2 x 20 Jahre Jubiläumspublikation

TU20_LK

Die Linzer Kunstinitiative Time’s Up hat im Mai das 20-Jahre-Jubiläumsbuch Lückenhaft & Kryptisch veröffentlicht. Es handelt sich um ein reichhaltiges und ansprechend gemachtes Buch mit ausführlichem Bild- und Textmaterial sowie um eine Publikation, „die durch die Stimmen von (temporären) WegbegleiterInnen, (entfernten) BeobachterInnen und (kritischen) KennerInnen von Time’s Up die eigene Perspektive auf Time’s Up erweitert“, oder auch, „die versucht einen Einblick in das Wesen und die Ideen von Time’s Up zu geben“ (Zitate Time’s Up). Die Publikation inkludiert unter dem zweisprachigen Titel Lückenhaft & Kryptisch / Incomplete & Ambiguous deutsche und englische Texte und richtet seinen Blick, ebenso kryptisch formuliert, darauf, „dass Time’s Up zwischen 2016 & 2017 sein 20-jähriges Jubiläum feierte“. www.timesup.org/LK

roeda-book-20years-240x320-umschlag-768x1024Das Steyrer Veranstaltungshaus Röda hat unter dem Titel 20 JAHRE RÖDA. Und wie es dazu kam – ein Zwischenbericht bereits seit einigen Monaten seine Jubiläumspublikation lanciert. O-Ton des Röda zum Buch: „Am 28. November 1997 wurde das Röda mit allem nötigen Pomp eröffnet. Hier kriegt ihr die Story des Röda. Von den ersten Forderungen der Steyrer MusikerInnen, über die wilden Tage im Kaftwerk-Keller, eine Demo am Allerseelentag 1994, die Herbergssuche und schlussendlich 20 Jahre Röda-Betrieb. Garniert mit „Spots“ genannten Soloeinlagen, unzähligen Fotos, Plakaten, Programmauszügen und Zeitungsausschnitten. Quasi die Ursuppe.“
roeda.at/wo-gibts-denn-jetzt-das-buch

Die Referentin gratuliert und empfiehlt.

The Drake Equation

Radioteleskope, aber sonst weder Mobilfunk noch TV- und Radiosendungen: Seit den 50er Jahren wird in der National Radio Quiet Zone im US-Bundesstaat West Virginia nach Spuren außerirdischen Lebens geforscht. Paul Kranzler und Andrew Phelps haben sich in die Zone begeben, in der neben Wissenschaftler auch Siedler, Bärenjäger und vermehrt Elektrosensible anzutreffen sind. Entstanden ist der Fotoband „The Drake Equation“, den sich Lisa Spalt angesehen hat.

1932 entdeckte Karl Guthe Jansky, dass die Milchstraße Radiowellen emittiert. Die Telefongesellschaft Bell hatte ihn beauftragt, Störsignalen im Kurzwellenband nachzugehen. Als Jansky seine Ergebnisse 1933 veröffentlichte, interessierte das niemanden. Erst Ende der 30er-Jahre beschäftigte sich ein Amateurastronom wieder damit. Er baute die erste Parabolantenne, die Signale aus dem All empfing. Diese war dann auch bereits der Prototyp für die heutigen Radioteleskope. Eins der wichtigsten dieser Gattung, das Green Bank Telescope, befindet sich in der National Radio Quiet Zone, einem rund 34.000 km2 großen Gebiet in West Virginia. Damit hier kein Geburtstagsgruß aus dem All verpasst wird, wird penibelst darauf geachtet, dass irdische Signale den Empfang nicht stören. Durch eine, bereits in den 50er-Jahren eingerichtete Einschränkung der Rundfunkstationen in dem Gebiet ist der Funkempfang für Radioteleskope optimal. Im Umkreis von 20 Meilen um das Teleskop herum gibt es keinen Mobilfunkempfang. Aktiv wird in der Gegend nach schlecht abgeschirmten elektrischen Anlagen gesucht. Denn hier sollen sie empfangen werden: die Signale von Außerirdischen, die sich in den Tiefen des Alls danach sehnen, endlich einmal einen Marshmellow zu essen.

Nun: Jorge Luis Borges entwickelt in einer seiner Erzählungen den Gedanken, dass, wenn man sich vorstelle, es gebe an einer bestimmten Stelle vergrabene Gegenstände, diese auch irgendwann gefunden werden. 1961 stellte Astrophysiker Frank Drake eine Formel auf, welche die Bedingungen der Existenz von Außerirdischen beschreibt. Vielleicht kann sie sie eines Tages auch hervorzaubern? Darauf hoffen jedenfalls die WissenschafterInnen, die in der National Radio Quiet Zone agieren.

Sehr eigentümliche Eindrücke aus diesem eigentümlichen Gebiet der Erde haben die Fotografen Paul Kranzler (Österreich) und Andrew Phelps (Österreich/USA) in ihrem Buch „The Drake Equation“ versammelt. Es wirkt wie eine Bildgeschichte über Grenzen alle Art.

Zuerst die Menschen: Grenzgänger. Balancieren auf der Kante einer Betonplatte oder werden in derart intimen Nahaufnahmen gezeigt, dass die Grenzüberschreitung der Kamera in eine andere Wirklichkeit zu führen scheint.

Aber auch technische Apparaturen führen in eine andere Welt. Wirken wie Großküchen von Alien-Nationen, die allerdings bereits so lange hier leben, dass die Geräte heimelig anmutende Gebrauchsspuren zeigen. Kurz verhüllt Nebel ein Mobile Home – oder vielleicht bilden gerade die Abgase eines Raumschiffs diesen Schleier, der auf das unsichtbare Außerhalb des Bildes verweist. Stoßen Alien-Raumschiffe Abgase aus? Wir befinden uns an einem Ort, an dem man mit Hunden kommuniziert und die Grenze zwischen Menschenplanet und Tierplanet spürt, die man nie zu überschreiten vermag. Die Messe findet hinter den genarbten Scheiben einer Kirche statt. Wer weiß, wer hier in welcher Weise mit welcher außerirdischen Macht kommuniziert? Ist Gott ein Alien? War Michael Jackson der Messias? The National Radio Quiet Zone ist eine Ausklappung in eine Parallelzeit, die bereits verlassen und gleichzeitig von unverständlichen Lebewesen bewohnt wirkt. Ein Junge läuft durch den Wald. Er ist nicht allein, irgendein Wesen folgt ihm, lugt durch die Büsche. Jemand macht Aufnahmen, die bei mir, in Österreich, auf eine konsternierte Rezipientin treffen. Der Blick fällt auf ein zerstörtes Haus, wie angenagt oder mit scharfen Krallen zerrissen. Ich meine das Beweisfoto eines Vorfalls vor mir zu haben, der vielleicht nie stattgefunden hat, aber eben doch dokumentiert ist. Da klappen Welten in andere um. Die Standstills scheinen zu einem bereits existierenden oder vielleicht schon wieder verschollenen Film zu gehören, dessen Sprache ich nicht verstehe. Eine Frau – eine Figur – sitzt da. Sie sieht mit seltsam unzentriertem Blick in die Kamera, sieht Dinge, die keine Linse fassen kann, dieser Blick, der Unfassbares festhält, ist seltsam festgezurrt. Die Frau weiß, dass ihr Körper im Bild immer Gast sein wird, dass das Bild Dreidimensionales fesseln muss, um es festzuhalten, um es nicht entwischen zu lassen. Ihren Kaffee trinkt sie aus einem Plastikbecher, der wahrscheinlich länger existiert als die für ihr Menschenleben anderswo konzipierten Gläser. Ich fühle mich beim Sehen der Bilder unausgeschlafen, aber überwach. Diese National Radio Quiet Zone ist von meiner Welt in etwa so weit entfernt wie die DDR und andere Staaten, die in der Vergangenheit liegen und damit in einen parallelen Raum geraten sind. Da gibt es einen jungen Menschen mit blitzblauen Haaren, grünen Augen und einem wissenden Lächeln. Während das androgyne Wesen lacht, bröckelt auf einer anderen Seite des Buchs eine über dem Holz liegende, bemalte Schicht weg, ein Stückchen Zeitungspapier, vergilbt, sieht darunter heraus. Wann starben hier die Dinosaurier, die Menschen aus? Werfe ich, indem ich die Seiten des Buches betrachte, einen Blick in die Vergangenheit oder eher in die Zukunft meiner Gegenwart? Beides sind Bereiche, die ich nicht besuchen werde können. Ein paar Bäume wirken verwischt, als seien sie nur gemalt. Ein Mann sitzt in seinem Sessel. Wie bei einer Barbie-und-Ken-Figur zeigen sowohl seine Gürtelschnalle als auch ein Badge auf seinem Hemd seinen Namen in zwei verschiedenen Schriftzügen. Hier hat jemand verschiedene Logos für ein und dieselbe Puppe entworfen. „Ach, es war so groß und gewölbt“, scheint eine Frau zur anderen zu sagen und sich zu amüsieren. Ich habe Angst, sie könnte die knisternde Stille der umstehenden Anlagen stören. Ihre Stimme ist aber weggeblendet. Der vielleicht zu der Szene mit den zwei Frauen gehörende Plan zeigt Faraday’sche Käfige in Iglu-Form, die vor Radiowellen schützen sollen, geplant für eine Gesellschaft, die sich in der National Radio Quiet Zone vor den elektromagnetischen Emissionen der sonst allgegenwärtigen Handy-Masten, W-Lans, Radiostationen versteckt. Diese MigrantInnen aus einer ihrer Meinung nach verseuchten Welt leiden an Elektrosensibilität oder vielleicht auch nur an einer irrationalen Angst vor elektromagnetischer Strahlung. Untersuchungen der WHO scheinen zu beweisen, dass sie Emissionen nicht erspüren können und die auftretenden Symptome vom verkehrtem Placebo-, also Nocebo-Effekt herrühren. Sie wissen schon: Wenn wir von den Nachbarn hören, dass die Kinder sich in der Schule Läuse eingefangen haben, kratzen wir uns auch gleich am Kopf. Ähnlich plagen Kopfschmerzen und Schlafstörungen Elektrosensible wahrscheinlich nur, weil sie sich vor den Emissionen fürchteten. Doch was nützt die Erkenntnis? Wie schon das Thomas-Theorem besagt: Wenn ich mir etwas einbilde und danach handle, sind die Effekte dieser Handlung so, als wäre das Erfundene Wirklichkeit. Den Sensiblen bleibt nichts anderes übrig, als hier in die National Radio Quiet Zone zu ziehen. Hier treffen sie auf BärenjägerInnen und Ahornsirup-Sammelnde, aber auch auf WissenschafterInnen, AstronomInnen aus aller Welt, die die spezielle Forschungssituation nutzen.

Kranzler und Phelps haben diese ganz besondere Welt, an der man wie an einer streng begrenzten Versuchsanordnung sehen kann, dass Zusammenleben immer auf der Basis menschlicher Fiktionen passiert, die nicht unbedingt kongruent sind, nicht etwa einfach festgehalten, sondern erzählt. Sie erzählen, wie das die Fotografie so macht, mit Löchern im Film. Die von Momentanaufnahmen dünn besiedelte Landschaft ihrer Erzählung lässt viel Raum und Ruhe für das Bauen eigener Luftschlösser. Ich kann – oder muss mir – beim Betrachten meine eigene National Radio Quiet Zone erzeugen. Jeder Bildrand ist eine Grenze, hinter der mein Deuten, mein erzählendes Verbinden der Bilder beginnt. Was macht das möglich? Zum einen ist es für mich das bereits beschriebene Fotografieren von Grenzen. Zum anderen aber erzeugt ein einfaches Element des Erzählens diese Anregung zum Weiterspinnen: Eine Gruppe der in der Zone lebenden Menschen besteht aus den Jägern und Ahornsirupsammlern, deren Familien oft schon seit Jahrhunderten hier leben. Alard von Kittlitz beschreibt sie im Begleittext zum Buch mit den Worten, sie wirkten, als seien sie gerade einem Faulkner-Roman entsprungen. Und tatsächlich scheint sich zu bewahrheiten, was einmal jemand – war es Roger Caillois? – als wichtigstes Charakteristikum des Phantastischen beschrieben hat: dass es nämlich nur dann seine Wirkung entfalten kann, wenn es in Alltägliches, Gewohntes eingewoben ist, in diesem Fall vielleicht beinahe in Klischiertes. Die Bilder dieses Buches erinnern an Stills US-amerikanischer Filme, die dem Unheimlichen ihren Tribut zollen. Gleichzeitig könnten die Szenen durchaus von einem Modellbauer gefertigt und dann so aufgenommen worden sein, dass man sie für Aufnahmen von Lebenden hält. Beim Recherchieren stellten sich jedenfalls bei mir Zweifel ein: Gibt es diese National Radio Quiet Zone wirklich? Allzu phantastisch kommt mir das Setting vor. Beim Durchforsten der Historie der entsprechenden deutschsprachigen Wikipedia-Einträge entdecke ich, dass sie jeweils erst im Jahr 2013 beginnt.

 

Paul Kranzler, Andrew Phelps: The Drake Equation
Das Buch ist bei Fountain Books erschienen. Erstausgabe 2018, limitierte Auflage von 1000 Stück, 120 Seiten, € 45.–
fountainbooks.de

Im Herbst ist in der Landesgalerie die Ausstellung „The Drake Equation“ von Paul Kranzler und Andrew Phelps zu sehen.

Paul Kranzler, Andrew Phelps: THE DRAKE EQUATION
Im Jahr 2015 verbrachten die Fotografen Paul Kranzler (A) und Andrew Phelps (A/USA) viele Wochen in der National Radio Quiet Zone, in der Umgebung der kleinen Stadt Green Bank und des Green Bank Observatory, um diese einzigartige Gemeinschaft von Forschern, Elektrosensiblen und einheimischen Familien zu dokumentieren.
Das daraus entstandene Buch THE DRAKE EQUATION zeigt eine naturbelassene Landschaft, durchsetzt von grotesk anmutenden, riesigen Teleskopen. Und es zeigt Menschen, in deren Körpern und Haltungen sich das Leben im Green Bank spiegelt.
„Ich denke, dass es bei der fotografischen Arbeit, die Sie jetzt in Ihren Händen halten, um viele Dinge geht, um Zeit und Wissenschaft und Technik und Natur, für mich jedoch ist es im Wesentlichen eine Arbeit über Amerika“, schreibt der Journalist Alard von Kittlitz in seinem begleitenden Text.
In Green Bank wurde 1961 auch die titelgebende Drake-Gleichung auf einer Konferenz erstmalig vorgestellt. Die vom Astro-Physiker Frank Drake entwickelte Formel dient zur Abschätzung der Anzahl der technischen, intelligenten Zivilisationen in unserer Galaxie, der Milchstraße. Es handelt sich bei der Gleichung um ein Produkt, von dem die meisten Faktoren unbekannt sind.

Wo es Schmutz gibt, gibt es ein System

Die Ausstellung Clean Cube. Zur Kritik der reinen Vernunft zeigt im Juni in der ehemaligen Waschstraße der Kulturtankstelle Arbeiten über Sauberkeit und Schmutz. Victoria Windtner, die die Ausstellung textlich begleitet, beleuchtet beispielhaft – und montiert einen Text, der über die Ausstellung hinaus seine eigene Thematik im Diskurs über Reinheit, Ökonomie und den unsichtbaren Dreck forciert. Ergebnis dessen sind Gedankensprünge zwischen Kunst und Sauenwaschung.

Rosa Haut, spritzendes Wasser und abgespülter Kot. Das war meine erste bildhafte Assoziation, als ich die Worte „Ästhetiken der Reinigung“ las. Es war während den Vorbereitungen zur Ausstellung Clean Cube. Zur Kritik der reinen Vernunft. Die Ausstellung ist in der Kulturtankstelle zu sehen, nimmt die Location der ehemaligen Waschstraße beim Wort und thematisiert tradierte Vorstellungen von Reinheit, Sauberkeit und Schmutz sowie deren kulturelle, politische und religiöse Dimensionen.

 

Die Waschstraße, ein gefliester Ort, in dem automatisierte Prozesse ablaufen, um Schmutz von Autos abzuwaschen, spülte meine eigenen Gedanken fast automatisch in den gleichen Kontext, aus dem die eingangs beschriebene Assoziation – der rosa Haut, des spritzenden Wassers und des abgespülten Kotes – stammt. Es handelt sich um eine Fotografie zum Artikel „Einmal waschen bitte“, in der Fachzeitung „Die Landwirtschaft“, der Landwirtschaftskammer Niederösterreich. Zu sehen ist ein Schwein umgeben von Gitterstäben und eine weiße, männliche Person, die einen Wasserstrahl auf das rosa Lebewesen richtet, um den Dreck von seinem Körper abzuspritzen.

 

Die Ausstellung Clean Cube zeigt eine Video-Sound-Installation, die mich an das beschriebene Bild erinnert. Der Wasserstrahl und das Abwaschen finden sich in zwei parallel abgespielten Videos von Carina Nimmervoll wieder. Links wäscht die Künstlerin Temperafarbe von ihren Füßen ab und reibt ihre Zehen und Fußflächen immer energischer aneinander, um die Farbe zu entfernen. Das Wasser verfärbt sich rot und die Farbe setzt sich an der weißen Badewanne ab. Rechts ergießt sich ein Wasserstrahl über ihre Füße. Füße, Farbe, Sichtbarmachung, Entfernung – Die Künstlerin erklärt mir, dass es unter anderem auch darum geht, dass uns die oft wenig beachteten Füße die Möglichkeit geben uns aus Situationen zu entfernen.

 

Diese positive Idee mit befreiender Wirkung bringt mich zurück zum Schwein unter dem Wasserstrahl. Die äußerlichen Bedingungen in der Landwirtschaft sind allerdings allesamt nicht darauf ausgelegt, dass sich dieses Schwein aus der bestehenden Situation entfernen kann. Obwohl es vier Füße hat. Das Schwein auf dem eingangs beschriebenen Bild in der Landwirtschaftszeitung ist ein Mutterschwein, also Protagonistin im landwirtschaftlichen Schweinereproduktionssystem. Die dargestellte Szene zeigt eine Praktik im Sinne des Hygienemanagements der Tierproduktion: die Sauenwaschung. Dabei wird schwangeren Schweinen der Kot, Urin und Staub von ihren Körpern abgewaschen. Dies geschieht kurz bevor sie vom Wartestall, wo sie sich ab der künstlichen Befruchtung durch Menschenhand befinden, in den Abferkelstall gebracht werden, wo die Geburt ihrer Ferkel stattfindet. Die Waschung ist ein einzigartiger und dem Mama Schwein vorbehaltener Moment. Zu keinem anderen Zeitpunkt werden innerhalb des Produktionsprozesses lebendige Schweine gewaschen, obwohl an ihren Körpern andauernd Kot, Urin und Staub kleben. Der Schmutz in Form von Fäkalien ist fixer Bestandteil der landwirtschaftlich-industriellen Struktur. Eine Tatsache, die mich zum Werk Berührung von Angelika Windegger führt.

 

Das in der Kulturtankstelle unscheinbar wirkende Waschsetting mit der Handlungsanweisung „Vor dem Eintreten Händewaschen“. Die Kulisse der Holzkonstruktion erzeugt ein Täuschungsmanöver. Ein Blick in die Rauminstallation löst Irritation aus und Windegger macht die Manipulation sogleich sichtbar. Sie zeigt, dass sich das zum Händewaschen angebotene Wasser in einem zirkulären Kreislauf befindet. Jede*r wäscht sich mit demselben Wasser die Hände. Dadurch kommt es zur indirekten Berührung. So werden Steuerungsmechanismen, Reinheitsansprüche und Berührungsängste angesprochen sowie gesellschaftliche Prägungen und kulturelle Codes.

 

Eröffnet wird dabei auch die Frage, was Schmutz denn überhaupt ist und wie Schweine eigentlich so Schmutz geworden sind, dass die Bezeichnung ihrer Art und ihrer Nachkommen sogar als Schimpfwörter verwendet werden. Die Grundsteine für die Konstruktion des „schmutzigen Schweins“ wurden in den monotheistischen Religionen gelegt. Kunsthistoriker und -wissenschafter Roger Fayet erklärt in „Reinigung. Vom Abfall der Moderne zum Kompost der Nachmoderne“ (2003), dass die expliziten Ursachen für Reinheit und Unreinheit von Tieren* in der Bibel im „Prinzip der eindeutigen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tierkategorie“ (Fayet, 53) liegen. War keine eindeutige Zuordnung des Tieres* möglich, galt es als unrein. Die schmutzigen Vorurteile, die der Mensch gegenüber dem Schwein hegt, sind auf sein eigenes Schmutzverständnis und Ordnungssystem zurückzuführen. Der Mensch verletzt aber häufig selbst die festgelegten Kategoriengrenzen, beispielsweise wenn es um die Grenze von Außen und Innen und deren Durchbrechung geht. „Was die Menschen verunreinigt, sind Körperausscheidungen, Hautaussatz, Geschwüre, genitale und menstruale Ausflüsse, sowie der Vorgang der Geburt“, schreibt die Sozialanthropologin Mary Douglas, in „Reinheit und Gefährdung“ (1988). Douglas beschreibt den Schmutz selbst als etwas Relatives, „etwas, das fehl am Platz ist“ und hält fest: „Wo es Schmutz gibt, gibt es ein System“. (Douglas, 52f)

 

Im System der Schweineproduktion können die allgegenwärtigen Fäkalien als ambivalenter Code verstanden werden. Aufgrund des Haltungssystems werden Schweine zudem, was die Vorurteile über sie schon lange sagen, schmutzig. Ethologische Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass Schweine, wenn es ihre Umgebung erlaubt, oder sie nicht in Gefangenschaft leben, Liege- und Kotplätze trennen. Es entspricht also nicht dem schweinlichen Wesen, über dem eigenen Kot zu leben, wie es ihnen die aktuelle landwirtschaftliche Produktionspraxis mittels Vollspaltenböden abverlangt und ihnen verunmöglicht schweinliche Bedürfnisse nach Sauberkeit auszuleben.

 

Dieser Gedanke führt mich zurück in die Ausstellung Clean Cube und zum Werk Untitled – How would you like to get rid of it? von Bernadette Laimbauer. Es ist ein Angebot zur sinnlich-interaktiven Begegnung im Ausstellungsraum. Ein Würfel aus Seife bildet das Gegenüber der One-to-One-Performance zwischen Mensch und Riesenseife. Das ästhetische Objekt transformiert sich durch den Kontakt mit Wasser und menschlichen Körpern. „Die Seife nimmt den Schmutz mit, der Schmutz verschwindet und dabei auch die Seife selbst“, erklärt Laimbauer und gibt eine klare Handlungsanweisung – „Bitte berühren!“. Das Material wird zur Performerin, so benannt bei Quasikunst im Rahmen des Kunst- und Technologiefestivals Stadtwerkstatt 48×3 2017, bei Tanja Brandmayrs Eisberg – The Entity – 48 Hours Meltdown. Der Eisblock als Performer ist längst verschwunden, weil geschmolzen, doch in meiner Phantasie findet zwischen Riesenseife und Eisblock eine performative Verschmelzung statt und es läuten die Hochzeitsglocken.

 

Jegliche Romantik verfliegt, wenn ich überlege, dass auch Mama Schwein als materielle Performerin gedacht werden kann. Ist sie doch rechtlich nicht mehr als Sache und Eigentum eines Menschen in einem milliardenschweren Industriezweig. Dazu kommt, dass diesem Industriezweig viel daran liegt, die eigenen Produktionsbedingungen unsichtbar zu machen. Immer häufiger tritt dabei die Politik auf und stellt die Weichen zur rechtlichen Legitimierung der Unsichtbarmachung. Es handelt sich dabei um Rechtstexte, die in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits einen eigenen Namen bekommen haben – Agriculture Gags (Ag-Gags). Der amerikanische Autor und Journalist Mark Bittmann prägte den Begriff, es handelt sich dabei um „Rechtstexte, die das Aufdecken von Missständen in der Agrarindustrie bestrafen sollen“ (derstandard.at 2015). In Ober- und Niederösterreich gibt es bereits derartige Rechtstexte, #Betretungsverbot, #Feldschutzgesetz und Vergleichbares in der bundesweiten Schweinegesundheitsverordnung (SchwG-VO). An einer Erweiterung wird auf Bundesebene aktuell gearbeitet. Im Programm der schwarz-blauen Bundesregierung ist die Rede von Schutz „gegen das illegale Eindringen in Stallungen“ und „Beweisverwertungsverbot“. Das könnte bedeuten, dass beispielsweise Bilder, die in Stallungen gemacht wurden, nicht vor Gericht verwendet werden dürfen, sondern vernichtet werden müssen, weil sie illegal entstanden sind. Die Unsichtbarmachung der Produktionsbedingungen und möglicher Missstände erreicht eine neue Dimension. Dabei bietet Österreich zum Schutz von Eigentum ausreichend Möglichkeiten, trotzdem soll landwirtschaftliches Eigentum besonderen Schutz erhalten. Das Argument „Sie wollen doch auch nicht, dass jeder* in ihr Wohnzimmer reinschaut“, wird in diesem Kontext oft strapaziert. Bei Produktionshallen und Tierstallungen handelt es sich jedoch faktisch nicht um Wohnzimmer von Bauernfamilien und damit nicht um Räumlichkeiten, in denen die Privatsphäre unter besonderem Schutz steht.

 

Ein Vernichtungsgebot von Bildmaterial erinnert ein bisschen an Bilderverbot und Bilderstreit. Andrey Ustinov überführt in ICONOCLASH. Footage zu einem nicht-realisierten Videoprojekt das Thema Bilderstreit in den Kontext einer modernen multikulturellen Großstadt. Er zeigt einen Mann beim sachgemäßen Zerstören von Werbebildern. Herr C. arbeitet als Plakatkleber in Köln und ihn stören so manche Botschaften und Bildmotive auf den Plakaten, die er aufkleben muss. Für ihn ist das Herunterreißen der Plakate eine politisch subversive Geste, es gehört aber ebenso wie das Aufbringen der Plakate zu seiner Arbeit. Wird ein Plakat heruntergerissen, das saubere, glücklich wirkende Schweine auf einer grünen Wiese zeigt, schließt sich der Kreis zu Mama Schwein. Sie wird niemals in ihrem Leben eine grüne Wiese betreten, aber die Erinnerung an sie ist in einen Text geflossen, der assoziativ Bilder und Diskurse aus dem Ausstellungskontext aufnimmt und anhand zeitgenössischer Kunst den Blick auf das zeitgenössische System der Schweineproduktion eröffnet. In der Ausstellung selbst ist keine Sauenwaschung zu sehen.

 

Über Schweine zu schreiben ist vermutlich nicht besonders schick. Selbst kritischen Zeitgenoss*innen ist die Erwähnung dieser Lebewesen unbequem, wenn es außerhalb von Speisekarten geschieht und die üblichen sprachlichen Verhüllungen, wie Stelze, Schnitzel, Schinken und Speck durch die Benennung der lebendigen Wesen selbst entblößt werden. Doch Unbequemlichkeiten zugunsten erweiterter Sichtweisen nehme ich gerne in Kauf. Versprochen.

 

Das Wort Tier wird im Text mit einem * versehen, um auf die soziokulturelle Konstruktion des Begriffs zu verweisen.

 

Clean Cube. Zur Kritik der reinen Vernunft
8.–22. Juni 2018, tägl. 16.00–20.00 h

kulturtankstelle
Dametzstrasse 14
4020 Linz

Opening am 7. Juni 2018 um 18.00 h mit einer Performance von Bernadette Laimbauer

Für zwei Wochen wird die kulturtankstelle, das neue Coop-Lab des OÖ Kulturquartiers und der Kunstuniversität Linz, zum Clean Cube oder besser: zu einem Ort der Auseinandersetzung mit den Ökonomien der Reinheit in Kunst, Politik, Religion und Gesellschaft. Ausgangspunkt der Ausstellung im Linzer City Parkhaus war das Dispositiv der ehemaligen Waschstraße – eine von automatisierten Prozessen begleitete Passage im urbanen Raum.

16 Künstler*innen befragen die Grenzen der Sauberkeit und die Reinheitsideale der Moderne. Sie spielen mit der Kontamination, untersuchen Mechanismen des Ein- und Ausschlusses, urbane Wasserkreisläufe, politische Aufräumrhetorik und den Schmutz des White Cube.

Künstlerische Positionen:
Santiago Alvarez, Maria Dirneder, Johannes Fiebich, Eveline Handlbauer, Julie Sophie Kratzmeier, Twana Kushnau, Bernadette Laimbauer, Matthias Lindtner, Domas Schwarz, Atena Neuhuber, Carina Nimmervoll, Jens Pecho, Marlene Penz, Andrey Ustinov, Nico Joana Weber, Angelika Windegger

Redaktion: Lisa Maria Schmidt, Stefanie Schiefermair, Victoria Windtner Kuratorische
Leitung: Anne von der Heiden und Jasmin Mersmann

Begleitprogramm
12. Juni, 18.00 h VORTRAG Roger Fayet (Zürich): Abfall, Ordnung und Immersion bei Song Dong und Christoph Büchel

22. Juni, 10.00–20.00 h WORKSHOP

Programm und weitere Infos unter www.kulturtankstelle.at

Salz auf unserer Haut.

sd_salz

Im Auftrag der geschätzten Chefredaktion begibt sich der Dude in die spannende Welt unserer wichtigsten Zutat: Salz. Wer jetzt gedacht hat, dass sich der Slowdude aufgrund des analogen Clickbaits im Titel der Kolumne mit der Erotikschnulze aus den 90er Jahren befasst, irrt gewaltig – einzig der sphärische Soundtrack von Klaus Doldinger sei hier positiv erwähnt. Nix da mit Erotik, Sex oder Beziehungpallawatsch in langsamen Bildern. Als Florian Klenk des Gastrojournalismus geht es dem Dude einzig um harte Fakten und transparente Information für die geschätzte LeserInnenschaft. Salz war für viele lange Zeit die billig zu erwerbende Kartonverpackung oder der schmucke Kunststoffzylinder mit dem Salinen-Austria-Schriftzug. Bilder von Gasthäusern mit unverschraubten Salzstreuern oder selbige mit gelblichen Reiskörnern durchmischt, ergänzen unsere Erinnerungen. Die Herkunft war für uns alle mit dem Schulausflug ins Bergwerk Hallstatt determiniert. Der fade Schulunterricht brachte uns die chemische Zusammensetzung näher. Doch: Die Zeiten haben sich geändert. Ein wahrer Salztsunami ist über die Regale unserer Supermärkte, Reformhäuser, Marktstände und Bioladentheken hereingebrochen. Neben dem hundsordinären Tafelsalz gibt es mittlerweile zig Varianten von Meersalz, Steinsalz, Himalaya Salz, Fleur de Sel, Rosensalz, Kaffeesalz, Selleriesalz, BBQ-Salz mit Hickoryaromen, schwarzes Salz, geräuchertes Salz, Salz aus Hawaii, Chilisalz, Bio-Salz, Salz mit weniger Salz, Kräutersalz, Ur-Salz, ayurvedisches Zaubersalz, Blütensalz und Wilderersalz – um hier nur einen kleinen Ausschnitt der verfügbaren Produktpalette zu erwähnen. Hier fällt dem Slowdude auf, dass Salz eigentlich ein komisches Wort ist. Aber egal. Zu oft horrenden Preisen werden die auch recht seltsam anmutenden Salzkreationen feilgeboten oder als Salz aus „exotischen“ Ländern angepriesen. Salz aus Hallstatt ist in Würzkraft und Gesundheitsbelangen eigentlich nichts anderes als Salz aus Khewra. Aber scheinbar braucht unsere auf die innere Mitte fixierte Biobobo-Gesellschaft die Gewissheit, nahe am Urquell des Lebens zu agieren. Hier trifft der marktschreierische Ökoverkaufsapparat auf geifernden Verbraucherschutz. Die einen verkaufen simples Salz zu absurd hohen Preisen mit Heilsversprechen, die frei erfunden sind. Die anderen kommen mit der Keule, „unser“ Salz ist besser, daher und vergessen dabei, dass das vielgerühmte Himalayasalz meist naturbelassen auf seinen riesigen CO2-Latschen daherkommt, während die meisten Salze aus heimischer Produktion – um den Conveniencegewohnheiten der VerbraucherInnen zu entsprechen – meist mit Aluminiumoxid oder Silikaten versetzt sind, um die „Rieselfähigkeit“ zu gewährleisten. Ja, so ist sie, die schöne Welt der globalen Wohlfühlvielfalt. Ideal wäre hier eine Bio-Planwirtschaft. Nämlich so: Das fröhliche Kollektiv aus dem Salzkammergut produziert Bio-Salz zu fairen Preisen, das später von gut gelaunten Konsum-MitarbeiterInnen an das nicht minder frohe Heer der Werktätigen verkauft wird. Die würzen dann damit ihre schmackhaften, fairen Bio-Speisen und freuen sich des Lebens. So einfach wäre es. Aber der Slowdude ist wie immer euer Navigator und hat euch zum Schluss doch noch was zu empfehlen: Im Preis/Leistungs- und Fußabdrucksranking kann euch der Slowdude zu „Glück auf“-Natursalz der Salinen Austria raten. Herkunft ums Eck und es ist ohne Zusätze – auch der Preis ist ok.

Der Slowdude muss jetzt schließen. Er fährt nämlich zu seiner Salzsommelierausbildung nach Guérande ins Département Loire-Atlantique und bekommt dort sein Diplom verliehen. Gott erhalt’s – unser Salz.

Schönheit der Gegensätze

Kamasi Washington beim Inntöne-Jazzfestival im Mai: Christian Wellmann war vor Ort und befindet, dass Festival und Musiker dem Genre kreatives Oberwasser geben und den Jazz zurück ins öffentliche Bewusstsein blasen.

„Don’t tolerate people, celebrate them.“ Kamasi Washington. Foto Inntöne Festival

„Don’t tolerate people, celebrate them.“ Kamasi Washington. Foto Inntöne Festival

Paul Zauners Bauernhof fungierte beim 33. (!) Inntöne-Jazzfestival abermals als Bühne von und zur Welt. Dass die Verpflichtung Kamasi Washingtons im Umfeld der Konzerte von München und Wien gelang, ist eigentlich ein Wunder, der wohl „kleinste“ Stopp seiner Welttournee, in den Suburbs von Diersbach im Innviertel. Respekt! Alles fühlt sich dort irgendwie „echt“, „ungekünstelt“ an, nah & direkt, einfach, Bio ohne Fake. Ein an seine Grenzen gebrachter Veranstaltungsort, die akustisch (mit)swingende Holzscheune bildete den Rahmen einer mystischen Nacht für die Geschichtsbücher, dieses Intime schaffte es, den Reiz seines Auftritts nochmals zu überhöhen.

 

Zauner selbst ist Jazzmusiker, Produzent, Biobauer und Erfinder des Inntöne-Festivals, als Posaunist fliegt er regelmäßig gen USA, um mit Musikern zu spielen. Philosophie des Festivals ist es, „Stars“ genauso familiär zu erleben, wie die noch weniger bekannten Insidertipps. Der Sauwald wurde nun an drei Tagen zu Pfingsten um eine gediegene Mischung aus europäischen und amerikanischen, erdigen und avantgardistischen Tönen bereichert.

Schon die Anreise stimmt bestens ein: Hinter einem mit „Jazz“ beschrifteten Orientierungs-Pfeiler luchst ein Fasan hinter einem Bienenstock hervor, puh, fast einen Marder mit dem Auto „gerissen“… In der Nachbarschaft ein hinreißendes, poetisches Schild, das „Eier, Schnaps & Likör“ anpreist, statt alles zusammen. Eh, Land, eben. Ringsherum, um Andorf, dröhnen in den Ortschaften die Pfingst-, Zelt-, Feuerwehrfeste, oder künden von Themen-Sommerparties, nach der Fasson der Zeit. Beim Inntöne gibt es – erst recht! – auch ein Zelt im Innenhof, das zum Mitfeiern der Nachbarschaft einlädt, wenn da nicht dieses Gejazze wäre, stört aber niemanden, am Biertisch kummandleitzsoam.

 

Saxofonist, Komponist, Produzent und Bandleader Kamasi Washington gibt dem viel geschmähten Genre Jazz kreatives Oberwasser und bläst ihn zurück in das öffentliche Bewusstsein. Jazz jenseits seiner konventionellen Grenzen. Indem Washington alle Ansichten überschreitet, was Jazz zu sein hat, ist er drauf und dran, ihn wieder zur Musik zur Zeit zu machen. Diese Hoffnung vermittelt er zumindest. Das gelingt ihm ähnlich, wie dies Kendrick Lamar für Hip-Hop praktiziert, auf dessen Geniestreich To Pimp A Butterfly er maßgeblich beteiligt war.

Musik, die wie eine Trotzreaktion auf den Zeitgeist wirkt, mit einer Klangsprache, die auch in Richtung Hip-Hop, Klassik, Soul, R&B oder Elektronik offen ist, und die schon jetzt als Meilenstein in der Musikgeschichte gefeiert wird. Metaphysischer, afrofuturistischer Cosmic Jazz. Seine 2015 erschienene Sound-Odyssee The Epic, eine dreistündige Demonstration in Sachen spirituellem Jazz, machte ihn zum Fackelträger seiner Generation für fortschrittliche und improvisierte Musik. Jüngeres Publikum begann sich wieder für modernen Jazz zu interessieren, ihn in Popmusik-Kreisen zu verbreiten. Der Hauch von Coltrane, Pharoah Sanders oder John Gilmore (Sun Ra) beseelt sein Saxspiel, unter anderem, oder auch Busta Rhymes, dessen Verse er wiederzugeben versucht (normalerweise versuchen Rapper Bläser nachzuahmen), aber er macht sein eigenes Ding, auf jeden Fall. „Ich identifiziere mich zuallererst als Musiker, es geht nicht darum, dass ich ein Jazz-Musiker bin. Ich bin ein Musiker, aber Jazz ist die Musik, die mich inspiriert hat, Musiker zu werden“, so Washington in einem Interview mit Wax Poetics.

 

Letztes Jahr schuf er mit Harmony of Difference eine Multimedia-Installation (und ein gleichnamiges Mini-Album) zur angesehenen Biennale im Whitney Museum of American Art in New York. Seine riesige Fangemeinde wächst kontinuierlich, stellvertretend dafür werden seine Shows bei weltweit bedeutenden Festivals mehr, wie Glastonbury, Primavera oder dem kalifornischen Pop-Festival Coachella, wo er vor kurzem mit erweiterter Streicher-Band vor Beyoncé auftrat. New York, Tokio, Diersbach.

 

Da fliegt mir doch das Scheunendach weg. Das Warten aufs Konzert, wegen Umbaus und Soundcheck, dauerte dann fast länger als der eigentliche Auftritt, was sich im Nachhinein als optimaler Spannungsbogen herausstellen sollte. Förmlich ausgehungert schlang das Publikum dann zu später Stunde den kollektiven Soundpudding in einem Stück runter. Faszinierend an dieser Band ist die kaum in Worte zu fassende Energie, die sie in den Raum stellte. Eine geballte Ladung, ihr Handwerk am Limit ausführende MusikerInnen: zwei super-tighte Schlagzeuger, spacy Keyboards, eine Prise P-Funk versprühend, zweiter Bläser, ein Kontrabassist, der sich mit Effekten in alles Mögliche morphen kann, eine Sängerin als harmonische Grazie oder Kontrapunkt, dazu Washingtons Vater, Rickey Washington, und, ach ja, fast vergessen … Kamasi. Jeder für sich, wenn er nur solo gespielt hätte, wäre schon unglaublich gewesen. MusikerInnen, die schon seit ihrer Kindheit zusammenspielen, das fühlt sich wie „Posses“ im Hip-Hop an. Die Hälfte in Shades, alt und jung, eine „höllisch“ eingespielte Truppe – alle waren sie schon auf oben beschriebenem, wegweisenden To Pimp A Butterfly-Album vertreten. Wie bei allen großartigen Bands ist der „Frontmann“ nicht der „Star“, das ist die Band – wie im Fußball, die Mannschaft entscheidet zusammen ein Spiel. Von sanften Passagen hin zu hartem und schnellem Fusion-Sound, Schlagzeug-Solos der anderen Art, Soul- oder Elektronik-Sprengsel eingeflochten, plötzlich afrikanische oder brasilianische Rhythmen, Groove Is In Da Hut. Der Sound ist niemals retro, ist total im Jetzt, weiß um Geschichte, Einflüsse, und präsentiert sich, so wie sich die Welt darstellt, in all ihrer Komplexität und Schönheit. „Die Schönheit der Gegensätze und das Geschenk der Vielfalt“, wie Washington während des Auftritts dazu anmerkte. „It’s not to tolerate, but to celebrate people.“ Einheit durch Vielfalt, der Geist von Sun Ra schwebt im Raum. Auch merkt er an, dass er schon an allen möglichen Plätzen war und gespielt hat, aber, sich umblickend: „Das ist wirklich eine sehr coole Scheune!“ In philosophischen Gefilden fischt der letzte Track der prachtvollen EP Harmony of Difference, der auch am Live-Menüplan steht, in dem sich Washington mit Variationen von Motiven spielt und sie alle in diesem Lied (Truth) vereint. Jeder spielt seine eigene Melodie, das ergibt ein überwältigendes (Hör)Bild. „I’m a heavy daydreamer – but yes, now, I’m here“, setzte er diesem epischen Song voran.

 

Ein weiteres Highlight ist der Jazz/Soul/Funk-Groover Abraham aus der Feder des Bassisten Miles Mosley – oder das wütende Fists of Fury vom neuen Album, das irgendwie, oder auch nicht, wie ein Rocksong anklingt, komplex zwar, aber eingängig funkey, wenn man sich darauf einlässt. Ein politisch aufgeladener Song der New Civil Rights Era, Soundtrack zur Unzeit. Schon bei Malcom’s Theme (von The Epic) griff er die Thematik auf, doch hier bekommt das eine fast aggressive Bedeutung. Der Text rückt von der (immer wiederkehrenden) Harmonie im Rest seines Sets ab, er versucht gar nicht, die Wut, die in den USA gerade vorherrscht, zu verbergen. Akzente überschlugen sich, Bläser ließen die Fäuste in die Höhe schnellen, dabei zum Mittanzen einladend, bis Sängerin Patrice Quinn sang, schlussendlich brüllte: „Unsere Zeit als Opfer ist vorbei. Wir werden nicht länger Gerechtigkeit verlangen. Wir werden Rache nehmen.“ Ein Hit des Jahres, zweifelsohne, perfekt gesetzt, als letzter Song eines Abends, der noch lange nachhallen wird: danach keine Zugabe, die Message soll bleiben. Tja, eigentlich war es nur der letzte Song für die, die gingen – weil die Band noch anschließend bis zum ersten Hahnenschrei in einem zweiten Raum des Bauernhofes eine Jam Session für die Verbleibenden abballerte.

 

Sein im Juni erscheinendes, zweites Album Heaven & Earth, wovon zwei Stücke live präsentiert wurden, und das Kamasi Washington knapp über einem See schwebend am Cover zeigt, gilt als eines der am sehnsüchtigst erwarteten von 2018, bereits vorab als Platte des Jahres gehandelt. Sein Twitter-Statement dazu: „Die ‚Earth‘-Seite repräsentiert die Welt, wie ich sie von außen sehe, die Welt, dessen Teil ich bin. Die ‚Heaven‘-Seite repräsentiert die Welt, wie ich sie nach innen sehe, die Welt, die Teil von mir ist.“ Gelebte Realität einerseits, seine eigene Realität schaffen anderseits. Da passt es auch perfekt, dass Heaven & Earth auf dem hippen Young Turks-Label erscheint, das sonst eher Poppiges/Gehyptes wie The Xxs, FKA Twigs rausbringt. Das zeigt auch, dass Jazz nicht mehr nur für deine Großeltern ist, sondern eben auch im Pop angekommen ist. Jazz anno 2018, keinen Trends nachhechelnd, aber sie setzend. Vielleicht eine der toughesten Livebands des Planeten, live noch um einen Tick mitreißender als auf den sowieso schon grandiosen Platten. Das Schönste zum Schluss – das alles ist wohl erst der Beginn.

 

www.inntoene.com
www.kamasiwashington.com

Abweichende Schreibweisen in diesem Text sind beabsichtigt.

3 Tage X

Das Klangfestival Gallneukirchen besticht seit zehn Jahren mit experimenteller Musik, mitreißender Verve und einladender Atmosphäre. Von 24. bis 26. August findet die Jubiläumsausgabe statt. Stephan Roiss sprach mit zwei der OrganisatorInnen, Tanja Fuchs und Thomas Auer, und gibt eine Vorschau auf die musikalische Programmierung von X.

Schöpfen musikalisch aus dem Horror: Okabre. Foto ARGEkultur/Walter Lienbacher

Schöpfen musikalisch aus dem Horror: Okabre. Foto ARGEkultur/Walter Lienbacher

„Wenn dir langweilig ist, wirst du kreativ“, sagt Thomas Auer, dem als 15jähriger in Gallneukirchen offenkundig langweilig war. Er und ein paar AltersgenossInnen beschlossen in ihrem beschaulichen Heimatstädtchen eine Location nach Vorbild der Linzer Kapu ins Leben zu rufen. Zwar scheiterte das Projekt kurz vor seiner Umsetzung an plötzlich einsetzendem Beamtenbammel. Doch die junge Gruppe hatte sich geformt, erste Erfahrungen gesammelt und Blut geleckt. Einige Jahre später reichte man bei der Stadtgemeinde das Konzept des Klangfestivals ein, erhielt finanzielle Unterstützung, gründete einen Verein und war nun nicht mehr aufzuhalten.
Das allererste Festival (2008) war als Open Air geplant, wurde aber vom Wetter zunächst verhindert. In der Folge wurde nicht nur der Termin verschoben, sondern auch gleich der Veranstaltungsort: weg von einem Parkplatz im Ortskern, hin zu einem Bauernhof in idyllischer Lage. Das Warschenhofer Gut blieb acht Jahre lang Schauplatz des Festivals und bot eine ebenso einzigartige wie charmant-skurrile Atmosphäre. Eine Scheune voller Lärm genießen, dann an Kunstinstallation und Traktor vorbei zum Zelt gehen, morgens verkatert Kühe schauen. Diese Symbiose von Landwirtschaft und zeitgenössischem Kunstschaffen endete 2015.

Bewegte Geschichte
Für 2016 hatte das Organisationsteam eigentlich eine Pause geplant. Doch ein leerstehendes Geschäftslokal im Ortszentrum (Alte Nähstube) lud förmlich zur Zwischennutzung ein. Man konnte dort einfach nicht nichts veranstalten. Der Verein benannte sich in „Klangfolger“ um und programmierte eine Veranstaltungsreihe mit demselben Titel, die sich über drei Monate erstreckte und dreizehn verschiedene Kulturereignisse umfasste: überwiegend Konzerte, aber auch Lesungen, eine Performance, sogar den Vortrag eines CERN-Wissenschaftlers. 2017 ging man es dann wirklich etwas ruhiger an und beschränkte sich auf ein einziges Klangfolger-Wochenende im Rahmen der Langen Nacht der Musik (u. a. mit dem fulminanten Lê Quan Ninh).

In den letzten beiden Jahren hat sich der Kulturverein noch besser im öffentlichen Leben Gallneukirchens verankert. Man ist nun sichtbar, arbeitet und veranstaltet im Ortskern. Durch die Auslagen der Alten Nähstube gewinnen die PassantInnen einen Einblick, die Hemmschwelle zur Kontaktaufnahme wird gesenkt, eventuelle Vorurteile leichter zerstreut. Ab und an platzt eine soziale Blase und unerwartete Begegnungen passieren. Obwohl die Alte Nähstube von bewohnten Gebäuden umgeben ist, gab es bis dato noch keine einzige Beschwerde (z. B. wegen der Lautstärke bei Konzerten).

Aktuell bilden elf Menschen das Kernteam. Etwa nochmal so viele sind Teil des erweiterten Kreises, diese bringen sich zwar auch inhaltlich ein, aber nicht kontinuierlich. Und schließlich gibt es zwanzig bis dreißig UnterstützerInnen, die an Veranstaltungstagen mithelfen. Dabei geschieht sämtliche Arbeit ehrenamtlich. Wie groß ist das eigene schlechte Gewissen angesichts der Selbstausbeutung? Die Antwort von Tanja Fuchs ist einfach und entwaffnend. „Es ist in Zeiten wie diesen extrem wichtig, dass solche Dinge passieren.“ Trotz allem. Punkt. Let’s go.

Triple X
2018 kehrt man zum Festivalformat zurück. Das diesjährige Festival wird als insgesamt zehntes präsentiert und steht unter dem Banner des Buchstabens X, der bekanntlich für die römische Ziffer 10 steht. „Es hat acht Klangfestivals gegeben und das ist jetzt das neunte. Aber das zehnte.“ Thomas Auer spricht’s und lacht. Man muss nicht alles verstehen. Der Buchstabe X steht nicht eben auch für das Variable und Unbekannte.
Zum ersten Mal wird das Festival dreitägig sein. Die bereits vielfach erprobte Alte Nähstube fungiert dabei als Zentrale. Die primäre Konzertlocation ist allerdings die „Halle X“, eine alte Feuerwehrhalle, die eigens für das Festival raumakustisch aufgewertet wurde. (Beide Gebäude sind Leerstände, Leerstellen, und da ist es schon wieder, das X.) Am Samstag wird zudem auch die wildromantische Ruine des Schlosses Riedegg bespielt: mit einer Performance von Magdalena Plöchl, die das Schöne und seine Machbarkeit, sowie die Rolle von Ikonen verhandelt.
Von Anfang an hat das Klangfestival andere Kunstformen miteinbezogen. Regelmäßig wurde das musikalische Programm von Installationen, Theaterstücken, Live-Art oder literarischen Auftritten flankiert und kommentiert. Dieses Jahr wird der zweite Stock der Festivalzentrale (Alte Nähstube) eine Ausstellung beherbergen. Für diesen Zweck hat das Klangfestival einen Open Call ausgeschrieben, der sich an alle Spielarten der Bildenden und Darstellenden Künste wandte. Zu Redaktionsschluss standen die ausgewählten Artists jedoch noch nicht fest. Auch das Booking war noch nicht zur Gänze abgeschlossen. Die bislang fixierten Acts versprechen jedenfalls bereits hohes Niveau und beste Unterhaltung. Proqueerfeministische Haltung gehört zum Selbstverständnis des Vereins. Auch ohne selbstauferlegten Frauen*quote beim Booking (die noch nicht eingeführt wurde, aber intern immer wieder diskutiert wird), erreicht man ein relativ ausgewogenes Geschlechterverhältnis.

Experimentell me more
Die progressiven Clubsounds der Wienerin „ƒauna“ sind subversiv und leidenschaftlich, sie scheuen weder Tod noch Lo-Fi und schon gar nicht die Zukunft. Kann also gut sein, dass sie sich mit „Wien Diesel“ gut versteht. Wobei dieses enthemmte Projekt von MC Rhine und Producerin Marie Vermont deutlich brachialdadaistischer um die Ecke kommt. Ingrid Schmoliner wiederum agiert mit gänzlich anderen Mitteln, mit Strategien der Neuen Musik. Sie arbeitet gerne mit wohl präpariertem Klavier, Stimme und klassischem Minimalismus. Ihr Zugang ist avantgardistisch, aber nicht verstockt elitär, sondern offen und stets am Unerhörten interessiert. Mit dem „Kollektiv Okabre“ wurde ein Projekt gebucht, beim dem das transdisziplinäre Arbeiten Teil der künstlerischen DNA ist. Das Linzer Sextett existiert seit vier Jahren, und hat sich rasch einen Namen erspielt. Unter anderem mit ebenso originellen wie stilsicheren Filmvertonungen. Am Klangfestival wird die Band aus dem Vollen schöpfen, um den Horrorklassiker „Night of the living dead“ (1968) live zu bereichern. „Gorilla Mask“ ist ein Projekt des kanadischen Altsaxofonisten Peter Van Huffel. Für dessen forcierte Free Jazz-Abfahrten legen Bassist Roland Filezius und Drummer Rudi Fischerlehner die harte Piste. Präzise, komplex, wuchtig, virtuos. Das Trio Jakob Gnigler / Susanna Gartmayer / Angelica Costello verspricht dem Papier nach ein Highlight zu werden. Costello muss aufpassen, dass sie von gewissen Szenen nicht bald heiliggesprochen wird, Gartmayer gehört seit Jahren mit zu den spannendsten InstrumentalistInnen hierzulande und Gnigler spielt sich auch gerade in die erste Liga.

Die Schwedin „Fågelle“ wiederum schichtet Rauschen und rhythmische Drones aufeinander, fragmentiert und entfremdet synthetische Sounds, setzt schlichtweg fulminante Gesangsmelodien auf das tonale Gewaber. Das ist Honig und Beton, das ist Popnoise vom Feinsten. „Diese Frau ist einfach eine Erscheinung“, bringt es Tanja Fuchs auf den Punk, „ein bisschen wie Björk, aber ohne den Kitsch.“
Entfernt artverwandt mit „Fågelle“ sind „Slow Slow Loris“, ein deutsch-amerikanisches Zweiergespann, das düstere elektronische Klänge, Breakcore-Elemente und zitternde Loops mit verfremdeten Vocals ins Gespräch bringt, bis alles zerbrechlich und tanzbar ist.
Ein anderes spannendes Duo sind „Ester Poly“ aus der Schweiz. Zwei Frauen aus zwei Generationen, zwei Stimmen, Bass und Schlagzeug. Treibend und druckvoll und melodisch, sehr cool und ein bisschen noiserockig, politisch und klug und multilingual. Straighter Edelpunk in Zeiten ohne Cholera, dafür mit ganz viele anderen Beschissenheiten.

Das Klangfestival denkt nicht in Genres, dennoch gibt es einen roten Faden bei der Programmierung: „Ob noisy, jazzig oder clubig, das Verbindende ist ein experimenteller Zugang“, meint Tanja Fuchs, die gemeinsam mit Magdalena Landl dieses Jahr hauptverantwortlich für das Booking ist.

Ende August – beim zehnten Klangfestival, das eigentlich das neunte ist – wird das Publikum erfahrungsgemäß zu großen Teilen aus der unmittelbaren Region kommen, aus Linz und Umgebung, aber auch aus ganz Österreich, und vereinzelt sogar aus Nachbarländern. Spread your X-Wings and fly. Nächtliche Heimfahrten kann man sich ersparen, da es in unmittelbarer Nähe des Geschehens Campingmöglichkeiten gibt. Langweilen sollte sich beim Festival wohl keine/r so schnell. Und falls doch, ist das nicht schlimm, weil es doch lediglich bedeutet, dass da jemand gerade kreativ wird.

 

Klangfestival Gallneukirchen
24.–26. 8. 2018
Infos: klangfestival.at
Tickets: klangfolger.kupfticket.at

Vad gör du?

Stadtwerkstatt-Nachtprogramm beim Stream-Festival: Klara Lewis lädt zu Experimenten ein, um einem größeren Publikum etwas vor Ohren zu setzen, das es sonst wohl so nicht hören würde. Christian Wellmann kompiliert einen assoziationsreichen Text zu Sound und Facts – und setzt der LeserInnenschaft zu Beginn ein paar von ihm in die Tastatur geklopfte Zeichen vor, um mit dem Titel gefragt ins Jetzt zu weisen: Was machst du?

Klara Lewis im Field. Foto Hampus Högberg

Klara Lewis im Field. Foto Hampus Högberg

Ja, was machst du? Jetzt? Du fixierst wohl gerade ==-== —> das hier. Ich, hier, lausche jetzt Vad gör du* von Klara Lewis. Funktioniert natürlich proper als Soundtrack zum Schreiben, sicher auch als Ausgangspunkt (Go-To-YouTube) zum weiteren Lesen der hier versammelten Wortanhäufung, als Sauce zu einem trockenen Gewirr an sub-objektiver Musikbeschreibung. Lewis bedient sich oft des Field Recordings, Grund genug, diesen Porträtversuch ebenso zu gestalten. Raus ins Feld. Getreidehalme zucken im Beat des Windes, ein riesiges, fließendes Gemälde entsteht, Bio-Visuals, das Meer des Binnenländers. Feldtext, aus gefundenem und erfundenem Feldgeschreibsel, im Ährenfeld zusammengestöpselt, schwer editiert und durch den Abc-Kompressor gejagt, unterteilt in sechs Titel:

1. Hard-Fakt-Abteilung**:
Die experimentelle elektronische Musikproduzentin und Videofilmerin Klara Lewis lebt in Schweden. Konzertiert seit 2014 rund um den Globus: Sonar, BBC-Live, Australien, Mexiko, Donaufestival, Berghain … Veröffentlichungen u. a. beim kultigen Wiener Label von Welt, Editions Mego (Ett, 2014. Too, 2016). Zusammenarbeit mit Simon Fisher Turner (Memo: Checkt seine Soundtracks! – The Epic of Everest!!). Videoprojektion zu ihren Liveacts. Tochter des Wire-Bassisten Graham Lewis, einer der wohl genialsten Punkbands überhaupt, weil gegen den Strich, zeitlos.

2. Sound-Tags – S#s:
Noise. Ambient. Diskrete Musik (stets mit einer Patina Dreck gezuckert). Field Recordings. Audio Visuell. Schicht über Schicht. Sound-Collagen (oder -Skulpturen). Kontrolliertes Improvisieren. Zeitgenössische elektronische Musik. Filmische Landschaften. Spärlich funkelnd. Persönlich. Reich texturiert. Fragile Instabilität. Gewohntes Irreales. Oder an Kategorisierungen abprallende Musik.

3. Was sind „Field Recordings“?
Analogie zu Feldstudien. Field Recordings werden Aufnahmen genannt, die außerhalb des Studios angefertigt werden, entweder in Kompositionen eingearbeitet oder für sich stehen. Alltagsgeräusche oder neue Gefilde. Durch leistbare digitale Recorder äußerst populär geworden, lassen sie sich nicht nur in experimentellen Genres finden. Auch ein Brian Wilson hielt bereits das Mikro in die Natur, auch als Mittel, Kindheit und Erinnerungen einzufangen. Stadt, Land, egal, alles geht. Nach dem Sound suchen, den man im Kopf/vor Augen hat. Zufälle zulassen. Weg vom Laptop, gut auch mal an die frische Luft zu kommen … Versteckte Schätze finden, daraus Rhythmen und Melodien machen, Tracks danach aufbauen. Mit einem Strauß voll Sounds nach Hause kommen (natürlich dürfen auch Kräuter, Pilze o. ä. dabei sein). Fund-Sounds mit individuellem Fingerabdruck.

4. Interview-Fragmente, digitale Field Recs:
„Ich verhalte mich Sounds wie Visuals in gleicher Weise gegenüber, und versuche immer meine Augen und Ohren offen zu halten.“
„Ich sammle Tonnen an Material und wenn ich an einem Track arbeite, gehe ich durch meine Bibliothek und zerschnipsle und manipuliere die Aufnahmen. Ich plane nie, welche Art von Track ich mache, es geht mir vorrangig darum, Sounds zu folgen, wohin sie mich führen, und um all diese kleinen Stücke baue ich eine Welt. Ich höre etwas in einem Sound, der mich etwas fühlen lässt, diese Emotion versuche ich zu erfassen. Mein Ziel ist es, etwas zu erschaffen, das sich eindringlich anfühlt oder wie in einem anderen Zustand oder Ort.“
„Aus einer sehr kreativen Familie zu kommen, hat mich sehr offen für diese Art von Musik werden lassen. Ich bin mit der Sichtweise aufgewachsen, dass das etwas Natürliches ist, wo ich also daran teilnehmen kann. Von früh an lernte ich, wie ich über Musik kommuniziere und meinem eigenen Urteilsvermögen vertraue.“

5. Sub-Objektive Musikwahrnehmungen:
Organische Sound-Wolken. Sandstürme aus den Wüsten des Orients. Neo-Klassischer Ambient in unerwarteten Pfaden. Rückwärts laufende Loops wehen mit nebulösen Hallfahnen durch futuristische Welten (die auch hier, wie in aller „ernsthaften“ Musik, „eigene Welten“ sind, das „Innere“ meinen und wohl „futuristisch“ für die meisten klingen). Vogelgezwitscher und aufheulende Amps. Flüssig anmutende, traumähnliche Sounds, als dumpfe Drones nahe dem Boden in der Dunkelheit herumschwirrend. Knotenpunkte für Stimmungen, Atmosphären und Räume. Ein organisches Ding, das aus sich selbst wächst, mit einer Menge verschiedener Schichten. Musik für Leute, die sich selber als „Sternenglotzer“ bezeichnen. Ästhetik im Gewöhnlichen finden, wie dem Summen eines Kühlschranks, einem kaum wahrnehmbaren Lachen. Die emotional unter Hochspannung stehenden Stücke offenbaren die Dualität ihres Ausdrucks, man fühlt Anspannung, Angst, Spaß, Melancholie, Zorn. Vollends gefordert, setzt gleichzeitig eine entspannende Wirkung ein. Doch Obacht, zu gemütlich sollte es man sich dann auch wieder nicht machen, man stellt sich ja auch nicht bei Blitzen unter Eichen … In Summe ergibt das Mehrdeutigkeit, wir reagieren und fühlen unterschiedlich. Das alles erfindet das Rad (elektronische Musik) sicher nicht neu, schmuggelt aber Frischblutkonserven in die Trinkflaschenbefestigung.

6. Postmodernes Samplegeschreibsel, anspielungsreich:
Auch mal wie My Bloody Valentine klingend, durch Effekt-Schleifen bis zum gefrorenem Feedback erstarrend. Boards of Canadas wehmütige „Erinnerungen als Sound“, verblasende (Musik-)Polaroids, zu lange an der Sonne liegen gelassen. Aber auch David-Lynch-Filme, wenn der Meister selber das Sounddesign übernimmt – insbesondere die neueste Twin Peaks-Staffel (2017), dem Epizentrum aller Serien. Die dunkle Energie vom schwarzen Monolithen aus „2001“ als Hal(l)-Soundbrocken, dessen Maß sich auszudehnen scheint, bis ihn ein gefallener Engelchor zerbirst. Eine süße Rache-Melodie, die der Graf von Monte Christo vor sich hin pfeifen würde …

Gegen den Strom – und das ist gut so.

 

* Was machst du? (Schwedisch) – Titel von Lewis’ Highschool-Abschlussarbeit (Soundtrack + Film)

** Interaktive Anspiel-Tipps zu jedem „Track“ (am besten auf YouTube: „Klara Lewis + …“): 1: Try / 2: Seascape / 3: Beaming / 4: Clearing / 5: Msuic 4 / 6: Us

Stream Festival
31. Mai – 2. Juni
www.stream-festival.at

Amro nachbetrachten

Die 2018er-Ausgabe des Festivals AMRO – Art Meets Radical Openness mit dem diesjährigen Titel Unmapping Infrastructures beschäftigte sich Ende Mai mit der Idee des „Mappings“ als Prozess des Bewusstwerdens und der kritischen Auseinandersetzung mit der aktuellen Landschaft der technologischen Infrastrukturen. Themenbereiche der digitalen Geopolitik, alternativen Gestaltungsmethoden, aktivistischen Praktiken und autonomen Infrastrukturen wurden vorgestellt, diskutiert und vertieft.

www.radical-openness.org/en

Nachzusehen auf Dorf TV.

Farbe floatet Bild

Tausendmal totgesagt und immer gut für ein Erweckungserlebnis – die Malerei. Adelheid Rumetshofer war mit „Floatings“ in der Galerie Sturm und Drang zu sehen. Tanja Brandmayr hat die Malerin getroffen und mit ihr über Raumwahrnehmung und Entmaterialisierung gesprochen.

Floatings, nach Farben benannt: „o. T. – bright and blue“ Bild Adelheid Rumetshofer

Floatings, nach Farben benannt: „o. T. – bright and blue“ Bild Adelheid Rumetshofer

Foto Olivia Wimmer

Foto Olivia Wimmer

Floatings war der Titel der Ausstellung, die im März und April in der Galerie Sturm und Drang zu sehen war. Floatings bezeichnet aber auch den unabgeschlossenen größeren Werkszyklus von Adelheid Rumetshofer, dem Überthema, dem sie sich schon mehrere Jahre widmet. So tragen die Ausstellungen der letzten Jahre diesen gemeinsamen Titel. Die Bilder selbst bleiben o. T., werden allemal nach Farbigkeit und Helligkeit benannt. Hinsichtlich Farbigkeit bewegt sich Rumetshofer mit ihren Bildern „innerhalb des gesamten Farbspektrums, mit einer Tendenz zu Blau“, so die Malerin. Weswegen wahrscheinlich Assoziationen mit Wasser, Meer und Weite naheliegen – und vielleicht auch zur unmittelbaren Wirkung eines Dahintreibens. Am Beginn dieser Entwicklung stand jedenfalls 2009 auch ein Initialerlebnis der Künstlerin am Wasser: Rumetshofer, man möchte meinen, fast malerisch klassisch an einem Teich sitzend, beschreibt einen Blick, der wie im Narrenkastl verschwimmt und erzählt von einer Wahrnehmungsänderung, die plötzlich mehrere Ebenen der Realität erfasst – Wasseroberfläche, Spiegelungen, Lichtreflexionen, das Grün unter der Wasseroberfläche. Oder, anders gesagt, die angesichtige Natur und der Raum löste sich in flächig-floatende Farbebenen auf, zumindest für einen ersten und eindrücklichen Moment. Nach dieser Initialzündung gab es, so Adelheid Rumetshofer, „keine Geschichten mehr zu erzählen, keine Landschaft mehr, keine Natur mehr zu malen“. Stattdessen das Interesse an Farben und Farbklängen, zu deren Gunsten die Auflösung der Form vorangetrieben wird. Vertiefung, Vernebelung, Düsternis, Helligkeit, Leuchtkraft – Rumetshofer „floatende“ Flächigkeiten sind dementsprechend unterschiedlich, entfalten aber Raumwirkung, scheinen so etwas wie Kontemplation über Farbe und Raum zu ermöglichen. Und in vielerlei Hinsicht werden Intention und Technik, die über mehrere Jahre nach und nach entwickelt wurden, in den ausgestellten Bildern sichtbar: mehrere Farbschichten und Ebenen, das Verwischen der Farben, die beinahe vollständige Aufhebung der Form und der Kontur, manches Mal Andeutungen von Geometrie, wolkenhafte Verdichtungen. Das alles öffnet Wahrnehmung, ermöglicht Erweiterung des Blicks, oder ein Verschwimmen von Innen und Außen, das sich nicht näher definiert. Eine merkwürdig diffuse Wirkung stellt sich ein und fordert beinahe auf, verschiedene Distanzen zu den Bildern einzunehmen. Und möglicherweise korrespondiert diese räumliche Bewegung mit der Hin- und Wegbewegung zum und vom Bild, die die Malerin selbst während des Arbeitsprozesses im Atelier vollzieht. Diesbezüglich gefragt, meint Adelheid Rumetshofer jedenfalls: „Es gibt viel Bewegung im Atelier“.

 

An anderer Stelle betont Rumetshofer die Wichtigkeit von Gegensätzen in ihrer Arbeit – nicht nur in formalen Fragen wie etwa der nach dem Umgang mit Vertikalen, Horizontalen, sondern durchaus auch in wuchtigeren Gegensätzen von „immer mehr Entmaterialisierung“ zugunsten der Farben und eines Farbsogs, dessen Kraft Räumlichkeit bewirkt. Und der Umstand, dass neben Raumwahrnehmung auch die Farbwahrnehmung je nach Fokussierung des eigenen Blicks variiert, oder auch „je nach Farbnachbarschaft, Tageszeit und Licht“, wie Adelheid Rumetshofer ergänzt, bringt mich an dieser Stelle nun endgültig zu einer kleinen Anmerkung über James Turrell, der als Landschafts- und Lichtkünstler irisierende Farb- und Raumeffekte zaubert – wenn auch, und dies ganz klar angemerkt, mit den noch reduzierteren Medien des Raums und des Lichts, also nicht mit den Mitteln der Malerei, und auch in einer anderen Größenordnung: Wir wissen natürlich, dass James Turrell in internationalen Dimensionen arbeitet. Ich halte diese Anmerkung aber für wichtig, einerseits, weil sich diese Assoziation unmittelbar und auf den ersten Blick eingestellt hat, und wie ich später von der Galeriemitarbeiterin erfahre, nicht nur bei mir. Und andererseits scheint dies gerade auch wegen der „anderen Dimension“ des Lichtes und des Raumes interessant, zumal der „Dimensionenwechsel, ein klassisches Thema der Malerei, nämlich das des Umgangs der zweidimensionalen Fläche mit dem dreidimensionalen Raum“, so die Künstlerin, sich in den Floatings vielleicht anders transformiert hat: Es scheint so, als ob eine Präsenzerfahrung in und mit Natur, den Weg in eine höhere Dimension der Abstraktion, in Stille und Leere, eingeschlagen hat. Und ohne ein Mäntelchen der spirituellen Wellness anziehen zu wollen: Es ist, was es ist. So gesehen trifft hier ein hoher Abstraktionsgrad auf die Fragestellung, „was denn hier eigentlich noch abstrahiert werde, wenn es von vorneherein nicht mehr um die Abstraktion der Gegenständlichkeit geht“ – oder um in den Worten der Künstlerin zu bleiben, „es geht um immer mehr Entmaterialisierung“. Eine Frage, die vieles, um nicht zu sagen alles öffnet – die naturgemäß jedoch nicht für die Betrachter beantwortet werden kann, auf die die Frage in aller Wucht und Zartheit zurückströmt. Entmaterialisierung, Raumerfahrung, Vertiefung: Mich tröstet etwa, dass derartige Erfahrungen nur durch körperliche Anwesenheit möglich ist, durch längeres Sitzen und Stehen vor den Bildern, durch eine Zeit des Betrachtens. Entmaterialisation also körperlich-räumlich präsent – ein weiterer schöner Gegensatz.

 

Derzeit ist ein kleineres Bild von Adelheid Rumetshofer in der Nordico-Ausstellung „Im Garten“ zu sehen: „Auf dem Auberg“ ist ein Landschaftsbild und stammt aus der Zeit vor 2009.

Außerdem aktuell:
„konkret und minimal“, Ausstellungsbeteiligung in der artmark galerie in wien, bis 16. Juni.
www.artmark-galerie.at

Bereits fixiert:
„Über den Tiefen“, Doppelausstellung mit Evelyn Kreinecker, Galerie der Stadt Traun, von 12. September bis 14. Oktober.
www.traun.at

„Vom Erscheinen und Verschwinden“, mit Willibald Katteneder, Galerie Forum Wels, von 3. bis 27. Oktober.
www.galerie-forum.at

Aufsässig waren wir nie.

Diese Welt ist kein guter Ort. Sie ist eher ein Limbus, eine Vorhölle, in der Vertreter*innen der langweiligsten und nutzlosesten Spezies ever Tag und Nacht Smalltalk führen, sich wichtigmachen, in oder aus Kameras glotzen, Wale mit Plastik vollstopfen, sich gegenseitig abschlachten und schadenfroh hetzen, wenn es anderen noch schlechter als einem selbst geht oder jemandes siebenjährige Tochter ermordet aufgefunden wird. Wenige, ganz wenige Menschen gibt es, die die Klugheit, den Respekt und die Stärke besäßen, aus ihr einen guten Ort und ein gutes Miteinander zu machen, aber die sterben früh und sie lassen mich und die anderen Zornigen zurück in Elend und Selbstmitleid.

Diese Welt ist kein guter Ort. Sie ist ein Paradies für Schmeichler und Schleimer, für Mittelmäßige, für Brave und Anständige, für Dauergrinser und Haargelfanatiker, für Eindeutige und Fleißige, für Herzlose und Strebsame, die sich den Herrgott der Nützlichkeit übers Bett hängen. Es gibt kaum einen Science-Fiction-Film, dessen Dystopien nicht längst zur Realität geworden sind. Und wir bauen Häuser, putzen uns die Zähne, stricken Socken, säen Tomaten, tätscheln die Kinder, kaufen Müll und feiern Gartenpartys, als ob nichts wär’.

Diese Welt ist kein guter Ort. Nicht für Schwarze, Rote, Grüne, Gelbe, nicht für Dreibeinige oder Einbeinige, nicht für Geflüchtete, nicht für jene, die keinen Krieg mögen, nicht für jene, die Angst haben, nicht für Radfahrende, nicht für Lernende und Lehrende, nicht für jene, die nicht schlagen wollen, nicht für jene, die nicht geschlagen werden wollen und schon gar nicht für jene, die sich an den Straßenrand setzen und nur schauen wollen. Menschen, die sich an den Straßenrand setzen und nur schauen wollen, sind eine Bedrohung. Sie kaufen nichts und sitzen nur da. Sie sind nicht nützlich. Sie sind in gewissem Sinn aufsässig und nicht einmal das sind sie absichtlich.

Wann waren wir eigentlich das letzte Mal aufsässig? Waren trotzig, rebellisch, aufständisch, subversiv, umstürzlerisch, aufmüpfig, bockig, störrisch, trotzig, trotzköpfig, verbockt, widerborstig, widerspenstig, renitent, dickköpfig, kratzbürstig, unbotmäßig, oder – veraltet – widersässig und faktiös, in der Schweiz übrigens auflüpfig – und haben uns aufgelehnt?

All diese Synonyme für aufsässig kennt der Duden und wir sitzen immer noch am Straßenrand und sind viel, aber nicht aufsässig. Und dennoch öffnen sich die Mainstream-Schubladen der Aufsässigkeit und wir werden hineingestoßen. Die ARD nennt die Schauspielerin Kristen Stewart nicht nur „rebellisch“, weil Sie am Red Carpet in Cannes ihre High Heels auszieht, mehr noch betitelt das Magazin Brisant! den Beitrag mit „Kristen Stewart macht sich nackig!“ Sie macht sich allerdings gar nicht nackig, sie zieht bloß die Schuhe aus. Und der „rebellische Akt“ ist eine grundvernünftige, nachvollziehbare öffentliche Geste, mit der Stewart – wie schon letztes Jahr übrigens, warum also die gespielte Überraschung? – zum Ausdruck bringt, was sie davon hält, dass Frauen* in Cannes auf dem roten Teppich hohe Schuhe tragen müssen, während die anderen einen Scheißdreck müssen.

Liebe Welt, liebe Medien: Ihr müsst aufhören, Menschen, die sich klar, sachlich und absolut vernünftig verhalten, als rebellisch oder aufsässig zu bezeichnen. Frauen* brechen keine Regeln oder verhalten sich „unnormal“, wenn sie etwa öffentlich sagen, dass ihnen Gewalt angetan wurde oder sie öffentlich dagegen protestieren, dass sie zwangsverheiratet werden, sich Männern unterwerfen sollen, keine Jobs aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung bekommen. Es ist daran nichts Aufrührerisches, nichts Rebellisches, nichts Aufsässiges, wenn jemand die Rechte, die ihm qua Menschenrechtskonvention zustehen, einfordert.

Denn es ist wohl kaum etwas normal daran, dass Männer, die sich nicht im Griff haben, ganz offensichtlich verwirrt sind, Dinge sagen, die andere herabwürdigen, Menschen von sicheren Häfen, Ländern und Systemen aussperren und sich auch noch stolz dafür rühmen, die mächtigsten Ämter bekleiden.

Männer sollten deshalb vielleicht eine Pause einlegen, ähnlich dem einmaligen türkischen Männerverbot im Jahr 2011, als es dem Verein Fenerbahce wegen massiver Ausschreitungen seiner Fans für ein Spiel untersagt wurde, erwachsene Männer ins Stadion zu lassen. 41.000 Frauen und Kinder hatten Spaß, jubelten, feuerten ihr Team an. Ein Spiel lang kein Gegröhle, kein Machogehabe, keine aggressiven Brunftgeräusche.

Männern sollte nicht nur im Sport und nicht nur für ein Spiel, sondern auch im echten Leben die Möglichkeit gegeben werden, sich der Last ihrer Kraft, ihres Einflusses, ihrer Machtpositionen zu entledigen. Es sollte ihnen leichter als bisher gemacht werden, sich einzugestehen, dass die meisten von ihnen über die Jahrhunderte hinweg keine einzige besonnene, nachhaltige und weiterführende Idee hatten, um die wirklichen Herausforderungen dieser Welt anzugehen. Schaut euch um, Männer, und schaut, wo die Welt steht. Wie sehr sie im Arsch ist. Und nennt mir einen einzigen triftigen Grund, warum Frauen*, Kinder und die klugen Männer euch eine einzige weitere Sekunde am Ruder lassen sollten?

Klingt das aufsässig? Klingt das aufrührerisch? Klingt das rebellisch?

Was aber, wenn der Begriff aufsässig bloß erfunden wurde, um alle Geschlechter, die nicht dem typisch männlichen entsprechen, in eine Schublade zu stecken? Um eine Entschuldigung für Ohrfeigen und Schläge parat zu haben? Um über eine Ausrede zu verfügen, andere in die Schranken zu weisen, die nicht der eigenen Wertvorstellung entsprechen? Wirklich hinterfragt wurde das nie. Ein System aber, das sich unreflektiert bloß seiner Aufrechterhaltung wegen perpetuiert, schlingert irgendwann nur noch ohne Ziel und ohne Motiv dahin. In diesem Irgendwann sind wir gerade angekommen – das letzte Aufbegehren eines wirklich schlechten, unkreativen und inhumanen Systems, das die ganze Welt mittlerweile an den Rand der Existenz gebracht hat, ist unüberhörbar und wir haben alle ein bisschen Mitleid. Jede* allerdings, die nun versucht, den irren oder betrunkenen oder einfach nur machtbesessenen Lokführer vom schlingernden Zug zu holen, ist vielleicht sehr mutig. Niemals aber ist das aufsässig.