Archiv für das Jahr: 2017
Buy the Ticket, Take the Ride
/0 Kommentare/in Kunst und Kultur/von Gerlinde RoidingerTheaterfestival für junges Publikum, mit Schäxpir in 10 Tagen um die Welt: Über das Schäxpir-Programm und über Vermittlung als fast künstlerische Form hat Gerlinde Roidinger mit Julia Ransmayr, einer der beiden Festivalintendantinnen, gesprochen.
Buy the ticket, take the ride! lese ich auf dem Youtube-Video eines Bloggers, der seine 10-tägige Reise um die Welt dokumentiert, welches mir kürzlich mein jugendlicher Cousin vor die Nase hält. Der Globetrotter verdiene damit seine Kohle, während er im Sommer-Outfit laufend vor der Kamera zu sehen ist und mich über den Handy-Screen mit Zitaten wie Above all, try something! oder Action expresses Priorities! und Do more! anheizt … und ich frage mich, diesbezüglich und anlässlich des heraufziehenden Schäxpir-Festivals: Warum als junger Mensch ins Theater gehen, wenn es das bisschen Spaß auch stündlich am eigenen Smartphone gibt und der digitale Er-Lebensraum ohnehin vor Inszenierungen und (Selbst-)Darstellung strotzt?
Warum Theater für junges Publikum? Das fragten sich auch Sara Ostertag und Julia Ransmayr, als sie im Herbst 2015 die künstlerische Leitung des Schäxpir-Festivals übernahmen und damit Stephan Rabls Nachfolge antraten. Entstanden ist ein 10-tägiges Programm für „alle“ – also generationenübergreifend – mit dem Schwerpunkt Vermittlung. Doppelt so viele TheaterpädagogInnen werden daher in „Aktion treten“, weniger um Theater zu erklären, als es mit weiterführenden Inputs anzureichern und um einen Dialog zwischen Publikum und TheatermacherInnen zu schaffen. Vermittlung soll dabei fast als eigene künstlerische Form verstanden, jedenfalls aber innerhalb des Theaterschaffens begreif- und erfahrbar gemacht werden. Als Kuratorin habe sie zwar eine Verantwortung gegenüber dem Publikum, so Julia Ransmayr, doch die Auseinandersetzung mit der Zielgruppe dürfe keinesfalls heißen: „Ich weiß genau, was du sehen willst.“ Für das Programm inspirieren ließen sich die beiden jungen Kuratorinnen vom gegenwärtigen Diskurs der performativen Künste, insbesondere von Belgien, Niederlande und Deutschland – Theaterländer, in denen die darstellenden Künste nicht nur großgeschrieben, sondern auch großzügig gefördert werden.
Die Zusammenarbeit von Theaterhäusern, freien Gruppen, PerformerInnen und Publikum spiegelt sich auch im Festivalthema „Wie wollen wir zusammen leben?“ wider, wobei wie gewohnt Inhalte aus der Erfahrungswelt junger Menschen wie Liebe, Sucht, Gewalt, Familie und Freunde im Mittelpunkt stehen. Erwähnenswert ist neben der Erweiterung der Spielstätten um die OÖ Landesbibliothek und die Anton Bruckner Privatuniversität das bereits seit 2016 laufende Residenz-Programm, bei dem Schäxpir mit den Theaterhäusern HETPALEIS (Belgien) und Maas theater en dans (Niederlande) kooperiert. Dabei arbeiten neun KünstlerInnen aus Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Marokko und Palästina zusammen, um an neuartigen Theaterkonzepten für Kinder zu forschen. Recherche und Proben dieses Pilotprojekts namens SECHSPLUS fanden in Rotterdam, Antwerpen und Linz statt. Bei der Auswahl des Teams, das sich ohne inhaltliche Vorgabe mit neuen Formaten des Theatermachens auseinandersetzt, wurde vor allem auf unterschiedliche Biografien der KünstlerInnen Wert gelegt.
Verschiedenartig sind in jedem Fall auch die partizipatorischen Formate, die zum Mit- und Theatermachen einladen und für die sich experimentierfreudige Menschen aller Altersgruppen bewerben konnten. Neben den workshopähnlichen Ateliers (zusammen bewegen, zusammen Utopien entwerfen und zusammen im öffentlichen Raum), bei denen mit den TeilnehmerInnen prozesshaft Stücke erarbeitet und in Form von Showings im Rahmen des Festivals gezeigt werden, konnten sich theateraffine Menschen für das offene Format Part of the Game Game zum Casting anmelden. Ähnlich einem Gesellschaftsspiel kann sich das Publikum durch ein riesiges Labyrinth „zocken“, um in den Levels à la Super Mario in direkten Kontakt mit den eingeweihten SpielerInnen zu treten. Die Idee dieses interaktiven Spiels stammt aus Graz und wurde von der Gruppe Das Planetenparty Prinzip und dem Theater am Ortweinplatz entwickelt. Völlig anders hingegen das Format der belgischen Künstlerin Audrey Dero, die in der Hip Hip Hip Kabine für jeweils nur eine Person performt und damit Theater auf kleinstem Raum, ähnlich einer Fotokabine, erlebbar macht. Noch etwas experimenteller und ebenfalls für die Festivaleröffnung angekündigt, dürfte das Stück „C“ sein, eine Musikperformance von Simon Løffler (Dänemark), die sich an alle mit Zähnen richtet und offensichtlich ein bissiges Klangerlebnis verspricht. Physisch wird es erfreulicherweise auch im tänzerischen Sinne, wenn De Dansers (Niederlande) und Theater Strahl (Deutschland) mit „The Basement“ stürmisch über den Tanzboden fegen und mit großer Leidenschaft jugendliche Gefühlswelten verkörpern …
… „Cool!“ sag ich jedenfalls zu meinem Cousin, während er kurz zurückgrinst und sich dann tippend einem seiner WhatsApp-Dialogen widmet, woraufhin ich mich in Gedanken über das Video verliere: Heißt „Do more!“, ich soll jetzt noch mehr von diesem Weltenbummler streamen oder mich ebenfalls in meine Turnschuhe schmeißen und versuchen „in Action“ mein Geld zu verdienen? Oder anders gefragt: Steht diese Form der Inszenierung tatsächlich in Konkurrenz mit dem (Jugend-) Theater, das mittels appellativer „Action“ Interesse zu wecken versucht? Und wenn ja, was bedeutet das? Und wer wird wohl zu diesem schönen Festival kommen und bei den wertvollen Workshops mitmachen, wenn „alle“ eingeladen sind?
Mein Cousin etwa, der hybride Smombie (= Smartphone + Zombie) in Dauer-Wischaktion mit enormen Multitasking-Kompetenzen und chronischem Konzentrationsverlust? Oder gar die selbstverliebten, über Nacht vom Himmel gefallenen Youtube-Teenie-Stars, die emotional-melancholischen Pop covern und die längst aus der Mode gekommenen Boygroups aus den 90ern ablösen? Oder deren Fans, die Selbstwert heischenden Social-User aus Twitter, WhatsApp, Instagram, Facebook und Tinder? Möglicherweise erfahren aber auch die Zocker- und Hacker-Kids auf nächtlichen LAN-Party-Camps davon? Oder vielleicht sind es eher die Kinder von diesen so genannten Helikopter-Eltern der Generation 50+, die von einem Event zum nächsten chauffiert und vor lauter Frei-Zeit-Aktivitäten keine Zeit frei haben, um selbst aktiv zu werden, also permanent passiv aktiviert werden und sich aufgrund fehlender Langeweile kaum der eigenen Fantasie hingeben können?
Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Doch sollten diese eben skizzierten, klischeehaften Kategorien von Jugendlichen in irgendeiner Form existent sein, so hoffe ich, dass sie sich unter das Publikum mischen, Betonung auf MISCHEN. Und vielleicht nimmt mich ja jemand von ihnen mit, oder umgekehrt. Wegen des generationenübergreifenden Schwerpunkts versteht sich. Und wegen der Partizipation. Wegen der Zeiten voller Action. Und wegen der gesellschaftlichen Teilhabe und der instinktiven Kompetenz, die wir den Jugendlichen so gerne zuschreiben, genauso wie das Interesse an Liebe, Sucht, Gewalt, Familie und Freunden – das uns so genannte Erwachsene aber am besten selbst oder mindestens genauso beschreibt. Vermittlung als künstlerische Form scheint das Gebot der Stunde. Und wir selbst lernen währenddessen. An dieser Stelle will ich mir das Above all, try something! des Youtubers tatsächlich zu Herzen nehmen und es gleich mal mit seinen Methoden versuchen, wenn auch ohne Turnschuhe: Also: Buy the ticket, take the ride!
Theaterfestival für junges Publikum
vom 22. Juni – 1. Juli 2017
Make it Count
[Casey Neistat, YouTube Blogger]
Spargelpipi – Pipispargel.
/0 Kommentare/in Kolumnen/von The Slow DudeVolle Breitseite gegen unsere geliebten Lebensmittelmultis. Gegen sinnlose Globalisierung und gegen die zynische Cent-Kalkulation, die auf dem Rücken heimischer ProduzentInnen ausgetragen wird.
Heimische Toiletten – ob privat oder öffentlich – riechen in den letzten Wochen oft unverkennbar nach dem durch die schwefelhaltige Carbonsäure Asparagusin C4H6O2S2 hervorgerufenen Spargel-Urin. Spargelzeit ist nicht nur eine Zeit des lukullischen Wiedererwachens – der Frühling herzt uns mit Frische überall –, sondern ist auch eine Zeit des Preiskampfes und Verdrängungswettbewerbs. So liefern sich die Lebensmittelkonzerne eine wahres Spargelbattle mit Spargel Grün und Weiß, Sauce Hollandaise und anderen Zusatzprodukten und Rezeptideen. Angeboten wird der Asparagus aber nicht aus heimischen Gefilden, sondern aus Chile und anderen Gebieten „just around the corner“. Dass Mangos und Papayas nicht im Innviertel oder im Eferdinger Becken gedeihen, ist wohl bekannt – aber Spargel ist im besten Sinn des Wortes ein Traditionsgemüse der Region. Und wieso, fragt der Slowdude, greift der Handel nicht auf lokale Ressourcen zurück?
Es kann nur einen Grund geben: den Preis. Denn der chilenische Spargel in allen Ehren: er ist alt, holzig und bitter. Pipispargel eben. Und eigentlich im Vergleich zur Marktware der regionalen AnbieterInnen sogar teurer. Hier trifft eindeutig kapitalistische Gier auf die Idiotie und mangelnde Selbstbestimmung der KonsumentInnen. Ein wenig befassen mit: wann ist was reif, wann bekomme ich Produkte lokal oder regional, täte allen HeimköchInnen doch ganz gut.
Stattdessen gibt man sich dem Rezept- und Angebotsdiktat der Lebensmittelmultis hin und nimmt alles stupid, wie es kommt. Und lässt sich vom schicken und Authentizität heuchelnden Auftritt der Multis einlullen. Der eine wirbt mit einem niedlichen Schweinchen und einem Biobauern, der nur der Dorflehrerin nachsteigt, der andere hat eine schlaues 3D-Börserl, das einem in das Wagerl schaut; und der große Dritte im Bund macht alles am „Ursprung“ fest und etabliert gleichzeitig eine Bäckereikillermaschine.
Der Slowdude rät: Geht auf den Markt, schaut auf die Anbaugebiete in eurer Umgebung und ihr werdet alle feststellen: Spargel ist göttlich. Spargel ist sinnlich. Und Spargel gibt es frisch und günstig von März bis Juni.
Noch was in eigener Sache: Der Slowdude ist kritisch und unfair. Und auch oft voreingenommen.
Die letzte Kolumne des Slowdude brachte heftige Reaktionen seitens der gastro-journalistischen KollegInnenschaft hervor. Hier war die Rede von „lästern, schimpfen und beflegeln“ von „Schrott“ und einer „fragwürdigen Kolumne“. Nun ja. Keep calm and carry on. Der Slow Dude ist halt ein Rock’n’Roll-Schreiberling, nimmt sich kein Blatt vor den Mund und legt den Finger in die Wunde. Die Beobachtungen sind natürlich subjektiv – ganz klar. Nur sind sie nicht frei erfunden, sondern fußen auf seiner intelligent analytischen Beobachtung. Und außerdem ist der Slowdude auch selbstkritisch und verträgt auch einiges. Alles ist gut.
Post von Lieselotte!
/0 Kommentare/in Mobilität/von Johannes StaudingerChristine Pavlic ist Künstlerin, Fahrradbotin und Kulturarbeiterin. Ein Tag ohne Fahrrad ist ihr mittlerweile fremd und sowieso kennt man sie schon einige Zeit, da sie mit ihrem Rennrad durch die Linzer Straßen fegt und Zustellungen erledigt. Über ihre Engagements plaudert sie mit Johannes Staudinger bei Jazz im Strom und einem musikalischen Ständchen von Kommando Elefant.
Als gebürtige Innsbruckerin, bist du damals schon mit dieser Fahrradaffinität nach Linz gekommen?
Gar nicht, weil ich habe in Innsbruck am Berg gewohnt, und da war es natürlich auch immer sehr mühsam. 2006 bin ich weggezogen, bevor der ganze Radsport-Hype nach Innsbruck gekommen ist. Ich war ein paar Mal mountainbiken, aber das war irgendwie nicht das meine. Nein, ich bin eigentlich total spät zum Radfahren gekommen, mit meinem Projekt der Lieselotte Maier hat es angefangen (Anm.: Kunstobjekt eines fahrradbetriebenen Katamarans). Weil ich draufgekommen bin, wie genial Räder sind, wie einfach sie sind, weil man sie so schnell verstehen kann und gut nutzen kann. Ursprünglich wollte ich ein Boot bauen und das Fahrrad ist dann als Mittel zum Zweck zum Einsatz gekommen. Da hab ich begonnen, mich mit Fahrrädern auseinanderzusetzen.
In welchem Kontext ist es zu dem Projekt mit dem Fahrradboot Lieselotte Maier gekommen und wie kamst du dann zu den Linzer Fahrradboten?
Angefangen hat es 2011 mit einer Vorlesung bei Leo Schatzl auf der Uni. Dort ist es um Wasser und öffentlichen Raum gegangen. Daraus ist die Idee entstanden, machen wir uns einfach unser eigenes Boot und veranstalten dann ein Wettrennen, also eine eigene Kür, welches Boot eleganter ist. Ich hab mich ab dem Zeitpunkt total reingefreakt, wobei ich am Ende die einzige war, die ein Boot gebaut hatte. Mir hat es aber so getaugt, ich hab dann gleich zwei Monate durchgebaut und viel Zeit aufgewendet. Dadurch konnte ich Kontakt zu vielen Radlleuten aufbauen. 2014 hab ich dann das Diplom gemacht und mir das erste Rennrad gekauft. Ein Pinarello, das war super! Nach drei Monaten war ich Fahrradbotin. Mich hat es voll ins Radfahren reingezogen! Eine Freundin, die vorher die einzige Radlbotin in Linz war, hat mich gefragt, ob ich nicht Fahrradbotin werden möchte. Ich hab noch gezögert, nein, nein, und dann doch, OK, ich mach es, voll cool!
Du bist dann gleich für die Green Pedals gefahren?
Ja!
Wie oft bist du als Botin im Einsatz?
Jetzt nur mehr einen Tag in der Woche. Früher bin ich zwei, drei Tage gefahren und jetzt mit meinem Job geht das einfach nicht mehr. Irgendwann muss man sich halt auch entscheiden.
Wie sieht euer Dienstplan aus?
Wir sind ein fixes Team, das heißt, es gibt einen fixen Plan mit kleinen Abweichungen. Wenn ich zum Beispiel an einem Montag nicht kann, springt jemand anderer ein. Wir sind ja nur zu zehnt, das heißt, es ist alles sehr familiär. Ein Arbeitstag dauert von acht bis siebzehn Uhr, man kann aber auch einen halben Tag bis eins fahren.
Welche Transporte werden von euch abgewickelt?
Kunden sind Druckereien, Grafikbüros, aber auch Ärzte, wo verschiedene Proben durch die Stadt transportiert werden. Es gibt Touren, da fährt man vier, fünf Ärzte an, und bringt dann die Proben zu einem Krankenhaus. Drucksorten, Dokumente, Blumen, Hüte, alles Mögliche transportieren wir. Ich hab sogar schon ein Gebiss transportiert.
Mittlerweile werden bei euch auch Lastenräder eingesetzt?
Ja, mit denen können wir bis zu 100 Kilo transportieren. Aber 100 Kilo hängen sich an. Wir haben nicht viele Fahrten mit so schweren Lasten, aber das ist dann schon eher grenzwertig. Das Gewicht muss ausbalanciert werden, aber es geht. Tagtäglich möchte ich nicht mit 100 Kilo herumfahren.
Was hältst du von dieser ganzen Lastenfahrradwelle? Mittlerweile steigen ja auch die großen Logistikfirmen auf Lastenfahrräder um?
Prinzipiell ist das super. Jedes Auto weniger, jedes Radl mehr auf der Straße ist super! Ist immer auch die Frage, wo es sich hin entwickelt. Bei der letzten Fahrradboten-Meisterschaft in Kopenhagen hab ich mir gedacht, cool, das ist dort einfach so selbstverständlich, da gibt es Lastenfahrradparkplätze vor den Geschäften, mit eingezeichneten Lastenfahrrädern am Boden. Aber auch bei uns in Linz sieht man jetzt schon viele Familien mit Kindern drinnen. Das ist in den letzten zwei Jahren erst so richtig gekommen. Es ist natürlich auch ein großes wirtschaftliches Interesse dahinter. Das wird es immer geben, aber für die Stadt und den Straßenverkehr finde ich es gut! Der Straßenverkehr in Linz ist natürlich etwas traurig, da muss sich was ändern.
Man muss sich als Radfahrer in Linz auch seinen Platz schaffen!
Wenn man als Radbote fährt und die ganze Zeit viel auf der Straße ist, da ärgert man sich nicht die ganze Zeit, da sucht man sich den schnellsten und einfachsten Weg. Während dem Botenfahren ärgere ich mich viel weniger über schlechte Radwege, als wenn ich privat fahre. Der Fahrstil als Botin ist einfach anders. Wenn du acht Stunden mit dem Fahrrad fährst, da fährst du anders. Da bleibst du nicht immer stehen und fährst auf dem Radweg und suchst dir einen gemütlichen Weg, sondern du fährst einfach.
Wie viele Frauen fahren bei den Linzer Fahrradboten?
Ich bin zwei Jahre alleine gefahren. Insgesamt sind wir jetzt bei Green Pedals und Veloteam zwischen sechs und acht Frauen. Was echt super ist, weil wie ich die zwei Jahre alleine gefahren bin, war das schon deprimierend. Es macht schon einen Unterschied, wenn mehr Frauen fahren. Weil, wenn einfach ständig mehr Frauen als Boten zu den Kunden kommen, dann ist das nicht mehr so was Besonderes. Es ist einfach normal. Früher gab es immer wieder so Sprüche, wo ich mir gedacht habe, in welchem Jahrhundert leben wir? Man merkt den Unterschied, dass es jetzt besser wird.
Du wirst weiterhin Fahrradbotin bleiben?
Derweil schon, es ist jetzt zwar etwas knapp von der Zeit, weil ich gerade meinen Diplomabschluss mache. Aber ich werde es sicher nicht aufgeben. Jetzt kommt ja dann die OERBM, die österreichische Radbotenmeisterschaft nach Linz.
Was kann man sich von der OERBM 2017 erwarten?
Eine super Location, die Postcity am Linzer Hauptbahnhof, und eine Mischung zwischen Sport und Fahrradkultur, es gibt eine Kunstausstellung in der Stadtwerkstatt, Partys, Goldsprint, Bikepolo, Mainrace, Forum, … Stattfinden wird das Ganze von Freitag, 23. bis Sonntag, 25. Juni!
Du bist auch bei der Bike Kitchen in der KAPU engagiert?
Ja, es gibt recht tolle, neue Tendenzen, nämlich, dass es ein paar motivierte Frauen gibt, die mehr Energie investieren wollen, und im Moment gibt es immer wieder FLIT-Workshops (Anm.: FLIT steht für Frauen, Lesben, Inter, Trans). Hierbei geht es darum, einen Raum zu schaffen, um Workshops anzubieten, in einem ruhigen Rahmen, wo Fahrrad-Basics erklärt und diskutiert werden. Jeden letzten Donnerstag im Monat treffen sich speziell Frauen bei der Bike Kitchen, sie kommen aus den unterschiedlichsten Bereichen, und es sind immer zwischen fünf und fünfzehn Teilnehmerinnen dabei. Das finde ich ziemlich lässig, dass es auch darum geht, möglichst vielen Leuten die Sicherheit zu geben bzw. ihnen beizubringen, sich das eigene Rad wieder selber herzurichten, die Basics kennenzulernen und weiterführend auch Spaß an der Maschine zu haben, dass es eine so easy Maschine ist, die so vielseitig nutzbar ist. Oder zum Beispiel auch, das taugt mir voll, haben einige von uns aus alten Laufrädern eine riesige Kuppel, Felge an Felge, gebaut, die dann einfach mit Bohnen und Hopfen bepflanzt wurde, ein begrüntes Laufradgebilde, das dann einfach mehr ist als das Fahrrad, das einen von A nach B bringt.
Am Ende stieß die Band Kommando Elefant vor ihrem Auftritt in der Stadtwerkstatt zu unserem Interview hinzu. Sie intonierten den 50 Jahre alten Klassiker „Bike“ von Pink Floyd: I’ve got a bike. You can ride it if you like. It’s got a basket, a bell that rings and things to make it look good. …
Lieselotte Maier: lieselottemaier.blogspot.co.at
OERBM 2017: oerbm2017.sccm.at
Fahrradbotendienst Green Pedals: www.greenpedals.at
Fahrradbotendienst Veloteam: veloteam.at
Steel City Cycle Messengers: www.sccm.at
Neue Förderung der Stadt Linz für Lastenfahrräder und Fahrradanhänger: www.linz.at
Die Stadt Linz unterstützt Privatpersonen, Fahrgemeinschaften, Betriebe/Organisationen (mit Standort bzw. Hauptwohnsitz in Linz) beim Kauf von Lastenfahrrädern, Elektro-Lastenfahrrädern und Fahrradanhängern.
Das Professionelle Publikum*
/0 Kommentare/in Termine/von Die ReferentinDie Redaktion bedankt sich bei Alexander Baratsits, Astrid Benzer, Jakob Dietrich, Ira Goldbecher, Tobias Hagleitner, Gottfried Hattinger, Klaudia Kreslehner, Cornelia Lehner und Ingo Leindecker für die Veranstaltungstipps und wünscht einen schönen Sommer!
* Das Professionelle Publikum ist eine pro Ausgabe wechselnde Gruppe an Personen aus Kunst und Kultur, die von der Redaktion eingeladen wird, für den jeweiligen Geltungszeitraum Veranstaltungsempfehlungen für unsere Leserinnen und Leser zu geben.
Alexander Baratsits
ist Jurist, Aktivist der Plattform Mediana, Legal Lead Creative Commons Österreich, Orga-Team Netzpolitischer Abend.
Tipps:
mediana17 – Konferenz zu Medien, Kultur & Demokratie
epicenter.works
Astrid Benzer
arbeitet im Crossover-Dschungel von Kunst und Grafik.
Tipps:
Festival der Regionen „Was war …“
King Rocko Schamoni & Tex M. Strzoda
Jakob Dietrich
Künstler, betreibt gemeinsam mit Kai Maier-Rothe den Kunstraum MEMPHIS, Teil des Künstler*innen-Kollektivs qujOchÖ, unterrichtet an der Kunstuniversität Linz und der Johannes Kepler Universität Linz.
Tipps:
FICTIONS (NOT THAT TENDER)
Sound-Performance Dead Plants and Living Objects
Ira Goldbecher
ist 1984 in Deutschland geboren, Studium der Theaterwissenschaft/Englischen Literatur in Leipzig und Leeds. Über verschiedene Stationen kam sie 2013 als Dramaturgin an das Landestheater Linz, wo sie Produktionen der Sparte Tanz und Oper betreut.
Tipps:
Die andere Seite
SCHÄXPIR – Internationales Theaterfestival für junges Publikum
Tobias Hagleitner
schreibt über Architektur, macht Ausstellungen, etwas Kunst und ein bisschen Musik.
Tipps:
WEGE ZUM GLÜCK
Schauspielhaus schauen!
Gottfried Hattinger,
freiberuflicher kultureller Auftrags- und Saisonarbeiter, derzeit (noch) künstlerischer Leiter des Festivals der Regionen.
Tipps:
Miet Warlop: Fruits of Labor
Pierre Berthel & Rie Nakajima: Dead Plant and Living Objects
Klaudia Kreslehner
ist Kuratorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei den Museen der Stadt Linz, aktuell erforscht sie diverse WEGE ZUM GLÜCK.
Tipps:
Eröffnungsfest der Ausstellung WEGE ZUM GLÜCK.
Ausstellung Simón Vega: Tropical Space Proyectos Presents: Third World Spaceships
Cornelia Lehner
arbeitet und forscht im Feld der Kunst-/Kulturvermittlung, seit Juli 2016 ist sie die Festivalleiterin des SCHÄXPIR Theaterfestivals für junges Publikum.
Tipps:
SCHÄXPIR – Internationales Theaterfestival für junges Publikum „C“
Kinderuni Linz – fragen, forschen, wissen wollen
Ingo Leindecker
ist Künstler, Kulturaktivist, Webentwickler und Mitglied des Kollektivs KOMPOTT. Er lebt und arbeitet in Linz.
Tipps:
FINDING KOSOVO
mediana17 – Konferenz zu Medien, Kultur & Demokratie
Tipps von Die Referentin
Tipps:
Stadtwerkstatt Donaustrand
Smartonomy. Mobility without Fingerprints?
oktolog17 Abschlussveranstaltung
Editorial
/0 Kommentare/in Editorial/von Die ReferentinVom Cover blickt dieses Mal Gertrude Avi: Möglicherweise 1982 gerade mit ihrem Mercedes am Gelände des Urfahraner Marktes angekommen, ist sie Mitglied einer derjenigen Schaustellerfamilien, die Fahrgeschäfte für Jahrmärkte betreiben. Anlässlich der Ausstellung „Urfahraner Markt – 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“ haben wir Veronika Barnaš gebeten, speziell über die abenteurerischen wie unternehmerischen Lebensrealitäten dieser Berufsgruppe zu schreiben.
Es ist uns eine besondere Freude, in dieser Ausgabe zwei Textauszüge abdrucken zu können, die man vielleicht von „Faction-Roman“ bis hin zu einer literarischen Odyssee, in der „alles erfunden, aber nichts Fiktion“ ist, in einem Satz zusammenfassten könnte. Es handelt sich damit um die wunderbaren Texte aus Walter Kohls „Out Demons Out“ und Lisa Spalts „Die zwei Henriettas – Eine Odyssee“. Vom Inhalt und literarischem Ansatz sind diese beiden aktuell erschienen Bücher sicherlich grundverschieden. Jedoch entfliehen sie, jedes auf seine Weise, einer allzu simplen vorgefundenen Realität: Ist Spalts Buch ohnehin als Odyssee angelegt, ins Netz, in Vergangenheit und auf einen anderen Kontinent, so verhalf Kohl in den 60er und 70er Jahren der Psychedelik-Rock-Berserker Edgar Broughton, mitten in der österreichischen Enge, den größeren, weiteren Horizont zu entdecken.
Es geht weiter mit zwei Festivals, auf die wir hinweisen möchten: So hat Pamela Neuwirth bereits im Vorfeld von Crossing Europe die Filme der diesjährigen Filmkünstler Anke und Wilhelm Sasnal gesehen, denen heuer das Tribute gewidmet ist. Und natürlich ist Next Comic das zweite Festival, das wir als Must in unserer Frühjahrausgabe betrachten: Hier stellte uns Anna Haifisch diejenige Arbeit aus ihrer Artist-Serie zur Verfügung, die den Artist ins kühle Eis verfrachtet. Während sie selbst sich, man darf es sagen, als Next Comic-Artist-in-Residence im Salzamt pudelwohl fühlt.
Eine letzte inhaltliche Klammer hier am Ende dieses Editorials: Widmet sich Silvana Steinbacher in ihrem Interview mit Christoph Leitgeb der Angst, dem Fremden und dem Unheimlichen an sich, mit einem besonderen Fokus auf die Literatur, geht es im Interview mit Helena Waldmann auf tänzerische Weise zur Sache. In Waldmanns Stück, das bei den Posthof Tanztagen gezeigt wird, entspinnt sich – laut des noch während der Stückerarbeitung geführten Interviews – ein symbolisches Battle zwischen zeitgenössischen TänzerInnen und Artisten des „neuen Zirkus“. Neben der ungewöhnlichen, jedoch höchst bildhaften Entsprechung auf die feinen kulturellen Unterschiede geht es im Stück jedoch auch vielmehr um Bewertung, die Angst vor dem Fremden, um Grenzen und das Comeback von Mauern.
Wir meinen: Es geht in dieser Ausgabe, positiv gesprochen, also ums Fahren, Fliehen, Überwinden. Und stellen außerdem fest: Selbst so manches Inserat ziert diesmal eine Mauer.
Ihre Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz
Fahren, Fahren, Fahren.
/0 Kommentare/in Kunst und Kultur/von Veronika BarnašDas Schöne am Eintauchen in ein vermeintlich lokales kulturgeschichtliches Thema ist, welche Vielzahl an unerwarteten Welten sich eröffnen. Das erlebte Veronika Barnaš während der Mitarbeit an der Ausstellung „Urfahraner Markt – 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“. Für die Referentin schrieb sie über oberösterreichische SchaustellerInnen – von Urfahr bis in den „Orient“.
Beim Blick hinter die Kulissen des größten Jahrmarkts Österreichs war die größte Überraschung für mich die Entdeckung der Berufsgruppe der SchaustellerInnen. Als solche bezeichnen sich die BesitzerInnen und BetreiberInnen der unterschiedlichen Fahrgeschäfte wie Kettenkarussell, Autodrom, Riesenrad und Hochschaubahn sowie von diversen Schießbuden. Dass der Wiener Prater z. B. seit Generationen von einigen wenigen Schausteller-Familien betrieben wird, die dort auch leben, ist landläufig bekannt. Die Frage, wer die Kettenkarusselle und Autodrome auf den Kirtagen, Stadt- und Dorffesten sowie Weihnachtsmärkten betreibt, kam mir allerdings nie in den Sinn.
Die bewegten (Familien-)Geschichten, die sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nachvollziehen lassen und die sich in verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen widerspiegeln, sowie die Verwandtschaft der oberösterreichischen Schausteller-Familien untereinander, kamen zur Überraschung hinzu.
Wer kennt heute noch die „Erste europäische Todeskugelfahrerin“ Theresia Sonnberger – eine der fünf Sonnberger-Schwestern? Aus einer alten Schaustellerfamilie stammend, trat sie in den 1930ern mit Heinrich Straßmeier sehr erfolgreich unter dem Künstlernamen „Heinz und Gitta Gordon“ auf. Mit Motorrädern in einer Stahlkugel fahrend unterhielten sie die BesucherInnen – „Stirbt heute eine/r oder nicht?“ Theresia Sonnberger verließ zwar das Metier und wurde „privat“, ihre Schwester Olga heiratete allerdings in die Schausteller-Familie Rieger. Eine weitere der „Sonnberger-Girls“, Aloisia, heiratet wiederum Heinrich Straßmeier und auch ihre Nachfahren sind heute noch am Urfahraner Markt tätig.
Oder wer kennt heute noch die Geschichte von Johannes Mayerott (1840–1909), der mit seinem „Panorama“ (einer Vorstufe der Kinematografie) 30 Jahre lang durch Europa und bis den „Orient“ reiste? Das Panorama war ein in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts populäres Freizeitvergnügen. Es ermöglichte mehreren Personen gleichzeitig, stereoskopische Bilderserien in automatischer Abfolge durch ein Guckloch zu betrachten. Gezeigt wurden hauptsächlich exotische, aber auch erotische Motive. Mit der Erfindung der Kinematographie im Jahr 1895 ging die Zeit der Panoramen zu Ende. 1905 stellte Johannes Mayerott den Betrieb ein und starb 1909 in Urfahr. Seine Töchter Auguste, Franziska und Emma führten das Gewerbe der fahrenden Schaustellerinnen in unterschiedlichster Weise fort – Auguste Seitz betrieb ein Wanderkino, während ihre Schwester Emma Strobl u. a. als Wolfsdompteurin auftrat.
Auch den Ururenkel von Johannes Mayerott zog es sehr weit in die Welt hinaus: Erich Avi und seine Frau Elfriede fuhren, in den 1990er-Jahren, sieben Jahre lang mit dem selbsterfundenen Fahrgeschäft „Typhoon“ (600 qm Grundfläche, 200 t) über Hamburg und Antwerpen nach Zypern, wo sie mehrere Jahre Station machten. Der Anlass bzw. Auslöser für die Reise war simpel wie drängend – endlich der Kälte im Wohnwagen in den österreichischen Gefilden zu entkommen. Danach fuhren die Avis durch den Nahen Osten, mit Stationen u. a. im Libanon, Oman, Katar und Bahrain und weiter über Dubai bis nach China. Dort lebten und arbeiteten sie eineinhalb Jahre in Shanghai und Peking. Alles ohne vorherige Sprach- und Ortskenntnisse, natürlich selbst am Steuer der tonnenschweren Lastenzüge und mit dem Ziel, zumindest genügend Geschäft für den Rücktransport zu verdienen (rund 150 000 Euro). Die sogenannten „Rekommandier-Kommandos“ („Kommen Sie! Steigen Sie ein! Bitte anschnallen!“ etc.) wurden von Elfriede Avi von z. B. arabischer Lautschrift abgelesen. Mit dabei immer zwei Reisepässe und das gesamte Bargeld am Körper, um gegebenenfalls rasch das Land verlassen zu können, was sich zumindest einmal als notwendig erwies. Im Nahen und Fernen Osten herrschen andere Gesetze. In China verkaufte das Ehepaar Avi schließlich „Typhoon“, welches heute noch in Dubai in Betrieb ist. Heute betreiben sie noch einige Kindergeschäfte u. a. am Urfahraner Markt und die Ideen für neue gehen ihnen nicht aus.
Natürlich sind dies zwei sehr außergewöhnliche Geschichten, bei der die Faszination neben der Abenteuerlust der SchaustellerInnen, wohl nicht zuletzt mit den Klischees und dem Sehnsuchtsort des „Orients“ zusammenhängt.
Die sicher auch abenteuerliche wie typische Route oberösterreichischer SchaustellerInnen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts führte vom Urfahraner Frühjahrsmarkt über Ried, Kufstein, Wörgl und Schwaz wieder zurück nach Wels und Ried. Der Urfahraner Herbstmarkt im Oktober markierte für viele das Ende der Saison. Die größere Tour folgte immer der Sonne nach – im Sommer über Villach in den Norden nach Deutschland und im Herbst über den Brenner nach (Süd-)Italien, wo man gerne den Winter verbrachte. Im Winter wurden die Fahrgeschäfte und Wohnwagen repariert und teilweise auch Saisonarbeit angenommen. Bis in die 1930er-Jahre reisten die SchaustellerInnen oft nur mit von Pferden gezogenen Wohn- und Lastenwagen (auch über die Alpen). Später wurden die Wohnwägen und Fahrgeschäfte mittels Zug transportiert. Die Kinder waren selbstverständlich immer dabei, mussten/durften mitarbeiten und lernten das Handwerk und Geschäft von der Pike auf. Dieser Umstand brachte mit sich, dass Kinder und Jugendliche bis in die 1970er-Jahre offizielle „WanderschülerInnen“ waren, was bedeutete, dass sie oft alle paar Tage, je nach Jahrmärkten und Route, die Schule wechselten. Schulstempel dokumentieren dies im sogenannten „Wanderschulbuch“. Die WanderschülerInnen waren beliebte KlassenkollegInnen, da sie natürlich auch Jetons verteilten und so Freifahrten ermöglichten. Ab der Mitte der 1970er-Jahre war das WanderschülerInnenleben dann zu Ende und wurde durch ein anderes Extrem ersetzt – das Internat.
In den Gesprächen mit den verschiedenen SchaustellerInnen bestätigte sich auch, dass sie lange mit den Stereotypen und Vorurteilen des so genannten „Fahrenden Volkes“ – im positiven wie negativen Sinne – assoziiert und konfrontiert wurden. Früher wurden unter diesem Begriff zahlreiche Professionen zusammengefasst wie mobile HändlerInnen, wandernde Heilkundige, Quacksalber, Theater- und Puppenspieler und Artisten wie Seiltänzer, Athleten oder Zauberer.
Die „Freiheit“ des Unterwegsseins, das Risiko, das Spektakel und das „Fremde“, mitunter Exotische, das sie lebten und in entlegene Ortschaften brachten, hatte seinen Reiz. Ihre durch und durch „anti-bürgerliche“ Lebensweise wurde zugleich mit Sehnsucht und Abwehr belegt. Und doch waren SchaustellerInnen durch ihre Hautfarbe und Sprache und nicht zuletzt durch die entsprechenden Lizenzen und Genehmigungen anerkannt, „zugehörig“. Ganz im Gegensatz zu vielen Roma und Sinti, die v. a. als fahrende Händler arbeiteten. Diese hatten kaum Genehmigungen oder Staatsbürgerschaften, was sich nach dem Überleben und Ende des Zweiten Weltkriegs als fatal für ihren weiteren Lebensweg herausstellte. Die österreichische Bürokratie verweigerte ihnen ob der „fehlenden“ Nachweise teilweise bis in die 1990er-Jahre die Staatsbürgerschaft, und somit auch Gewerbelizenzen, verunmöglichte also legales Arbeiten. Schausteller-Familien besitzen übrigens bis heute Wanderbücher, in denen man Route und Standorte durch offizielle Stempel von Gemeinden bis über 150 Jahre zurückverfolgen und nachweisen kann.
Viele der Schausteller-Familien erwarben erst ab den 1950er-Jahren Grund und wurden oft erst in den 1970er-Jahren quasi sesshaft. Christine Avi (geb. Schlader) verkaufte z. B. über amerikanische Besatzungssoldaten ein Pferdekarussell in die USA und konnte dadurch einen Grund in Wels erwerben, auf dem dann ein Wohnhaus und Lager gebaut wurde.
Die Rolle der Schaustellerinnen und Frauen von Schaustellern war schon immer eine starke und sehr präsente, und dies nicht erst seit dem Männermangel während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. Sie waren und sind nicht nur für Kinder und Haushalt verantwortlich, sondern auch in alle Bereiche des Unternehmens eingebunden – als Buchhalterin, Logistikerin, Erfinderin, Lastwagenfahrerin, Kassiererin und mehrsprachige Rekommandeurin am Mikrofon.
Bei den zahlreichen Gesprächen mit den zwei Familien Schlader (Linz und Wels), Avi, Gschwandtner, Straßmeier und Rieger wurde immer wieder erwähnt, dass sie alle irgendwie verwandt seien. Einen gemeinsamen Stammbaum gäbe es aber nicht. Ob meiner Leidenschaft in unterschiedlichster Form mit und zu Biographien sowie Lebenswegen zu arbeiten, war dies gleich ein besonderer Reiz. Nach und nach, wie ein Puzzle und durch viele Telefonate konnte ich die erste Fassung eines gemeinsamen Stammbaums von einigen oberösterreichischen Schausteller-Familien erstellen: ausgehend von Georg Schlader (1841–1847) und seiner Gattin Theresia (geb. Juretka, 1847–1928), deren Nachfahren die Familien Schlader (Wels und Linz) und Gschwandtner sind, die durch Heirat mit den Familien Avi, Bachmair und Wiesbauer verbunden sind, sowie auch mit den Familien Deisenhammer und Schorn verwandt. Die erste Version dieses Stammbaums ist neben zahlreichen Photos, Dokumenten, Interviews und Exponaten von und zu den Schausteller-Familien in der Ausstellung „Urfahraner Markt. 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“ im NORDICO Stadtmuseum Linz zu sehen und kann dort auch ergänzt und erweitert werden.
Was allen Schausteller-Familien, die ich traf, gemein ist, ist eine ungebrochene Leidenschaft für ihren Beruf, der starke Familienzusammenhalt, eine große Menschenfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Außerdem ein gewisser Stolz auf ihre Berufsgruppe, der sich nicht zuletzt dadurch ausdrückt, dass zugeheiratete Personen, die nicht aus Schausteller-Familien stammen, „Private“ genannt werden. Der oder die sei ja „von Privat“.
Trotz der Begeisterung für ihr Metier erteilen sie geschlossen einer falschen Romantik eine Absage. Sie sind UnternehmerInnen, die seit dem Aufkommen der Kinderfahrgeschäfte auf Weihnachtsmärkten und der inzwischen zahlreichen Nachfrage von Firmenfeiern quasi das ganze Jahr arbeiten. Teils unter widrigsten (Wetter-) Bedingungen und weder Gewinn noch Verlust des Tages wirklich voraussehend. Und vor allem fahren sie weiterhin. Inzwischen allerdings sternförmig von ihrem jeweiligen Wohnsitz weg (u. a. Wels, Linz, Traun, Marchtrenk) und mit entsprechend schweren und modernen Lastenzügen.
Ihr Geschäft ist es, weiterhin die Leute glücklich zu machen.
Veronika Barnaš arbeitete bei der Ausstellung „Urfahraner Markt. 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“ im NORDICO Stadtmuseum Linz im kuratorischen Team gemeinsam mit Andrea Bina und Georg Thiel sowie als Redakteurin für den Ausstellungskatalog. Für die Ausstellung hat sie, an einem Berührungspunkt zur eigenen künstlerischen Arbeit, eine erste Fassung eines gemeinsamen Stammbaums von einigen oberösterreichischen Schausteller-Familien erstellt, der ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. Die Referentin hat Veronika Barnaš gebeten, quasi von hinter den Kulissen des Jahrmarkts zu berichten, und speziell an der Überscheidung zu den eigenen künstlerischen Interessen ganz konkret über die Schausteller-Familien zu schreiben.
Veronika Barnaš ist Künstlerin, Kuratorin und Projektentwicklerin. Sie arbeitet forschend, orts-/kontextbezogen und genreübergreifend (Bildende Kunst/Literatur/Theater) – von Inszenierungen und Bühnenbildern über Installationen bis hin zu Mappings von historisch-biografischen Zusammenhängen („Subjektive Kartographien“). Produktionen für das Volkstheater Wien: u. a. Ich bin Zeuge! (Ge-)denksoirée zu den Novemberpogromen 1938, 2014; Ich gehe. Ein szenisches Essay nach Texten von Brigitte Schwaiger, 2013; Auftauchen gemeinsam mit Julya Rabinowich, 2010. Sowie freie Produktionen: u. a. Souvenir. Subjektive Kartographien von Israel (2013–), unORTnung – Eine Ausstellungsreihe in Wien (2006–2010).
Geboren 1978 in Wien. 1999–2006 Studium an der Kunstuniversität Linz – Meisterklasse „Metall“ und MA in der Studienrichtung „raum & designstrategien“. Seit 2014 Univ. Ass. für Künstlerische Praxis am Institut für Kunst und Bildung, Kunstuniversität Linz. Lebt und arbeitet in Wien und Linz.
Ausstellung
„Urfahraner Markt. 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“
NORDICO Stadtmuseum Linz
3. Februar bis 21. Mai 2017
Katalog
Andrea Bina, Georg Thiel
Urfahraner Markt
200 Jahre Linzer Lustbarkeiten
Herausgeber: NORDICO Stadtmuseum Linz
ISBN: 978-3-7025-0859-3
Verlag Anton Pustet, Salzburg
Wenn ein Toter plötzlich niesen muss …
/0 Kommentare/in Kunst und Kultur/von Silvana SteinbacherWodurch entsteht das sogenannte Unheimliche? Durch das Fremde, wenig Vertraute? Sigmund Freud vertritt eine entgegengesetzte These und formuliert in seinem Essay Das Unheimliche eine erstaunliche Erkenntnis: Unheimlich kann nur sein, was uns einst vertraut und nahe war. Den in Linz lebenden Literaturwissenschaftler Christoph Leitgeb interessiert in literarischen Texten vor allem das Unheimliche der Erinnerung an den Nationalsozialismus.
Das Unheimliche begleitet Christoph Leitgeb schon seit vielen Jahren. Derzeit schreibt er an einem Buch zu Unheimlichkeit und Erinnerung, das nächstes Jahr erscheinen wird. In seinem letzten Buch arbeitete Leitgeb über Ironie. Das Unheimliche und das Komische der Ironie sieht er aber keineswegs als Widerspruch. Wir treffen uns an einem Sonntagnachmittag, es sollte ursprünglich ein Gespräch über sein neues Buch und seine Forschungsarbeit zum Unheimlichen in der Literatur werden, doch bald drängen sich auch andere Themen auf, und so spannen wir gemeinsam einen Bogen in die aktuelle Gegenwart. Christoph Leitgeb analysiert den gezielten Einsatz des Begriffs Flüchtlingswelle, die Fremdheit der Herrschenden, das Bedürfnis nach dosierter Angst und was es bedeutet, wenn ein Toter auf der Bühne plötzlich niesen muss.
Du beschäftigst dich in deiner wissenschaftlichen Arbeit derzeit mit dem Begriff des „Unheimlichen“, was versteht man darunter?
Da gibt es mehrere mögliche und sinnvolle Definitionen. Allgemein geht es um ein Grenzphänomen zwischen zwei Bereichen oder Räumen, einem bekannten und einem nicht bekannten, und die Theoretiker des Unheimlichen gehen davon aus, dass bei der Grenzverletzung Angst auftritt. Freud etwa vertrat spezifisch die These, dass Verdrängtes Angst auslöst. Wenn Elemente, die ins Unbewusste verdrängt wurden, wiederkehren, entsteht Angst, der Grund der Verdrängung wird bewusst und löst dann das Unheimliche aus. Alle im weitesten Sinn psychoanalytischen Definitionen des Unheimlichen arbeiten mit einem Begriff der Angst. Philosophinnen und Philosophen wie etwa Jacques Derrida haben die Bestimmung der beiden Räume aber später modifiziert und weniger psychoanalytisch als kulturtheoretisch interpretiert.
Du analysierst in diesem Zusammenhang hauptsächlich literarische Texte, auf welchen Begriff des Unheimlichen fokussierst du dabei?
Eigentlich möchte ich mich nicht wirklich für eine eigene, einheitliche Definition des Unheimlichen entscheiden. Das klingt unseriös, aber vielleicht kann ich das am Beispiel von Ilse Aichinger erklären. In Kleist, Moos, Fasane hat sie eine Poetologie der Angst vertreten. „Die Stille zur Angst mißbrauchen“ (1954); „Jeden Tag mit Grauen und unabgeschwächter Angst beginnen, kein schlechter Rat“ (1971); das sind so ein paar ihrer Tagebuchnotizen diesbezüglich. In ihrem Werk findet sich die Angst ständig, der Begriff kehrt immer wieder.
Ist Ilse Aichinger in dieser Hinsicht herausragend?
Ja, es gibt wenige Autorinnen und Autoren, die sich so fundamental auf ihre Angst berufen. Ein Ansatz könnte nun darin bestehen, diese Angst auf den Moment zu beziehen, als ihre Großmutter ins Konzentrationslager deportiert wurde, das war der Moment, in dem Wien für sie als Heimat ins Unheimliche gekippt ist. Ilse Aichinger wurde auch von ihrer Zwillingsschwester Helga, die nach England geflohen ist, getrennt; sie ist zurückgeblieben, um ihre Mutter vor den Rassengesetzen zu schützen.
Freud nennt zum Unheimlichen den Ödipuskomplex, das ist für ihn eine allgemeine Formel für: ein Trieb wird verdrängt und kehrt als Unheimliches wieder. Aichingers Vater – er stammte übrigens aus Linz – hätte Mutter und Tochter schützen können und hat sie verlassen, auch hier könnte eine psychoanalytische Interpretation der Angst ansetzen. Diese Möglichkeit der Interpretation möchte ich anbieten, aber zugleich andere Möglichkeiten offenhalten.
Wenn Ilse Aichinger in ihrer Erzählsammlung Schlechte Wörter heimische Balkone unheimlich macht, dann kann man das in diesem Rahmen psychoanalytisch deuten, sich aber auch die Frage stellen: Warum ausgerechnet Balkone? Der Text Zweifel an Balkonen stammt aus den frühen 1970er-Jahren, ich lese ihn trotzdem als eine Replik auf den Beginn der Zweiten Republik, auf den Balkon, von dem Leopold Figl die Zweite Republik verkündet hat. Für Menschen mit der Vergangenheit Aichingers musste dieser Gründungsakt unheimlich sein, der einen neuen Staat gleichsam im Handstreich mit der Stunde null beginnt. Der Text wäre also Replik auf die Wiederkehr einer „Verdrängung“ innerhalb der Kultur, und diese Interpretation ist mit einem theoriegeschichtlich späteren Begriff des Unheimlichen, mit Derrida etwa, besser zu fassen als mit Freud.
Freud verortet das Unheimliche im Bereich des Eigenen, was zunächst erstaunt. Wenn wir die heutigen Ängste betrachten, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich das Unheimliche zum überwiegenden Teil nicht auf das Bekannte, sondern auf das Fremde bezieht. Ist da eine Situation mit veränderten Vorzeichen entstanden?
Naja. Dieses Problem drückt sich am direktesten in Theorien des Postkolonialismus aus, die mit der psychoanalytischen Tradition davon ausgehen, dass man sich das „Eigene“, also auch das Persönlichste, Individuellste nicht ohne den Blick in den Spiegel des Anderen bewusst machen kann. Das Unheimliche der kolonialen Situation – beispielsweise für Engländer in Indien – ist, dass die Kolonialisierten nicht einfach „die Fremden“, „die Anderen“ bleiben. Situationsabhängig beginnen sie, sich in einer Art Mimikry anzupassen, und sie beginnen zugleich, ein schwer ausrechenbarer Spiegel für das „Eigene“ zu sein: Für den Kolonialherrn ist weniger der fremd gebliebene, traditionelle indische Bauer unheimlich als der angestellte Lakai, der im englischen Anzug steckt und Englisch mit merkwürdigem Akzent spricht.
Um das also auf die jetzige Situation zu übertragen: Wenn uns syrische oder afghanische Männer ängstigen, dann ist es vielleicht am wenigsten das Syrische oder Afghanische an diesen Menschen, das uns unheimlich ist. Darüber wissen die meisten von uns wirklich konkret auch fast nichts. Aber was wir in ihnen wie in einem Zerrspiegel erkennen, ist zum Beispiel ein kultureller und ökonomischer Anpassungsdruck, unter dem nicht nur sie stehen und vielleicht auch ihre rückwärtsgewandte Orientierung auf den Krieg. So angedeutet, ist das Wiedererkennen des Eigenen im Unheimlichen vielleicht zu abstrakt und abgehoben von der jeweiligen Situation. Aber es ist nie einfach nur „das Fremde“, das uns unheimlich ist.
Ich selbst habe drei Jahre in Japan gelebt und fand das Land weniger unheimlich als etwa England oder Tschechien. Für Japan setzte ich voraus, dass dort alles völlig fremd ist. In Japan glaubte ich von vornherein zu wissen, dass ein Lächeln etwas anderes bedeutet als bei uns. Darauf bin ich in England oder Tschechien nicht vorbereitet. Und gerade, wenn dann das Lächeln in einer Situation doch etwas anderes bedeutet, kann es unheimlich wirken.
Du beschäftigst dich in deiner Forschung vor allem mit Autorinnen und Autoren, die sich literarisch mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen, wieso gerade dieser Bereich?
Die österreichische Literaturwissenschaft hat sich mit einigen dieser Texte von Lebert über Jelinek bis Haderlap schon ausführlicher beschäftigt. Wenn man diese Texte also durch die Brille des Unheimlichen neu beschreibt und interpretiert, dann muss sich diese Interpretation zugleich vor einer bestimmten Forschungstradition bewähren.
Der jüngst verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman hat den Zustand einer permanenten, unbestimmten Angst in der Gesellschaft als „Titanic-Syndrom“ beschrieben: als Gefühl, durch eine dünne, tragende Oberfläche durchzubrechen und in der Tiefe des Meeres zu verschwinden. Findest du dieses Bild auch in der Literatur?
Mit den Bildern der „dünnen Membran“ und des „Ozeanischen“ hat auch schon Freud den Übergang vom Bewussten ins Unbewusste beschrieben. Die Meeresmetaphorik findet man in Texten über Krieg und Holocaust, auch in der österreichischen Literatur. Maja Haderlap beschreibt in Engel des Vergessens, wie ihre slowenische Protagonistin die Kärntner Täler wahrnimmt, als seien sie in einem Eispanzer eingeschlossen, über den Krabben, Schnecken und Quallen kriechen. Sie kehrt das Bild also um und beschreibt das Ozeanische als Überschwemmung. Und auch diese Metapher taucht in der Alltagssprache auf, wenn wir zusätzlich zur „Überschwemmung“ an das Bild des „Flüchtlingsstroms“ oder an die „Flüchtlingswelle“ denken. Solche Bilder wirken unheimlich und kanalisieren Angst.
Seit einigen Jahren boomt die Kriminalliteratur. Zusätzlich ist ein Trend festzustellen, dass besonders grausame Krimis, wie sie auch aus dem Norden zu uns schwappen, besonders erfolgreich sind. Könnte ein Erklärungsversuch dafür auch darin bestehen, dass ein vom Leben irritiertes oder verängstigtes Publikum seine Angst durch unheimliche Lektüre kontrollieren möchte? Kann man sich durch die Fiktion von realer Angst distanzieren?
Ja, so würde ich diesen Krimiboom erklären. Angst, die man oft gar nicht fassen, geschweige denn aussprechen kann, wird auf die unheimliche Lektüre projiziert. Man kann dann die Angst mit der Gewalt in der Fiktion dem Anschein nach ausagieren und die Lösung des Krimis beseitigt das Unheimliche dann schließlich ganz, wenn auch fiktiv. Der Soziologe Luc Boltanski hat in einem seiner Bücher vor allem klassische Krimis analysiert. Er behauptet, dass die Lust am Krimi dadurch entsteht, dass die scheinbar vertraute Wirklichkeit durch das Rätsel des Kriminalfalls unheimlich gemacht wird. Regeln werden außer Kraft gesetzt, im Unheimlichen wird die sichere, langweilige Wirklichkeit zur Welt erweitert. Und durch die Auflösung des Falls kippt alles wieder ins Vertraute, der Krimi ist konservativ.
In einem deiner Bücher thematisierst du zentral die Ironie, siehst du eine Verwandtschaft zwischen dem Unheimlichen und der Ironie?
Eine bestimmte Sicht der Ironie gab mir den Impuls, mich mit dem Unheimlichen zu beschäftigen. Robert Pfaller zitiert in seinem Buch Die Illusionen der anderen das Beispiel eines Schauspielers, der als Toter auf der Bühne liegt und plötzlich niesen muss. Diese Situation kann für Theaterbesucher komisch sein, sie kann aber auch unheimlich sein für jene, die in der Theaterillusion befangen sind.
Christoph Leitgeb, Univ. Doz. Für Neuere deutsche Literatur, Literaturwissenschaftler, wissenschaftlicher Redakteur der Zeitschrift Sprachkunst.
Literatur sagt …
/0 Kommentare/in Rubrik/von Lisa Spalt„… aber im Anfang“, sagst du, „war das Wort, und das Wort war eine Mordsgeschichte in einer dieser Umsonstzeitungen, die neuerdings die ganze Stadt bedecken. Ja, sie sind dafür gemacht, zu- und nicht aufzudecken, und siehe, das Wort wurde wahr.“
Zitat vom Beginn von „Die zwei Henriettas. Eine Odysse“ von Lisa Spalt.
The Sun. The Sun blinded me.
/0 Kommentare/in Kunst und Kultur/von Pamela NeuwirthDas Tribute beim diesjährigen Filmfestival Crossing Europe ist Anka und Wilhelm Sasnal gewidmet. Pamela Neuwirth hat den diesjährigen Eröffnungsfilm The Sun bereits gesehen und einen Blick auf das Filmschaffen des Regie-Ehepaares geworfen. Politische Haltung, Polen, die Tristesse am Land und ein unverhohlenes Interesse an den menschlich dunklen Seiten: Wegen Vieldeutigkeit und existenzieller Offenheit der Filme garantiert kein Spoileralarm.
Wenn The Sun mit einer Sequenz zweier aufeinandertreffender, trauriger, sich nicht weiter bekannter Männer, deren Wege sich ebenso abrupt wieder trennen, beginnt, ist noch nicht offensichtlich, warum gerade diese Geschichte als Eröffnungsfilm des Crossing Europe Filmfestival ausgesucht ist. Das Vexierspiel aus Angst und Konvention und Verrat entspinnt sich erst langsam mit dem laufenden Protagonisten; nennen wir den Helden im Folgenden den Läufer. Er, der Läufer, der jeden Tag seine Runden dreht, gerät in einen Sog, in den er sich weitgehend unkommentiert und scheinbar unbeteiligt hineinziehen lässt. Später werden andere die tödliche Eskalation erklären und als Nichtbeteiligte die Tat und ihn richten. Dem KünstlerInnenpaar Anka und Wilhelm Sasnal, die neben der bildenden Kunst (Wilhelm Sasnal) Spielfilme wie auch Kurzfilme produzieren, haben mit dem heurigen Eröffnungsfilm von Crossing Europe einen Rückgriff auf das 1942 erschienene Buch Der Fremde von Albert Camus gemacht und eine filmische Neuadaption realisiert. Der Fremde ist die Geschichte eines Mordes. Camus’ Geschichte und deren Tatort haben die Filmemacher Sasnal für The Sun. The Sun blinded me an einen namenlosen Strand im heutigen Polen verlegt, das, wie jedes andere Land und jede andere Gesellschaft in Europa, mit den aktuellen Migrationsentwicklungen zurechtkommen muss. Das Polen der Sasnals ist ein enges Gehäuse aus Staatsreligion und ihrer orthodoxen Riten, aus xenophoben Gerede über Ebola und „den Ukrainern“, das während einer Feier beim polnischen Barbecue unverhohlen ausbricht. Das Heilige trifft auf das Profane, wobei die beiden naturgemäß gegensätzlichen Pole – an anderer Stelle auch in der Figur des Pfarrers vereint – ins Bodenlose zu stürzen scheinen. In der Stille seines kleinen Lebens wird der Geistliche ohne seine heiligen Insignien etwa zum gewöhnlichen Menschen, der in Unterhosen sein Käsebrot isst und zu viel Aftershave benutzt, bevor er später wortreich die Auferstehung verkündet. Erlösung, Mitgefühl und Gnade, Werte, denen der Geistliche und seine fromme Schar bei einem Begräbnis huldigen, werden letztlich niemandem zuteil und reduzieren sich auf Konventionen und Rituale. Nur der eingangs erwähnte Läufer schweigt und läuft emotionslos seinem Schicksal entgegen, das mit dem Fremden auf geheimnisvolle Weise verbunden scheint. Durch die Filmkunst des polnischen Regie-Paars ist die Erzählung nahe an die Untiefen der Gesellschaft herangeführt. Ein Kunstgriff ist es auch, dass jener, der vordergründig Schuld auf sich geladen hat, seltsamerweise – um in der religiösen Diktion zu bleiben – davon trotzdem unbefleckt scheint. Es gibt Dinge und Verhältnisse im Leben, die nicht begründet und auch durch Urteile nicht mit Sicherheit geklärt werden können. Die Dinge und Verhältnisse sind meistens größer, als es das Individuum ist und sie verweisen sehr oft auf gesellschaftliche Kräfte im Hintergrund. So bleibt das Motiv der Tat eines Vereinzelten vordergründig rätselhaft und kann auch vor der Gerichtsbarkeit nur mit unzureichenden Gründen erklärt werden: The Sun. The Sun blinded me. Es wird jemand anderer die Runden des Läufers im Weltgeschehen drehen müssen.
Von der Idylle des Landlebens freilich kann man sich beim Eintritt ins Kino auch bei Swineherd (2008) verabschieden. Swineherd versteht sich als Referenz auf das gleichnamige Märchen von Hans Christian Andersen und ist im Film als absurd-perverser Kosmos auf einem fast normalen polnischen Bauernhof angesiedelt. Swineherd ist ein Paralleluniversum, indem die Währung der Menschen aus Brotkrumen und Habseligkeiten besteht, die man sich heimlich zusteckt oder stiehlt. Swineherd erzählt vom technologiefreien Leben, von Kitteln und Hosentaschen, die als Kommunikationskanäle für Zettelchen dienen – falls man kein Analphabet ist. Swineherd zeigt eine Welt, in der der Bauer längst selbst zum Knecht degradiert worden ist und trotzdem das Hegelsche Herr-Knecht-Verhältnis weiterspielt. Und so vom Gutsbesitzer-Knecht kontrolliert, entwickelt auch das rare soziale Leben seine täglichen Heimsuchungen und Sabotagen, wodurch auch das einzige moderne Kommunikationsgerät – ein Radio – bald ertränkt wird, somit niemand sich daran erfreuen kann. Wer hat etwas zu sagen und wer ist der Gute in der Geschichte vom Schweinehirten? Ist es der dem Gutsbesitzer-Knecht unterstellte junge Knecht-Knecht, der mit einem Stock im sprichwörtlichen Trüben fischt und doch nur Nazi-Devotionalien aus dem Schlammloch angelt? Sind es die jungen Leute, die ein Dorffest veranstalten und von Hippie- bis neuerer Musik beschallt, etwas zu sagen haben? Die Jugend, das Fest, ein Musikant in Lumpen, der des Weges kommt und später in einer eigentümlichen Bondage-Variante im Schweinestall zurückgelassen wird – Szenen in Schwarz/Weiß zwischen unverputzten Häusern, Stacheldraht, Nutztieren, seltsamen Stillleben aus Wurst auf Brot auf Hut, und ein noch merkwürdigeres Ende als Ausstieg: Nur ein bisschen Swing aus dem ertränkten Radio und vielleicht könnte die Flucht aus der Trostlosigkeit letztlich doch noch gelingen?
In Polen bleibt es auch in drei weiteren Filmen rätselhaft: It Looks Pretty Nice From A Distance, ein Film von 2011, stellt keine eindeutige Aussage in den Vordergrund. Verfremdete Geräusche und zumeist Stille halten eine sich grausam am ländlichen und menschlichen Minimum dahinentwickelnde Geschichte in der Schwebe. Eine Stringenz der Erzählung wird auch durch eine fast aufgehoben wirkende Zeit verunmöglicht. Dass auch so das klassische Anfang-Mitte-Schluss-Paradigma des Films aufgehoben wird, kann jedoch das Filmpublikum näher an ihre eigene Lebensrealität heranführen, wo diese Scheinordnungen ja trotzdem auch nur schwerlich existieren. Alexander (2013) zeigt ebenso, jedoch etwas freundlicher, die ländliche Lebenswelt als Niemandsland in der polnischen Weite, Menschen organisieren im Familienbund ihren Alltag. Die heute wieder vielfach verklärte Natürlichkeit des Landlebens wird uns nüchtern vor Augen geführt. Beispielsweise wird die Schlachtung eines Hasen minutiös dokumentiert: als Anatomie des Lebens und des Sterbens. Und last, but not least: Parasite, der 2014 übrigens seine Österreich-Premiere bei Crossing Europe hatte, ist wiederum ein Film, in dem die menschliche Existenz in ihrer Endlichkeit reflektiert wird. Das Leben eines Säuglings wird gegengeschnitten mit dem Leben eines alten Mannes, der mal in der schmutzigen Fabrik, dann im sterilen Krankenhaus zu sehen ist. Der Gegensatz fällt dort zusammen, wo das Künstlerpaar betont, mit wie wenig die Menschen von Beginn bis zum Ende zurechtkommen müssen. Er wird für einen kurzen surrealen Moment, der fast wie auf ein Gemälde gebannt wirkt, zärtlich, wo der alte Mensch mit dem Baby auf der Brust zu sehen ist. Der Trost auf einen Kreislauf des Lebens wird jedoch gleich wieder auf Reverse gesetzt: als künstlerisches Stilmittel kehrt etwa der aufsteigende Fabriksrauch aus dem Schornstein wieder in diesen zurück.
Neben den fünf Spielfilmen präsentiert Crossing Europe auch Kurzfilme aus dem Sasnal-Kosmos. Allen Filmen des Regieduos liegt zwar ein gemeinsamer existentieller Ton zugrunde, oftmals spielen diese Kurzfilme aber nicht im ländlichen Polen und an seinem existenziellen Minimum. Sondern es spielt sich neben der Tristesse etwas Kreatives in den Vordergrund, immer taucht da auch etwas klar Lebensbejahendes auf, mit der eine Schwierigkeit überwunden wird: Mit dem Skateboard über ein zuvor abgesägtes Autodach fahren, mit Protest der Unterdrückung begegnen – popkulturelle Bezüge und Freiheitsgefühl helfen aus der Enge eines regulierten Lebens. Ein Werk, das insgesamt am feinen Grat zwischen Pessimismus, Dystopie und existenzieller Offenheit angesiedelt ist.
Crossing Europe findet 25.–30. April in Linz statt.
Das umfangreiche Programm findet sich auf crossingeurope.at
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Die Referentin #31
März/April/Mai 2023
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Die nächste Ausgabe der Referentin erscheint am 2. Juni 2023
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- In Cars We Trust
- 120 Jahre Kampf: Enthüllung eines Aufstands
- Arbeitstitel Trapped in the Playground
- Das mit dem großen Schornstein
- Diversität und Resilienz – Stifter als moderner Autor
- The Floor is Lava
- Kochen in der lokalen Medienlandschaft.
- Du hast Polizei, ich hab Freund*innen dabei
- Die kleine Referentin
- Mitleid für das digitale Baby
- Longing for Home, Schwabo
- Alles immer wieder anfangen
- Zum Rostigen Esel
- Das Professionelle Publikum
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