2 x dunkle Kunst im Netz

Zwei Empfehlungen der Redaktion:

Moor Mother, oder Moor Mother Goddess is ein experimentelles Musikprojekt von Camae Ayewa, eine Musikerin und Poetin aus Philadelphia. Ihre Arbeiten werden beschlagwortet mit „hardcore poetry“, „power electronics“, „slaveship punk“ und „protest music“. Ayewa bezeichnet sich als Afrofuturistin und ist Teil des Kollektivs Black Quantum Futurism.
www.youtube.com/watch?v=asYtTRfkbn8

 

Woyzek. Das Theater Basel beim Berliner Theatertreffen 2018. Verzweifelt, sinnsezierend, gnadenlos getrieben agieren die Darsteller im schwarzen Bühnenraum. Die Scheibe, auf der sie sich bewegen, dreht sich unaufhörlich. Die Welt als Maschine. Büchners Text in der Inszenierung von Ulrich Rasche, beindruckend die Komposition von Monika Roscher. In der 3Sat-Mediathek.
www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=73156

Attentat Theater

Singen, Tanzen und das Spiel mit dem reißerischen Ernst. „Assassins“, das Attentäter-Musical, ist derzeit im Landestheater Linz zu sehen. Theresa Gindlstrasser hat am Ende viele Trumps gesehen, fragt sich, ob das eigentlich alles geht und stellt vergleichende Überlegungen zu „The Producers“ an.

Foto Reinhard Winkler

Foto Reinhard Winkler

Ein Musical, oder ist das dann ein Grusical?, über neun Attentate beziehungsweise Attentatsversuche auf acht US-amerikanische Präsidenten – ja, sowas gibt’s.
„Assassins“ von John Weidman (Buch) und Stephen Sondheim (Musik und Gesangstexte) heißt in der deutschen Fassung von Michael Kunze „Attentäter“ und läuft seit Anfang April am Landestheater Linz. Uraufführung war 1990 an einem Off-Broadway-Theater, später London, Berlin, nochmal New York, Kapstadt, Toronto. Jetzt also Linz.

Das Programmheft zitiert aus einem New York Times-Artikel des US-amerikanischen Psychiaters Robert Jay Lifton: „Jeder Mörder hat etwas Faszinierendes an sich. Er oder sie besitzt die spezielle Aura desjenigen, der das ultimative Verbrechen begangen hat und zum Gebieter über Leben und Tod geworden ist, wie ein böser Schamane oder ein wiedergeborener Mengele. Der Präsidentenattentäter ist sogar noch weitergegangen, indem er sich ein besonderes Opfer gesucht hat, einen symbolischen König und Anführer der Nation.“ Das klingt alles ganz nach Schau-Lust und Regelbruch-Gier, nach Sensations-Geilheit und ergötzlichem Spektakel für sittsames Publikum. Das sattsam im Dunklen sitzt, während Zeitgeschichte und Historisches für billige Pointen im trivialen Musical-Format verbraten werden. Shocking! Das „ultimative Verbrechen“! Wir zeigen mehr als einen Mord, wir zeigen einen „symbolischen“ Mord. Kann denn so ein Genre an so ein Thema heran? Ja, ich will nicht sagen „sowas gibt’s“, es gibt jedenfalls eine Assoziation: „The Producers“, die Filmkomödie von Mel Brooks aus dem Jahr 1968, wurde 2001 am Broadway aufgeführt und 2005 in der Regie von Susan Stroman neuverfilmt. In „The Producers“ planen zwei Produzenten einen bombastischen Musical-Flop, auf dass sich daraufhin bombastisch viel Geld hinterziehen ließe. Aber, gegen alle Wahrscheinlichkeit, gerät das Musical „Springtime for Hitler“ zum Erfolg und die beiden ins Häfn. Es gibt also ein Spiel im Spiel und dieses Spiel im Spiel, aka „Springtime for Hitler“ in „The Producers“, verunernstet den Nationalsozialismus zu einem ästhetisch überbordenden Arrangement aus Pirouetten drehenden SS-Männern, übermensch-großen Brezeln und einem wie bekifft winkenden Hitler.

Eingangs, Max Bialystock wird als ewig scheiternder Broadway-Produzent etabliert, findet sich übrigens einen Verweis auf „Hamlet“. Die Tragödie von Shakespeare (wahrscheinlich 1602 fertig gestellt) gilt als prominentes Beispiel des Mise-en-abyme-Motivs. Im Kontext der Theaterhandlung „Hamlet“ lässt Hamlet ein Theaterstück aufführen um den Mörder seines Vaters zu überführen. Auch die Linzer Inszenierung von „Attentäter“ greift auf das Spiel-im-Spiel-Verfahren zurück. Die sieben Attentäter und zwei Attentäterinnen werden nacheinander von einer Conférencier-Figur auf einer Bühne auf der Bühne einem Publikum aus lauter Trumps vorgestellt. Einer nach der anderen versingen sie ihre Attentate und performen für die Trumps.

„Make America great again“, blinkt es über der schummrigen Guckkastenbühne, die Eva Musil ins Schauspielhaus gebaut hat. Nach jedem Song, nach jeder Attentats-Performance jubelt die unter voluminösen Trump-Masken versteckte Statisterie. An Tischen verteilt, trinken sie Sekt, wenden dem Theater-Publikum den Rücken zu. Der Caspar-David-Friedrich-Moment holt die Betrachtenden spiegelbildlich ins Betrachtete hinein. Das Publikum im Landestheater Linz schaut einem anderen Publikum beim Schauen zu. Und staunt, dass diese Trumps offenbar so gar nicht das potentiell auch gegen sie gerichtete Spektakel als ein solches ernst nehmen. Die Trumps missverstehen die Attentats-Performance als Parodie, das Publikum im Schauspielhaus darf diesen Zusammenhang erkennen.

Darf sich selbst in diesem Zusammenhang erkennen. Womit wir wieder bei „The Producers“ wären. Dort missversteht das Publikum den Versuch mittels schlechtestem Drehbuch ever, in Kombination mit einem Tony-Award-fixiertem Regisseur und einem Altnazi in der Rolle von Hitler, einen Flop zu produzieren. Und missversteht dies als gut und klug gemachte Parodie, als gelungenen komödiantischen Umgang mit dem Nationalsozialismus. Für das Publikum vor dem Bildschirm wiederum wird stellvertretend das Showbusiness als Tanz ums goldene Kalb entlarvt. Das Spiel im Spiel generiert Selbstreflexivität: Gehe ich, sowie das Publikum, dem ich zusehe, hier etwas oder jemandem auf den Leim? Bin ich Teil dieser Gesellschaft des Spektakels?

„Jeder hat das Recht, sich frei zu entfalten“, singen die Attentäter und Attentäterinnen. Präsentieren ihre Morde und Mordversuche aus der Gedankenwelt des American Dreams heraus. „Heute Bettler, morgen Millionär!“. Die Figuren beharren auf ihrem Recht, ihre eigene Geschichte auch entgegen der historischen Forschung zu erzählen, beharren auf ihren Ideen von einer „großen Tat“. Das klingt dann manchmal recht revolutionär-romantisch: „Protestier, revoltier, bis sie alle hinhör’n!“. Manchmal auch schlicht sozialkritisch: „In einer Waffe steckt viel Arbeit drin. Viele schuften für sie ohne Sinn“. Aber wie sagte John Hinckley, der 1981 versuchte Ronald Reagan zu ermorden? „Waffen sind was Hübsches, stimmt’s? Sie können außergewöhnliche Leute töten, und das mit irrsinnig wenig Aufwand“.
Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist vor allem das Land der Schusswaffen, die von der Waffen-Lobby gerne als „Gleichmacher“ verstanden werden. „Was für eine Lust: Man krümmt nur einen Finger und verändert mühelos den Lauf dieser Welt“. Der Liberalismus des weißen Mannes mit der Handfeuerwaffe gebiert die Attentäter und Attentäterinnen, die weiterhin fröhlich behaupten: „Jeder hat das Recht, sich frei zu entfalten“. Sich also auch gegen andere frei zu entfalten.

Das alles ist schon gruselig. Also doch wirklich ein Grusical. Dieses Musical. Ich würde sagen: Eine gut und klug gedachte Parodie auf die unsolidarische Gedankenwelt, in der das Universum in zwei Teile zerfällt. Zuerst ich und dann der ganze Rest. Und der Rest steht unter mir. Übrigens war es Präsident Gerald Ford, dem von den insgesamt neun verhandelten Attentaten gleich zwei galten. Lynette „Squeaky“ Fromme versuchte am 5. September 1975 zwecks Erzwingung der Freilassung von Charles Manson auf ihn zu schießen. 17 Tage später probierte es Sara Jane Moore nochmal: „Ich tat es, um Chaos zu verursachen“.

 

www.landestheater-linz.at

Bild einer Ausstellung

Johannes Fiebich_Reinigung1c

In Grote kuis! SCHONE KUNST EERST verwandelt Johannes Fiebich ein Werbeplakat der rechtspopulistischen, belgischen Partei Vlaams Blok in ein fiktives Werbeplakat einer regierenden Partei in Oberösterreich. Besen und Dreck spielen auf das politische Saubermachen an.

Diese Arbeit ist im Rahmen der Ausstellung Clean Cube. Zur Kritik der reinen Vernunft zu sehen. Ein assoziativer Text zur Ausstellung ist auf Seite 13 zu lesen, die Ausstellungsfacts sind in der dazugehörigen Infobox nachzusehen.

Im Abseits – Fussball und Film.

Wie eine Sportlerin stelle ich mich einem Wettkampf und verinnerliche die sportpsychologischen ExpertInnentipps und lasse erst mal los, um mich ganz der Sache hinzugeben. Eine interessante TV-Diskussionsrunde mit ehemaligen und aktiven österreichischen SpitzensportlerInnen und SportexpertInnen beförderte den Zeitgeist an die Oberfläche. Der harte Kampf und eiserne Wille eines Hermann Meiers hätten wohl kaum mehr die Kraft und Möglichkeit zu jener grandiosen Entfaltung. Neben diesen kräftezehrenden Verschleiß braucht es heutzutage ein gutes Energiemanagement und die Kraft, der medialen Verfügbarkeit Grenzen zu setzen. Auf der anderen Seite veranschaulichen diese SportlerInnen ihre Erfolgsmethoden, die auch im alltäglichen Leben anzuwenden wären. Spüren. Im Moment sein – nicht schon im Ziel. Aber wann spüren wir uns schon im Alltag. Also so richtig guat, und ned nur so nebenbei. Irgendwie in dem Körper, der da a dabei is. Und welchem Ziel rennen wir eigentlich hinterher?

Ziele erreicht haben die teilnehmenden Kicker der Männer-Fußball-WM in Russland. Dieser widmet sich der Ballesterer #132 , ein Fußballmagazin zum Wertschätzen.

Fußball abseits des großen Rampenlichts zeigt das Fußballfilm-Festival ABSEITS von 6. Juni bis 9. Juni in Linz. Die Filme zeigen meist „Fußball als Vehikel für Alternativen und Ungehorsam und somit zur Antriebskraft für Fortschritt und Emanzipation“.

Der Eröffnungsfilm in der Kapu „Han, Dul, Sed“ erzählt von vier jungen Frauen aus Pjöngjang, die die Leidenschaft des Fußballs teilen. Sie spielen im nordkoreanischen Nationalteam, müssen nach einer Nichtqualifikation für die Olympischen Spiele ihr hohes Prestige und Ansehen zurücklassen und in ein normales Leben zurückfinden.
„Football Under Cover – Anstoß in Teheran“ ist die Geschichte des ersten offiziellen Frauenfußballspiels seit der iranischen Revolution vor 27 Jahren. Die Dokumentation zeigt den unerschütterlichen Willen der Beteiligten, und die Erfahrung, dass Veränderung möglich ist. Musikalisch wird DJ DAN ROCKER durch den Abend führen, der mit einer Autogrammstunde von „68 Dreadlocks“ abgerundet wird. Am nächsten Tag sind in der Kapu „Sankt Pauli! Rausgehen – Warmmachen – Weghauen“ und „Zwischen Himmel und Hölle“ zu sehen, letzterer ein Film von Oldenburger Fans über ihren Verein. Die filmemachenden Fans treten auch den Weg nach Linz zum Filmgespräch an.

Am Freitag verlagert sich das Filmfestival in die Stadtwerkstatt und bringt mit „Railroad Allstars“ und „Ladies’ Turn“ die 50%-Quote. Herzlichen Dank an dieser Stelle an alle Beteiligten. So einfach kann es gehen. „Railroad Allstars“ erzählt die Geschichte von Sexarbeiterinnen in Guatemala, die mit der Gründung eines Fußballvereines gegen sexualisierte Gewalt aufmerksam machen wollen.
Der senegalesische Verein „Ladies’ Turn“ organisiert Frauenfußballturniere in einem Land, wo Eltern und Männer es nicht gerne sehen, wenn junge Mädchen kicken. Begleitet werden drei der 19 Turnierteams, die mit Vorurteilen aufräumen und die Frauen an den Ball bringen wollen.
Musikalisch aufräumen und zum Tanzen einladen werden DJ Lotta Gaffa im Spektrum von Local Dub, African Beat und Electro Cumbia und DJane Ronit Rockit, die mit spacigen Mashups noch mehr einfordert.

Der Abschlußtag steht im Zeichen des österreichischen Fußballs und dessen Fankultur. Zuerst „Es geht sich immer nicht aus“, ein Film über den Traditionsverein „First Vienna Football Club 1894“, bekannt als Vienna von der Hohen Warte, und danach die dokumentarische Sichtweise von Dominik Thaller auf FC Blau Weiß Linz und seinem ehrwürdigen Ahnen, dem SK VÖEST , mit „Immer wieder geht die Sonne auf“. Das BlauCrowd DJ Team begleitet die fußballbegeisterte Meute ins Wochenende und bleibt hoffentlich fit genug für den Ute Bock Cup am Sonntag. Die Freund*innen der Friedhofstribüne und der Wiener Sportclub laden zum 10jährigen Jubiläum. Bei Fußball und Party, zugunsten von Projekten für Geflüchtete, lohnt es sich dabei zu sein. Herzlichen Dank für den Einsatz aller Beteiligten!

 

Tipps:
Fußball Film Festival ABSEITS 6. Juni – 9. Juni in Kapu & Stadtwerkstatt

10. UTE BOCK CUP am Sonntag 10. Juni beim Wiener Sportclub Platz, 1170 Wien, Alszeile 19

Zwei Männer in Griechenland

Von Silvana Steinbacher ist vor einiger Zeit ein Buch erschienen, das den erlebnissüchtigen Schauspieler Harald und den dicken Komplexitätsforscher Boris gemeinsam auf Urlaub schickt. Oder auch: Burnout trifft Halluzinationen. Passend zum Sommer: Lektüre und Leseprobe.

Schirminger funktioniert anfangs noch nach Haralds Vorstellungen. Bereitwillig schildert er seinen Zustand an der Grenze zum Tod, wie es auch seine Ärzte später bezeichnet haben. Er hat das Gefühl gehabt, den eigenen Körper abzulegen wie einen Anzug, auch die Fragen, ob bei der Operation etwas misslingen könnte, ob er sterben müsse, haben ihn nicht beschäftigt. Harald hört an dieser Stelle des Berichts noch etwas teilnahmslos zu, dann aber folgt das Stichwort, das die Mühen des Nachmittags, so hofft er, lohnen wird. Schirminger beugt sich vor, nur wenige Tische sind besetzt, doch er flüstert beinah konspirativ: „Dieser Zustand hat mein Leben verändert; ich empfand ein Gefühl der unbeschreiblichen Ruhe“, Harald unterbricht ihn: „Ruhe, sonst nichts?“
„Einfach Ruhe, wunderbar, sonst nichts.“ „Kein Glücksgefühl, keine Euphorie?“ Schirminger lockert seinen Gürtel, kratzt sich am Kopf und legt seine Beine auf den freigewordenen Stuhl seines Cousins. Es ist ihm anzumerken, dass er nicht nachvollziehen kann, worauf Harald abzielt.
„Ich weiß nicht, was Sie meinen, welches Glücksgefühl? Darüber, dass ich womöglich in der nächsten Sekunde sterben muss?“
„Aber man hört doch immer…?“
„Ach darauf wollen Sie hinaus, da muss ich Sie auf allen Linien enttäuschen. Ich habe kein Glücksgefühl erlebt, keine Euphorie empfunden, und das vielzitierte weiße Licht hat mich übrigens auch nicht besucht, wohltuende Ruhe, sonst nichts“, fügt er scherzhaft hinzu. Doch Harald überkreuzt ernst die Arme vor seiner Brust, seine Fußspitzen kreisen nervös, wie Boris bemerkt. Nach einer Pause sagt Schirminger noch: „Doch an eines kann ich mich noch erinnern.“
„Ja?“ Wirst du diese Stunden doch noch als Erfolg verbuchen, ich vergönn es dir nicht, Boris rührt ungeduldig und ärgerlich in seiner leeren Kaffeetasse.
„Es muss ungefähr vor dem Zeitpunkt gewesen sein, als die Ärzte ahnten, dass sie meinen Blutverlust stoppen, mich möglicherweise retten könnten, als ich mich von einer eigenartigen Traurigkeit umhüllt fühlte, ich kann es gar nicht anders ausdrücken. Ich dachte, „Scheiße, nie mehr einen Rausch, nie mehr Sonne, sich nie mehr am Anblick einer schönen Frau erfreuen.“ Boris lacht schallend, Schirminger stimmt gut gelaunt ein und stößt mit ihm an.
An dieser Stelle des Gesprächs dürfte Harald festgestellt haben, dass von Schirminger nichts mehr zu erwarten sein würde. Ohne Boris zu fragen, verlangt er die Rechnung, die Boris ohne ein Wort des Protests seinen Freund begleichen lässt. Harald reicht Schirminger die Hand, richtet Grüße an den Cousin aus, Boris verabschiedet sich herzlich und geht das kurze Stück zum Auto zügig, ohne auf seinen Freund zu warten. Normalerweise schlendern sie nebeneinander, und Boris, der auch auf der Insel meistens fährt, hält Harald manchmal sogar die Beifahrertür auf, was beide amüsiert.
Diesmal startet Boris, ohne zu beachten, ob Harald bereits im Auto sitzt und jagt den gemieteten Kleinwagen über die Schotterstraße. Eine angenehme Brise hat nach Haralds enttäuschendem Euphorie-Geplänkel die Hitze abgelöst, Harald streckt seinen Kopf durchs heruntergelassene Fenster und erfreut sich an dem kühlenden Wind. Er sieht Boris einige Male prüfend an und bedauert kurz vor ihrer Ankunft im Hotel, dass sie unnötigerweise einige Stunden verschwendet hätten, obwohl sie das Auto doch bereits am nächsten Morgen zurückgeben müssten. Wortlos biegt Boris daraufhin in einen Feldweg ein, versucht auszusteigen, kann sich aber in seiner Erregung kaum aus seinem Sitz erheben. Harald, der inzwischen längst ums Auto gelaufen ist, reicht ihm die Hand, Boris winkt ärgerlich ab, wuchtet sich noch zwei Mal hoch, dann steht er endlich in dem violetten Kräuterfeld. Harald starrt ihn an und sorgt sich um Boris’ Gesundheit; er hätte ihn in den vergangenen Tagen nicht so maßlos fressen lassen sollen. Mehrmals fragt er Boris, was ihm fehle und wie er helfen könne. Boris, sprachlos von dieser Wucht an Ignoranz und mangelndem Feingefühl, fuchtelt mit den Händen, stampft sogar auf wie ein kleines Kind. Harald erinnert sich an seinen Erste-Hilfe-Kurs, berührt Boris an den Schultern und fragt ihn: „Ist alles in Ordnung?“ Boris schaut ihn unverwandt an, reißt den Mund auf, bringt aber kein Wort heraus, seine Lippen beben, seine Knie schlottern. Heftige Zuckungen, gefolgt von Schockstarre, überlegt Harald. Er zerrt den Verbandskasten aus dem Handschuhfach. Bevor ihm einfällt, was er mit dessen Inhalt anfangen könnte, schleudert Boris ihm das Kästchen aus der Hand. Pflaster, Schere, Mullbinden landen auf dem Lavendel. Boris holt tief Luft, setzt sich wieder auf den Autositz und brüllt Harald zum ersten Mal in ihrer langen Freundschaft an:
„Es ist widerlich, wie du dich die vergangenen Stunden verhalten hast. Wie du ihm deine Zuwendung vorgetäuscht hast, nur um zu erfahren, wonach du in deiner Sensationslust gierst. Abstoßend! Mich wundert nicht, dass du seit Jahren keine Beziehung mehr zustande bekommst.“ Er steht auf, geht bedrohlich dicht auf Harald zu, nimmt seinen Kopf in beide Hände, lässt ihn mit einer unschlüssigen Geste wieder los und drosselt seine Stimme „Was siehst du eigentlich in anderen Menschen? Stützen, die Hab-Acht zu stehen haben, wenn sich der Herr wieder einmal auf seiner abstrusen Glückssuche befindet? Es muss dir klar sein, dass bei deinem jubelnden Entgrenzungszeug andere immer auch auf der Strecke bleiben.“
„Das versteh ich nicht, ich schade doch keinem.“
„Oh doch, mit deinem Desinteresse, deiner Ignoranz, deiner Blindheit, deiner Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber; Eigenschaften, die du früher nicht hattest.“ Beide setzen sich in die geöffnete Wagentür, und eine Weile verharren sie Rücken an Rücken unmittelbar neben dem farbenfrohen Feld.

Harald steht ziemlich unschlüssig an einer Kreuzung und geht einige Male auf und ab. Kurz und kühl gestaltete sich der Abschied vor dem Hotel und da Boris keinen Zweifel daran ließ, dass sein Freund den Abend allein zu verbringen hat, weiß Harald in diesem Moment noch nicht recht, wohin mit sich.
Nach einer Weile bleibt ein Bus stehen, der Fahrer hupt, zuckt mit den Schultern, wartet, ob Harald einsteigen möchte. Von den hauptsächlich jungen Mitfahrenden erfährt er das Fahrziel des Busses, ein kleiner Ort, von dem er bisher noch nichts gehört hat. Die Fahrgäste befinden sich offensichtlich auf der Rückfahrt vom Strand zu ihren Hotels. Ihr Ton ist locker, freundschaftlich, einige dürften bereits am Nachmittag getrunken haben, die Gespräche werden lauter und ausgelassener, Harald entgehen die besorgten Blicke des Fahrers nicht.
Er erinnert sich jetzt, dass ihn die infantile Lebensfreude der Strandgäste am ersten Urlaubstag auch beflügelt hat. Wie ein Zaungast versucht er daher, diese rund zwanzig Urlauber zu beobachten. Sie denken nicht an Gipfelerlebnisse, Glücksgefühle oder den Kick. Sie kosten aus, was sich ihnen bietet, unmittelbar bietet: teils selbstverständlich, teils geradezu gierig.
Ein muskulöser Jugendlicher kotzt auf den Mittelgang und zerstört Haralds schönes Bild gerade. Der Bus hält, der Fahrer schnauft ärgerlich, murmelt Unverständliches, reicht dem Jugendlichen einen Fetzen, zwei Mädchen assistieren ihm; dann setzt der Chauffeur die Fahrt fort. Die Stimmung wird gedämpfter, nur noch wenige lassen die Flasche kreisen, einige schlafen ein. Harald wundert sich nach einer Weile, dass der Bus an keiner Haltestelle stehen bleibt. Nach einer dreiviertel Stunde nähern sie sich einer belebten Gegend, die Harald in dieser Geschmacklosigkeit auf der Insel nicht erwartet hätte. Illuminierte mehrstöckige Hotels tauchen wie aus dem Nichts auf, grelle Neonbuchstaben prangen an den zahlreichen Bars und Cafés, künstliche Palmen rahmen einige Häuserfronten ein. Wäre der beleidigte Boris jetzt an meiner Seite, würde er wohl an eine Halluzination glauben, überlegt Harald und zweifelt selbst einen Moment, ob er seiner Wahrnehmung trauen soll. Er fixiert den Hinterkopf des Busfahrers, den er zu manipulieren versucht. Bleib hier ja nicht stehen, fahr weiter. Na funktioniert doch, denkt Harald, danke, mein Guter hinter dem Lenkrad. Es ist sicher bald überstanden und dann eröffnet sich wieder der Blick auf eine malerische Bucht mit Taverne, wo mich bereits eine freundliche Kellnerin erwartet, mir herzlich zulächelt und sofort eine köstliche Vorspeise serviert.
Doch die Flaniermeile, oder worum immer es sich handeln mag, scheint kein Ende zu nehmen. Als sie gerade an einer Tankstelle vorbeifahren, stehen die Jugendlichen auf, packen ihre Sachen in ihre Badetaschen und gehen zu den Ausgängen. Und dann passiert es: Der Bus hält kurz darauf. Harald bleibt noch auf seinem Platz sitzen, doch ein Mädchen erklärt ihm, dies sei bereits die Endstation.

 

Am Ende der Leseprobe ist natürlich nicht Endstation.

Der Roman Pinguine in Griechenland im Verlagstext: „Harald hetzt in beinah suchtähnlichem Ausmaß den emotionalen Ausnahmeerfahrungen hinterher. Nichts ist ihm zu gefährlich oder trivial, um einem emotionalen Kick zu gelangen. Als Schauspieler kann er sich die Flow-Erlebnisse auf der Bühne holen und scheint befriedigt zu sein. Plötzlich aber erhält er seine Glückszufuhr nicht mehr. Zur selben Zeit ändert sich auch Boris’ Leben. Unerwartet und scheinbar ohne Auslöser wird er von Halluzinationen, die er gleichmütig als bereichernde Gratis-DVDs in sein Leben integriert, heimgesucht.“ Die beiden Freunde beschließen, gemeinsam Urlaub zu machen..

Silvana Steinbacher,
Pinguine in Griechenland
Verlag Bibliothek der Provinz, 2017

Tour Gino Bartali

Johannes Staudinger im Kurzbeitrag über eine Gedenktour von Linz nach Mauthausen.

Am 6. Mai organisierte der Verein Velodrom Linz eine so genannte freie Ausfahrt mit dem Fahrrad zur Befreiungsfeier nach Mauthausen. In Memoriam Gino Bartali, einem italienischen Radprofi, der während des Zweiten Weltkrieges für den Widerstand und für die vom NS-Regime bedrohten Juden wichtige Dokumente in seinem Fahrradrahmen versteckte und durch die Toskana transportierte. Die Tour wurde im Vorfeld mit dem Mauthausen-Komitee und Lisa Bartali, der Enkelin Gino Bartalis, akkordiert.

Frühmorgens vom Linzer Hauptplatz startend, nahmen bei dieser Tour 25 RadlerInnen aus verschiedenen Fahrradszenen teil. Die 26 km lange Strecke verlief über den Donauradweg bis nach Langenstein, von dort über den Wiener Graben hinauf zum Schloss Marbach und dann weiter über einen geschotterten Güterweg zur Gedenkstätte Mauthausen. Dort angekommen war es jeder und jedem selbst überlassen, die Feierlichkeit vom eigenen Standpunkt aus zu besuchen und zu betrachten. Zu Mittag fuhr der Pulk der „Tour Gino Bartalie“ mit einem kleinen Zwischenstopp die gleiche Strecke nach Linz zurück. Die Tour fand heuer zum ersten Mal statt und wird 2019 wiederholt.

Das Professionelle Publikum

Die Redaktion bedankt sich beim professionellen Publikum, namentlich bei Renée Chvatal, Margit Greinöcker, Andreas Heißl, Sandra Hochholzer, Volkmar Klien, Sandra Krampelhuber, Kurt Mitterndorfer und Wilfried Steiner, die für unsere LeserInnenschaft ihre persönlichen Kunst- und Kultur-Empfehlungen für diesen Sommer gegeben haben.

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Foto Renée Chvatal

Foto Renée Chvatal

Renée Chvatal
arbeitet im Kunst- und Kulturbereich und seit 3 Jahren im Verein Raumschiff.

Raumschiff Shop Eröffnung
Stimm- und Sprechtraining

 

Margit GreinoeckerMargit Greinöcker
ist Künstlerin und arbeitet an orts- und architekturbezogenen Projekten und Objekten.

Architekturtage 2018
Erkundung Urfahr
KATHARINA GRUZEI

PassfotoAndreas Heißl
ist Kulturarbeiter & Fußballfan, arbeitet seit 10 Jahren als Veranstalter in der Stadtwerkstatt.

Abseits Fußball Film Festival
Neue Zeit Fest

20180509_154432Sandra C. Hochholzer
ist selbst auch leidenschaftlich für Radio FRO im Einsatz. Außerdem Entwicklung und Leitung von internationalen Medien- und Bildungsprojekten.

Not to disappear!
Rosen für den Mörder

VolkmarKlien_Portrait02_MG_0499Volkmar Klien
ist Komponist und Professor für Komposition an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz. Infos: www.volkmarklien.com

Queren – Strömen

 

sandra_goetheinstSandra Krampelhuber
ist Dokumentarfilmemacherin mit Schwerpunkt Afrika, Kulturanthropologin, Kunst- und Kulturarbeiterin, Musikinteressierte und Reisende.

Internationales Festival: Treffpunkt Afrika IV – African Futurisms Symposium.
VIELFALT.in.CONCERT

 

Foto Volker Weihbold

Foto Volker Weihbold

Kurt Mitterndorfer
lebt als Autor, Bildender Künstler und Kulturarbeiter in Linz.

KreativSommerGriechenland
Was wir lesen

 

Foto Andrea Peller

Foto Andrea Peller

Wilfried Steiner
ist künstlerischer Leiter der Bereiche Tanz, Theater, Kleinkunst und Literatur im Linzer Posthof.

Magda Leeb: überLEEBen
Ein Dreieck ist nur in der Mathematik harmlos

 

Tipps von Die Referentin

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Ausstellung: Neu in der MAERZ
OH, DU LIEBER AUGUSTIN!
Knobs&Wires
Zea
praktisch scheiße
KONFRONTATIONEN 2018
A L’ARME Festival Vol. VI
oktolog/out 2018

Die kleine Referentin

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Editorial

Wir sind nicht amüsiert über die Kürzungen bei den Vereinen fiftitu%, Arge Sie und maiz. Und nachvollziehen kann das eh niemand. Ende vorigen Jahres wurde ja noch mit der Spar-Null argumentiert. Jetzt dudelt es aber schon beinahe täglich aus den medialen Endgeräten, dass die oberösterreichische Wirtschaft brummt. Also was jetzt? Einfach kein Interesse am emanzipativen Kerngeschäft?

Damit zu unserem Kerngeschäft: Frauenangelegenheiten, wie es jetzt sprechend im offiziösen Jargon heißt, klingt ja quasi fast schon nach Unterleibsschmerzen oder Gebärgeheimnis, durchziehen diese Ausgabe. Der Hinweis zielt natürlich als allererstes auf den Text von Silvana Steinbacher, die Vertreterinnen der drei oben genannten Vereine getroffen hat. Sarah Held hat einen wunderbaren Text zu Femsploitation und Girls Gangs geschrieben; und wir wollen hier nochmal ausdrücklich festhalten: Feminism is for everybody – oder was sonst? Das Bildsujet unten gehört im Übrigen zu Helds Text. Weitere Angelegenheiten finden sich bei Elisabeth Lachers Porträt von Bernadette Huber, deren Bild aus der Serie „Kunst, die berührt“ als Ausschnitt auf dem Cover zu sehen ist. Noch mehr Referentinnen-Kerngeschäft auch in der Oma-Connection von Wiltrud Hackls Work Bitch und Lisa Spalts „The European Grandma Project“ – ein Text, der über ein filmisches, paneuropäisches Zeitgeschichteprojekt von Alenka Maly berichtet. Die Kolumnistin Andrea Winter rundet ab, und auch so manch Kleine Referentin fragt nach der Rolle der neuen Frau.

Hinweisen möchten wir auch auf das Interview von Pamela Neuwirth, die den Künstler und Kurator Davide Bevilacqua zu seinen Arbeitsthemen und auch speziell zum Festival AMRO befragt hat. AMRO – Art meets radical Openness – ist ein schönes Beispiel dafür, dass sich in der Unesco City of Media Arts mehr Fische tummeln als an der Oberfläche Kulturtanker cruisen: Ganz im Gegenteil machen Vereine wie servus.at seit Jahrzehnten wichtige Arbeit für urbi et orbi.

An dieser Stelle auch noch ein kurzer Hinweis auf den Slowdude, der das Verschwinden des Kasperkellers betrauert. So wie wir. Und übrigens … unterschreiben gehen! Unsere diesmalige Rubrik Man kommt ja vor lauter Unterschreiben nicht mehr nach gibt Auskunft.

Betroffen waren wir vom plötzlichen Tod des Schriftstellers Walter Pilars. Robert Stähr hat einen kursorischen Beitrag geschrieben. Wichtig war uns auch ein Nachruf auf den bereits letztes Jahr verstorbenen Hansjörg Zauner, den Florian Huber verfasst hat. Rest in Peace.

Ansonsten bleibt uns noch zu sagen: There are no gangs around.

Damit grüßt die Redaktion, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

Foto Tobias Frindt

Foto Tobias Frindt

The European Grandma Project

Porträtfilme über neun Großmütter und ein Meta-Film von Alenka Maly, der wie ein Trailer des größeren Zusammenhangs funktioniert. Lisa Spalt schreibt über den diesjährigen Eröffnungsfilm von Crossing Europe und darüber, dass lange zu leben bedeutet, sehr verschiedene Realitäten zu erleben.

European Grandma on the road, crossing Europe. Foto Alenka Maly

European Grandma on the road, crossing Europe. Foto Alenka Maly

Meine Großmutter hat gegen Ende ihres Lebens oft gesagt, der Herrgott habe sie vergessen. Sie war der Meinung, langsam genug gelebt zu haben. Damals bewunderte ich meine Oma, die zwischen den üppig blühenden Pflanzen in ihrem Garten so nonchalant von ihrem eigenen Tod sprach. Aber ich dachte auch, dass sie von mir gebraucht werde und dass das dem Herrgott, mit dem sie da sprach, hoffentlich bewusst sei. Die Erkenntnis, dass der Mann sie irgendwann unweigerlich zu sich holen würde, hat nicht lange danach einen ersten Keil zwischen ihn und mich getrieben.

Zwei Ereignisse haben mich unlängst an den Satz meiner Großmutter denken lassen.

Das erste war eine Meldung aus den Salzburger Nachrichten. Der Salzburger Identitären-Chef Edwin H hatte zu den demonstrierenden „Omas gegen Rechts“ getwittert: „Wenn man länger lebt, als man nützlich ist und vor lauter Feminismus nie Stricken lernte. Meine Oma schämt sich für euch“.

Welch unsäglicher, klebriger Erguss!

Da wird im 21. Jahrhundert das Stricken zu Hause wieder einmal zum Synonym dafür, dass die „rechte“ Großmutter das öffentliche Leben anderen überlässt. (Damit wir vom Weltbild des Herrn H mehr erfahren können: Großväter gegen Rechts – formiert euch endlich!) Außerdem: Eine Frau strickt, und wenn heute Selbstgestricktes nicht gerade das Epizentrum modischen Schicks darstellt – umso besser! Die Frau – zumal die Großmutter – soll ja dort, wo es um die Welt geht, gar keine Rolle spielen. Sollte sie aber doch auf die Idee kommen, ihre bürgerlichen Rechte wahrnehmen und an Demonstrationen teilnehmen zu wollen, darf ihr, wie der agrammatische Sager des Herrn H wohl vermitteln will, durchaus die Daseinsberechtigung abgesprochen werden.

Die Großmutter: Schürze, Stricknadeln, Dutt – und dann der Kachelofen, in dem die Hexe verschwinden soll? Erinnert sich da wieder einmal einer nicht?

Wenige Tage darauf das zweite Ereignis: Alenka Maly hat mich 50 Minuten ihres (noch nicht fertig geschnittenen) Films „The European Grandma Project“ sehen lassen. Darin sprechen Großmütter aus mehreren europäischen Ländern über ihre Jugend. Es sind keine jungen Großmütter, ganz im Gegenteil: Sie sind zwischen 1920 und 1935 geboren. Die Frauen kommen aus verschiedenen Milieus, aus verschiedenen, wenn auch europäischen Kulturen. Zu Beginn des Films begegnen wir ihnen in ihrem Alltag. Sie kochen und schälen Kartoffeln, neben dem Bett steht der Rollator, frau verwünscht das Radiogerät, weil die gewohnten Sender plötzlich nicht mehr dort sind, wo sie gerade noch waren. Haben wir hier endlich diese von unserer offensichtlich schon wieder so großen Zeit verlangten Großmütter, deren Leben sich im Privaten abspielt? Nun, weit gefehlt. Denn hier wird eben gerade das Private zum Gegenstand der Öffentlichkeit, und dieser Umstand hat es in sich. Die Frauen beginnen zu erzählen, sie lassen ihren Alltag transparent werden auf die Geschichte, die hinter ihm steht und ihn gewissermaßen ja auch hervorgebracht hat. Und diese Großmütter haben unerhörte Erinnerungen, die glücklicherweise gehört werden. Sie haben – gut für uns – Enkelinnen, die Regisseurinnen sind und einem Aufruf zu einem Europa vereinenden Filmprojekt gefolgt sind.

Eingeladen haben zu diesem „European Grandma Project“ die Regisseurin und Schauspielerin Alenka Maly und ihre Mitstreiterinnen Barbara Steiner (Politikwissenschaften), Nora Gumpenberger (Vergleichende Literaturwissenschaften / Deutsche Philologie) und Veronika Peterseil (Konferenzdolmetscherin und Übersetzerin).

Gesucht: nicht nur ein neuer Blick auf die europäische Geschichte, sondern auch ein spezifischer Blick von filmemachenden Enkelinnen auf ihre Großmütter.

Als Vorgabe für ihr Porträt bekamen die Regisseurinnen einen Fragenkatalog, an dem sie sich lose orientieren sollten. Dann gings los.

Entstanden sind Porträtfilme von neun Frauen, die das einst so genannte 1000-jährige Reich auf sehr unterschiedliche Wei­se überlebt haben und nun gemeinsam beinahe tausend Lebensjahre zusammenbringen: Alenka Malys Großmutter, die als junge Frau in Gusen gearbeitet hat, Großmutter Ruchana aus Israel, die Deutschland als Jugendliche ganz allein verlassen und ihre Familie nie wiedergesehen hat, Großmutter Lubov aus Sankt Petersburg, die ihrer sterbenden Mutter in der verhungernden Stadt Leningrad das letzte Stück Brot gereicht hat, Monica aus Großbritannien, die sich als kleines Kind vorstellte, wie es wäre, wenn eine Bombe in den blühenden Garten vor ihr einschlüge, …

Es sind Lebensgeschichten, die nur die Betroffenen selbst erzählen können, wenn sie richtig bleiben sollen.

Daher werden sie hier besser ausgespart bleiben.

Aber über Aspekte, über Perspektiven kann gesprochen werden. Maly erzählt, dass sich immer, wenn sie ihre Großmutter bittet, von der Vergangenheit zu erzählen, eine spezielle Verbundenheit einstellt. Diese Verbundenheit zwischen den Enkelinnen und ihren Großmüttern ist beim Sehen des Films stark zu spüren, nicht zuletzt aufgrund des Settings. Denn jede Zuschauerin, jeder Zuschauer, befindet sich beim Sehen der Porträts von seiner Position im Raum her in der Rolle der Regisseurin, die hinter der Kamera unsichtbar bleibt und ihr Gesicht / die Linse zur erzählenden Großmutter wendet. Die erzählende Großmutter, die Trägerin der Geschichte: ein Topos, der hier ganz anders als die strickende des Herrn H Leben wird. Denn wir alle, die Öffentlichkeit, sitzen bei diesen Porträts als ZuschauerInnen vor der Leinwand / der Großmutter, die an die Öffentlichkeit geht. Wir haben eine Verabredung von Bedeutung: Das teilt sich mit. In dieser Veröffentlichung des Privaten wird deutlich, dass nur wir selbst die Öffentlichkeit sein können, dass wir zählen, dass die Geschichten einzelner Menschen die Geschichte ausmacht, dass es nicht darum gehen kann, dass jemand – hinter dem Ofen unsichtbar gemacht – für längst vergangene Füße Socken strickt.

Dieses Erzählen, die Geschichten der Frauen, verbindet unsere Gegenwart mit ihrer Vergangenheit, sodass Geschichte entsteht, nämlich als erlittene Realität hinter den Fakten um Führer, Verträge und Mächte, sie lässt uns überlegen, wie es in der Welt weitergehen soll, weil wir letztlich die Welt sind und eben nicht die Daten, die wir in der Schule lernen. Beim Sehen dieser Porträts ist zu spüren, wie wichtig es ist, zu wissen, wo man herkommt, und in diesem Spiegel der Frauengesichter auch ein wenig in die eigene Zukunft zu blicken.

Die Regisseurinnen Alenka Maly, Hadas Neuman, Fleur Nieddu, Anna Ólafsdóttir, Giorgia Polizzi, Berke Soyuer, Desislava Tsoneva, Maria Tzika und Ekaterina Volkova teilen mit uns diesen Blick. Und Alenka Maly hat schließlich zu den entstandenen Porträts einen Meta-Film gemacht, der wie ein Trailer für das Gesamtprojekt funktioniert.

 

Der rund 80-minütige Film, der eben nun bei Crossing Europe gezeigt wird, tritt ein in eine Zeit, in der die Schrift verloren geht und die Menschheit immer mehr zu denken scheint, es gebe weder eine vergangene Welt, an die man sich erinnern, noch eine Zukunft, für die man die Welt bewahren müsse. Wir stellen uns derzeit vielleicht noch vor, dass Tiere so leben: ohne Wissen um die Vergangenheit, im Moment etwas in sich hineinfressend, ohne Ahnung vom unweigerlich eintretenden Tod. Aber auch wir Menschen scheinen kaum mehr zu kapieren, dass wir als Menschen in der GESCHICHTE leben können, dass wir gestalten können, wenn uns die Geschichte etwas lehrt.

Unlängst hat mir ein junger Mensch erklärt, Lebensweisheit sei kein aktueller Wert mehr.

Ich meine, das „European Grandma Project“ könnte hier einige Aufklärung leisten – nicht nur darüber, was damals geschehen ist, sondern auch darüber, worauf es in allen Zeiten ankommt, was im etymologischen Sinn des Wortes „actuel“ ist, und das heißt „tätig“, „wirksam“ (eher nicht: strickend). Diese Großmütter haben uns zu den Themen Überlebensangst, Zufälligkeit, zum Wesentlichen und zum Kampf um die Menschwürde viel zu sagen. Und nicht zuletzt kommen sie über die von ihnen erzählte Geschichte, die Europa in viele Stücke explodieren ließ, als das eine Europa zusammen, das neben den heute so zahlreichen menschenverachtenden Bestrebungen eben auch vorstellbar wäre. Eine Nachfrage wert wäre es daher, warum dem Projekt von der EU keine Förderung zuteil wurde. Letztlich haben es die Stadt Linz und eine anonym bleiben wollende Sponsorin möglich gemacht. Und vielleicht kann sich sogar das Land Oberösterreich noch für eine Förderung entscheiden.

Ich würde mir jedenfalls wünschen, dass das Projekt in jeder Schule zum Unterrichtsstoff gehörte. Geschichte bedeutet doch, Zeit zu verstehen und sich über die Verständnisweisen, Zukunft denkend, auszutauschen, um eine ganz persönliche Identität zu entwickeln. Zumindest habe ich es so erfahren. Meine Großmutter hat mir einmal davon erzählt, wie ihr Vater und ihre Brüder im ersten Weltkrieg fortmussten und ihre Mutter auf dem Acker weinend grüne Kartoffeln ausgrub, weil sie nichts mehr hatte, was sie den Kindern zu essen geben konnte. Bei diesem Aufblitzen von Geschichte ist mir klargeworden, dass lange zu leben bedeutet, sehr verschiedene Realitäten zu erleben, dass gleichzeitig mein Leben neben dem meiner Großmutter das Nebeneinander zweier Welten bedeutete, die doch innig verbunden waren. Damals hat sich bei mir das Gefühl eingestellt, dass die Welt vielfältiger und die Möglichkeiten zahlreicher sind, als wir erahnen können, und dass es daher sinnvoll wäre, achtsam zu walten. Ich denke, dieses Gefühl vermittelt auch dieser Film.

 

15 Jahre CROSSING EUROPE Filmfestival Linz

CROSSING EUROPE geht von 25. bis 30. April 2018 in die 15. Runde. Seit 2004 verschreibt sich das Festival der Idee, mit einer handverlesenen Auswahl von rund 160 Spiel- und Dokumentarfilmen anspruchsvolles europäisches Filmschaffen zu präsentieren. Das diesjährige Spotlight ist der aus Rumänien stammenden international renommierten Produzentin Ada Solomon gewidmet, der heurige Tribute-Gast ist der italienische Regisseur Edoardo Winspeare. Neben den drei Wettbewerbssektionen (Competition Fiction, Competition Documentary und Competition Local Artists) sind auch die seit Jahren etablierten Schienen Arbeitswelten, European Panorama Fiction & Documentary und Nachtsicht Teil der Programmstruktur. Weiters zu finden sind die Reihe Architektur & Gesellschaft und die 2018 zum vierten Mal präsentierte Schiene Cinema Next Europe.

 

THE EUROPEAN GRANDMAY PROJECT

Alenka Malys THE EUROPEAN GRANDMA PROJECT ist eine der fünf Eröffnungspremieren von Crossing Europe 2018. Der Film wird im Rahmen der Festivaleröffnung am 25. April in Anwesenheit von den neun Filmemacherinnen Alenka Maly (AT), Hadas Neuman (IL), Fleur Nieddu (GB), Anna Ólafsdóttir (IS), Giorgia Polizzi (IT), Berke Soyuer (TR), Desislava Tsoneva (GB), Maria Tzika (GR), Ekaterina Volkova (RU) präsentiert. Die Linzer Filmemacherin und Schauspielerin Alenka Maly nahm ihre eigene intensive „Gesprächsbeziehung“ mit ihrer Großmutter zum Anlass, um das europäische Oral History-Filmprojekt THE EUROPEAN GRANDMA PROJECT zu realisieren. Unter dem Motto „Grandmothers telling their versions of European history“ startete sie 2015 einen europaweiten Aufruf und fand acht gleichgesinnte Filmemacherinnen, die in Israel, Griechenland, Italien, Island, Bulgarien, Russland, England, der Türkei und Österreich parallel zueinander ihre Großmütter porträtierten. Diese, in den 20er und frühen 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts geborenen Frauen, erzählen darin ihren filmenden Enkelinnen von Krieg, politischen Umwälzungen, Liebe und Alltag zu ihrer Zeit in Europa. Neben dem Eröffnungsfilm The European Grandma Project werden in der Kulturtankstelle im Kulturquartier von 25.–30. April außerdem die ungekürzten Porträts der neun Großmütter gezeigt.