Die kleine Referentin

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Als gäbe es kein Morgen

Tagsüber arbeiten sie als Redakteure oder Wissenschaftlerinnen, alle in prekären Anstellungs-Verhältnissen, in ihrer Freizeit verlieren sie sich in Drogen, Fetisch, Partys und Sex. Dass die Geschichte in Berlin angesiedelt ist, ist natürlich kein Zufall: Ines Schütz über die broken people in Marianne Jungmaiers Buch „Sonnenkönige“.

Sonnemkönig Buchcover

„Das Buch ist für mich ein Experiment“, sagt Marianne Jungmaier über ihren zweiten Roman „Sonnenkönige“. „Ich habe einen anderen Stil probiert und andere Themen, die nicht einfach sind.“ Im Grunde ist jedes ihrer Bücher ein solches Experiment, ihre beiden Bände mit Kurzprosa „Die Farbe des Herbstholzes“ (2012) und „Sommernomaden“ (2016) genauso wie ihr Lyrikband „harlots im Herzen“ (2014) und die Romane „Tortenprotokoll“ (2015) und eben „Sonnenkönige“ (2018). „Mir war es ein Anliegen“, so Jungmaier weiter, „wie ich das bei allen meinen Büchern mache, dass ich eine Lebenssituation nachzeichne, die ich interessant gefunden habe, als ich sie beobachtet habe.“

In „Tortenprotokoll“ war das die Lebenssituation einer Familie, die ein sogenanntes bodenständiges Leben auf dem Land führt, die tut, was sich gehört, aber nicht miteinander reden kann. Der Roman steigt ein mit einem Verlust, mit dem Tod der Großmutter. Friederike, die gleichnamige Enkelin, macht sich auf den Weg aus der Großstadt Berlin ins elterliche Dorf, um mit ihrem Freund aus Kindertagen in Erinnerungen zu kramen, dabei stoßen die beiden auf ein Bild der Großmutter, das ihnen völlig neu ist. Während sich alle Familienmitglieder an die nie ausgesprochene, aber gelebte Maxime der Großmutter „nie zu viel streicheln, nie zu viel lieben“ zu halten scheinen, „sich mit Schlagobers den Mund stopfen, Konflikte mit Buttercreme zuschmieren, Torten und Strudel zu essen, um nicht reden zu müssen“, finden sich ausgerechnet im abgegriffenen Rezeptbuch der Großmutter, von der Familie ehrfurchtsvoll „Tortenprotokoll“ genannt, zärtliche Liebesbriefe eines Mannes, der nicht der Großvater gewesen sein kann und zeugen von einem Leben, das die Großmutter verborgen vor allen gelebt hat.

Davon, dass ein Leben, das man vor und mit anderen führt, nicht unbedingt das eigentliche sein muss, erzählt auch der Roman „Sonnenkönige“, so unterschiedlich er stilistisch, perspektivisch und thematisch auch ist. Inhaltlich dockt das Buch an die unter dem Titel „Sommernomaden“ erschienenen Stories an, die vom Reisen erzählen, von der Lust an der Freiheit, am Unterwegssein und daran, einander (oder auch sich selbst) zu begegnen und wieder zu verlieren. „Sonnenkönige“ erzählt aus der Sicht Aidans ebenfalls von einer Art Unterwegs-Sein, von einem Leben im Flow. Marianne Jungmaier bezeichnet ihre Hauptfigur als drifter, „er hat nicht wirklich Halt in seinem Leben. Er hat einen Job, der nicht sicher ist, eine Beziehung, die nicht sicher ist und eine Wohnung, die nicht sicher ist.“ Alles Rahmenbedingungen für ein Leben von Menschen um die Dreißig, wie die Autorin sie oft beobachten konnte. „Es sind Charaktere, denen ich auch in meiner Generation, in der Jetzt-Zeit oft begegne: sich nicht einlassen wollen, alles ist käuflich, alles ist vergänglich, unverbindliche Beziehungen – das ist heute Normalzustand geworden und das wollte ich auch zeigen“.

Aidan und Hannah sind ein Paar, die Freundinnen Sam und Cherry auch. Miteinander haben sie eine Art Familie kreiert, ihr Lebensmittelpunkt ist eine WG in Berlin. Tagsüber arbeiten sie als Redakteure oder Wissenschaftlerinnen, alle in prekären Anstellungs-Verhältnissen, in ihrer Freizeit verlieren sie sich in Drogen, Fetisch, Partys und Sex. Dass die Geschichte in Berlin angesiedelt ist, ist natürlich kein Zufall: Es gehe in ihrem Buch um „broken people, die alle auf der Scholle Berlin gelandet sind“, so Jungmaier, und „in Berlin ist das relativ aufgelegt. Wenn man dort lebt und ausgeht, oder auch wenn man sich mit Sexualität auseinandersetzt, kommt man schnell in Berührung mit dieser Szene.“ Themen, mit denen sich Jungmaier in diesem Roman auseinandersetzt und „die nicht einfach sind“, sind Sexualität und Gender, eine Lebenssituation, die sie interessant gefunden hat, als sie sie beobachtet hat, ist das Paralleluniversum einer Subkultur in Berlin. „Die Hauptcharakterinnen(!), Sam und Cherry, führen eine BDSM Beziehung. Für mich war das wichtig, dass in meinem Buch eben Frauen mit einer starken Sexualität, die sie selbst gewählt haben, vorkommen, und dass ich zwei Frauen, die zusammen sind, darstelle. Für mich ist das in den Medien noch zu wenig vertreten: dass Frauen eine selbstbestimmte, selbstgewählte Sexualität ausleben.“ So sehr die Beziehung dieser beiden Frauen auf den ersten Blick von dem abweicht, was gemeinhin als klassische Paarbeziehung bezeichnet wird, so sehr ähnelt sie ihr in ihrem Prinzip: nämlich dass zwei Menschen aufeinander bezogen sind. Das ist ein Ausnahmefall im Meer von offenen Beziehungen, wie sie im Roman beschrieben werden. „Es war aber auch ein Berliner Problem“, heißt es hier. „Jeder hier war polyamourös, aber kaum jemand meinte es so. Die meisten wollten sich einfach nicht festlegen“.

Aidans Beziehung mit Hannah geht, trotz aller Offenheit, in die Brüche. Zum einen deshalb, weil er eine Festanstellung bekommt, wie sie sich auch Hannah erhofft, und er ihr, obwohl sie qualifizierter ist, damit im Verlagshaus vorgezogen wird. Zum anderen, weil er bei einer Party Bill kennenlernt, in den er sich sofort verliebt. Gemeinsam mit ihm will er seinen Traum, den er bis dahin im „Hobbykeller“ verfolgt und vor seinen Mitbewohnerinnen geheim gehalten hat, verwirklichen: Er will einen Drachen aus Eschenholz bauen, ihn zum Favilla-Festival nach Nevada bringen und ihn dort verbrennen. Im zweiten Teil des Buches, übertitelt mit „San Francisco – Favilla“, wird die Suche nach Rausch und Ekstase, nach dem Verlust von sich selbst auf die Spitze getrieben, gespiegelt in der Surrealität einer Festival-Stadt (angelehnt an „Burning Man“), einer mehrere Tage dauernden riesigen Party, zu der Leute aus aller Welt in die Wüste kommen. „Es ist total abgefahren“, so Hannah im Roman. „Du gehst verloren. Im Festival, aber auch dir selbst. Und trotzdem ist es ein Nachhause-Kommen. In deine Community, zu deinen Leuten. Und du kannst einfach du selbst sein“.

Mit „Sonnenkönige“ hat Marianne Jungmaier ein Buch über Menschen geschrieben, die an der Oberfläche leben, die sich treiben lassen. Genau das wollte sie auch. Ihre „Figuren leben in einer Hybris, in ihrer eigenen Blase, in ihrem eigenen Sein, ihrem ‚Wir sind die Größten in unserer Welt‘. Sie leben, als gäbe es kein Morgen; es gibt nie den Gedanken ‚Was macht das mit mir, was ich gerade tue?‘“

Dass eine solche Entscheidung für eine Welt ohne Tiefe nicht von ungefähr kommt, wenn im eigenen Leben von der Herkunftsfamilie angefangen nichts, aber auch wirklich gar nichts fix ist, schwingt im Roman immer mit. „Wer sich einlässt auf Aidans Welt“, so Barbara Krennmayr im Oö. Kulturbericht, „findet ein umsichtiges, urteilsfreies Portrait einer Generation von gut ausgebildeten, urbanen Zwanzig- bis Dreißigjährigen, die sich nicht festlegen will, aber auch nicht so recht glücklich wird damit.“ Dass man in den Untiefen eines solchen Lebens doch auch immer wieder Halt finden kann, bei einem anderen Menschen oder vielleicht sogar in sich selbst, grenzt, wie das temporäre, schrille und bunte Festival in der Wüste, fast an ein Wunder: „Sonnenkönige ist eine Kampfansage gegen Mieselsucht, Melancholie und allgemeine Angstzustände unserer Zeit“, schreibt Wolfgang Huber-Lang für die APA, „ein irritierendes Buch, das in seinem unbedingten Beharren auf den realisierbaren Gegenentwurf erstaunlich ist. Eskapismus könnte man das nennen. Oder: schöne Utopie.“

Aircheck Not To Disappear

Eine Sendereihe, die das Verschwinden von Frauen in den Raum stellt, läuft aktuell noch auf Radio Fro und Dorf TV. Sandra Hochholzer reflektiert nach vier gelaufenen Sendungen und eröffnet mit einer Ansage.

 

Lass mich jetzt mal mit meinem Selbstbewusstsein deine Kompetenz in Frage stellen.

Im Studio: Gabriele, Kepplinger, Julia Pühringer und Jelena Pantic-Panic. Foto Daniela Banglmayr

Im Studio: Gabriele, Kepplinger, Julia Pühringer und Jelena Pantic-Panic. Foto Daniela Banglmayr

Eben mit diesem provokanten Satz hat Jelena Pantic-Panic (Leiterin des Kulturressorts beim Magazin biber) eine Situation auf den Punkt gebracht, die nicht nur für den Bereich des Journalismus die Geschlechterrivalität in der Berufswelt gut darstellt. „Männer beanspruchen Deutungshoheit“, setzt sie ihre Aussage fort. Sie war zu Gast im Studio von Radio Fro und eingeladen, mit weiteren Gästen über das Verschwinden von Frauen aus ihrem Karriereweg, sprich von unterbrochenen oder abgebrochenen Karrierewegen, zu diskutieren – mit Fokus in dieser Sendung auf die Situation von Journalistinnen und unter dem Titel „Warum die Blattlinie Männersache bleibt und vom Verschwinden der Frauen in den Medien“. Eine von fünf Sendungen, die ihren Blick jeweils auf unterschiedliche Sparten werfen, um herauszufinden, wo denn sinnvoll an den gesellschaftspolitischen Schrauben gedreht werden müsse. Denn gesetzlich hat sich seit dem ersten Frauenvolksbegehren (1998) einiges getan. Ungleichheiten wurden gesetzlich beseitigt. Bleibt die Frage: Das Gesetz hindert und behindert Frauen also nicht mehr?

Durchschnittlich bekommt eine Frau in Österreich 1,4 Kinder, bei Journalistinnen sind es nur 0,5. Ausschlaggebend sind hier bestimmt nicht nur begrenzte Öffnungszeiten im Kindergarten, sondern es wird sehr stark auf die karrierefördernde Netzwerkarbeit verwiesen, die im Journalismus, aber ebenso in der Wissenschaft oder auch im Kunstbetrieb einen hohen Stellenwert einnimmt und die oft für Mütter nur bedingt alltagstauglich ist. Abends noch schnell auf ein Bier mitgehen, ist für Frauen mit Kindern viel unrealistischer als für Männer. Die Teilnahme an Abendveranstaltungen lässt sich viel mühsamer organisieren und auch nicht ständig. Selbst sehr engagierte Väter gestalten ihre Praxis einfach anders als Frauen. Männer planen die Zeit für sich selbst viel selbstverständlicher in ihren Alltag ein. Da wird, was auch immer, abseits von Anwesenheitspflichten nicht einfach zugunsten der Familie regelmäßig abgesagt oder überhaupt darauf verzichtet. So ist und bleibt die Kinderbetreuung ein wichtiges Thema, das hauptsächlich bei der sorgenden Mutter bleibt. Diese wird dem männlichen Machtstreben als Gegenpol gegenübergestellt. Ein Bild, das übrigens weit aus der Geschichte stammt, bringt die Historikerin Kathrin Quatember ein.

Die sorgende Mutter ist vor allem im Kopf der sorgenden Mutter und damit gesellschaftlich extrem verankert. Das ist kein Spaziergang, sowas zu verändern, zumal konservative Geschlechterbilder wieder auf dem Vormarsch sind und die Geschlechterordnung politisch wieder neu umkämpft ist. Der Umbau der Wohlfahrtsstaaten betrifft oft gerade Frauen sehr stark. Die Frauenförderung wird dem Wettbewerb der besten Köpfe, also der sogenannten Excellence, untergeordnet. Stattdessen sollte Arbeit neu bewertet und neu verteilt werden. Julia Schuster, Soziologin vom Institut für Genderstudies in Linz, fordert in diesem Zusammenhang Mut, um über neue Modelle nachzudenken. Die politische Situation in Europa lässt die Gleichstellung momentan nicht weiterblühen.

Aber ich möchte die Diskussion gar nicht nur auf Kinder beschränken und nochmals zur Aussage von Jelena Pantic-Panic zurückkommen. „Lass mich jetzt mal mit meinem Selbstbewusstsein deine Kompetenz in Frage stellen“. Sie spricht damit ganz dezidiert die Praxis in vielen Medienhäusern an und meint damit die immer noch sehr oft anzutreffende und leider viel zu selten offene Missachtung findende überhebliche Haltung von männlichen gegenüber weiblichen Kolleg*innen. Auch unterstreicht sie die Vorbildfunktion von Medienhäusern und die damit verbundene Verantwortung.

Dazu ein kleiner Ausflug. Ich lese momentan das Buch „Kultur der Digitalität“ von Felix Stalder. Darin arbeitet er einleitend die Rahmenbedingungen heraus, die die Wege in die Digitalität gestalten und macht dabei auch interessante Analysen der Vergangenheit: „Schaut man sich heute Fernsehdiskussionen aus den fünfziger und sechziger Jahren an, fällt einem nicht nur auf, wie genüsslich im Studio geraucht wurde, sondern auch, wie homogen das Teilnehmerspektrum war. Meist sprachen weiße, heteronorm agierende Männer miteinander, die wichtige institutionelle Positionen in den Zentren des Westens innehatten. Vor allem sie waren legitimiert in der Öffentlichkeit aufzutreten, ihre Meinung zu artikulieren und diese von anderen als relevant, anerkannt und als diskutiert zu sehen. Sie führten die wichtigen Debatten ihrer Zeit.“

Ist es heute anders? Wenn ich Ö1 höre, kann ich bestätigen, dass weiße, gut ausgebildete, erfolgreiche, vermutlich besserverdienende Frauen auch Interviews dazu geben, wie die Welt am besten funktioniert und wie vor allem sie selbst immer alles richtiggemacht haben und sich insofern auch selbst als rundfunkwürdig betrachten. Im Zusammenhang mit Stalders Geschichts-Exkurs ein sichtbarer Fortschritt. Für die gesellschaftliche Gegenwart aber eine Entwicklung, die noch viel Platz für Entfaltung lässt.

Diese soeben bemängelte Entfaltung glückt den Freien Medien durchaus besser, der Weitblick im Umgang mit den vielen unterschiedlichen Akteur*innen ist hier vermutlich einfach weniger beladen von Alt-Hergebrachtem und es entstehen dabei, meiner Ansicht nach, lebensnähere/authentischere Produktionen. Oder wie es Felix Stalder nennt: „Die Erweiterung der sozialen Basis der Kultur“.

Und so ist es auch 2018 noch immer bemerkenswert, wenn eine Moderatorin und ihre ausschließlich weiblichen Gäste im Studio vor laufender Kamera und live im Radio eine Stunde lang ihre Sicht der Dinge darlegen.

Es ging vier Mal eine Stunde lang auch um Männer, sogar um Kinder, um Kultur, um Politik, um Wissenschaft, um Medien und um die Fragen, warum und wohin sie denn verschwinden, die Frauen, die auf der Uni noch vorn dabei waren und dann ein paar Jahre später ihre Karriere auf Sparflamme gestalten und die erste Reihe meiden? Ein gut abgestecktes Spektrum relevanter Aspekte und Entwicklungen, die die Situation gut vergegenwärtigen und auch bezüglich einem hoffentlich bald eingeleiteten Frauenvolksbegehren die Forderungen sichtbar und hörbar machten.

NOT TO DISAPPEAR! – eine pure Übertreibung?
Daniela Banglmayr hat sich vorgenommen, fünf Sendungen (auf Radio Fro & Dorf TV, unterstützt von der Gesellschaft für Kulturpolitik) zu gestalten. Sie stellt tatsächlich das Verschwinden der Frauen in den Raum. Aber ist das so, ist das vielleicht doch pure Übertreibung? Nun, Übertreibung ist ja in vielen Bereichen eine notwendige Strategie, um überhaupt ein Ohr zu bekommen. Und so viel kann ich festhalten – die Notwendigkeit, weiter über die Rolle der Frauen in der Gesellschaft öffentlich zu reflektieren ist mehr als gegeben und die Notwendigkeit, Strategien auszubaldowern und sichtbar und hörbar zu machen, wann immer es die Möglichkeit dazu gibt, ebenfalls!

Die nächste und diesbezüglich vorläufig letzte Gelegenheit Daniela Banglmayr und ihren Gästen live beim Baldowern zuzuhören und zuzusehen gibt’s am 21. September 2018 um 17 Uhr auf Radio Fro 105,0 MHz und in der Folge auf Dorf TV zum Nachsehen. Sandra C. Hochholzer arbeitet weltumspannend für weltumspannend arbeiten und Radio Fro und entwickelt und leitet Bildungs- und Medienprojekte.

 

Alle Sendungen zum Nachhören: cba.fro.at und www.fro.at
Alle Sendungen zum Nachsehen: www.dorftv.at
Suchwort: not to disappear

Feminismus zum Anziehen?

Der Feminismus und sein immanentes Befreiungspotetial in Popkultur und Fashion: Riot-Grrrl, Radical Chic, Attitude und die größere soziale Gerechtigkeit – Sarah Held zeigt Beispiele, Widersprüche und Emanzipationspotentiale auf.

Neue Produktionstechniken generieren alternative Körperbilder: Der Studiengang Fashion & Technology der Kunstuniversität Linz. Bild „Happy Horder“ by Mirela Ionica, Studentin Fashion & Technology

Neue Produktionstechniken generieren alternative Körperbilder: Der Studiengang Fashion & Technology der Kunstuniversität Linz. Bild „Happy Horder“ by Mirela Ionica, Studentin Fashion & Technology

Nicht nur in der Mode feiern die 90er Jahre mit der aktuellen Retrowelle eine regelrechte Renaissance, auch innerhalb der Popkultur zeigen sich diverse Phänomene aus den 90ern, allen voran das Revival des Girl-Power-Slogans. Dieser steht für eine vermarktbare feministische Attitüde, die vorwiegend mit der etwas platten Phrase der Spice Girls assoziiert wurde bzw. wird. Ähnlich wie diverse andere massenkompatible Erscheinungen hat auch der popfeministische Spice Girls-Girl-Power-Slogan einen aktivistischen und/oder subversiven Background. Vor dem Bubble-Up zur nahezu inhaltsleeren Oberflächenrhetorik des Pop-Mainstreams der 90er Jahre positionierte sich die punkinduzierte Riot-Grrrl-Bewegung mit emanzipatorischen Slogans wie Revolution Girl Style Now. Diese dienten zur Identitätsbildung und -verortung sowie dezidiert zum aufrührerischen Verhalten, aber vor allem zur Bandenbildung innerhalb einer feministischen Sisterhood. Als genderorientiertes Punk-Subgenre weist die Riot-Grrrl-Bewegung einerseits ästhetische Verwandtschaft zum Punk auf, bildete aber eine eigene Bildsprache heraus, die heute innerhalb der Riot-Grrrl-Retrowelle reproduziert und erweitert wird. (1) Welche Beispiele zeigen sich in der aktuellen Popkultur für die Vermarktung feministischer Slogans bzw. deren Verwendung als Tool zur Identitätsbildung? Es werden vestimentäre Praxen skizziert und die Schnittstelle feministischer Intentionen im Modekontext aufgezeigt.

Nicht nur in sozialen Netzwerken und szeneorientierten Kontexten sind feministische Mode und ein sogenannter Riot-Grrrl-Style sichtbar. Der Onlineshop Feminist Apparel hat sein Sortiment komplett auf Radical Chic ausgelegt, so kann sich dort von Kopf bis Fuß mit feministischem Merchandise eingedeckt werden, glitzernde Accessoires inklusive. Es werden Nischen geöffnet und kleine Untergrund-Designlabels, beispielsweise Indyanna (2) gegründet, die ihre Kollektionen mit aufrührerisch klingenden Titeln wie riots start everywhere benennen und sich in den Kleidungsstil von Riot-Grrrl-Bands wie Bikini Kill, Bratmobile oder Le Tigre verorten.

Was früher als subkulturelle Do-it-yourself-Mode der Riot-Grrrl-Bewegung entstand, wurde mittlerweile über Indie-Labels bis hin zu globalen Modeketten kommerzialisiert. Den endgültigen Schritt weg von der Szene markiert das T-Shirt mit dem Druck der Lexikon-Definition des Substantivs „Feminism“ des schwedischen Modehauses H&M aus dem Jahr 2015.

Die Verwendung von feministischen Symboliken und Bildsprachen unter kapitalistischen Interessen großer globaler Marken ist kritisch zu betrachten und auch hier muss wie bei verschiedenen aktuellen feministischen Erscheinungen in der Produktvermarktung das Framing mitgedacht werden: Wer agiert, wie wird agiert, was sind die Rahmenbedingungen und unter welchen Prämissen werden welche Absichten verfolgt? Im Beispiel der H&M-Kampagne handelt es sich weniger um eine ideell orientierte Massenverbreitung von feministisch-emanzipatorischen Inhalten denn um eine kapitalistische Verwertungslogik. Feminismus wird hier zur zentralen Marketingstrategie hipper Labels reduziert und als solche vermarktet. Aktivistisch bleibt es eher an der Oberfläche, wenn Jacken mit glitzernden Riot-Schriftzügen verziert werden, wie beispielsweise beim Start-Up Indyanna aus Berlin. Bildsprachlich wird hingegen modische Selbstdarstellung mit feministisch-subversiven Inhalten assoziiert. Ein weiteres Beispiel für die Verwendung von feministischer Bildsprache und -ästhetik ist Karl Lagerfelds Inszenierung im Rahmen der Ready-to-wear-Modenschau 2014. Der Catwalk sollte den Eindruck einer Frauenrechtsdemonstration erzeugen. Dabei liefen die Models mit Demo-Transparenten über den Laufsteg und forderten allerdings statt Gleichberechtigung ihr Recht auf Luxusmode von Chanel ein. Feministisches Potential versteckt sich hier nicht, denn die Darstellung beschränkt sich auf eine inhaltslose Repräsentation, die weder das subversive noch das feministische Moment der referenzierten Ästhetik reproduziert, besonders im Hinblick auf die körperfeindlichen Zitate des Designers. (3)

Popkultur und Mode wird häufig vorgeworfen, feministische Maxime als Marketingstrategie zu verwenden. Das geschieht zum Beispiel bei der Pop-Sängerin und Aktivistin Beyoncé Knowles, deren feministisches Engagement und öffentliche Selbstbezeichnung als Feministin in radikal-feministischen Kreisen kritisch diskutiert werden. (4) An dieser Stelle muss eingeworfen werden, dass eine Ikone wie Beyoncé größeren Einfluss auf ein breites, zumeist junges Publikum hat als die einschlägigen Diskussionen der Genderforschung und radikal-aktivistischer Gruppierungen. Allerdings erweisen sich jüngst publizierte Tatsachen bezüglich der Produktionsbedingungen von Beyoncés Modelabels Ivy Park als problematisch. Das Label nutzt zur Produktion der Designs Kollaborationen mit Fast-Fashion-Derivaten wie TopShop und lässt in Sweatshops in Sri Lanka produzieren. (5) Hierbei zeichnen sich die üblichen Problematiken kapitalistischer Konsumkultur ab. Das Beispiel der Sängerin Beyoncé wird allerdings im Diskurs auf einer anderen Ebene verhandelt, denn durch ihre feministische Einschreibung und ihren Black-Movement-Aktivismus in den USA werden solche Skandale medial besonders gern verwertet. Es ist allerdings auch eine berechtige Entrüstung.

Richten wir – im Zusammenhang mit den Produktionsbedingungen – den Fokus auf die mexikanischen Sweatshops (Maquiladores) von Ciudad Juárez, um zu zeigen, dass mit Modepraxen auch Handlungsmacht geschaffen werden kann. Die Grenzregion ist bzgl. der Femicides seit den 1990er Jahren immer wieder im Gespräch, weil dort seitdem mehrere hundert bzw. tausend Frauen getötet wurden und verschwunden sind. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Femicides und Maquiladores, da dort Frauen in der Mehrzahl arbeiten und häufig auf dem Weg zur Arbeit verschwinden. (6) Neben verschiedenen künstlerischen Auseinandersetzungen (z. B. Desconocida Unknown Ukjet) oder Menschenrechtskampagnen (z. B. FEMAP) ist die Modemanufaktur NI EN MORE ein Versuch, die Situation für Frauen in Juárez zu verbessern. Dabei handelt es sich um ein junges Modelabel, das 2018 Marktreife erlangen möchte. Sie propagieren Ziele wie beispielsweise ein nachhaltiges Geschäftsmodell von, mit und für Frauen aus Juárez. Das Label erzeugt dabei Mode vor Ort, mit allen Produktionsschritten von Design bis Textilherstellung. Das beinhaltet nicht nur einen de-globalisierten Herstellungsprozess der Kleidung, sondern auch eine soziale, gar aktivistische Intention. Denn die Initiator*innen versuchen mit ihrer Strategie, sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen sichtbar zu machen und alternative Arbeitsmöglichkeiten für Frauen in Juárez zu schaffen. (7) Die sozioökonomischen Bestrebungen des Modelabels zeigen deutlich eine ethisch-moralische Komponente von Modeherstellung im Kontext von feministischen Aktivismus. Schließlich ist die Branche dafür bekannt, sehr häufig unter ethisch fragwürdigen Bedingungen zu produzieren. Das betrifft Designware genauso wie massengefertigte Normkleidung der großen Modehäuser. Natürlich gibt es hier Ausnahmen, die bewusst auf den LOHA-Trend setzen und fair herstellen lassen.

Hinsichtlich einer anderen, technologisch orientierten Entwicklung: Seit einigen Semestern kann man an der Linzer Kunstuniversität den Studiengang Fashion & Technology studieren. Der Studiengang scheint ein Experimentalfeld zu sein und setzt auf Technik. Bei einem Besuch der Werkstätten und einer Führung durch die Räumlichkeiten in der Tabakfabrik wird deutlich: hier soll ein neuer Wind wehen. Ich spüre einen Hauch von Aufbruchsstimmung dort, wo Mode mit Technologie kombiniert wird und damit neue Wege begangen werden sollen. Bei so viel wahrgenommenem Aufschwung ist auch eine feministische Note deutlich spürbar. Gerade in Bezug auf Körpernormierungen und Körperpolitiken scheint sich in Linz etwas zu tun. Möglicherweise gelingt es im lokalen Experimentalraum, die mächtigen körperfeindlichen Diskurse an der Schnittstelle von Mode und Technologie mit Innovationen möglicherweise zu schwächen. (8)

Zum Abschluss möchte ich zur poppigen Feminismusvariante zurückkehren und betonen, dass im Sinne eines Spread-the-word die aktuellen Entwicklungen durchaus förderlich für die Verbreitung feministischer Intentionen sind, um Nachwuchs für die Sisterhood zu gewinnen. Zudem verhilft die Popvariante Feminismen zu einem Imagewechsel: sich buchstäblich in neuem Kleid zu zeigen. Kurzum, es trägt dazu bei, die Attraktivität einer feministischen Selbstbezeichnung zu erhöhen, denn es gilt in bestimmten Kreisen als schick, Feminist*in zu sein. Zudem wird möglicherweise einen Einstieg bereitet, sich auch tiefergehend mit der Materie zu beschäftigen und nicht nur feministisch motivierte Bildsprachen auf Textilien zu tragen.

 

1 www.missy-magazine.de/2016/05/30/riot-grrrl-chic
2 www.indyanna.squarespace.com
3 www.pop-zeitschrift.de/2014/10/12/mode-oktobervon-sabina-muriale12-10-2014
4 www.theeuropean-magazine.com/julia-korbik–3/9500-feminism-as-a-trend
5 www.huffingtonpost.com/michael-shank/how-beyonces-ivy-park-lab_b_10143234.html?guccounter=1
6 Tipp: Lourdes Porillos Dokumentation Señorita Extravida – Missing Young Women
7 Weiterlesen auf www.nienmore.com/home
8 www.ufg.at/Fashion-Technology.11325.0.html

Everything must go! Ich werde an Übelkeit sterben.

Wenn dieses Schwanken zwischen positiver Gelassenheit, der Freude darüber, demnächst endlich alles anzünden zu dürfen und der Überzeugung tief drin, dass alles noch viel viel schlimmer kommen wird (schlicht, weil es schlimmer kommen KANN) nicht bald aufhört, dann werde ich an Übelkeit sterben. Mein Herz wird aufhören zu schlagen. Mein Magen und Bauch werden rumoren wie nie zuvor, während sich in meiner Galle ein Brennen und Ziehen breitmachen wird. Ich werde noch ein paar Rülpser in die Welt setzen und dann wird es aus sein.

Die Welt ist manisch-depressiv – oder ist es doch mein Blick, der sich nicht entscheiden kann und mal freudig und dann wieder angstvoll um die nächste Ecke schaut? – egal – ich fühle mich jedenfalls wie damals, als ich als einzige nicht seekrank, dafür nach drei Wochen Segel-Urlaub aber landkrank wurde. Ich wusste nicht einmal, dass es dieses Krankheitsbild gibt. Landkrank. Wenn der Körper sich auf See wohler fühlt als auf dem Trockenen, dann kann eine das überkommen. Dann steigt eine vom Schiff, über dessen Reling alle anderen drei Wochen lang das Meer vollgekotzt haben und kotzt plötzlich selbst (sich vor die Füße. Ohne Reling. Ohne Meer). Abgrundtiefe Übelkeit überkommt eine, sobald das wohlig und grundvernünftig schaukelnde Schiff verlassen werden muss. Abgrundtief übel. Und man weiß: solange auch noch ein Bissen, ein Tropfen in mir ist, der raus MUSS, gibt es keine echte Besserung. Everything must go! Und so auch ich – aus dem Leben anderer, in das ich mich gedrängt habe. Geborgtes Glück, das ich zurückgeben muss. Davor natürlich ausmisten, weil sich wie immer Objekte im Netz der Projektion eines besseren, eines gemütlichen, eines einfachen Leben verfangen haben. Ich kenne das. Ich bin geübt darin. Eine, die schon als Kind stets mit einem fix fertig gepackten Köfferchen unter dem Bett geschlafen hat, tut sich nicht allzu schwer mit weggehen. Eher mit dem Bleiben. Mit dem Statischen, mit dem nicht wohlig und grundvernünftig Schaukelnden.

Landkrank also. Ich denke, ich bin unter Umständen österreichkrank. Immer schon gewesen. Und mindestens in dritter Generation mütterlicherseits. Meine Großmutter – *1899 – meinte, dass das nicht mehr „ihr“ Österreich war, nachdem die Nazis übernommen hatten (wobei sie zwar mit einem republikanischen Österreich auch nicht wirklich allzu glücklich war, befürchte ich, immerhin aber konnte man sich auf die Schnittmenge des Antifaschismus einigen). Meine Mutter – *1934 – wollte nur weg aus dieser Kleinstadt, in die sie gepresst, festgehalten und zu einem stillen Leben gezwungen wurde und später von einer Ehe und vielen Kindern so richtig festgeschraubt wurde an diesem Ort, über den und dessen Bewohner und Bewohnerinnen ich sie nie versöhnlich sprechen hörte. Weg wollten sie und geblieben sind sie und gehadert haben sie. Und ich – *1969 – ich träume vom Meer, vom Schaukeln, vom Treibenlassen, vom Schreiben, vom Auskotzen, vom leer werden.

Landkrank also, da waren wir.

Also nicht generell landkrank, sondern eher geographisch eingeschränkt auf Österreich. Und Ungarn. Und aktuell Italien vielleicht auch noch. Und die USA nicht zu vergessen. Also doch eher länderkrank. Und gleichzeitig, wenn ich mit Freund*innen spreche, habe ich das Gefühl, wir sind mittendrin in etwas schwer Revolutionärem, einem Aufbruch, jedenfalls mittendrin in etwas sehr Gescheitem, Aufregendem, Neuem. Wir können uns allerdings noch nicht entscheiden – ob es notwendig sein wird, gleich und alles anzuzünden oder doch eher …. Ja was eigentlich? Schlauer sein? Menschlicher und demokratischer? Ausharren? Mit Faschisten reden? Hat schon 1938 ganz toll funktioniert. Revolutionär zu sein und nicht alles anzuzünden wird in jedem Fall eher schwierig. Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.

Derweil findet mein Blick aber noch Schönes: Ich schreibe in einem wunderbaren Garten und blicke auf das wohlig und grundvernünftig schaukelnde Wasser. Es ist noch Sommer und ich bin noch da. Ich sortiere aus, ich miste aus. Trenne mich. Und merke, wie das Innere und das Äußere und die Liebe und die Politik plötzlich miteinander zu tun haben wie selten zuvor. Ich glaube nicht, dass ich in diesem Land bleiben kann, ebenso wenig wie ich in diesem Garten bleiben kann. Es hält mich nichts und niemand. Im Gegenteil macht es mich krank. Mitzuerleben, wie die Spekulanten und ihre dumpfe Klientel in diesen Stadtteil einfallen, alles niederreißen, was eine Geschichte erzählt und alle vertreiben, die diese Geschichte erzählen könnten, bricht das Herz. Mitzuerleben, wie Faschisten ihre alten Geschichten wieder auspacken und über dieses Land stülpen, den Verstand. Lobbyisten bekommen mit einem Fingerschnipp alles an Gefälligkeit (und mehr als sie zu träumen wagten, befürchte ich) vor die Füße gelegt, während anderen Grundlegendes verwehrt wird – Teilhabe und Zugang zu Kultur, Recht auf menschenwürdiges, selbstbestimmtes Wohnen und Arbeiten. In diesem Land regiert die Schamlosigkeit, mehr fällt mir dazu nicht mehr ein, außer: dank an alle, die bleiben, die aufstehen, die sich gegenseitig stärken und Kraft geben! Und passt verdammt nochmal auf eure große Liebe auf! Einmal verschissen, findet ihr sie ein Leben lang nicht mehr.

Da Rechte keinen Sinn für Zwischentöne, Anspielungen und Witz haben, halte ich fest, dass der Ausdruck „alles anzünden“ bitte schön nicht wortwörtlich zu nehmen ist. Niemand hier will irgendwas und schon gar nicht alles anzünden. Es ist ein in feministischen Kreisen gebräuchliches Wortspiel, das die empfundene reale Machtlosigkeit gegenüber den Zu- und Umständen gedanklich in etwas verwandelt, das von Erneuerung und Veränderung erzählt (Phönix, Asche, aus der). Bitte ggf. in einem Duden nachschlagen. Danke. (Anm. WH)

Song singt, was Sache ist …

Hinweis auf zwei Nummern von Notton: „Schlaft ein“ mit der Zeile „Würde ist antastbar, Leistung lohnt sich wieder …“ oder „Da Schnid“, einer Hommage an die Nine Inch Nails und ihr „Hurt“. In der Version von Notton heißt es: „Wos is aus mir worn, die große Freiheit und a miada König. I hobs Spüh valorn, doch eiche Regln san so gewöhnlich“. Direkter Dialekt, Herzensangelegenheit.

notton.at

Anarchie in Kuba

„Freiheit ohne Gleichheit ist ein Dschungel, Gleichheit ohne Freiheit ein Gefängnis“, so eine anarchistische Grundaussage, die wohl besonders in Kuba Wirkung entfaltet. Eva Schörkhuber und Andreas Pavlic haben auf ihrer Reise nach Kuba die Gruppe Taller Libertario Alfredo López besucht. Erkenntnis 1: Auch Anarchist_innen betreiben Crowdfunding. Erkenntnis 2: Besonders mit ihrem Engagement für Bildung und Autonomie erinnert die Gruppe an einen frühen Anarchismus, der auf der ganzen Welt gegen das Elend der Arbeiter_innen auftrat und die ersten sozialen Errungenschaften ermöglichte.

Es ist ein warmer Tag im Januar. Ein strahlend blauer Himmel spannt sich über Havanna. Wir machen uns auf den Weg, gehen die prächtige Steintreppe hinauf, die zum Haupteingang der Universität führt. Wir halten inne, sehen uns um. Von keiner der Personen, die hier sitzen, nehmen wir an, dass sie unsere Kontaktperson ist. Eine Gruppe in Militäruniformen geht an uns vorbei, zwei Männer und zwei Frauen. Am Ende der Treppe wartet ein Auto, sie steigen ein. In diesem Moment biegt ein Mann in gelbem T-Shirt um die Ecke und steigt die Treppen hoch. Kein Zweifel, das ist Mario. Wir begrüßen uns herzlich. Dann nimmt das Gespräch seinen Lauf, wir unterhalten uns über die anarchistische Gruppe, deren Mitglied Mario ist, über die Geschichte des Anarchismus auf Kuba und auch darüber, dass Marios Tochter, die in die erste Klasse geht, Fidel Castro für ihren Großvater hält: Im Fernsehen sei eine Archiv-Aufnahme von einer der Reden Castros ausgestrahlt worden und seine Tochter habe gerufen: „Schau Papa, das ist Opa!“ Er habe nicht sofort verstanden, aber dann habe seine Tochter erzählt, dass in der Schule stets von Fidel Castro als dem großen Vater Kubas die Rede gewesen sei. Einiger Zeit habe es bedurft, um seiner Tochter klar zu machen, dass Castro nicht ihr richtiger Opa sei. Wir lachen, alle drei, dann wird Mario ernst: „Ein Schulsystem, das vorwiegend Staatspropaganda vermittelt, ist untragbar.“ Schließlich fragen wir ihn, ob es wirklich Zufall gewesen sei, dass die Militärgruppe verschwunden und er aufgetaucht sei. Mario winkt ab. Zurzeit sei es nicht so gefährlich, „wir können in Ruhe arbeiten – momentan.“

„We do not feel shame to be anarchists“
Und zu tun gibt es genug. Über eine Crowdfundig-Kampagne haben wir von der anarchistischen Gruppe erfahren. Taller Libertario Alfredo López (Libertärer Workshop Alfredo López) hat einen internationalen Spendenaufruf gestartet, um Geld für die Errichtung eines Sozialen Zentrums in Havanna zu sammeln. „Unser Aktivismus ist nicht so, wie ihr es euch vielleicht vorstellt und wie es in Europa oder in den USA gehandhabt wird“, erzählt Mario, „wir wollen uns nicht als die Bad Guys in schwarzer Kleidung präsentieren.“ Es gehe nicht darum, in direkte Konfrontation mit dem Staat zu gehen, da würde die Repression sofort zuschlagen. Wesentlich für die Gruppe sei es, Kontakt zu den Menschen aufzubauen und zu zeigen, dass es in ihrer Hand liegt, die Wirklichkeit zu transformieren.

Hervorgegangen ist Taller Libertario Alfredo López (TLAL) aus dem Netzwerk Observatorio Critico. Von 2003 an wurden seitens des kubanischen Kulturministeriums jährlich Treffen initiiert, bei denen Künstler_innen, Wissenschafter_innen und Aktivist_innen über die gegenwärtige Situation im Land diskutierten. Die Themen waren Bildung, Umweltverschmutzung, Gender. Jahr für Jahr wurden kritischere Positionen eingenommen. Die Leute hatten das Gefühl, frei sprechen zu können, obwohl die Organisation unter der Kontrolle des Kulturministeriums stand. 2010 stellte es die Koordination ein, die Mitglieder des Netzwerkes mussten nun allein weiterzumachen. Am 1. Mai 2010 fand das erste Treffen des TLAL statt. „Wir haben beschlossen, uns als Anarchist_innen zu organisieren – we do not feel shame to be anarchists.“ Von da an wurden regelmäßig Präsentationen und Diskussionen organisiert, Infomaterialien zusammengestellt, die Zeitschrift Tierra Nueva herausgegeben und an der Realisierung eines Sozialen Zentrums in Havanna gearbeitet.

„… das ist die Idee von Autonomie“
Das nächste Treffen mit Mario findet eine Woche später statt. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zu dem Haus, in dem das Soziale Zentrum entstehen soll. Wir durchqueren die Höfe der Universität und steigen in einen Bus. 45 Minuten lang fahren wir weg vom Zentrum hinauf in die Hügel von Havanna. Lawton heißt das Barrio, das von ehemaligen Zuckerbaronen gegründet und im typischen Kolonialstil errichtet wurde. Wir sehen Häuser mit vorgelagerten kleinen Terrassen, einige in kräftigen Farben gestrichen, viele jedoch grau und ramponiert. Im Bus treffen wir zufällig Isbel, der ebenfalls bei TLAL aktiv ist. Zu viert steigen wir die Straße hinunter, Isbel erzählt, dass die Crowdfunding-Kampagne rasch erfolgreich gewesen sei, dass sie das Haus mittlerweile gekauft hätten und sich darauf freuten, das Zentrum zu eröffnen: „Allerdings steht uns noch viel Arbeit bevor, wir müssen das Haus einrichten und Kontakte zur Nachbar_innenschaft knüpfen. Wir wollen soziales Vertrauen aufbauen, das es für eine Gemeinschaft braucht, das ist die Idee von Autonomie.“ Wichtig sei es, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und nicht darauf zu warten, dass der Staat alles für eine_n erledige. „Das tut er sowieso nicht“, Mario grinst und zeigt auf die überbordenden Mülltonnen am Straßeneck, „das könnte mit vereinten Kräften ganz schnell beseitig werden.“ „Und hier zum Beispiel ließe sich wunderbar Gemüse anbauen“, meint Isbel und deutet auf die Grünfläche zwischen den Treppen, auf denen wir das schmale Gässchen hinabsteigen. Vor dem Haus warten David und Antonio auf uns und schließen das Gartentor auf. Ein schmaler Gang führt zur Tür ins Erdgeschoss, eine Betontreppe auf die Terrasse, über die eine_r ins Obergeschoss gelangt. Wir steigen hinauf. „Hier soll ein Versammlungsort sein und hier drinnen – “, Mario öffnet die Tür, „wollen wir eine Bibliothek einrichten.“ Bevor wir eintreten und uns auf den Boden der zukünftigen Bibliothek setzen, zeigt David auf eines der angrenzenden Häuser: „Dort drinnen befindet sich das CDR (Comité de la Defensa de la Revolución, das Komitee zur Verteidigung der Revolution), das ist schräg, dass wir direkt neben diesen Überwachungsorganen unser Zentrum eröffnen.“ „Ja“, seufzt Isbel, „der Anarchismus hat es auf Kuba nie leicht gehabt …“

Von Alfredo López bis zur Kubanischen Revolution
Wie in den meisten Ländern des amerikanischen Kontinents existierte um die Jahrhundertwende eine Arbeiter_innenbewegung, die stark von anarchistischen und syndikalistischen Ideen geprägt war. Der Fokus lag nicht auf Parteiwesen und Wahlen, sondern auf Aufklärung, Bildungs- und Erziehungswesen und vor allem auf der gewerkschaftlichen Organisation in den Betrieben. So auch in Kuba. Dort kam es 1924 zur Gründung der „Federación de Grupos Anarquistas de Cuba“, ihr wichtigstes Organ war die Zeitung Tierra!, die bis in die späten 30er Jahre erschien und Vorbild für die aktuelle Tierra Nueva ist. Im gleichen Jahr wurde auch die „Confederación Nacional Obrera de Cuba“ (CNOC) gegründet, eine Arbeiter_innenföderation, die 128 Organisationen mit insgesamt 200.000 Menschen vereinigte. Sie forderte den Acht-Stunden-Tag und lehnte den Parlamentarismus ab. Generalsekretär der CNOC wurde der Schriftsetzer und Anarchist Alfredo López. Wegen wirtschaftlicher Not und hoher Arbeitslosigkeit kam es immer wieder zu Streiks und Protesten, der seit 1925 amtierende Präsident General Machado reagierte mit verstärkter Repression gegen die organisierte Arbeiter_innenschaft. Korruption und die koloniale Abhängigkeit gegenüber der USA verstärkten das soziale Elend. Im Herbst 1926 verschwand Alfredo López. Zuvor hatte er einen Regierungsposten abgelehnt, um unabhängig im Kampf für Arbeiter_innenrechte zu bleiben. Die Überreste seiner Leiche wurden erst nach dem Sturz Machados 1933 gefunden. Kaum hatte sich die Bevölkerung den einen Diktator vom Hals geschafft, kam der nächste – Sergeant Fulgenico Batista: ein Armeeangehöriger aus der zweiten Reihe, der zunächst das Kommando im Militär übernahm, bis er sich 1940 mit Hilfe der Kommunistischen Partei an die Macht wählen ließ. 1944 wurde er abgewählt, acht Jahre später kam er mit Hilfe der USA wieder an die Macht. In den 50er Jahren wuchs mit dem charismatischen Studenten Fidel Castro sein gefährlichster Gegenspieler heran. Vieles, was sich in dieser Zeit ereignete, wurde zur Legende: Der gescheiterte Angriff auf die Moncada-Kaserne am 26. Juli 1953 (deswegen M-26 bzw. Bewegung 26. Juli); Fidels Verhaftung und seine Verteidigungsrede, in der er den Satz „Die Geschichte wird mich freisprechen“ formulierte; sein Exil in Mexiko und das Zusammentreffen mit Che Guevara; die gewagte Überfahrt mit der Yacht „Granma“; die katastrophale Landung, bei der die Batista-Armee einen Großteil der Gueriller@s tötete; die Flucht in die Wälder der „Sierra Maestra“; der Beginn des Guerillakampfes bis zu dem triumphalen Einzug in Havanna Ende 1959.

Kaum bekannt ist, dass die revolutionäre Bewegung 26. Juli (M-26-7) zwar von Fidel Castro ins Leben gerufen, aber von verschiedenen Fraktionen unterstützt und getragen wurde. Darunter waren katholische Organisationen, liberal-demokratische, sozialrevolutionäre und auch anarchistische. Geeint wurden sie in der Ablehnung der Batista-Diktatur und dem Programm, das neben einer Landreform, eine Sozialreform und eine liberale Verfassung vorsah. Die Revolution selbst wurde anfangs von vielen als Befreiung gesehen. Castro verkündete noch im April 1959: „Wenn auch nur eine Zeitung verboten wird, wird sich bald keine Zeitung mehr sicher fühlen – und wenn auch nur ein einziger Mensch wegen seiner politischen Ideen verfolgt wird, wird sich niemand mehr sicher fühlen.“ Doch die Zeit für Widersprüche und Kritik war bald vorbei. Der Einfluss der Kommunistischen Partei wurde zusehends stärker. Einige hochrangige Gueriller@s, wie auch die anarchistischen Gruppen zahlten für ihre Ablehnung und die Bekämpfung des neuen Regimes einen hohen Preis. Viele wurden inhaftiert, gefoltert und ermordet. Wer konnte, ging ins Exil.

„Auch von unseren Genoss_innen haben viele das Land verlassen“, meint Mario. „Sie wollen andere Länder kennen lernen und sich woanders ein Leben aufbauen.“ Isbel fügt hinzu: „Schon das alltägliche Leben hier ist schwierig. Aber wir wollen die aktuellen Veränderungen hier von einer antikapitalistischen Perspektive aus kritisieren. Wir machen weiter.“ Am 05. Mai 2018, acht Jahre nach der Gründung der TLAL, wurde das Soziale Zentrum in Havanna eröffnet.

 

Hinweis auf die 2-teilige Fernseh-Dokumentation: Kein Gott, kein Herr! Eine kleine Geschichte der Anarchie Textauszug der Doku: „Vom Aufstand der Pariser Kommune 1871 bis zur Gründung der ersten großen Gewerkschaften, von der Entstehung libertärer Milieus mit alternativen Lebensentwürfen bis hin zur Einrichtung freier Schulen: Die anarchistische Bewegung hat die ersten Revolutionen angestoßen und gehört zu den entscheidenden Triebkräften großer sozialer Errungenschaften. Trotz dieser positiven Aspekte, hat der Anarchismus zweifelsohne seine Schattenseiten: Viele seiner Anhänger rechtfertigen den Einsatz von Waffen und Gewalt. Die zweiteilige Dokumentation beleuchtet von Frankreich über Japan bis nach Chicago und Buenos Aires die Ursprünge dieser politischen Philosophie und porträtiert die geistigen Väter der anarchistischen Bewegung wie etwa Pierre-Joseph Proudhon oder Michail Bakunin.“

Suburban Round Trip – Part One

karte

Der Slowdude ist hin und weg. Und möchte mit einem Zitat des Philosophen, Naturalisten und Schriftstellers Henry David Thoreau beginnen: „Wer Fehler finden will, findet sie auch im Paradies“. Nach Jahren des aufreibenden, kräftezehrenden und fokussierten Forschens, Recherchierens und Probierens im städtischen Terrain wagt der Slowdude einen herrlichen Roundtrip im Umland der wunderbaren Irgendwas-mit-Medien-UNESCO und Kulturhauptstadt dekorierten oberösterreichischen Donaumetropole. Und das hat er sich verdient. Ganz genau dem Titel „Heute Disco, morgen Umsturz, übermorgen Landpartie“ von F. S. K. folgend ist der Slowdude im Übermorgen angekommen. Endlich. Disco hatte er schon zu Genüge und der Umsturz war ihm viel zu anstrengend. Darum die Landpartie: Beginnend im Linzer Norden wurden kulinarische Perlen gesucht und gefunden – Ottensheim, Lichtenberg und Pelmberg sind die wahren Orte von Genuss, Entspannung und Selbstfindung. Ja, der Slowdude ist esoterisch geworden – was bleibt ihm auch anders über – in Zeiten wie diesen. Egal. Start. Das im gleichnamigen Pelmberg (1) gelegene Stüberl mit angeschlossenem Freilichtmuseum ist das, was man sich unter einem gelungenen Ausflugslokal vorstellt: wunderbare Aussicht, kleine Karte mit lokalen Spezialitäten und Mehlspeisen, die einem – im positiven Sinne – die Tränen in die Augen treiben. Da schlägt der vom Monopolkonditor Jindrak verseuchte Geschmacksinn für Süßes wahre Purzelbäume und macht Luftsprünge. Der Standard „Schweinsbratl“ ist ein Gedicht und selbst die für FleischverächterInnen kredenzten Spinatknödel sind kein bloßes Alibi, sondern ein wahrer Genuss. Das sympathisch von Frau und Herrn Döberl geführte Stüberl ist ein wahrer Schatz im Linzer Umland. Tipp vom Slowdude: Die Herbstsaison. Fährt man die Urfahraner Hügelkette wieder herunter und biegt nach dem malerischen Hohlweg ab zum berühmten „Exenschläger“ (2), sinkt das Niveau keinesfalls. Der 2015 neu übernommene Ausflugsgasthof bietet eine breite lokal-kulinarische Palette. Der faschierte Braten, die Leinölerdäpfel oder die zum Nachtisch servierten Bauernkrapfen sorgen für ein wohliges Gefühl in der Seele und für Zufriedenheit im Bauch. Die nette Crew beschert dem Slowdude jedes Mal einen gemütlichen Aufenthalt in der romantisch gelegenen Talschwelle – nebst Kinderdistraktion mit Spielplatz und Möglichkeit zur Ziegenfütterung. Tipp vom Slowdude: Zu Fuß zum Exenschläger – eine traumhafte Stadtwanderung. Aber auch an der Donau gibt es Balsam für das geschundene Gourmetherz. In Ottensheim – der bio-konservativen Boboenklave im Westen von Urfahr – bietet das Gasthaus zur Post (3) Bodenständiges aus heimischen Gewässern, Gutes von der Weide und aus dem Garten. Hier wird Lokales mit Weltküche kombiniert – so begegnen sich auf der Speisekarte Ingwer und Kohlrabi genauso wie das Wallerfilet seiner guten Freundin, der Polenta. Und die ganze Pracht der guten Küche genießt man in einer wunderbaren Wirtshausstube – so wie man sie leider nicht mehr oft zu Gesicht bekommt. Tipp vom Slowdude: Genug Zeit mitnehmen und den wunderbaren Gastgarten genießen und ordentlich chillen. Paradiesische Zustände in Urfahr-Umgebung. Hier kommt nun das eingangs erwähnte Zitat zu tragen: Der Slowdude wäre nicht der Slowdude, würde er nicht ein Haar in der Suppe finden. Und er gibt es zu: Er musste wirklich suchen! Aber sonst wäre die Kritik ja keine Kritik, sondern platte Promo – und das wäre eines Slowdudes nicht würdig. Deshalb kurz und schmerzlos: Das Salatbüffet im Gasthof zu Post würde besser ohne Dosengemüse dastehen, beim Exenschläger wäre ein richtig regionales Bier auch fein im Angebot (Hofstetten, Neufelden, Aigen oder Freistadt lassen grüßen) und beim Pelmbergstüberl könnte man beim Kaffee etwas „tunen“. Aber: Das ist Jammern auf hohem – ja höchstem – Niveau. Die drei machen das wirklich sehr, sehr gut. Und vor allem sympathisch und unaufgeregt! Keine inszenierte Urtümlichkeit oder gespielte Lederhosenzünftigkeit. Ein wunderbarer und lebensnotwendiger Kontrapunkt zu den marodierenden Eventgastrohütten im Zentrum der Linzer Stadt. Hier wird der Begriff „Landflucht“ umgekehrt und neu gedeutet. Also raus aus den idiotisch benannten, Klebeschrift verseuchten und mit Ekelbier gefüllten Systemgastrostätten und rein ins kulinarische Vergnügen der suburbanen Sphäre.

 

1 Pelmbergstüberl www.pelmbergstueberl.at
2 Exenschläger Waldschänke www.exenschläger.at

3 Gasthof zu Post www.facebook.com/GHzPOST

 

+++ EILT! +++ AUS AKTUELLEM ANLASS +++
Kurz vor Redaktionsschluss entdeckte der Slowdude bei seiner Routineinspektion der Linzer Innenstadt einen neuen Player der innerstädtischen Gastroszene: Der frisch renovierte Kunstuni-Bau am Hauptplatz beherbergt seit Anfang August die Cafeteria Frédéric. Kurzkritik: Sehr, sehr netter Service, gutes frisches Essen, gutes Ambiente drinnen wie draußen, aber Nachholbedarf bei den Getränken: Bier bitte regional und nicht das Industriebrackwasser namens Gösser, und für die sommerlichen Mixgetränke nochmals ins Rezeptbuch gucken. Aber beide Daumen hoch. Ein Lichtblick. Unbedingt hingehen!

Hybris sagt, was Sache ist …

Papageienmensch4

Aus der Arbeitsserie „Chimären“ von Lisa Spalt. Sein oder nicht sein.

EAR meets EYE (AUG um OHR)

Alltag und Musik gehen bei Werner Puntigam Hand in Hand. Gleiches gilt für das Zusammenwirken des Visuellen und des Akustischen. Über den Linzer Posaunisten und multidisziplinären Künstler, sowie die Kunst der Improvisation schreibt Georg Wilbertz.

Werner Puntigam und Rabito Arimoto. Foto Werner Puntigam

Werner Puntigam und Rabito Arimoto. Foto Werner Puntigam

Der Alltag ist Improvisation und auch in wohlgeordneten Gesellschaften wie der unsrigen sind wir tagtäglich aufgefordert oder gezwungen Unvorhergesehenes durch improvisiertes Handeln zu bewältigen. Manche erfüllt der Zwang zur Improvisation mit Unsicherheit und Angst, andere fühlen sich darin erst wohl und nutzen die quasi unbegrenzten Potentiale, die das Improvisieren für das „Erlebnis“ Alltag bereithält. Zu letzteren gehört der in der Steiermark geborene und seit 1983 in Linz lebende Posaunist, Fotograf und multidisziplinärer Künstler Werner Puntigam, der bewusst Risikobereitschaft und Improvisation zu zentralen Faktoren seiner musikalisch-künstlerischen Arbeit macht. Ein Text über ihn ist zwangsläufig ein Text über die Kunst der (musikalischen) Improvisation.

Alltag und Musik gehen bei Puntigam Hand in Hand. Gleiches gilt für das Zusammenwirken des Visuellen und des Akustischen. Darin mag begründet sein, dass er sich seit über zwei Jahrzehnten in entfernte, fremde Kulturen begibt, um vor Ort musikalisch-künstlerische Projekte zu entwickeln. Seit 1997 ist dies vor allem der afrikanische Kontinent, der in unserer klischeehaften Vorstellung ein einziger Hort täglichen, existenziellen Improvisierens ist. Spricht man mit Werner Puntigam über seine Erfahrungen hinsichtlich der Organisation und Durchführung von Projekten in Afrika, scheint sich das Klischee zumindest teilweise zu bestätigen. Beginnend mit einer Japantournee im Jahr 2013 verlagert sich sein Interesse und Fokus aktuell mehr und mehr in den asiatischen Raum.

Die Aufenthalte an neuen Orten verbindet Puntigam mit einem intensiven Kennenlernen des Alltags und der Menschen, die diesen leben. Hierfür lässt er sich nach Möglichkeit Zeit und interpretiert seine Sicht auf das Neue vor allem in fotografischen Arbeiten, die idealerweise alltägliche Situationen wiedergeben. Die Auseinandersetzung mit der jeweiligen sozialen und kulturellen Realität beeinflusst die künstlerische Arbeit an den jeweiligen Orten maßgeblich.

Viele Konzerte und Projekte entstehen hierbei spontan. MusikerInnen und KünstlerInnen tauchen manchmal unmittelbar vor dem Konzert auf, man lernt sich kennen und steht kurz danach gemeinsam auf der Bühne. Dass dies nicht immer zu überzeugenden Ergebnissen führt, versteht sich von selbst. Jedoch gehört es für Puntigam zum grundsätzlichen Wesen seiner Arbeit, das Risiko des Unbekannten und der mit ihm verbundenen ganz eigenen Dynamik einzugehen. Auch der manchmal sich ereignende „freie Fall“ spiegelt letztlich lebensnahe Realitäten wieder und muss in Kauf genommen werden, wenn es gilt durch Offenheit, Neugier und Spieltrieb gänzlich Neues zu entdecken.

Von besonderer Bedeutung sind die konkreten Räume, ihre ästhetischen und akustischen Qualitäten. Vieles von dem, das schließlich zur Aufführung gelangt, wird direkt entwickelt in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Raum. Dabei reicht die Spanne von spürbarer Konfrontation bis zu dem, was – nicht in einem beschönigenden, besänftigenden Sinn – als Harmonie bezeichnet werden kann.

Werner Puntigam besitzt einen sehr persönlichen Begriff von musikalischer Qualität. Für ihn geht es nicht um das technisch perfekte, rasant exponierte Ineinandergreifen akademisch angeeigneter Phrasen (bitte: nichts gegen die Phrase!), die sich durch ihre spieltechnische Brillanz zu einem musikalischen Ganzen fügen. Für ihn ist stattdessen das Musikalische eng mit seiner Vorstellung von Improvisation verbunden. Qualitätvolles Musizieren entsteht im Moment des Aufeinanderhörens, des bewussten, oft intuitiven Reagierens auf den anderen oder die Situation. Für ein derartiges Verständnis des musikalischen Interagierens stellt der Faktor der Zeit und des sich Zeitlassens ein wesentliches Element dar. Es ist eine Binsenweisheit, dass auch und vor allem die nicht gespielten Töne und die Pausen zwischen den Klängen die Wirkung und Spannung eines musikalischen Geschehens ausmachen. Paraphrasiert man den Ausnahme-Pianisten Keith Jarrett, so entsteht durch das Timing die Komplexität des Einfachen. Werner Puntigam besitzt diesbezüglich einen – durchaus wörtlich zu verstehenden – langen Atem. Musiziert man mit ihm, muss man spannungsvolle Momente des klanglichen Horror vacui aushalten können.

Das Ergebnis ist ein vor allem durch extreme Transparenz geprägtes klanglich-musikalisches Geschehen, das im besten Sinne des Wortes als Kammermusik bezeichnet werden kann. Jedes Detail bekommt Raum, wird wahrnehmbar und trägt bewusst zum Ganzen bei. Kein Wunder also, dass diese Musik sich den technischen Möglichkeiten der Verstärkung weitgehend entzieht und Räume braucht, die ihre Charakteristika für die ZuhörerInnen möglichst unmittelbar hörbar machen. Dichte und Intensität entstehen nicht durch Notenkaskaden, sondern durch die Erfahrbarkeit des einzelnen Tons, des herausgearbeiteten Geräuschs. Puntigams kammermusikalische Improvisationen grenzen sich damit bewusst ab vom landläufig verwendeten Begriff des Freejazz, der sehr häufig intendiert, durch das dichte, oft rasende Zusammenfügen und Überlagern individueller, fast autistisch agierender instrumentaler Stimmen einen expressiven, ja explodierenden Gesamtklang zu schaffen. Natürlich kennt auch Puntigams Musik Momente der tempomäßigen Verdichtung, der gesteigerten Expression und größtmöglichen dynamischen Breite und natürlich ist auch er nicht dagegen gewappnet, die Zuhörenden virtuos zu „überwältigen“. Doch bleiben auch diese Phasen Teil eines interaktiven Geschehens, das im Idealfall einer gesteuerten oder sich ergebenden Dramaturgie folgt.

Erleb- und hörbar ist die Musik Werner Puntigams in einer Vielzahl von musikalischen Projekten, Besetzungen und CDs. Zum Kennenlernen eigenen sich die umfangreichen Konzertdokumentationen auf Dorf-TV, YouTube und seiner Homepage, die er, wie auch alle übrigen grafischen Arbeiten selbst gestaltet. Ab Herbst 2018 wird Werner Puntigam wieder verstärkt in Linz und Oberösterreich in verschiedenen Konstellationen zu hören sein. Verwiesen sei u. a. auf die Konzertreihe des Linzer Vereins Musik im Raum (MIR), die ab Oktober stattfinden wird.

Eine besondere Qualität zeigt Puntigams Zusammenarbeit mit dem japanischen Trompeter und Bassklarinettisten Rabito Arimoto. Sie ist dokumentiert auf der 2017 erschienenen CD „kokyu“ („atmend“; erschienen bei ATS-Records). Zu hören ist auf ihr in Reinform Werner Puntigams Auffassung freier kammermusikalischer Improvisation. Nach ihrem Gastspiel beim hochkarätig besetzten JAZZ ART SENGAWA Festival in Tokio Mitte September wird Arimoto im November mit Unterstützung von LinzIMpORT in Österreich sein und eine Reihe von Konzerten vorwiegend in Linz und Oberösterreich mit Werner Puntigam spielen. Überhaupt ist es dem Posaunisten generell sehr wichtig, zukünftig seine Aktivitäten in Kooperation mit aufgeschlossenen heimischen Veranstaltern und Festivals auch hierzulande wieder zu verstärken.

 

www.ear-x-eye.info (inkl. Videos und aktuelle Live-Termine)
www.musikimraum.at

jazzartsengawa.com/en_2018

15. Sep. 2018: Auftritt beim JAZZ ART SENGAWA Festival in Tokio mit den japanischen Musikern Rabito Arimoto (tp, bcl) und Makigami Koichi (voc, poetry)

17.–30. Sep. 2018: Artist Residency in Singapur inkl. Realisierung einer audiovisuellen Installation und Performances in Kooperation mit der Künstlerin Sharyl Lam (SIN)

14. Nov. 2018: Vierteiliges Hauptkonzert der THE SOUND OF ODEM Duo-Tour mit Rabito Arimoto (J) und Gastkünstler_innen in der Rudigierhalle des Linzer Mariendoms
(9.00 h, 13.00 h, 17.00 h, 21.00 h)

Die aktuelle CD von Werner Puntigam mit Rabito Arimoto heißt „kokyu [breathing]“.

Werner Puntigam betreibt einen Channel auf Dorf TV.