigung Kunst studiert. Und auf die generelle Frage, wie sich denn die Erinnerung, das Private und das Politische in den Arbeiten treffen, merkt Maly an, dass sie in einer Familie aufgewachsen sei, wo immer politisch gedacht wurde, demnach sei auch das Private politisch gewesen. In die folgende kurze Diskussion über die Durchdringung des Privaten und Politischen, über Bibiana Webers künstlerische Transformation des Persönlichen in eine allgemeinere Gültigkeit, über einige Details in den Arbeiten der drei Künstlerinnen, kommen wir zu Edith Staubers für mich zumindest im Moment überraschenden Aussage, dass sie ihre Arbeiten als „rein privat“ verstehe. Dass es ihr um einen „Weg ins Private“ gehe, präzisiert sie mit den Worten: „Jeder hat etwas Privates“. Und dass mit der somit ableitbaren Definition „Alles ist privat“ ein Prozess von Mein-Privates-findet-sofort-einen-Zugang-in-dein-Privates möglich ist, verdeutlicht für mich, auch in Kombination mit den beiden anderen Künstlerinnen, den persönlichen, eigenständigen, wie auch äußerst bemerkenswerten egalitären Zugang, der in der Ausstellung insgesamt zu spüren ist. Beginnen wir also mit Edith Stauber.

Edith Stauber hat ihr Werk zwischen Malerei, Zeichnung und Film angesiedelt. In bester Erinnerung ist ihr animierter Film Parkbad (bzw, eigentlich: Eintritt zum Paradies um 3€20), der die Szenen eines Freibades in detailreicher Genauigkeit darstellt. Hier porträtiert nicht nur ihre „Lust am Gesamtbild“ den Ort, sondern Staubers „Frage der Beobachtung“ erweckt im Zuseher, in der Zuseherin die eigenen erinnerten Eindrücke: Quasi wie das letzte im Glas schwimmende Essiggurkerl, das mit der Gabel herausgefischt werden will (wie im angesprochenen Film) scheinen Erinnerungen kurz und deutlich zugänglich, entwischen letztlich aber doch immer wieder. In Wels wurden auch neuere Filme gezeigt. Außerdem, auch gar nicht nostalgisch, ein von Edith Stauber so bezeichneter „Bilderdurchfall“. Dieser zeigte fast tagebuchartig skizzierte und gezeichnete Eindrücke, halbwegs unverdauter Alltag also, in seiner speziellen Zusammensetzung aus verträglichen und unverträglichen Elementen, in ebenso verschiedenen Formaten und Techniken in den Welser Galerieräumen präsentiert. Diese Zeichnungen sind entsprungen aus einem Impuls der fast zeichnerischen Befreiung, so Edith Stauber, wohl auch gegenüber einer recht eindrücklichen Gegenwart. Wie im Gegensatz dazu widmete sie sich mit der Serie „Am Balkon“ der Vergangenheit. So hat sie alte Fotografien des Vaters aufgenommen, der die Familie immer wieder am Balkon abfotografiert hatte, schmucklos und im Motiv wiederkehrend, wie es wohl zu dieser Zeit nicht untypisch war. Stauber hat das aus künstlerischer Sicht „formal Strenge“ in Folge einer malerischen Bearbeitung unterzogen. Hat über eine lange Zeit des „nicht bewussten Nachdenkens“ während des Malens bemerkt, dass nach und nach Eindrücke aus der Vergangenheit hochkamen. Jedenfalls künden diese Momente auf dem Balkon von einer fast verlassen wirkenden Monochromie, sie haben aber auch etwas ungemein Lebendiges, dieses Baby Edith zum Beispiel, das frech, skeptisch oder schreiend, jedenfalls mit der einzigen Aufgabe eines Babys, nämlich zu wachsen und zu gedeihen, in die Welt blickt … oder die Jugendliche Edith, die mit zusammengezwickten Augenlidern in der strahlenden Sonne steht.

Während Edith Stauber ihren Blick auf Situationen und die damit einhergehende persönliche Erfahrung richtet, widmet sich Bibiana Weber den Dingen bzw. der Kommunikation mit den Dingen. In einem Zugang des Lost-and-Founds zeigte die Objektkünstlerin zwei Herangehensweisen – wobei sich die eine als eine Spur emotionaler erwies als die andere, die dem Sentiment die Ordnung beifügte. Kleine Wunderkammern aus gefundenen Objekten haben sich so angesammelt, etwa beim Spazierengehen; und ihre so entstandene Sammlung sei selbst „ein Kommen und Gehen“, sagt Weber. Sie weist in ihren Arbeiten auf Qualität(en) hin, gibt den Dingen Aufmerksamkeit, denn die Dinge „haben Spuren, haben Spuren hinterlassen, erzählen selbst Geschichten.“ Dass so Geschichten neu erzählt oder anders weitererzählt werden, ist selbstredend für den künstlerischen Prozess. Bibiana Weber sei dabei, so die Kolleginnen, „die Übersetzerin der Dinge“. Als vordergründig etwas weniger spielerisch (Weber arbeitet übrigens auch mit Stahl), erweist sich der zweite Ansatz Webers, der zum Beispiel in den Arbeiten Linz oder Telefonauskunft 11 88 77 zu sehen war. Dafür rollte sie aus dem Papier alter Stadtkarten, Zeitschriften, aus blauen Wahlkarten oder im Falle von „11 88 77“ aus dem Telefonbuch von ihr so bezeichnete Papierperlen. Dass diese Papierperlen, eine neben der anderen in Schaukästen aufgereiht, dabei nicht nur „je nach Lichtsituation Schatten werfen und Bewegung ins Spiel bringen“, sondern gewitzt wie grotesk Erinnerung zu verarbeiten und beinahe wissenschaftlich geordnet zu systematisieren scheinen, scheint dabei ganz klar Bezug auf die von ihr formulierte Absicht zu nehmen, „das Persönliche zu etwas allgemein Gültigerem zu transformieren“. Das Persönliche also fein säuberlich ausgeschnitten, quasi zu Erinnerungsperlen aufgewickelt und im Schaukasten platziert? Sozusagen eine gerollte Geschichte des Einzelnen und des Allgemeinen? Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass die hier beispielhaft genannte Nummer der Telefonauskunft nicht nur über alte Zeiten und die neueren Zeiten der Digitalisierung spricht. Sondern ich entwickle so etwas wie einen kleineren Horror, dass die persönlichen Erinnerungen, jede für sich einzeln so schön durchlebt und deshalb für einen selbst so besonders wertvoll, irgendwann selbst wie tote Kleinstlebewesen in einem Schmetterlingskasten gleich, von einem selbst also aufwändig als Erinnerung präpariert, aufgerollt und platziert, zu einem System werden, das Bibiana Weber in ihrem Ausstellungstext so beschrieben hat: „Still ruhen diese Kleinstobjekte auf weißen, gerasterten Flächen in Objektkästen“. Bibiana Weber scheint in ihren Arbeiten jedenfalls eine beinahe wissenschaftliche, erkenntnistheoretisch anmutende Fragestellung platziert zu haben: Was ist den Dingen und was ist der Erinnerung immanent? Was kann man über den Kern der Dinge oder die Vergangenheit sicher wissen?

Im hinteren, letzten Raum hat Alenka Maly eine Rauminstallation aufgebaut, die aus mehreren Komponenten bestanden hat – und die als Gesamtsituation Anklänge von Reisen, Durchreisen, des insgesamt Unbeständigen evozierte; oder der großen Ungeheuerlichkeit des unkalkulierbar Improvisiertens eines jeden Lebens, das sich zuletzt und am Ende sozusagen immer als flüchtig erweist; und eines Raumes, in dem „großes Glück und großes Leid“ quasi miteinander leben, wie Alenka Maly angemerkt hat. So spürt man die in die Gegenwart strahlende Erinnerung an die Familie Malys – durch zwei im Raum einander gegenüberliegende installative Settings, die den letzten Campingurlaub mit dem Vater wieder auferstehen haben lassen. Die Erinnerungen erweisen sich als schön wie schmerzhaft. Ein Video zeigt den Vater und Musiker Gust Maly, im Süden auf einem Campingplatz Gitarre spielend. Er und die Familie wussten zu diesem Zeitpunkt bereits von seinem nahenden Tod. Die zum Loop geschnittene Melodie begleitet ein an die Wand gehängtes Tischtuch des Campingtisches, aufgehängt als Beleg des Gemeinsamen, als Ort, wo die Familie selbstverständlich zusammengekommen ist, um zu reden, zu essen, zu trinken und zu streiten – nicht zuletzt um die privaten sowie größeren Angelegenheiten einer an sich politischen Familie zu debattieren. Dieses Stück Tuch, das wie als Beweis des Gemeinsamen und gleichzeitig als Anklage des Verlustes gelesen werden kann, schlägt zudem eine andere Verbindung zu einem weiteren „Größeren“ im Ausstellungsraum auf: Gleichsam im persönlichen Leid verankert, scheint Maly das Wissen um den Schmerz zu multiplizieren, transformiert persönlichen Schmerz und Mitgefühl mit den vielen Familien und Menschen auf der Flucht. In Wäsche bearbeitete sie Pressefotos aus den Flüchtlingscamps, indem sie etwa diese Bilder verblassen ließ, um Wäschestücken auf Wäscheleinen wieder Farbe einzuhauchen, inklusive kleiner Maschen und Schleifen auf kleinen Mädchenpullovern: Wäsche als bereits des Öfteren von Maly gewähltes Mittel, als Symbol für das der Haut am nähesten Liegende; als Symbol für Nähe, die sich mitfühlend mit dem Leid anderer zu verbinden weiß, in einer zutiefst humanistischen Positionierung. Nach dem Verlassen der Räume klingt die Melodie des Vaters noch lange nach.

Gemeinsames vor und zurück in der Zeit also, verschiedenes hin und her in den Beziehungen. Wunderbare Beiträge in den einzelnen Räumen. Und trotz aller anskizzierten Unterschiede in der künstlerischen Herangehensweise: Gemeinsam scheint die Übersetzungsarbeit in einen „größeren Zusammenhang“ mit Menschen, Dingen, Situationen und nicht zuletzt in eine Kommunikation gemeinsamer Erfahrungen hinein. Mit diesem Sichtbarmachen, Spürbarmachen ginge es schlichtweg auch um das „Gefühl einer geringeren Einsamkeit“, so Edith Stauber. Rückbezogen auf die Ausstellung: nicht nur eingebettet, sondern durch vielfache mögliche Bezüge weit und frei.

 

www.edithstauber.at/bibiana-weber

www.edithstauber.at/edith-stauber

www.edithstauber.at/alenka-maly

Es mäandert alles so parallel dahin.

Derzeit sind in der 44er Galerie am Stadtplatz von Leonding ausgewählte Arbeiten der Linzer Künstlerin Astrid Esslinger in Tonkell zu sehen – einer Gruppenausstellung über sexualisierte Gewalt als gesellschaft­liche Selbstverständlichkeit. Elisabeth Lacher hat mit Astrid Esslinger gesprochen: über Bilder als Projektionsfläche und ein Atelier als Isolations-Tank.

Eisheilige V von Astrid Esslinger, 100 x 90 cm, 2013. Foto Otto Saxinger

Eisheilige V von Astrid Esslinger, 100 x 90 cm, 2013. Foto Otto Saxinger

Die in der Ausstellung Tonkell gezeigten Gemälde Esslingers sind eine Auswahl aus ihrem künstlerischen Werk der letzten Jahre. Die Gemälde sind zwar ursprünglich nicht unter dem Aspekt des Ausstellungsthemas entstanden, dennoch vermögen sie in unerwartet deutlicher Weise ein Netz aus optischen Impulsen in der Ausstellung zu flechten, das die Betrachterin und den Betrachter, durch die Meta-Ebene der gesellschaftlichen Thematik von sexualisierter Gewalt hindurch, in ein individuelles Wahrnehmen und in innere Betroffenheit führen. Und somit ein erweitertes Feld des Sehens, Fragens, Verstehens und Verständnisses eröffnen.

So begegnet man im ersten und kleinsten Raum der Ausstellung der Arbeit Eisheilige V aus dem Jahr 2013: Ein gebeugter Mensch, einsam und verlassen, den Kragen seines Mantels hochgeklappt. Er will weggehen. Sich verstecken. Voller Scham. Sich abwenden. Von einem Dunkel, in dem er nicht sein kann. In dem niemand sein kann. Der Kopf eingesunken, Abkehr, alleine, trostlos. Die Enge des realen Raums wird durch die Weite einer gemalten, gottverlassenen Landschaft ausgeglichen. Der Eisheilige berührt und macht betroffen. Und ist ein beeindruckendes Intro in eine Ausstellung, die in großer Bildgewalt den Raum aufmacht für das Überthema der gezeigten künstlerischen Arbeiten: Sexualisierte Gewalt als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Die Ausstellung thematisiert den geheimen, privaten, sprachlosen und alltäglichen Raum, in dem sexuelle Gewalt häufig stattfindet. Jenseits von medialen Skandalmeldungen, die kurzfristig Empörung und Abscheu hervorrufen, schafft die Ausstellung generell ein tieferes Bewusstsein und einen differenzierteren Blick auf gesellschaftliche Strukturen, Machtverhältnisse und tradierte Rollenbilder von Mann und Frau.

Esslingers Bilder bieten sich als offene Projektionsflächen in Zusammenhang mit dem Thema der Ausstellung an. So zeigt das Bild Monokultur eine Gruppe junger, weißer Männer im schwarzen Anzug. Stellvertretend für das europäische Bild von Erfolg, Business, Macht. Das eigentlich nur wenigen etwas, und denen auch nur sehr wenig, zu bieten hat. Und neben eintönig und schwarz-weiß auch ziemlich aggressiv ist. Die Arbeit Under Cover zeigt zwei Frauen: die eine verbirgt ihr Gesicht durch einen Schleier, die andere durch eine Sonnenbrille. Sowohl die Sonnenbrille, wie auch ein Schleier können normale Mode und Alltagsgegenstände sein, gleichzeitig aber auch Spuren häuslicher Gewalt verbergen. Astrid Esslinger erzählt über ihre Arbeiten in der Ausstellung Tonkell, dass sie den Besucherinnen und Besuchern ihre Bilder als Projektionsfläche für eigene Gedanken und Erfahrungen anbieten möchte. Es läge ihr fern, fertige Erklärungen abzugeben oder die Betrachterin, den Betrachter auf die Suche nach der richtigen Interpretation ihrer Gemälde zu schicken. Vielmehr sollen ihre Arbeiten ein offenes System darstellen, die zwar in einen inhaltlichen Kontext eingebaut sind, jedoch verschiedenste Assoziationen und Gedanken nicht nur zulassen, sondern auch initiieren. Für Esslinger hat Kunst nichts Lehrhaftes, nichts Auratisches, nichts Erklärendes oder Abgeschlossenes. Sie selbst sieht ihre Bilder auch nie als „fertig“ an: weder in ihrem Atelier gibt es einen Zeitpunkt, an dem ein Bild fertiggestellt wird, noch sind es die Bilder, die sie in Ausstellungen bringt. Für Esslinger sind es die Personen, die ihre Bilder ansehen, sich einlassen, Gedanken machen, die die Bilder im Endeffekt fertigstellen. So hört sie zum Beispiel auch lieber dem zu, was ihr andere über ihre Bilder erzählen, als selbst viele Worte darüber zu verlieren.

Eine Haltung, die sich auch in ihrem Arbeitsstil im Atelier niederschlägt. Sie malt nie nur an einem Bild, es sind immer mehrere Bilder gleichzeitig in Arbeit. Manche Bilder werden über Jahre hinweg gemalt, stehen dann auch länger herum und warten oft sehr lange, bis wieder eine Farbschicht, eine Figur, ein Motiv hinzukommt. Eigentlich, erzählt Astrid Esslinger, gibt es in meinem Atelier keine Bilder, von denen ich sagen würde, dass sie fertig gemalt sind und ich nichts mehr hinzufügen werde. Solange sie im Atelier sind, verändern sie sich: oder können sich verändern. Erst wenn ich ein Bild weggebe, höre ich auf, daran zu malen. Und danach wird es erst fertig: durch die Personen, die es ansehen. Durch die Gedanken, Erfahrungen und Eindrücke, die daraus entstehen.

Die eigene Erfahrung nimmt in Astrid Esslingers Arbeit in vielerlei Hinsicht einen wichtigen Stellenwert ein. Ich beginne immer bei mir selbst, erzählt sie. Was ich nicht selbst in irgendeiner Form erfahren habe, darüber kann ich nichts erzählen, das ist nicht relevant. Meine Arbeit beginnt immer bei mir, bei meinen Erfahrungen, meiner Intuition. Was sich weniger auf konkrete Themen und Inhalte bezieht, sondern auf den eigenen Prozess des Malens, der entkoppelt ist von intellektuellen oder inhaltlichen Fragestellungen. So entstehen Bilder, die sich nicht konkret an einem Thema oder Inhalt festmachen lassen, aber später in unterschiedlichen Kontexten eine eigene Wirkung entfalten und oftmals mit der ursprünglichen Erfahrung der Künstlerin gar nicht mehr so viel zu tun haben müssen. Die Verbindung entsteht eher durch das eigene Einlassen auf Gesellschaft und sich selbst. Am Anfang der Arbeit steht das Tun, die Intuition, das Ausprobieren, die Absichtslosigkeit beim Malen. So bezeichnet Astrid Esslinger ihr Atelier gerne als Isolations-Tank. Am besten arbeitet sie, wenn sie hinter sich den Schlüssel im Schloss umdreht und alle Reize, die der Alltag und das Leben jeden Tag bieten, für die Zeit im Atelier aussperrt: aber nicht als abgegrenzt und autark stehend, sondern als unterschiedliche Ebenen, die zwar verschieden sind, einander jedoch bedingen. Im Atelier geht es ihr darum, Unbewusstem nachzusinnen, oder vielleicht auch gar nichts nachzusinnen. Zu tun oder nichts zu tun. Was in der Zeit im Atelier passiert, das passiert eben.

Und wenn ich nur rauchend dasitze. Oder fünf Leinwände um mich herum stehen, auf denen ich gleichzeitig male. Wichtig ist mir lediglich, dass die Gedanken draußen bleiben. Und das eigene Ego. Das wäre beides hinderlich beim Malen, erzählt Astrid Esslinger über ihren Arbeitsprozess im Atelier. Das Nachdenken kommt erst später hinzu, zum Beispiel bei der Wahl der Titel. Eine gesellschaftliche Relevanz ist für mich und mein Arbeiten schon sehr wichtig. Da verfolge ich durchaus den Ansatz: Das Private ist politisch. Aber das alles passiert erst in einem viel späteren Schritt, diese gesellschaftliche Meta-Ebene. Und eigentlich mäandert alles so parallel dahin bei mir …

Dass sich das alles ausgeht und Sinn macht, davon zeugen nicht nur die Bilder in der Leondinger Ausstellung, sondern ein mittlerweile recht umfassendes Werk und Ausstellungen im In- und Ausland. Neben ihren Gemälden, die durch den sehr intuitiven Arbeitsprozess entstehen, arbeitet Astrid Esslinger auch regelmäßig an ihrer zweiten künstlerischen Produktionsschiene: den Cut Outs. Oder auch bekannt als Strichcode Sklaven. Für die konzeptuelle Handgepäckproduktion bereist Astrid Esslinger unterschiedlichste Orte und Städte, und schneidet dort Figuren zwischen 10 und 40 Zentimetern Höhe aus: aus vor Ort gefundenen Kartonagen und Schachteln. Die, unterschiedlich arrangiert, dann unterschiedliche Geschichten erzählen: übers Reisen, über verschiedene Orte, über Handelswege, über Vereinheitlichung und Normierung, Konsum und Wegwerfprodukte. Für Astrid Esslinger ist die Arbeit an den Strichcode Sklaven eine wichtige Ergänzung zu ihrer Arbeit im Atelier. Durch die Cut Outs bekommen Reisen und Aufenthalte in verschiedenen Ländern eine ganz eigene Bedeutung. Zum Beispiel nimmt sie einen neuen Ort ganz anders wahr, wenn sie auf der Suche nach verwertbaren Schachteln und Kartonagen für die Strichcode Sklaven ist.

So entstanden in Esslingers Cut Out-Schiene die Barcode Slaves_New York und die Barcode Slaves_Sao Paolo im Jahr 2011. 2012 folgten die Barcode Slaves_Teheran. Weitere Barcode Slaves entstanden in den letzten Jahren in Wien, Los Angeles, Bangkok, Berlin und Böhmen.

Bis 25. Juni sind Esslingers Bilder nun in Leonding zu sehen. Ein Besuch der Ausstellung Tonkell sei hier von meiner Seite unbedingt empfohlen. Zumal es unvergleichlich ist, in den Räumen der 44-er Galerie vor den Gemälden zu stehen und sie wirken zu lassen. Wem der Weg ins suburbane Leonding allerdings zu weit ist oder aus sonstigen Gründen unmöglich, kann sich auf der umfassenden Webseite der Künstlerin einen guten Eindruck über ihre Arbeiten machen. Zum Abschluss des Textes bleibt von meiner Seite zu sagen: Ich bin beeindruckt. Astrid Esslinger schafft ein interessantes und vielfältiges künstlerisches Werk, das wie die Künstlerin selbst im Raum steht: Klar, stark, und mit einem unglaublich hohen Maß an Authentizität.

 

esslinger.servus.at

 

Tonkell

Gruppenausstellung Astrid Esslinger und Anna Rafetseder

44er-Galerie, Leonding Stadtplatz

Öffnungszeiten bei freiem Eintritt sind: Di, Mi, Fr 15.00–19.00 h, Do 17.00–21.00 h, So 10.00–16.00 h

Noch bis 25. Juni 2017 zu sehen

 

Zur Zeit sind noch zwei Ausstellungen von Astrid Esslinger in Graz zu sehen:

Transit in der Werkstadt Graz und Strichcode Sklaven in der Galerie Grazy

werkstadt.at/aktuelle-ausstellung

 

Außerdem ab September und bis zum Jahres­ende 2017 zu sehen:

Transit II, im Gesindehaus des Schlosses Freistadt. Ausstellungseröffnung am 01. September: Begleitend zu Arbeiten der bildenden Künstlerin Astrid Esslinger interpretiert der Klarinettist des Klangforums Wien, Bernhard Zachhuber Werke von Salvatore Sciarrino, Gerhard Stäbler u. a.

Ein Buch gegen die Angst

Geheime Papiere gegen den Faschismus. Europa ist in Zonen aufgeteilt, die Menschen sind angesichts des neuen faschistischen Regimes verängstigt. Während Claire hinter Barrikaden kämpft, sitzt ihre Freundin Su mit geheimen Papieren im Zug. Wenn es ihr gelingt, damit unbemerkt die Grenze zu passieren, ist es vielleicht noch nicht zu spät – so der Plot von Eva Schörkhubers neuem Roman „Nachricht an den Großen Bären“. Ein Interview mit der Autorin von and pawe.

Wie flach die Welt geworden ist. Flach und rissig. Auf riesigen Schollen treiben wir voneinander fort. Wir umzäunen unsere Denk-, unsere Sehterritorien mit Worten aus Stacheldraht. Wir schießen aufeinander, nicht nur in Sätzen. Der Pulvergeruch betäubt unsere Sinne. Jeder Sicht-, jeder Perspektivenwechsel wird als Verrat geahndet. Alle müssen sich für eine Seite entscheiden. Der Horizont reicht gerade bis zum Rand der Scholle und keinen Schritt weiter. Es gibt keine Möglichkeit, einen anderen, einen etwas abseits gelegenen Standpunkt zu erreichen. Das Gelände ist vermint. Ich bin froh, dass sich wenigstens die Landschaft vor dem Zugfenster zu falten beginnt. Leichte Erhebungen, eine sanfte Hügellandschaft. Mitteleuropa hat das einmal geheißen. Aber Europa gibt es nicht mehr. Der Kontinent ist zerklüftet, auseinandergerissen. Die Schollen sind zu weit auseinandergedriftet.

Im April erschien in der Edition Atelier Eva Schörkhubers drittes Buch „Nachricht an den Großen Bären“. Nach ihrem Debütroman „Quecksilbertage“ und der Erzählung „Die Blickfängerin“ ist dies nun ihr zweiter Roman. Dieser erzählt von einer Zeit, in der Europa in Zonen aufgeteilt und von einem autoritären rechten Regime regiert wird. Su, die Hauptfigur im Roman, hat sich dem Widerstand angeschlossen, sitzt im Zug und ist dabei, geheime Papiere außer Landes zu schaffen. Eva Schörkhuber zählt zu jenen Autor_innen, die gekonnt politische Inhalte mit hohem erzählerischem Anspruch und sprachlichem Feingefühl verbinden. Es ist auffällig, dass diese Art von Literatur gehäuft in der Edition Atelier in Erscheinung tritt. Das ist gut so. Denn es gibt genug Autor_innen, die wenig zu sagen haben und dies in einer leichten und gefälligen Sprache über hunderte von Seiten zum Ausdruck bringen. Die Bestsellerlisten sind voll davon. Literatur könnte aber soviel mehr sein … Ein Vorgeschmack über dieses „Mehr“ soll im Gespräch mit der Autorin über ihren neuen Roman, Arten des Schreibens, über Europa, die Politik mit der Angst und inspirierende Nachbarschaften gegeben werden.

Bei deinem ersten Buch ist mir aufgefallen, dass du in deinem Erzählen die Sprache gerne verdichtest, um sie im nächsten Augenblick wieder loszulassen, dass Wörter gleich einem losgelassenen Luftballon im Kopf herumfliegen. Gab es für dich in diesem Buch ebenso stilistische Vorüberlegungen? Welchen stilistischen Schreibimpulsen wolltest und konntest du nachgehen?

Ich wollte verschiedene Erzähltechniken und Erzähltempi ausprobieren, also mit Perspektiven und traumähnlichen Einschüben spielen, sowie beschleunigte, verdichtete Passagen mit langsameren, epischeren und reflektierenden abwechseln. Das Ausgangsmaterial für den Roman sind einige Erzählungen gewesen, die im Laufe der letzten drei Jahre entstanden sind, und die alle das Thema „Angst“ verhandeln. Diese Erzählungen sind in eine durchgängige Rahmenhandlung eingewoben und durch weitere Erzählungen ergänzt worden. Bei der Rahmenhandlung wollte ich einen Spannungsbogen bauen, der sich über die Reise der Hauptfigur Su von der Stadt aus über die Grenze spannt. In den Erzählungen wiederum liegt der Fokus auf einzelne Figuren, denen Su entweder auf ihrer Reise oder früher einmal begegnet ist. In den Erzählungen hatte ich die Möglichkeit, mit verschiedenen Perspektiven und Erzählstilen zu arbeiten.

Gleich zu Beginn des Romans antwortet Su auf die Frage, ob sie Angst habe: „Nein, ich habe keine Angst. Angst ist doch das größte Problem hier.“ Im weiteren Verlauf zeigst du die Angst in ihren verschiedensten Ausformungen; die Angst vor Fremden oder auch jene Angst, die einem im Wasser das Gefühl gibt, nach unten gezogen zu werden; und eines der letzten Kapitel hast du „Die Dichte der Angst“ genannt. Was unterscheidet die Angstlosigkeit der Widerständischen von der Angst, die ein autoritäres Regime erzeugt?

Angst zu haben ist etwas Menschliches, jeder und jede von uns kennt das Gefühl. Die Frage ist, wie mit dem Gefühl der Angst umgegangen wird. Wird sie geschürt, um Menschen leichter regierbar zu machen, wie es in rechtspopulistischen Diskursen und autoritären Regimen geschieht? Oder wird sie benannt und gemeinsam verhandelt? Wenn es keinen Platz dafür gibt, sich mit Ängsten, den eigenen ebenso wie mit jenen der anderen, auseinanderzusetzen, kann das dazu führen, dass man sich in sehr enge, disziplinatorische und autoritäre Zusammenhänge begibt, die – scheinbar – Sicherheit und Stabilität gewährleisten. Tatsächlich sind es aber diese Zusammenhänge, in denen Angst geschürt wird. Eine emanzipatorische Möglichkeit, mit Angst umzugehen, ist sich ihr zu stellen, sie zu benennen und sich schrittweise mit ihr auseinanderzusetzen. Die Menschen, die sich dazu entschließen, in den Widerstand gegen autoritäre Regime zu gehen, haben auch Angst – berechtigterweise, denn sie sind permanent von Gefängnis, Folter und Hinrichtung bedroht. Damit sie aber überhaupt in Betracht ziehen können, diese enormen Risiken einzugehen, haben sie Möglichkeiten gefunden, ihre Ängste gemeinsam und solidarisch zu verhandeln und sich ihnen also auch zu stellen.

Immer wieder kommen in deinem Roman traumähnliche Szenen und düstere urbane Landschaften vor, die an Filme und Gemälde erinnern. Du zeichnest intensive, fast bildnerische Szenen und schreibst auch über Bilder. Mir ist, als experimentiertest du mit erweiterten Formen des Erzählens. Als versuchtest du in benachbarte künstlerische Felder zu wechseln, dort Elemente zu nehmen und sie in literarische Formen zu verwandeln. Was waren für dich bei diesem Roman benachbarte Inspirationsfelder?

Während des Schreibprozesses habe ich einige Filme und Videoinstallationen gesehen, die inspirierend waren. Einer dieser Filme ist „La Cité des Enfants Perdus“ (Die Stadt der verlorenen Kinder) von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro gewesen. Dabei ist es mir weniger um thematische oder inhaltliche Bezüge gegangen als um Erzähltechniken, die es ermöglichen, der Erzählung eine bestimmte Färbung oder einen bestimmten Tonfall zu verleihen. Bei visuellen Medien wird in dieser Hinsicht mit Farben und mit prägnanten Einstellungen gearbeitet: Mit einem Bild kann so viel gezeigt und atmosphärisch erzählt werden, wofür es in einem Text vieler Sätze bedarf. Und ich habe mich immer wieder gefragt, wie es möglich ist, auch in und mit Sprache solche Effekte zu erzeugen, ohne dass ich dafür seitenlange Beschreibungen benötige. Die Manifesto-Videoinstallationen von Julian Rosefeldt sind in diesem Zusammenhang auch interessant gewesen. Anhand von kurzen filmischen Episoden sind Kunst-Manifeste (des Surrealismus, des Futurismus, des Dadaismus, des Situationismus usw.) dargestellt und in Szene(n) gesetzt worden. Die Möglichkeit, komplexe sprachliche Setzungen episodisch und narrativ aufzubereiten, ohne in irgendeiner Form illustratorisch zu werden, hat mich dabei fasziniert. Ein anderer Film, der während der Arbeit an dem Roman wichtig gewesen ist, ist der letzte Teil von Lars von Triers Europa-Trilogie, der auch den Titel „Europa“ trägt …

Der Traum von Europa ist in deinem Buch zum Albtraum geworden. Einiges davon, was du beschreibst, kann man auch in der gegenwärtigen Situation erkennen. Auf der einen Seite stehen die (Wirtschafts-)Liberalen, die die europäischen Werte hochhalten. Nennen wir sie die „good guys“ und auf der anderen Seite stehen die „bad guys“, die primär chauvinistisch und kulturkämpferisch auftreten, also die vom neuen und alten rechten Diskurs geprägten Fraktionen. Das ist jetzt eine sehr vereinfachte Dichotomie, aber die letzten Präsidentschaftswahlen in Österreich und Frankreich waren genauso gelagert. Diese Reduktion und der Zwang sich für eine der beiden Positionen entscheiden zu müssen, ist natürlich eine Falle. Wofür und wogegen muss heute gekämpft werden?

Ich denke auch, dass es ein Fehler ist, zu glauben, man könne sich heute für die eine – (wirtschafts-)liberale – oder für die andere – national-chauvinistische – Seite entscheiden. Wir befinden uns in einer Phase der massiven Reterritorialisierung. Das Prinzip des Nationalstaates ist in allen Bereichen tragend, nicht nur in rechtspopulistischen Diskursen. Die so genannten europäischen Werte sind viel abstrakter als die realpolitischen Auswirkungen: 60 Kilometer von Wien entfernt, in Bratislava, verdienen Menschen für dieselbe Arbeit um zwei Drittel weniger. Was, wie wir alle wissen, zur Folge hat, dass gewinnorientierte Unternehmen ihre Firmensitze und Produktionsstätten dorthin verlagern. Unter dem Deckmantel der so genannten Standortsicherung werden dann sukzessive Regelungen zum Arbeitnehmer_innenschutz abgebaut, Lohn- und Gehaltniveaus zum Stagnieren gebracht oder gar nach unten revidiert. Und da kommen die rechtspopulistischen Parteien ins Spiel: Sie kanonisieren die Ängste, geben ihnen einfache Ausdrucksformen und bieten monokausale Erklärungs- und Lösungsvorschläge an, die niemals umgesetzt werden (können). Die anderen Parteien (darunter auch die so genannten sozialdemokratischen) sind nicht mehr in der Lage, die Menschen, die tatsächlich von sozialem Abstieg, von Armut und Existenzkämpfen bedroht sind, zu repräsentieren. In dem Roman habe ich versucht, diese Entwicklungen nachzuvollziehen und in ihren weiteren Konsequenzen zu befragen: Die Aufteilung Europas in A-, B-, C- und D-Zonen, die einer binneneuropäischen Kolonialstruktur entspricht, ist nicht soweit an den Haaren herbeigezogen, wenn wir an den Ausverkauf Griechenlands oder jetzt an die an den Rändern Europas errichteten Lager für geflohene und schutzbedürftige Menschen denken. Ich denke, dass es diese Reterritorialisierungen sind, gegen die wir heute kämpfen müssen: Also gegen die realpolitischen und diskursiven Nationalismen und für globale Umverteilungen. Auch das ist ein Thema im Roman: Widerstand muss immer an und über Grenzen gehen, er kann nur als transnationaler funktionieren.

 

Eva Schörkhuber,

Nachricht an den Großen Bären

Roman, Edition Atelier, 200 Seiten, 20 Euro

ISBN 978-3-903005-27-3

E-Book: 12,99 Euro, ISBN 978-3-903005-48-8

 

Lesung und Gespräch:

Eva Schörkhuber (Nachricht an den großen Bären) und Mascha Dabic (Reibungsverluste).

Mo, 12. 06., 19.00 h, Stifterhaus Linz

 

Eva Schörkhuber, 1982 geboren, aufgewachsen in Oberösterreich. Exil-literaturpreis 2012, Theodor-Körner-Preis 2013. Lebt und arbeitet in Wien und Bratislava. Gemeinsam mit Elena Messner Konzeption und Durchführung der Wiener Soundspaziergänge. Zuletzt in der Edition Atelier erschienen: „Die Blickfängerin“ (2013) und „Quecksilbertage“ (2014).

Die kleine Referentin

Illustration Terri Frühling Text Elke Punkt Fleisch

Illustration Terri Frühling Text Elke Punkt Fleisch

„Make a total massacre and leave no one behind“

Mit schreddernden Gitarren, schillernder Gesichtsbemalung und schlagfertigen Texten haben es Post Period schnell von den lokalen Bühnen in Linz und Umgebung auch nach Wien geschafft, nicht zuletzt bis zum FM4-Protestsongcontest. Protest ist generell fixer Bestandteil der Band und zieht sich durch ihr Konzept, meint Alexander Eigner über die Band.

Links Vivan Bausch, rechts Nora Blöchl und im Auto Linda Greuter. Foto Bastian Moser

Links Vivan Bausch, rechts Nora Blöchl und im Auto Linda Greuter. Foto Bastian Moser

Post Period haben sich im November 2015 gegründet und bestehen aus Nora, Linda und Vivian. Instrumente kann man den drei Frauen allerdings nicht direkt zuordnen, denn diese wechseln bei diversen Gelegenheiten die Musikerin. Gitarre, Bass, Schlagzeug und Keyboard werden von den Dreien wechselnd bespielt und die Singstimme wechselt ebenfalls von Song zu Song. Das ständige Ändern der Formation spiegelt sich auch im Sound wieder, der eine Mischung aus Punk, Surf Rock und Pop erzeugt oder anders gesagt: Post! Schließlich ist alles, was irgendwann später kommt, eben die Post Period, egal ob aus musikalischer, geschichtlicher oder gesellschaftlicher Perspektive. Wenn diese Phase wiederum vorbei ist, kommt auch etwas Neues, also wieder eine Post Period und so lässt sich das immer weiterspielen. Es geht um die Ära danach. Mit diesem Konzept hat sich das Trio auch etwas Großes vorgenommen: musikalischen Stillstand vermeiden und eine stetige Neuerfindung forcieren.

Beim FM4-Protestsongcontest haben sie schließlich ihren Song sonic war präsentiert, dieser hat ihnen, dank des guten Votings des Publikums, zum sechsten Platz verholfen. Bei der Bewerbung dafür haben sie sich noch wenig Chancen ausgerechnet, was generell mit der Skepsis für Conteste zu tun hat. Diese sind oft negativ behaftet, wie man aus zahlreichen dieser Wettbewerbe weiß. Schließlich muss man sich immer mit anderen messen, die meist etwas völlig Gegensätzliches machen. Anschließend wird man von einer Jury bewertet oder eventuell sogar abgewertet. Nichtsdestotrotz war der Auftritt im Rabenhof Theater der größte ihrer bisherigen musikalischen Karriere. Der Song an sich ist ein Schrei danach, dass auch Frauen nicht nur genauso aggressiv sein dürfen, wie das bislang hauptsächlich männlichen Kollegen vorbehalten bleibt, nein sogar müssen. Er handelt aber ebenso vom Hadern mit persönlichen inneren Konflikten und soll die Zerrissenheit der Medien aufzeigen. Genau deswegen lässt sonic war so viel Raum für eigene Interpretationen offen, ein Songzitat: „Make a total massacre and leave no one behind“.

Um Post Period vollends zu verstehen, sollte man sie einmal gesehen haben. Ihr Auftreten, mit rebellischer Eleganz, verfeinert mit ihren stilvollen Gesichtsbemalungen lässt einen erst einmal staunen, regt zum Nachdenken an und bereitet Vorfreude auf das, was noch kommen wird. Die Verzierungen im Gesicht entstanden ur-sprünglich daraus, dass ein Bandmitglied längere Zeit ein blaues Auge hatte und dieses bei einem Auftritt kaschiert hat. Solidarisch mit ihr taten es ihr die beiden weiteren Frauen der Band gleich. Und weil es so viel positive Resonanz dazu gegeben hat, haben sie beschlossen es beizubehalten, was auch nicht weiter schlimm ist, da alle drei große Bowie-Fans sind. So wurde aus einer Not ein Ritual. Ein Ritual der Gemeinschaft, denn das gegenseitige Schminken vor einem Gig gibt ihnen Ruhe. So stimmen sie sich auf den bevorstehenden Auftritt ein. Mittlerweile ist es zu ihrem Markenzeichen geworden.

Post Period – die sich selbst auch als Stromgitarrenfrauenkapelle bezeichnen – sind trotzdem viel mehr als Frauen mit Kriegsbemalung. Als Frauenrockband setzten sie, ob gewollt oder ungewollt, sowieso ein Zeichen, denn manche Klischees bestehen immer noch: Schlagzeug, Bass und E-Gitarre sind keine typischen Frauen-Instrumente. Oft haben sie das zweifelhafte Kompliment gehört, dass sie für Frauen ja ganz gut spielen würden. Mit ihrem Auftreten sind sie nun dabei diese Stereotypen zu widerlegen und krachen chaotisch, aber authentisch, geradewegs in die Männer-Rockwelt der Stahlstadt.

Im September 2016 haben Post Period bei der Recording-Session Girls Rock Edition im Ann and Pat ihre ersten beiden Singles veröffentlicht, darunter findet sich auch die Nummer sonic war. Auch wenn es ihnen selbst mehr Freude bereitet live aufzutreten, haben sie mittlerweile genug Material gesammelt, um das erste Album auf-zunehmen. Die Zeit scheint reif zu sein. Fertig sein soll es noch im Sommer, denn da ist eine kleine Tour Richtung Deutschland geplant, ehe es wenig später weiter nach Italien gehen soll. Im Sommer in den Norden und im Herbst in den Süden. Dabei soll dann wiederum viel neue Musik entstehen. Wenn es nach ihnen geht, dann sind das im besten Fall Stücke, die in zwei Minuten fertig sind.

Derzeit wird noch eifrig gearbeitet. Einen Vorgeschmack auf das Album und die folgende Tour kann man sich aber schon live am 29. Juli Open-Air vor der Stadtwerkstatt holen. Man darf gespannt sein, wie Post Period im Sommer überraschen werden.

 

Post Period, 29. Juli, Stadtwerkstatt Open-Air

www.postperiod.at

Vernetzung, Bauchgefühl

Große Pläne werden geschmiedet. Zwei junge Männer aus Linz haben nichts Geringeres vor, als die junge Musikszene der Stadt neu zu vereinen. Daraus entstand der Gedanke für ein eigenes Label. Über Tentik Records berichtet Alexander Eigner.

Gegründet aus dem Gedanken, das Potential der jungen Künstlerinnen und Künstler der Stahlstadt zu bündeln, entstand Anfang des Jahres das Label Tentik Records. Der Name hat sich aus der Frage ergeben: Was ist das Wichtigste im Musikbusiness? Nach Meinung Tentiks ist das die Authentizität. Allerdings wird das Wort Authentizität, besonders bei wiederholtem Aussprechen, schnell zum Zungenbrecher. Es wurde einige Zeit gegrübelt, wie man dieses komplexe Wort etwas einfacher verpacken könne. Viele Ideen haben sich ergeben, aber letztendlich ist die Wahl auf eine simple phonetische Abkürzung gefallen: Tentik.

Hinter Tentik Records stecken Yuri Binder (19) und Kristian Fodor-Arus (20). Der Name Binder ist in Linz nicht unbekannt, so handelt es sich hier um den Sohn des Attwenger-Schlagzeugers/Sängers und Autors Markus Binder. Dass sich die nächste Generation auch ins Musikbusiness wagt, ist also wenig überraschend. Auch Kristian hat sich nach der Matura im letzten Jahr voll und ganz der Musik verschrieben. Zuletzt hat er sich verstärkt mit Rechtlichem in der Musik auseinandergesetzt. Beide sind sie, manchmal auch zusammen, in verschiedensten musikalischen Projekten unterwegs: Von Punk, Funk, Indie, Synth-Pop, Stoner-Rock bis Hip Hop und Rap haben sie einiges auf Lager. Sie scheuen es eben nicht, über die eigenen Grenzen hinweg zu blicken und Neues zu probieren – mit der Botschaft an die jungen Musikerinnen und Musiker der Stadt: Versucht euch in den musikalischen Bereichen, die euch Spaß machen. Seid aber auch offen für andere Sektoren der Musik.

Momentan umfasst Tentik Records sowohl die beiden Bands Slavica und Gerhard als auch den Rapper Cool K. Die aus vier Jungs bestehenden Slavica kombinieren auf ihrer ersten EP No contract geschickt den Rhythmus aus Synthesizer, Drums, Bass und Gitarre, um mit ihren prägnanten Texten die Welt ein bisschen auf den Arm zu nehmen. Gerhard umfasst insgesamt fünf junge Männer und eine junge Frau, die der Groove gepackt hat und die damit neuen Austrofunk kreieren. Auf der dazugehörigen EP Groove mit mir, stimmen sich der männliche und der weibliche Gesang ideal auf das markante Saxophon ein, wobei ein Sound entsteht, der einen – ja genau – eben grooven lässt. Mit Cool K gesellt sich auch noch ein Rapper zum Label. Unterstützt von Labelgründer Kristian Fodor-Arus erschaffen die beiden etwas, was sich am ehesten als Dialekt-Hip-Hop beschreiben lässt. Die EP – Karamel Karma weist auf eine interessante musikalische Entwicklung der urbanen Linzer-Szene hin.

Sie alle haben ihre erste EP bei Tentik Records veröffentlicht. Man muss allerdings erwähnen, dass sich Tentik Records noch am Anfang ihrer Arbeit befinden. Ebenso sollte man nicht vergessen, dass es sich um ein langfristiges Projekt handelt. Ganz entscheidend ist, dass das Label für alle Arten der Musik offen ist. Es soll eine Plattform entstehen, auf der sich Musiker*innen vereinen und vernetzen können. Rechtliches und musikalisches Know-how ist vorhanden. Und es bleibt sicher spannend, wie sich dieses Projekt weiterentwickelt. Die Idee dahinter ist ohne Zweifel toll: Junge Künstler*innen unterstützen sich gegenseitig. Dabei haben die beiden Labelgründer reichlich Vorarbeit geleistet. Nun muss das Projekt nach außen weitergetragen werden.

Weiter darf man auch gespannt sein, denn für den 12. Juni ist ein weiterer Release bei Tentik Records geplant. Der Gitarrist von Gerhard hat ein Solo-Projekt gestartet. Wie das klingen wird oder in welche Richtung er damit geht, verrät er noch nicht. Ebensowenig wird der Deckname dieses Projektes preisgegeben. Die Vorfreude auf frische Musik bleibt.

 

www.facebook.com/tentikrecords

Musik mehr als 4020

Klangwelten, die von einer thematischen Klammer gleichsam am Auseinanderdriften gehindert werden, Musik jenseits Neo-Biedermeier, MusikerInnen zwischen E und U – im Übrigen scheint Robert Stähr der Meinung zu sein, dass das Festival „4020 – Mehr als Musik“ bis zur heurigen Ausgabe 2017 die Grenzen mit assoziativer Leichtigkeit überwunden hat.

„Die andere Seite“ als Thema: Ein Kompositionsauftrag von 4020 ging an Judith Unterpertinger. Foto Michael Wegerer

„Die andere Seite“ als Thema: Ein Kompositionsauftrag von 4020 ging an Judith Unterpertinger. Foto Michael Wegerer

Er plane ein Musikfestival. Ein musikalisches Mehrspartenfestival, das „4020“ heißen werde, nach der Linzer Postleitzahl, mit Musikern aus Linz und Umgebung, erzählte mir Peter Leisch, es muss um 2000 herum gewesen sein. Leisch, bis heute für Förderungen zuständiger Abteilungsleiter am Kulturamt des Linzer Magistrats, startete „sein“ Festival, dessen Mastermind und Kurator er ebenso nach wie vor ist, im Jahr 2001 mit einem einwöchigen Parforceritt durch unterschiedliche musikalische Welten, welche von einer thematischen Klammer gleichsam am Auseinanderdriften gehindert wurden.

Dem Grundansatz – thematische Klammer, MusikerInnen und KomponistInnen aus dem Großraum Linz; musikalische Vielfalt jenseits von E und U, immer fernab eines wie immer definierten Mainstreams; begleitende Veranstaltungen („mehr als Musik“) – ist „4020“ bis in die Gegenwart treu geblieben, hat ihn freilich kontinuierlich weiterentwickelt. Ein nicht zuletzt atmosphärisch wirksames Charakteristikum des Festivals ist seit jeher die Bespielung unterschiedlicher Lokalitäten, deren Zentrum das Brucknerhaus ist. Die Linzer Synagoge, Kirchen, Lentos, Schlossmuseum, AEC sind weitere Veranstaltungsorte im Laufe der Geschichte des Festivals gewesen. Solcherart positioniert, hat „4020“ – obwohl zwischenzeitlich von verschiedenen Seiten in Frage gestellt – seinen speziellen Platz, seine Nische im „Kulturzirkus“ der oberösterreichischen Landeshauptstadt gefunden.

Vieles ist mir als Stammbesucher des Festivals erinnerlich: die zweite Ausgabe von 2002, in welcher sich der Bogen von Markus Hinterhäuser, ab 2017 Intendant der Salzburger Festspiele, der als Pianist im Alten Rathaus Kompositionen der bemerkenswerten russischen Komponistin Galina Ustwolskaja spielte, bis zum im Clubkontext bekannt gewordenen Crooner Louie Austen (Konzert im Cembrankeller) spannte. (In seiner Spannweite zwischen „Zeitgenössischer Musik“ und Pop ist „4020“ nur noch vergleichbar mit dem legendären Wiener Festival „Töne Gegentöne“, das der Ausnahme-Kulturjournalist Wolfgang Kos gemeinsam mit Edek Bartz zwischen 1983 und 1991 kuratierte.) Ebenfalls ein starker Eindruck waren die Auftritte des litauischen Komponisten Rytis Mazulis während der unter dem Thema „Minimal Maximal“ stehenden Ausgabe von 2008; er kombinierte mikrotonale Stücke für Computer und Streichquartett mit Kompositionen für ein Vokalensemble, das sein Konzert mit einer konzentrierten, archaisch anmutenden Choreographie verband. 2011 gestaltete eine für „4020“ zusammengestellte Gruppe von MusikerInnen im Veranstaltungssaal des neuen Südflügels des Schlossmuseums ein beginn- wie endloses Konzert mit einem Werk des tschechisch-amerikanischen Komponisten Petr Kotik nach Textfragmenten von Gertrude Stein, das nach knapp neunzig Minuten endete.

Seit 2015 ist das Brucknerhaus der alleinige Austragungsort des Musikfestivals, welches sich 2013 und 2015 dem kulturellen Raum des Nahen und Mittleren Ostens widmete. Kuratiert hat Leisch das heurige Festival gemeinsam mit der Musikwissenschaftlerin Marie-Theres Rudolph.

Die diesjährige Ausgabe von „4020 – Mehr als Musik“, das seit 2006 biennal stattfindet, öffnete, ergänzt durch einen Workshop mit SchülerInnen und Lesungen aus dem Roman, einen musikalischen Assoziationsraum zu Alfred Kubins „Die andere Seite“. Das Festival steht in einem gemeinsamen Veranstaltungsschwerpunkt rund um das Werk des Zeichners mit dem Linzer Musiktheater (Opernaufführung), der Landesgalerie (Ausstellung im wiedereröffneten Kubinkabinett und im Gotischen Zimmer) und dem Stifterhaus (Installation zu Briefen Kubins im Literaturmuseum).

Die vier Konzertabende folgten unter verschiedenen Überschriften (z. B. „Der Ruf“; „Im Bann“) jeweils einer ähnlichen Struktur: Sogenannte „Recitale“, in deren Rahmen Musiker wiederum vornehmlich aus dem vorderasiatischen Raum einzeln und in unterschiedlichen Konstellationen Stücke auf verschiedenen Instrumenten darboten, standen neben Konzerten mit Kammermusik: „Kubiniana I bis V“. In diesen von verschiedenen Ensembles gespielten, sorgfältig kuratierten Konzerten trafen Stücke von Komponisten der Klassischen Moderne auf Material aus weiter zurückliegenden Epochen der „Abendländischen Musik“ und (als Auftragswerk für „4020“ geschriebene) Kompositionen von Musikern aus dem Nahen und Mittleren Osten. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang der nicht auf vordergründige Kontrast-Effekte abzielende, äußerst durchdachte Charakter der „Kubiniana“-Konzerte.

Meinem Empfinden nach am ausgeprägtesten war dieser Charakter im Konzert des „Trio Weinmeister“ am letzten Abend zu spüren. Einzeln, im Duett und im Trio spielten die MusikerInnen – zwei Frauen, ein Mann – abwechselnd einzelne Sätze oder ganze Stücke für Streichinstrumente der Barockkomponisten Purcell, Gabrielli und Tartini sowie der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkenden Tonsetzer György Ligeti und Giacinto Scelsi. Das Alternieren zwischen „Barock“ und „Moderne“ spannte einen akustischen Raum („eine Architektur fragiler Klänge“) auf, in dem sich gedankliche wie emotionale Assoziationen entfalten konnten. Dieser verdichtete sich im Zusammenspiel mit den Positionswechseln der MusikerInnen zu einem überzeugenden Konzept, welches in keiner Minute aufgesetzt oder zu bedeutungsbeladen anmutete.

Unter den Solo-Konzerten hervorzuheben ist das Eröffnungskonzert mit der estnischen Musikerin und Komponistin Maarja Nuut. Ihre Stücke oszillierten zwischen folkloristischen Klängen, Ambient und Minimal Music; Verwandtschaften mit Musikerinnen wie der tschechischen Geigerin und Sängerin Iva Bittova kommen mir in den Sinn. Auch Maarja Nuut spielt Geige und singt, ihr zweites Saiteninstrument ist eine Art Fiedel. Zusätzlich setzt sie elektronisches Aufzeichnungsequipment ein, um – auf Basis live kreierter Loops – gleichsam „mit sich selbst“ zu spielen.

Das Gesamtkonzept des diesjährigen „4020“-Festivals war weder ein bloß vager „Ansatz“ noch ein rigides, mit Konzerten befülltes Programm-„Korsett“. Es schuf eine Plattform für verschiedene musikalische Konstellationen, die sich – wenn auch nicht immer ganz zwingend – mit Motiven und Stimmungen des einzigen Romans von Alfred Kubin assoziieren ließen. Der hier mehrfach bemühte assoziative Zugang erscheint mir insofern adäquat gewesen zu sein, als Kubins Text weniger durch seine narrative Struktur denn vielmehr seine sprachlichen Bildwelten, die wiederum eng mit seinem zeichnerischen Werk korrespondieren, zu beeindrucken vermag. An im Foyer des Brucknerhauses verteilten Hörstationen waren gelesene Textauszüge der „Anderen Seite“ zu hören.

Mit den Konzerten asiatischer Musiker setzten Peter Leisch und Marie-Theres Rudolph den in den letzten beiden Ausgaben des Festivals zum Thema gemachten Schwerpunkt unter anderem Vorzeichen fort. Hier wurde wieder der Beweis erbracht, dass Konzerte mit „ethnischer“ Musik auch außerhalb des boomenden „World Music“-Wanderzirkusses aufmerksame HörerInnen finden können. Dies- bzw. jenseits des damit oft verbundenen Post-„Flower Power“-Biedermeier forderten MusikerInnen und Instrumente zum Mit-Hören und Mit-Denken auf.

Im Übrigen bin ich nicht nur der Meinung, dass „4020 – mehr als Musik“ unbedingt fortgesetzt werden muss, sondern auch, dass die Institution Salzamt budgetären Einsparungen auf keinen Fall zum Opfer fallen darf.

 

Die andere Seite

Die diesjährige Ausgabe von „4020 – Mehr als Musik“ stellte Alfred Kubins wenig beachtete Tätigkeit als Autor mit ins Zentrum. Der Zeichner Kubin entwarf in seinem visionären Roman „Die andere Seite“ von 1908 eine Traumstadt namens Perle, sozusagen als Traumreich eines Überwachungsstaates, in dem Gut und Böse nicht zu unterscheiden sind. Dieses Werk inspirierte immer wieder Schriftsteller, Musiker und Künstler – so auch die Komponistin Judith Unterpertinger in einem Auftragswerk des Festivals 4020 oder Michael Obst in seiner Oper, die im Mai im Musiktheater uraufgeführt wurde und noch im Juni zu sehen ist.

„Die andere Seite“ als Thema des Festivals „4020“ stand und steht im weiteren Zusammenhang mit Ausstellungen rund um das Werk Alfred Kubins. In der Landesgalerie und im Stifterhaus sind dazu aktuell Präsentationen zu sehen.

 

www.festival4020.at

Stadtblick

Foto Die Referentin

Foto Die Referentin

Ein Stadtblick diesmal aus dem Innenraum des oberösterreichischen Architekturforums: Ausstellungsansicht von Charles Youngs Paperholm, in der von Rositza Alexandrova kuratierten Schau „BAUhahaHAUS. bebaut bewohnt belustigt“. Im afo, architekturforum oberösterreich, noch bis 17. Juni zu sehen.

Heimat bist du großer Töchter und starker Frauen!

Zum ersten Mal seit der Austragung einer Frauenfußball-Europameisterschaft (1984) hat sich das österreichische Frauen-Nationalteam dafür qualifiziert. Die Begeisterung ist groß und der ORF überträgt 25 Spiele, zumeist am Spartensender ORF Sport+. Eine kleine Sensation ist die Übertragung des ersten Frauenfußballspiels überhaupt in der Primetime des ORF eins am Samstag, den 22. Juli gegen Frankreich. Da gab es wohl einen Bewusstseinswandel. Danke der weiblichen Programmdirektorin! Ein Hoch auf die Quote!

Der Sportdirektor des ÖFB war nach der erfolgreichen Qualifikation im Herbst bei der Pressekonferenz sehr angetan von „seinen Mädels“. Eine Mitarbeiterin versicherte mir nach meiner schriftlichen Aufforderung, er möge doch mit seiner Verniedlichungsform aufhören und sich einer geschlechtergerechten Sprache bedienen, dass er die Frauen keineswegs abwerte. Sagen, aber nicht meinen … jaja … das unbewusste Verständnis über etwas oder jemanden lässt sich allerdings an der Sprache erkennen. Es besteht ein Unterschied, ob ich im eigenen Team zu anderen Frauen sage: „Gemma, Mädls“ oder ob dies von einem Mann als offizieller Funktionär des Verbandes bei einem öffentlichen Fernsehinterview geäußert wird.

Leider ist die Verniedlichungsform von Frauen – und somit das „Kleinmachen“ – oder das Reduzieren der Frauen auf sexualisierte Inhalte oder ihr Aussehen Usus in der Sportlandschaft. Gerne lässt mann die Frau überhaupt unerwähnt. Leidiges Thema Nationalhymne. Die Tatsache, dass jeder Mann von einer Tochter geboren wurde, ist noch nicht in den Köpfen angekommen. Auch mancher Frauen nicht. Sprache schafft eben Bewusstsein.

Geschichtsschreibung schafft Bewusstsein. Forschung schafft Bewusstsein. Und diese sind u. a. männlich besetzt. In der Archäologie ist mann früher, vor der genauen Geschlechtsbestimmung durch eine DNA-Analyse, sehr einfältig mit den Ausgrabungen umgegangen. Ein Grab mit Pfeilspitzen, Schwert oder Speer wurde als männlich deklariert, Skelette mit Schmuck oder Haushaltsgegenständen als weiblich. Die indoktrinierte Rollenverteilung wurde übernommen, ohne sie auch nur im Ansatz zu überdenken. Mann=Jäger, Krieger. Frau=Sammlerin, Köchin und Putze. Die Amazonen galten als Mythos, eine männliche erotische Phantasie, vor der sie sich zugleich fürchteten und ihnen ein nach dem Beischlaf männermordendes Attribut beifügten. In den südrussischen und ukrainischen Steppen, aber auch im Baltikum, in England, Deutschland und Skandinavien wurden antike Frauengräber mit Schmuck UND Waffen gefunden. Die Vorstellung einer kämpfenden Frau, die sich und ihre Sippe zu verteidigen weiß, kratzte wohl zu sehr am Ego der Männlichkeit und tut es noch immer.

Jahrtausende voller Frauenverachtung und Frauenhass sitzen verborgen, aber sattelfest in der Epigenetik der Menschen. Patriarchale Religionskonzepte verankerten diese tief und fest im Unterbewusstsein und dämonisierten die starke, selbstbestimmte und gelehrte Frau, die sich ihre Kraft und Macht nicht nehmen lässt, die Gleichberechtigung und Freiheit verlangt, die keine Angst hat vor ihrer Sinnlichkeit und überschäumenden Weiblichkeit und eine klare, kompromisslose Liebe verbreitet, die sehr erfrischend und leidenschaftlich ist. Diese archetypische Urkraft (Lilith) wird noch immer verfolgt, verdrängt und bekriegt. Das Ein-Gott-Prinzip mit seiner Leibfeindlichkeit verschärfte die Problematik. So wurde auch Pan, der Gott der wilden Natur, der Musik, Tanz und Fröhlichkeit liebte, verteufelt. Aber das ist wichtig für uns. Es ghert vü mehr tanzt! Und gsungen! Und glacht! Sich spüren im eigenen Körper. Der Körper ist so wunderbar, so sensationell, so phantastisch. Keine Angst. Ohne Körper wären wir nicht da. Der Körper als Ursprung der Welt und des Lebens. Heimat bist du großer Töchter und starker Frauen!

 

Buchtipp Comic: Liv Strömquist – Der Ursprung der Welt

befasst sich mit dem, was als „das weibliche Geschlechtsorgan“ bezeichnet wird und warum die Menschheit eine so unentspannte, borderline-mäßige Hassliebe mit diesem Körperteil verbindet. Informativ und extrem lustig.

UEFA Women’s EURO 2017: 16. Juli bis 6. August in den Niederlanden