Zwischenräume, Zwischenklänge

Als die Linzer Musikinitiative Musik im Raum (MIR) 2010/11 begann, Konzerte zu programmieren und zu realisieren, verstand sie sich vor allem als eine Plattform, die es MusikerInnen und KomponistInnen ermöglichen wollte, möglichst niederschwellig eigene Werke und Programme umzusetzen. Georg Wilbertz und Karen Schlimp geben einen Über- und Innenblick von MIR und das heurige Thema [körper_playful(l) bodies].

Tree Talk: Das Trio Phillips/Hollinetz/Schlimp, hier im Bild der Kontrabassist Barre Phillips. Bild Sam Harfouche

Neben den arrivierten Ins­titutionen und Veranstaltern (Brucknerhaus, Bruckneruni etc.) existier(t)en im Linzer Raum nur wenige Mög­lichkeiten zeitgenössische Musik und Improvisation zur Aufführung zu bringen. MIR wollte unter größtmöglicher Freiheit aller Beteiligten (womit bis heute ausdrücklich auch das Publikum gemeint ist) diese Lücke zumindest ein wenig schließen.
MIR verstand sich in der Frühphase vor allem als eine Initiative zur Ermöglichung musikalisch-künstlerischer Aufführungen, wobei von Anfang an eine Einschränkung auf bestimmte Gattungen, Genres oder Kunstformen bewusst vermieden wurde. Bis heute ist die MIR-Arbeit durch eine weitgefasste, über ein bloßes Lippenbekenntnis hinausgehende Interdisziplinarität gekennzeichnet, die neben Musik, Klang und Geräusch das Zusammenspiel mit Literatur (Text, Sprache, Lyrik), bildender Kunst, Performance, Bewegung, Tanz, Körper etc. sucht und in idealen Momenten findet. Nimmt man die in vielen Konzerten einbezogenen außereuropäischen kulturellen Bezüge hinzu, ergibt sich ein komplexes Beziehungs- und Bedeutungsgeflecht, das trotz der bescheidenen Mittel, die MIR zur Verfügung stehen, zu jährlichen, anspruchsvollen Konzertprogrammen führt.
Die Idee der Ermöglichung wurde in den ersten Jahren durch „call for concerts“ umgesetzt. Musikschaffende konnten zu von MIR ausgearbeiteten Jahresthemen Konzepte und Werke einreichen, aus denen in der Folge das jeweilige Jahresprogramm von einer Jury zusammengestellt wurde. Diese Herangehensweise erwies sich schon bald als zu aufwändig, und brachte MIR zunehmend in die kaum mehr bewältigbare und dauerhaft unbefriedigende Rolle eines ehrenamtlich agierenden Konzertveranstalters. Eigene musikalisch-künstlerische Projekte rückten hinter die organisatorische Arbeit.
Seit einigen Jahren hat sich diesbezüglich das Selbstverständnis von MIR gewandelt. Das Kernteam der Gruppe entwickelt ein Jahresthema, das den Konzerten als Grundlage dient. Organisation und Durch­führung der jeweiligen Konzerte werden einzelnen Mitgliedern übertragen, Gäste (Instrumentalisten, SängerInnen, SchauspielerInnen, TänzerInnen etc.) zur Mitwirkung eingeladen. Vereinzelt bestreiten Gastensembles Konzerttermine komplett. Auf diese Weise hat sich in den letzten Jahren der Pool der beteiligten KünstlerInnen und damit der musikalisch-klanglichen Möglichkeiten für MIR stetig erweitert.

In Themen denken, Konzepte realisieren
Nach wie vor ist es problematisch und durchaus diskurswürdig, künstlerische Arbeit in ein thematisches Korsett zu zwängen. Auch MIR hat hierüber lange und intensiv diskutiert und ist sich der damit verbundenen Einschränkung künstlerischer Freiheit und Gestaltung bewusst. Insgesamt hat sich das Denken (und Gestalten) in Themen allerdings bewährt. Es führt nicht nur zu einer – durchaus hilfreichen – inhaltlichen Konzentration, sondern wurde zum auch öffentlich wahrgenommenen Kennzeichen: der Realisierung von musikalisch-klanglichen Konzepten. Zwar spielen vereinzelt auskomponierte Werke oder als Gegenpol zu diesen die vollkommen freie Improvisation in Konzertprogrammen noch eine Rolle. Im Mittelpunkt steht allerdings seit längerem eine Aufführungspraxis, die sich wesentlich auf das Prinzip des Konzeptes stützt. Im Verständnis von MIR nimmt das musikalische Konzept eine Zwischenstellung zwischen auskomponierten Werken und reiner Improvisation ein. Das Denken und Arbeiten in Konzepten ermöglicht beides: das Festlegen von Ideen, Abläufen und Strukturen wie auch das freie, assoziative Improvisieren. Beide Ebenen treffen in den Konzerten aufeinander, ergänzen, verdrängen oder überlagern sich, entwickeln sich im Extremfall zur akustischen Konfrontation. In welcher Dosierung, mit welchen Anteilen und Elementen dieser nur in Teilen vorhersehbare Spielprozess abläuft, bleibt – zumeist – weitestgehend offen, wodurch nicht nur lebendig-dynamische Momente und Stücke entstehen. Wesentlich ist eine konzentrierte, das gegenseitige Hören und Reagieren fordernde Haltung der Ausführenden. Musikalisch-spielerische Interaktion, die sich im Ideal des unumkehrbaren Moments realisiert (was durchaus auch Augenblicke des Scheiterns einbezieht), wird zum grundlegenden Prinzip. Vom Publikum fordert diese Herangehensweise eine vergleichsweise hohe Konzentration, die allerdings durch besondere Hör- und Seherlebnisse belohnt wird.

Räume entdecken
Der elementare Konnex von Raum und Klang (Musik) ist eine allseits bekannte Tatsache. Für MIR stellen die für Konzerte genutzten Räume einen grundlegenden Rahmen und eine wesentliche Inspiration für die jeweiligen Programme, ihre inhaltliche Ausrichtung und die Besetzungen dar. Jeder Raum wird sorgsam ausgewählt, auf seine Wirkung und seinen Zusammenhang (funktional, semantisch, klanglich etc.) zum jeweiligen Konzept hin überprüft. Dabei spielen auch kaum „messbare“, intuitive Aspekte wie Atmosphäre oder Aura eine wesentliche Rolle. Ziel ist dabei nicht das ausschließlich harmonische, affirmativ klangliche Schönheit evozierende Zusammenspiel zwischen Raum und Aufführung. Gleichbedeutend können auch Gesichtspunkte wie Konfrontation, Aggression, Widerspruch etc. bei der Raumwahl ausschlaggebend sein. So wurde beispielsweise 2018 ein Konzert in der Linzer Hinsenkamp-Passage zur klanglich-atmosphärischen Herausforderung für Musiker, Sprecher und ZuhörerInnen. MIR möchte letztendlich auf diese Weise neue Räume für das Publikum „entdecken“, klanglich-künstlerisch erforschen und den Orten – zumindest für die Dauer des Konzerts – eine neue musikalisch-inszenatorische Identität ein­schrei­ben.

Aktuell: Körperfragen
Nachdem in den letzten Jahren u. a. Programme zum Zusammenhang von Wort, Ort und Klang oder zur Frage der Aktualität von klanglich-musikalischer Sakralität gestaltet wurden, widmet sich MIR 2019 mit dem Thema „playful(l)_Bodies“ verschiedenen Aspekten des Verhältnisses von Musik, Klang, Raum, Körper und Bewegung. Das Verhältnis des Individuums zu seinem Körper ist komplex, widersprüchlich, lust- und angstvoll. Körper werden gepflegt, geheilt, gequält, verbessert, inszeniert, zerstört, präpariert und vergessen. Der Körper ist mehr als die äußere Erscheinung unserer Existenz. Er vermittelt unser Sein in die Welt, resorbiert das Außen, generiert aus sinnlichen Reizen Emotionen, Befindlichkeiten, psychologische Pathologien. Und er handelt. Für all dies braucht der Körper den Raum, kann ihn „beherrschen“ oder von diesem beherrscht werden. Ebenso essentiell ist das Wechselverhältnis von Körper und Klang (Musik). Musik führt – manchmal unausweichlich – zur Bewegung des Körpers. Bewegende Musik kann missbraucht werden, Körper in Bewegung auch.
MIR möchte heuer mit „playful(l)_Bodies“ diese essentiellen Grundverhältnisse und Paradigmen exemplarisch erkunden, künstlerisch interpretieren und sowohl akustisch wie auch visuell expressiv zum Ausdruck bringen. Dabei greift MIR bewusst auf tradierte und „klassische“ Formen zurück und verortet die Konzerte im durch die Moderne widerspruchsvoll geprägten Spannungsfeld von Körper- und Bewegungskult, Tanztheater und Performance.

 

TREE_TALK:
14. 09. 2019, 17.00 Uhr
am Baum mit bekanntem Linzblick (hoch über der Donau beim Schlosspark-Kinderspielplatz) Mitwirkende: Barre Phillips (Kontrabass), Klaus Hollinetz (Field Recordings), Karen Schlimp (Klavier & Leitung, Konzeption „Klavier im Baum“)

FAKE_BODIES:
17. 11. 2019, 20.00 Uhr
afo Linz (Herbert-Byer-Platz 1, 4020 Linz)
Mitwirkende: Karin Küstner (Akkordeon), Georg Wilbertz (Schlagwerk), Joachim Rathke (Rezitation)

FLOW MOTION:
01. 12. 2019, 19.00 Uhr
Red Sapata (Tabakfabrik, Ludlgasse 19, 4020 Linz)
Mitwirkende: Klaus Hollinetz (Komposition), Werner Puntigam (Komposition), Tänzer*innen IDA / Anton Bruckner Privatuniversität

Frauen am Hackbrett des Barocks

Nonnenklöster in Süditalien und die Wieder-Erweckung eines Instruments des 18. Jahrhunderts: Das Salterio gilt als „Hackbrett des Barocks“. Der Recherchehintergrund der Spielgeschichte des Instrumentes, den die Musikerin Franziska Fleischanderl ausbreitet, ist faszinierend – in unerwarteter Weise geht es gleichermaßen um eingesperrte Aristokratinnen und emanzipierte Künstlerinnen.

Franziska Fleischanderl er­zählt im Gespräch, dass die Musik der süditalienischen Nonnen, die sie über mehrere Monate in den Archiven vor Ort beforscht hat, nach wie vor Hauptgebiet ihrer Arbeit ist, weil diese Musik zum qualitativ Besten der ganzen Salterio-Literatur zählt. Zudem ist die Geschichte der aus der Aristokratie stammenden Nonnen, die im Klosterleben gefangen waren, dort aber andererseits künstlerische Frei­räume hatten, die sie „draußen“ nicht ge­habt hätten, berührend und unfassbar – aber dazu weiter unten. Im Grunde ge­nommen versuche sie ein erstes umfas­sendes Grundlagenwerk zur Geschichte, Verwendung, zum Instrumentenbau, Re­pertoire, zu Virtuosen und Virtuosinnen und der Spieltechnik des italienischen Salterios im 18. Jahrhundert zu schreiben, so Franziska Fleischanderl.
Hintergrund der musikalisch-wissen­schaft­lichen Recherche: Franziska Fleischanderl wurde in Linz geboren und war schon als kleines Mädchen vom Klang des Hackbretts fasziniert, das sie später auch studiert hat. Es folgten Masterstudien in Linz und Basel in Hackbrett und Salterio, das man gemeinhin als „Hackbrett des Barocks“ bezeichnet. Ihr Interesse gilt der Erforschung und Aufführung historischer Salterio-Spielpraxis des 18. Jahrhunderts sowie der Ausdehnung des zeitgenössischen Repertoires für modernes Hackbrett. Von 2008 bis 2015 widmete sie sich ausschließlich der Ausdehnung des zeitgenössischen Repertoires für modernes Hackbrett sowie der damit verbundenen Ent­wicklung moderner Spieltechniken und de­ren Notation. 30 Kompositionen in unterschiedlichsten Besetzungen wurden für sie geschrieben. Ein Höhepunkt war die Kollaboration mit György Kurtág, der sich für ihre Transkriptionen seiner Musik begeisterte und diese für sie autorisierte. Danach hat Franziska Fleischanderl zum Salterio gewechselt. Heute verfolgt sie ein Doktoratsstudium zur „Spieltechnik des italienischen Salterio im 18. Jahrhundert“ an der Universität Leiden. Franziska spielt ein originales Salterio aus dem Jahr 1725. Für die Referentin hat sie den folgenden Text zur Verfügung gestellt, der den künstlerischen und soziologischen Recherche­hintergrund des Instruments und seines in weiten Teilen in den Frauenklöstern Süditaliens entstandenen Repertoires in beeindruckender Weise umreißt.
Das Salterio, das man gemeinhin als das Hackbrett der Barockzeit bezeichnen kann, avancierte im 18. Jahrhundert zum gern gespielten Instrument der Aristo­kra­tie in ganz Europa. Den Höhepunkt seiner Reputation feierte es aber in Italien, wo es gerne von den Grafen, Gräfinnen oder Kardinälen selbst gespielt wurde. Existierte das Instrument zwar schon im Mit­telalter und der Renaissance, so wurde es im Barock durch eine Neuanordnung der Töne vom diatonischen zum chromatischen Instrument, und damit fähig, das Repertoire der Zeit ohne Einschränkungen zu spielen.
Das originale Repertoire für Salterio umfasst alle Genres der Zeit. Es erklang nicht nur in der Kirche, sondern auch am Hof und im Theater. Es wurden Sonaten, Ari­en, Konzerte, Kantaten, Messen, und kam­mermusikalische Quartette für Salterio intoniert. Gefeierte Komponisten wie Antonio Vivaldi, Niccola Piccini, Nicola Porpora, Giovanni Paisiello, Niccolo Jomelli oder Antonio Sacchini haben für dieses Instrument geschrieben. Die Ma­nus­kripte mit originaler Salteriomusik fin­den sich in Bibliotheken und Privatsammlungen in ganz Europa und Amerika. Die vielen kunstvoll verzierten Instrumente in den Museen erzählen vom hohen sozialen Status des Salterios und seiner weiten Verbreitung im 18. Jahrhundert. Das Salterio wurde entweder battuto mit zwei Schlä­gelchen gespielt oder pizzicato mit den Fingern oder Plektren gezupft. Ähnlich wie das Cembalo verschwindet das Salterio am Ende des 18. Jahrhunderts aufgrund neuer Klangideale und dem Wandel der Gesellschaftsstruktur, und wartet seit daher auf seine Wiederentdeckung.

Zu den verborgenen musikalischen Schät­zen der Frauenklöster Neapels und zur Musizierpraxis in den Frauenklöstern: Das künstlerische Erbe der italienischen Frauenklöster des 18. Jahrhunderts ist auf­­grund unzureichender Forschung bis heute eine unbekannte Größe, deren vollständige Wiederentdeckung wertvolle Kunst­­schätze erhoffen lässt. Insbesondere was die Musik betrifft, beherbergen zahl­reiche Kloster-Archive umfangreiche Samm­­lungen an Originalmanuskripten, die Wesentliches über die Musizierpraxis der Zeit offenbaren. Die Manuskripte wur­den bisher weder durch Digitali­sie­rung noch systematische Katalogisierung der breiteren Öffentlichkeit zugänglich ge­macht.
Wie aber kommt es, dass sich in den Ar­chiven der Nonnen eine so breite Kollektion an geistlichen und weltlichen1 Wer­ken der renommiertesten Komponisten der Zeit befindet?
Viele der Nonnen in italienischen Frauenklöstern des 18. Jahrhunderts waren aristokratischen Ursprungs und haben deshalb vor ihrem Klostereintritt eine aristokratische Ausbildungsschiene durchlaufen, in der man den damals in adeligen Kreisen üblichen Verhaltenscodex, das comportamento ordinario2, erlernte. Zum comportamento ordinario zählte nicht nur Lesen, Schreiben, Philosophie, Theologie, Mathematik und Juristik, sondern auch Zeichnen, Fremdsprachen, sowie Singen und ein Instrument spielen3. Viele der Nonnen waren somit bereits als Novizinnen hoch gebildet und nicht selten hervorragende Sängerinnen und Instrumentalistinnen, die als Exccellentissimae Donne das kulturelle Leben im Kloster bereicherten.

Zudem kommt, dass die meisten dieser jungen, aristokratischen Damen nicht freiwillig, sondern auf Wunsch ihrer Herkunftsfamilien ins Kloster eintraten. Die allerwenigsten fühlten sich zum Leben im Kloster berufen. Somit war die damals strenge Klausur wie ein Gefängnis für vie­le der jungen Aristokratinnen, die es bislang gewohnt waren, am bunten, kulturell reichen, urbanen Gesellschaftsleben teil­zu­nehmen.
Was sich durch diesen Umstand in den Klöstern in ganz Italien auszubilden begann, war eine äußerst regelmäßige und offenbar großmütig geduldete Praxis von „geheimen Rekreationen“ der Nonnen, die Ricreazioni segreti. In diesen Ricreazioni segreti trafen sich die Nonnen, um miteinander zu musizieren oder Poesie zu rezitieren. Oftmals wurden gemeinsam die neuesten Opernarien studiert und aufgeführt4. Diese Praxis ging in den größeren Klöstern sogar so weit, dass sich die Nonnen einen eignen Musiksalon, einen Kon­zertraum, oder sogar ein kleines Theater im Kloster einrichteten.

Die künstlerischen Treffen der Nonnen hatten Grund und Ursprung nicht nur darin, dass die Eccelentissimae Donne Freu­de daran hatten, ihre künstlerischen Fähigkeiten auszuleben. Sie konnten durch die Beschäftigung mit Musik ihren aristokratischen Selbstwert und die damit verbundenen Privilegien weiterhin auf­recht­erhalten. Deshalb war die regel­mä­ßige Ausübung ihrer Kunst ein wichtiges psychologisches Fenster zurück in ihre Vergangenheit, das ihnen ermöglichte, trotz strenger Klosterklausur, ein Stück Freiheit zu leben. Bedenkt man, dass nicht wenige der Nonnen auch selber Musik komponierten (die dann auch aufgeführt wurde), zeigt sich, dass ihnen zumindest in künstlerischer Hinsicht größere Frei­räume im Kloster zustanden, als sie im weltlichen Leben jemals gehabt hätten.
Es waren auch die Nonnen und deren Fa­milien im Hintergrund, welche die not­wen­digen finanziellen Mittel mit in die Gemeinschaft brachten, die es brauchte, um neue Kompositionen bei den besten Komponisten der Zeit in Auftrag zu ge­ben, und Kopien der beliebtesten und aktuellsten Opernarien der Zeit zu bestellen. Sie legten damit den Grundstein für den Aufbau der umfangreichen Archive, die wir heute vorfinden. Viele der Auftragskompositionen waren dezidiert einzelnen Nonnen gewidmet, die besondere gesangliche oder spieltechnische Fähigkeiten aufwiesen. Nicht selten treffen wir bei diesen Werken das Salterio als Obligato-Instrument an, was auf eine ausgeprägte Praxis dieses Instruments in den Frauenklöstern Italiens im 18. Jahr­hundert schließen lässt.

Zum Abschluss: Angestoßen durch den sensationellen Kauf eines originalen Salterios von 1725, erbaut von Michele Barbi in Rom, gilt Franziska Fleischanderls Interesse nicht nur der Erforschung und Aufführung historischer Salteriomusik des 18. Jahrhunderts. Um ihre Forschungs­er­gebnisse auf die Bühne zu bringen, gründete sie 2016 ihr eigenes Ensemble namens „Il Dolce Conforto“, mit welchem sie nun auf internationalen Bühnen gas­tiert. Im Herbst ist sie auch hierzulande zu hören.

 

1 In vielen Klöstern überwiegen in der Anzahl die weltlichen Werke (Opern, Arien, Kammermusik, etc.) bei weitem.

2 Oder: Ausbildung zum Gentiluomo

3 Im Falle der männlichen Jung-Aristokraten ergänzte sich die Ausbildung zum Gentiluomo um Reiten und Fechten.

4 Im Falle der männlichen Jung-Aristokraten ergänzte sich die Ausbildung zum Gentiluomo um Reiten und Fechten.

 

Der Text wurde von Franziska Fleischanderl zur Verfügung gestellt und von der Redaktion bearbeitet.

 

Termine im Herbst:

13. September 2019 – St. Georgen/Längssee (Kärnten) Konzert für Salterio und Violine beim Trigonale Festival. Mit Georg Kallweit

10. November 2019 – Linz Konzert im Rahmen von Musica Sacra. Mit dem Ensemble Colcanto

Die Scharlatanerie der natürlichen Sprache

Komponieren oder Improvisieren? Anlässlich eines Abends zu und mit Christian Steinbacher im Keplersalon schreibt Forian Huber über den Linzer Dichter und Sprachtorpedierer Steinbacher, der im Sinne der Sprachkunst unter anderem meint, dass es „eben immer um ein Gewohnheiten torpedierendes Spiel mit Künstlichkeit“ gehe.

Christian Steinbacher bei einem Auftritt in Lyon im März 2019. Foto Louis Roquin

Seine Texte fertigt der 1960 in Ried im Innkreis geborene und seit 1984 in Linz lebende Schriftsteller Christian Steinbacher auch „zu und mit Musik“, wie er in einer poetologischen Selbstauskunft bemerkt. Diesen Eindruck bestätigt auch ein Blick auf die Programmgestaltung des von ihm 2005 initiierten Linzer Poesiefestivals „Für die Beweglichkeit“, das neben Literatur und Bildender Kunst stets auch mit Vertreterinnen Neuer Musik wie den Komponistinnen Clemens Gadenstätter, Peter Ablinger und Annette Schmucki oder Interpretinnen wie Robin Hayward, Maja Jantar und Teodoro Anzellotti bekannt machen wollte.
Vor allem aber die Lesungen des Dichters aus seinem umfänglichen und vielgestaltigen Werk verdeutlichen, wie sehr dieses von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Regelwerk der Musik, ihrer Notation und Aufführungspraxis bestimmt wird. Wir sehen den Autor atmen und mit Händen und Füßen den Takt vorgeben, hören Motive wiederkehren oder erleben, wie er dem Textmaterial unterschiedliche Stimmen leiht, das Vortragstempo moduliert und seine Rede bisweilen mit Geräuschen und Musik unterlegt, wie anlässlich seiner Performance „Trio für Camposelice, Glücksschwein und Stimme“ aus dem Jahr 2000, die hierfür eine historische Aufnahme der Berceuse, op. 57 von Frédéric Chopin durch den Geiger Vaša Prihoda benutzt. In Visueller Poesie, Prosa, Gedichten und Aufsätzen reflektiert der Autor dabei nicht nur sein persönliches Verhältnis zur Klangästhetik und Hörerlebnisse zwischen aktueller Chartmusik, Schlager, Jazz und Klassik, sondern auch die gemeinsamen historischen Wurzeln von Dichtkunst und Musik. Schließlich stammt der Begriff der Lyrik von der griechischen Lyra, einem Lauteninstrument, das im Altertum zumeist den poetischen Vortrag begleitete. Es verwundert daher nicht, dass auch Steinbacher in einem jüngst entstandenen Kurzhörstück „Purpurmantel, zu einer Wurst gedreht“ an die antike Sängerdichterin Sappho erinnert, deren Lieder und Hymnen nur in Fragmenten und ohne die zugehörige Musik überliefert sind. Dabei sind die musikalischen Bezüge in seinem Werk nicht auf eine historische Motivsuche, die neben den Anfängen der Dichtkunst etwa auch die mittelalterliche Minne, das romantische Kunstlied des 19. Jahrhunderts oder die seit den 1950er-Jahren entstandenen Chansons und Balladen von H. C. Artmann und Gerhard Rühm adressiert, beschränkt.
Vielmehr ist jedes Schreiben über Musik für ihn an den Versuch gebunden, Klängen und Tönen, Musik und Stille eine geeignete sprachliche Gestalt zu geben, wie etwa seine letzte, 2019 erschienene Buchpublikation im Wiener Czernin Verlag Wovon denn bitte? Gedichte und Risse vor Augen führt. Diese enthält etwa neben der Textgrundlage für das Sapphische Hörstück den Zyklus ERNEUT ZU FLÖTEN WISSEN DIE, „der im genauen Horchen auf Aufnahmen von Improvisationen des Flötisten Norbert Trawöger erarbeitet wurde“ und „Flötentöne in Gedichte überführt“, wie Steinbacher notiert. Den Ausgangspunkt für den Schreibprozess bildet nicht die musikalische Notation, sondern die aus ihr erwachsende Interpretation wie auch im Fall der Anfang der 2000er-Jahren entstandenen Textsammlung „Bartóks Bocksprüng’“, der die Duos für zwei Violinen des ungarischen Komponisten in der Einspielung von András Keller und János Pilz zugrunde liegen. Die poetischen Umschriften des Autors, deren Satzbild gelegentlich, wie etwa beim Hörspiel nach Schuberts „Gondelfahrer“ aus dem Jahr 2003, an Partituren erinnert, evozieren somit weniger einen etwaigen musikalischen Urtext als die uneinholbare Differenz zwischen Text und Musik, zwischen Hören und Sehen. Nicht für jeden Ton lässt sich schließlich eine sprachliche Entsprechung finden und überhaupt stehen Klänge und Worte in keinem natürlichen und daher folgerichtigen Verhältnis: „Wu-wu-wu tönt die Flöte. ‚Madame Wu‘ heißt ein Teehaus“, heißt es dazu lapidar im Gedicht. Die vermeintlich willkürlichen Assoziationen beim Hören eines Musikstücks münzt der Autor in poetische Tugenden. Schließlich „gehe es eben immer um ein Gewohnheiten torpedierendes Spiel mit Künstlichkeit, und die Behauptung der Alternative einer das Sprachspiel wie auch immer übersteigenden natürlichen Sprache deute doch nur auf Scharlatanerie hin“, wobei kreative Erfindungsgabe und Debatten um die korrekte Lesart in diesem Falle ausgedient hätten.
Dem Bekenntnis zur literarischen Künstlichkeit folgend, unterzog Steinbacher seine transkribierten Hörerfahrungen wie­derholt einer Überarbeitung, aus der bisweilen neue Texte entstehen konnten wie sein im Jahr 2000 publiziertes Prosabuch Für die Früchtchen bestätigt, das in einigen Teilen auf eine Zusammenarbeit mit dem Musiker Karl Wilhelm Krbavac zurückgeht. Umgekehrt inspirierten Steinbachers Dichtungen auch die Entstehung neuer Musik, wovon die 2009 gemeinsam mit dem Komponisten Christoph Herndler und dem bildenden Künstler Markus Scherer realisierte Aufführung Subjekt/ Objekt oder das 2018 für das Kölner Trio sprechbohrer geschriebene Sprechstück „Dösender Grünspan“ zeugen. Dem Dickicht der Stimmen, der Fülle musikalischer Formen und Einfälle begegnet der Dichter mit poetischem Übermut und bildgewaltiger Sprache. Sein Schreiben und sein Vortrag bringen in uns etwas zum Klingen und machen dadurch die Grenzen und Möglichkeiten poetischer Wahrnehmungsfähigkeit erfahr- und neu verhandelbar.

 

Veranstaltung im Keplersalon:
„Komponieren oder Improvisieren? Ein Abend zu und mit Musik im Werk von Christian Steinbacher“;
7. Oktober 2019, 19.30 Uhr.

Logothetis, nicht …

Xenakis. Robert Stähr verwechselt zunächst die beiden Komponisten – um sich dann zwischen Elektroakustik und Tonband, zwischen Neuer Musik und Notation im größeren Zusammenhang mit dem Werk von Anesthis Logothetis auseinanderzusetzen. Anlass dazu ist eine im Schundheft Verlag erschienene Publikation, die unter dem Titel „LOGOtheSEN“ Texte zu Anestis Logothetis versammelt. Den dort abgedruckten einleitenden Beitrag hat Robert Stähr der Referentin zur Verfügung gestellt.

Xenakis. In den Regalen schau ich bei „L“ nach, zuerst unter „Elektronische Musik Musique Concrete“, dann unter „Zeitgenössische Musik“. Beide Male erfolglos. „Klassische Musik“, Unterabteilung „20./21. Jahrhundert“? Wieder nichts gefunden, keine CD mit Stücken von Anestis Logothetis. Oder war es … eine LP? – Der einzige Tonträger, den ich von dem griechischen Komponisten besitze, ist eine … Compact Disc.
Hab ich die CD – irrtümlich – falsch eingeordnet und jetzt Mühe, sie in meinem Musikarchiv zu finden? Ich verschiebe die weitere Suche auf später. Auf dem Sofa liegend, Klassische Musik hörend, kommt mir der Verdacht: Ich hab ihn verwechselt. Ich sehe unter „Elektronische Musik Musique Concrete“ bei „X“ nach; dort steht die einzige CD, die ich besitze von … Iannis Xenakis: ein griechischer Komponist und Architekt, dessen kompositorisches Oeuvre stark von seinem Interesse an mathematischen und akustischen Gesetzmäßigkeiten geprägt ist und der die sogenannte „Stochastische Musik“ entwickelte, in der zufällige („stochastische“) Elemente wie das Fallen von Regentropfen oder Menschenansammlungen eine entscheidende Rolle spielen. Auch Zahlentheorie und Mengenlehre hat Xenakis auf Kompositionsverfahren angewendet.

Warum aber habe ich diesen Komponisten mit Anestis Logothetis verwechselt? Zwei Gemeinsamkeiten sind, abgesehen von der griechischen Herkunft und der späteren Übersiedlung in westeuropäische Länder, jedenfalls auszumachen: das Kre­ieren eigener musikalischer Notations- bzw. Kompositionssysteme und die Beschäftigung mit elektronischer Musik.
Auf Websites, die über „Leben und Werk“ des Komponisten Auskunft geben, erfahre ich, dass Logothetis nach seiner Übersiedlung nach Österreich in Wien neben Komposition Klavier und Dirigieren studiert hat. Er erfuhr seine Ausbildung im geistigen Klima der künstlerischen Nachkriegsavantgarde, die im Bereich notierter Musik von Serialismus und Zwölfton-Technik geprägt war. Davon ausgehend entwickelte Logothetis graphische Notationssysteme, die es ihm erlaubten, improvisatorische Elemente in seine Kompositionen einzubauen. In den 1950er Jahren nahm er an den „Darmstädter Ferienkursen“ für Neue Musik teil und arbeitete im Elektronischen Studio des Westdeutschen Rundfunks in Köln – beide damals Brennpunkte und Begegnungsstätten der zeitgenössischen Komponisten-Szene. Zurück in Wien, fand er ein Betätigungsfeld am Institut für Elektroakustik der Musikhochschule.
Logothetis komponierte zum einen Stücke für verschieden große Ensembles von akustischen (nicht elektronisch verstärkten) Instrumenten, wobei er deren Kombinationen im Falle einiger Werke der freien Wahl der Aufführenden überließ. Derart offene, fakultative Vorgaben erinnern stark an die musikalische Philosophie des US-Amerikaners John Cage, einen der einflussreichsten Pioniere radikal experimenteller musikalischer Verfahrensweisen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; die „Fluxus“-Bewegung und mit Zufall arbeitende Ansätze künstlerischen Schaffens („Aleatorik“) bilden um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts das prägende Umfeld dafür.
Zum anderen arbeitete Logothetis immer wieder mit Tonbändern. Er schuf zum Teil collagehafte, vorgefundene Sounds mit Sprache/Stimmen u. ä. kombinierende und diese elektronisch verfremdende Kom­positionen, Musikstücke, die – so mein Eindruck beim Hören von Auszügen – einer gewollt spröden bis ruppigen, auf Brüche und Diskontinuitäten setzenden Ästhetik verpflichtet waren, welche, durch das akustische Fernglas heutiger digitaler Klangerzeugungs- und -kombiniermöglichkeiten gehört, trotz oder gerade wegen ihres damaligen, „Hörgewohnheiten“ her­ausfordernden Avantgarde-Charakters reizvoll verstaubt anmutet. Zu Logothetis’ Genre gehören zudem sogenannte „Radio Operas“, deren Tradition bis in die 1920er Jahre zurückreicht.
Wie viel an spontanen Entscheidungen vonseiten des Komponisten in der Gestaltung seiner Musik steckt, was hingegen an „Klangereignissen“ strukturell geplant war, erschließt sich mir zumindest beim Hören entsprechender Audiofiles im Netz nicht – doch das stört, mich zumindest, auch nicht: Struktur und Aura belauern einander.

Von Anestis Logothetis’ Beschäftigung mit Elektronik und Tonbandmusik lassen sich Verbindungslinien in verschiedene Rich­tungen ziehen: zunächst zurück zu … Xenakis, der zumindest bei einigen seiner Werke in ähnlichen Gefilden „wilderte“ und damit – wie auch Logothetis – lange vor den Möglichkeiten digitaler Klangerzeugung so etwas wie Pionierarbeit im Feld musikalischen Arbeitens mit analoger Elektronik leistete.
Über das Einbeziehen von Haus aus „außermusikalischer“ Klangquellen stößt man auf die sogenannte „Musique Concrete“; deren französische Hauptvertreter Pierre Henry und Pierre Schaeffer schufen – wiederum viele Jahre, bevor diese Bezeichnung geprägt wurde – Klanglandschaften (keine „soundscapes“), an filmische Strukturen erinnernde Montagen akustischer Umgebungen aus urbanen und ländlich geprägten Räumen, arbeiteten mit menschlichen Stimmen, Rhythmen und anderem mehr. Die mir bekannten Stücke der beiden Komponisten (herausragend: das ca. einstündige „La Ville“/ „Die Stadt“ von Henry) muten weniger spröde als Tonbandkompositionen von Logothetis an, haben zum Teil sogar meditative Wirkung – ohne an gestalterischer Präzision einzubüßen.

Diese Musik bildet gleichsam die Basis für den Zeitsprung in nur auf das erste Hören ganz andere musikalische Gefilde, zu Richtungen, die als „Ambient“ und „Noise“ bezeichnet werden und gemeinhin nicht zu den Ausprägungen zeitgenössischer E-Musik gezählt werden. Es sind musikalische Genres, die – im Falle von „Ambient“: Musik als Ambiente, Klangumgebung – auf Erik Saties zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte „Musique d’Ameublement“ zurückgehen oder – vor allem bei „Noise“ – genuin außermusikalisches Material verwendende Ansätze aus „analoger Zeit“ als Hintergrund haben.
Einer meiner – jenseits von „E“ und „U“ agierenden – Favoriten ist der Komponist, Musiker, Kunsttheoretiker Brian Eno. Eno, so etwas wie Neuerfinder der „Ambient Music“ nach Satie, ihr Weiterentwickler und Verfeinerer, veröffentlicht seit den 1970ern kontinuierlich Alben mit Stücken, in denen er elektronisch generierte Klangflächen mit Naturgeräuschen und anderen akustischen Quellen amalgamiert, die seiner Intention nach sowohl für aktives Zuhören als auch als Hintergrundmusik dienen können. Sein Oeuvre, das zwischen „Ambient“ und „Pop“ pendelt und beide Genres auch in Richtung neuer musikalischer Ufer verbindet, ist zudem durch einen nahtlosen Übergang von analoger zu digitaler Klangerzeugung gekennzeichnet.
Der Einsatz digitaler Technik vervielfacht einerseits die Möglichkeiten, Klangquellen zu verändern, zu kombinieren; andererseits verleitet die niederschwellige Handhabung dieser Möglichkeiten viele autodidaktische Musiker zu … Beliebigkeit in der Wahl ihrer Mittel, einem gedankenlosen Kombinieren heterogener Quellen, die musikalische Bedeutung dort suggerieren sollen, wo keine zu finden ist. Das gilt beileibe nicht für alle Musiker, die im sich schon lange überlagernden Feld von „Ambient“ und „Noise“ tätig sind; der inflationäre Gebrauch dieser Kategorien freilich trägt sicher nicht zu deren Präzisierung bei. Enos „Hintergrundmusik“ war und ist mit Sicherheit keine Klangtapete für Lounge und Fahrstuhl.

Das führt zurück zu Anestis Logothetis: Die mit analogen und zum Teil direkt physischen Mitteln (wie geschnittenem und neu montiertem Bandmaterial) von Logothetis und Zeitgenossen geschaffenen Kompositionen zeigen „Ecken und Kanten“, lassen den Verdacht beliebiger Kombinatorik nur selten aufkommen. Montage und Collage sind – anders als etwa bei der literarischen Arbeit mit sprachlichem Material – nicht präzise unterscheidbar.

Is there any escape from noise? There is so much noise. I can hear the music. Was sind paranormale Tonbandstimmen? Es sind Stimmen unbekannter Herkunft. Es sind paranormale Tonbandstimmen. … unbekannter Herkunft. Escape … hear the music. (zit.: Negativland; Laurie Anderson)

 

LOGOtheSEN
Texte zu Anestis Logothetis
Mit Beiträgen von: Robert Stähr, Angelika Ganser, Peter Hodina, Richard Wall, Wally Rettenbacher, Angela Flam, Waltraud Seidlhofer, Herbert Christian Stöger (Text und Textbilder) Sylvia Dhargyal (Grafik)
Verlag und Herausgeber: unartproduktion,
Bestellung: office@unartproduktion.at
Einzelheft: 5 Euro
Jahresabo: 5 Schundhefte zu 15 Euro
www.unartproduktion.at
www.schundheft.at
#zanzenberg © 09/2019

Die kleine Referentin

Illustration Terri Frühling. Text: Nach einem österreichischen (Ex-)Bundeskanzler

Sommerkrimikulinarik

Der Slowdude hat genug von der Realität. Klimakrise, Wahlkampf dort und da, das deprimierende Weltgeschehen und die ewig gleichen Krisenherde. Er flüchtete sich stattdessen ins sommerliche Lesevergnügen und damit in eine angenehm entkoppelte Parallelwelt. So lässt es sich aushalten. Und da der Slowdude natürlich vorrangig gastrosophische Themen behandelt, lässt er natürlich hier keine Literaturkritik vom Stapel, sondern destilliert Kulinarisches aus drei geschmeidigen Krimis. Von drei Autoren, die sogar der literaturbeflissene Besserwisser als „akzeptable Schreiberlinge“ durchgehen lassen kann. Der Fokus liegt hier auf den Lieblingsspeisen der Protagonisten. Manch Büchergourmet beurteilt die Werke nach ihrer soziokulturellen Relevanz, nach der Tiefe der Recherche oder wie der Autor das Lokalkolorit und die Eigenheiten der jeweiligen Bevölkerung herausgearbeitet hat. Der Slowdude ist einzig am Geschmackssinn der Schreiberlinge interessiert.

Zuallererst zieht es den Dude nach Spanien. Hier wirkt der von Manuel Vazquez-Montalban ersonnene Privatdetektiv Pepe Carvalho. Ein Feinschmecker und selbst begnadeter Koch, der sich und sein Umfeld gerne und oft bekocht. Eine der einfachen, schnellen und ungeheuer köstlichen Gerichte sind grüne Bohnen mit Muscheln. Das Gericht kommt eher beiläufig im Band „Die Rose von Alexandria“ vor. Beiläufig wie viele Speisen in Vazquez-Montalbands Büchern, aber dennoch immer einen Verkostungsversuch wert. Das eigenartige Tier aus Poseidons Garten und das triviale Gemüse aus dem Bauerngarten verzücken als köstliches Paar den Dude.

Rezept für 2 Portionen:
1 kg Venusmuscheln
1 Handvoll Fisolen (Grüne Bohnen)
1 1/4 Liter trockener Weißwein
1 Zitrone
1 Bund Petersilie
1 Knoblauchzehe
2 TL Olivenöl
Salz & Pfeffer

Fisolen kurz in heißem Wasser vorkochen und mit kaltem Wasser abschrecken. Muschel gut waschen. In einer großen Pfanne die Fisolen in Olivenöl kurz schwenken und die Muscheln dazugeben. Dann mit Weißwein ablöschen, Knoblauch hineinpressen und mit Salz und Pfeffer würzen und ein wenig frisch gepressten Zitronensaft untermischen. Petersilie kleinhacken und beim Servieren drüberstreuen.

Als nächstes verschlägt es den Slowdude an die Stadt der Bora – Triest. Hier ermittelt der Comissario Proteo Laurenti von Veit Heinichen – ebenfalls Feinschmecker, aber weniger ein Koch. Die Triestiner Restaurantszene kennt der Kommissar gut und ist Stammgast in Bars, Cafés und den so typischen Buffets. Auch die Osmize im slowenischen Teil des Karsts besucht der kultursinnige Bulle gern. Auch hier ein Rezept, bei dem sich Meer und Acker treffen – das in Osterien und Buffets allseits beliebte Antipasti Polpo e Patate.

Rezept für 6–8 Personen:
4 große gekochte Kartoffeln (festkochend)
1 kg Polpo (TK oder aus der Dose)
1 Bund Petersilie
Olivenöl
Weißweinessig
Zitronensaft
Salz & Pfeffer

Polpo in mundgerechte Happen schneiden – ebenso die Kartoffeln. Petersilie fein hacken und mit den Kartoffel- und Polpowürfeln vermengen. Zitronensaft, Essig und Öl untermischen – Menge anpassen – die ganze Mischung sollte nicht zu flüssig werden. Danach mit Salz und Pfeffer abschmecken.

Als Dritten im Bunde möchte der Dude den Ermittler John Rebus – ersonnen von Ian Rankin – aufs Tapet bringen. Die Genüsse des Inspektors sind meist eher von flüssiger und hochprozentiger Natur – das bringt wahrscheinlich das schottische Klima mit sich. Und da der Slowdude schon den Herbst spürt, möchte er der geneigten LeserInnenschaft gerne den Milchtee mit Whiskey aus dem Band „Blutschuld“ ans Herz legen. Der wärmt und sorgt für Wohlbefinden von Geist und Körper.

Rezept für 2 Tassen:
1 Tasse Schwarztee nach Wahl (nicht zu stark)
1 Tasse Milch
2 TL Zucker
1 TL Zimt
1 Prise Ingwerpulver
1 Sternanis

In den heißen Schwarztee Zucker, Zimt und Ingwerpulver auflösen und den Sternanis hineingeben und das ganze für ein paar Minuten stehen lassen. Danach den Sternanis entfernen und mit der Milch aufgießen. Dann nach Lust, Laune oder Bedarf guten schottischen Whisky beimengen.

Der Slowdude hat etwas gemacht, was er noch nie gemacht hat: Eine Kulinarik-Kolumne mit mehreren Rezepten. Das macht scheinbar die Tiefenentspannung seiner Sommerfrische.
Er hofft, es gefällt und wünscht in herzlicher Altersmilde gutes Gelingen beim Nachkochen!

Verantwortung, Widerstand und Fügung

Im Löcker Verlag ist aktuell Michael Guttenbrunners Prosawerk Im Machtgehege als Sammelband erschienen. Zum 100. Geburtstag des Dichters, Essayisten und zeitlebens Widerständigen, der im Literaturbetrieb stets Außenseiter blieb, schreibt Richard Wall.

Foto Richard Wall

Der Dichter und Essayist Michael Guttenbrunner trug das Herz auf der Zunge und pflegte Schluderei in Wort und Bild verlässlich zu kritisieren. Er galt als Außenseiter und hielt Distanz zu den Lakaien des Literaturgeschäfts. Im schnelllebigen Kulturbetrieb dieser Tage nahezu vergessen, umgab ihn zu seinen Lebzeiten eine Aura, die sich aufgrund seiner kompromisslosen Haltung gegen Sprachverhunzung, Konsumismus (P. P. Pasolini), Alt- und Neofaschismus um seine Person gebildet hatte. Man könnte auch sagen, ihm ging eine Fama voraus, die aus Gerüchten bestand, von sensationslüsterner Journaille in die Welt gesetzt. Unter den Literaten hatte er kaum Freunde, und die Kritik (bis auf wenige Ausnahmen) sah in ihm einen un­gehobelten, aus der Zeit gefallenen Ra­bau­ken, dessen Schriften man glaubte nicht lesen zu müssen.

Es gibt nur wenige Dichter seiner Generation, die sich, wie er, so fundiert mit Bil­dender Kunst und Architektur aus­einan­dergesetzt haben. Mit Fritz Kurrent, der 1950 mit Wilhelm Holzbauer, Otto Leitner und Johannes Spalt die „arbeitsgruppe 4“ begründet hat, verband ihn eine jahr­zehntelange Freundschaft; mit Werner Berg hingegen nur eine kurze. Wer im Frühjahr dieses Jahres die Lentos-Ausstellung „Rainer – Lassnig. Das Frühwerk“ gesehen hat, wird auch auf Guttenbrunner gestoßen sein: Er und Maria Lassnig wa­ren befreundet, sie malte u. a. einen Akt von ihm, der, als das expressive Werk 1947 in Klagenfurt gezeigt wurde, einen Skandal auslöste, weil der Penis des Dar­gestellten aufgrund der Farbgebung unmittelbar ins Auge stach. Zudem stand er mit dem Dichter und Kunsthistoriker Klaus Demus und mit dem Morphologen Heimo Kuchling, Lehrbeauftragter an der Kunstuni Linz und an der Akademie in Wien, in Gedankenaustausch.

Guttenbrunners Zugang zur Bildenden Kunst war einerseits von seinen autodidaktischen Studien grundiert, andererseits berührten ihn Kunst- und Bauwerke unmittelbar kraft ihrer ästhetischen wie geis­tigen Qualitäten. Kurzum, er konnte sich für sie begeistern, vorausgesetzt er sah in den Ergebnissen, dass der Schöpfer, weiblich oder männlich, ernsthafte formale Ab­sichten verfolgt hatte. Ihn interessierte weder „dekoratives Hundertwasser“ noch die lauen Ergebnisse einer „dreihundert­jährigen manieristischen Entwicklung“. In seinen Prosabänden Im Machtgehege, auf die ich noch näher eingehen werde, sind Begegnungen mit und Hommagen an Künstler wie Herbert Böckl, Arnold Cle­mentschitsch, Giovanni Segantini, Alfred Wickenburg und Wander Bertoni festgehalten.

Dass er aus bäuerlich-proletarischen Verhältnissen kam, verschwieg der 1919 geborene Kärntner nicht: „Mein Vater war bis zum Krieg 1914 Rossknecht im Gurktal, und ich bin ihm 1934 auf dem Zoll­feld in dieser Bestallung gefolgt. Mein Bett stand im Stall neben den Barren. Zwei große, wenig verschiedene Braune bildeten zusammen den Anblick fremden Le­bens, denn jetzt, da ich mit ihnen arbeiten sollte, erschienen mir die Pferde fremd, als unübersteigliches Hindernis. Ich musste alles lernen, und der Dienst drängte. Ich lernte füttern, „wassern“, striegeln, auf­zäumen, anschirren und fahren. Wir mussten pflügen, eggen, walzen und im Winter Holz liefern, geschlagenes Holz, das unter dem Schnee begraben im Wald lag.“ (Im Machtgehege II),

Mit 14 Jahren kam er erstmals mit dem Gesetz in Konflikt: „Der Februar 1934 hat mich, zusammen mit andern, in die Illegalität geführt. Ich habe Flugzettel ge­streut und die auf Seidenpapier gedruckte und aus der Tschechei eingeschmuggelte Arbeiterzeitung kolportiert.“ (Im Machtgehege II)

Als Schüler der Höheren Graphischen Bun­des-Lehr- und Versuchsanstalt in Wien, die er seit 1937 besucht hatte, erlebte er den Einmarsch der Deutschen Wehr­macht. Wegen seiner Weigerung, das Horst-Wessel-Lied zu singen, wurde er von der Schule verwiesen. Alsbald landete er in der Rossauer Kaserne, angeklagt wegen „illegaler Betätigung für die verbotenen Sozialdemokraten“. Zur Wehrmacht ein­gezogen stand er – notorisch jede Art von Autoritär und Hierarchie ablehnend – als Aufsässiger und Befehlsverweigerer drei­mal vor dem Kriegsgericht und entkam nur knapp der Todesstrafe. Er war alles andere als ein disziplinierter Soldat: Er missachtete Befehle, sprach dem Alkohol zu, verlängerte eigenmächtig seinen Ur­laub, führte aufsässige Reden, beleidigte und bedrohte Vorgesetzte.

Sein erster Gedichtband, Schwarze Ruten, der zur Gänze kriegsbedingt war, erschien 1947 bei Kleinmayr in Klagenfurt. „Er enthielt“, so Guttenbrunner, „was im Krieg entstanden war, was er verschont hatte und was gerettet und ausgearbeitet werden konnte.“ Kurz nach Kriegsende wie­der in Kärnten, attackierte er einen britischen Offizier, der einen Ausweis von ihm verlangt hatte. Einige Monate Irrenanstalt waren die Folge. Diese dumpfe Haft verarbeitend führte zu seiner ersten Prosa­dichtung, Spuren und Überbleibsel, ebenfalls 1947 erstmals in Klagenfurt erschienen.

Guttenbrunners literarische Form, die seinem Wesen entsprach, blieb vorerst die Lyrik; er veröffentlichte in unregelmäßigen Abständen die Bände Opferholz (1954), Ungereimte Gedichte (1959), Die Lange Zeit (1965) und Der Abstieg (1975). Aufgrund der Tatsache, dass er keine Gedichte mehr schreiben konnte, wie er mir einmal sagte, begann er mit der Niederschrift von kurzen Prosastücken. Da­mit begann, vorerst absichtslos, eine neue Werkphase: Im Machtgehege (Verlag Günther Neske, Pfullingen, noch ohne Nummerierung) wurde erstmals 1976 ver­öffentlicht.

Viele Dichter, die über die Erregung, zur poetischen Form begabt zu sein, hinausgekommen sind, fanden früher oder spä­ter zur Prosa, zur Erzählung, zum Roman. Guttenbrunner hatte kein Interesse, einen Plot zu erfinden. Er rieb seine Sprache an der Fülle des Erlebten und an den Verrücktheiten der Moderne. Er begegnete all dem Drängenden, indem er ein Leben führte, das sich vollkommen, seiner Haltung entsprechend, dem Leid verpfändete und gegen „Komfortgesinnung und Re­kla­megeist“ das Wort erhob. Er hielt nichts von dem Verdikt, nach Auschwitz sei Schweigen angemessen. Vergessen, Ver­drängen, Wegschaun war ihm nicht Gegeben. „Dass einer nicht floh, sondern das gelebte weiterlebt, findet die dümmste Interpretation.“ (Im Machtgehege IV)

Den Krieg thematisierte er zeitlebens: Je­nes ungeheure Zwangserlebnis ließ ihn nicht los, dass er nicht vergessen konnte, wurde ihm immer wieder angekreidet. Im Machtgehege ist eines der außergewöhnlichsten autobiographischen Prosaprojekte der jüngeren österreichischen Literatur. Hier wird nicht chronologisch erzählt, sondern die Textsplitter – manche aus nur wenige Zeilen bestehend, manche mehrere Seiten lang – sind im Buch wie unser assoziierendes Denken angelegt. Von den ersten Kindheitserinnerungen ausgehend, die man sich als Zentrum vorstellen kann, werden um diese kreisförmig, aber in unterschiedlichen Abständen, brisante und merkwürdige Stationen seines Lebens sowie kritische Vignetten zu politischen und kulturbetrieblichen Schandtaten der Gegenwart angelegt. Formal erinnern manche Texte an Baudelaires Prosa­ge­dich­te, manche an Attacken in der Tradition von Karl Kraus, dessen Fackel er schon als Jugendlicher kennengelernt hatte. Der großartige wie sprechende Titel „Machtgehege“ verweist auf die existentielle Gefangenschaft und Befangenheit der Menschheit, die unfähig ist, aus einem Zustand der politischen, religiösen sowie ideologischen Unmündigkeit auszu­bre­chen.

Michael Guttenbrunner ist vor 15 Jahren viel zu früh an den Folgen einer zu spät behandelten Lungenentzündung gestorben. Am 7. September wäre er 100 Jahre alt geworden. Mit einer treffenden wie wertschätzenden Passage aus einem Nach­ruf seiner Tochter Dr. Katharina Guttenbrunner, die das Werk ihres Vaters betreut, sei in diesen Tagen an ihn erinnert: „Er war ein Mann der Extreme, die in seiner Prosa vollständig miteinander verwoben und voneinander durchdrungen schie­nen. Ungeheuer explosiver Zorn verbunden mit zartestem Mitgefühl für alles Lebende, weitest gehende Bedürfnislo­sig­keit materiellen Ansprüchen gegenüber mit einer förmlich greifbaren Begierde nach Büchern, die er besitzen wollte, stolzes Selbstbewusstsein mit größter Verehrung anderer, autoritär patriarchale Durchsetzung mit anarchistischer Umsetzung, völliger Rückzug in die Einsamkeit mit lebensvoller Freude an Freunden und Geselligkeit.“ (Michael Guttenbrunner, Texte und Materialien, Wien 2005)

Nun ist im Löcker Verlag, der eine mehrbändige Werkausgabe vorbereitet, das ursprünglich nach und nach in acht Bänden im Rimbaud Verlag herausge­kommene Prosawerk Im Machtgehege (Aachen 1994–2005) als Sammelband erschienen. Die Neuauflage kommt zur richtigen Zeit: Guttenbrunners Prosa ragt aus all dem Wortgeklingel hervor als Säule, auf die gebaut werden könnte, auch wenn ringsum alles bröckelt. Die Lektüre sei jeder und jedem an Herz gelegt.

 

Michael Guttenbrunner, Im Machtgehege, Werke Band 1, herausgegeben und mit einer Nachbemerkung versehen von Helmuth A. Niederle, 455 Seiten, Löcker Verlag, Wien 2018, ISBN 978-3-85409-792-1, 29,80 Euro

Der Biss zum Biss

So kann queer_feministische Radioarbeit funktionieren – meinen Helga Schager und Michaela Schoissengeier, die von der Referentin eingeladen wurden, über ihr seit 2017 bestehendes und auf Radio FRO laufendes Sendungsformat „X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört!“ zu berichten. Die beiden haben sich in die schreiberische Außenperspektive der dritten Person versetzt und erzählen.

Der Sendungsname auf dem Schwarzen Brett. Foto X_XY

„X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört!“ so ein sperriger Titel, was heißt denn das eigentlich und überhaupt zu lang für einen Sendungsnamen!“

Diese und andere Kommentare haben die Radiojournalistinnen zu Beginn ihres neuen Sendungsformats im Jahre 2017 mehrmals gehört. Die zwei Gründungsfrauen Helga Schager und Michaela Schoissengeier haben sich nicht abbringen lassen und haben fleißig geübt, diese Worte, ohne mehrmals zu stolpern, charmant und souverän über die Lippen zu bringen. Sie haben es geschafft und wenn sie sich über das Magazin austauschen, heißt es dann einfach kurz und knapp: XXY.

Ohne ihre feministischen Grundhaltungen verlassen zu wollen, dachten sie, es sei an der Zeit, einen erweiterten Blick auf Geschlecht, Gender und Gesellschaft, auf deren Auswirkungen auf die sich rasant verändernde politische Landschaft zu werfen und diese in die praktische und theoretische Radioarbeit zu integrieren und zu aktualisieren.

X_XY steht als Synonym für Varianz. Von Geschlechtsidentitäten, die der Biologie nicht entsprechen müssen, ist hier die Rede. Geschlecht bewegt sich auf einem Kontinuum, das heißt, der Versuch wird gewagt, sich von binären Geschlechternormen zu lösen und nach Erlösung wird gestrebt.
Gelöst ist noch lange nicht alles, ungelöst ist vieles und manches braucht keine Lösung, sondern Respekt und Akzeptanz.

„Wir finden das (un)erhört! und bringen das zu Gehör!
Wir wünschen uns nicht eine neue Form von feministischer Politik –
Wir machen sie!“1

Das Miteinander ist durch das binäre Geschlechterkonstrukt geprägt. Vom Gang aufs WC bis zum X am Bewerbungsbogen gibt es Regeln, das schafft Ordnung in unserer Welt.
In den letzten Jahren bröckelt zunehmend diese vermeintlich unverrückbare Grenze. Menschen wechseln ihre Geschlechtsidentitäten, der 3. Geschlechtseintrag „inter“ und die „Ehe für Alle“ sind in Österreich seit kurzem Realität.
Unglaublich aber wahr, die Welt bricht nicht zusammen, ganz im Gegenteil! Menschen fassen Mut, so zu leben, wie es ihnen entspricht und wie es sie glücklich macht. Das soziale Gefüge ist divers und dynamisch und das nicht seit gestern, nicht seit heute.

Selbstverständlich schafft es immer wieder Verwirrung, Unklarheiten und auch Verwunderung. Das ist nicht immer angenehm, regt aber zum Nachdenken an und erlaubt einen Blick über den eigenen Tellerrand.
Reaktionäre Kräfte wollen dies verhindern, doch keine Chance, der Zug rollt. Dieser Widerstand zeugt auch davon, welche Relevanz besser gesagt Brisanz diese Themen beinhalten.

Um was geht es?

Nicht nur der alte, weiße Mann wird panisch (sondern auch der junge), wenn seine Pfründe ins Wanken geraten.
Das Patriarchat wirkt in alle Lebensbereiche und die erste Welle der Frauenbewegung sägte schon kräftig an deren Stuhlbein.

Viele Jahrzehnte sind vergangen, vieles hat sich verändert, der Kampf (ja, es ist immer wieder ein Kampf!) nach gelebter Gleichheit in all ihren Unterschieden und Facetten ist im Grunde der gleiche geblieben. Die Rapperin Sookee bringt’s auf den Punkt: „Ich fänd’s unanständig kein*e Feminist*in zu sein.“

„Wir sind Feministinnen, haben den Anspruch, positiven und mutigen Vorbildern eine Stimme zu geben und kritisieren Ungerechtigkeit und Abwertung ohne Wenn und Aber aufs Schärfste!“, zeigen sich die beiden Radiomacherinnen resolut.

Die Geschichte zeigt, dass Frauen wenig bis gar keinen Platz bekommen haben. Weibliche Leistungen wurden und werden unter den Teppich gekehrt oder gleich von Männern geklaut.
Eine wesentliche Aufgabe von „X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört!“ ist es, Lebensgeschichten aufzuspüren, Menschen zum Erzählen zu ermutigen und diese Geschichten zu archivieren.

Es ist ein Beitrag zur Hörbarkeit, zur Sicht­barkeit von verschiedenartigen Le­bens­entwürfen und deren Haltbarkeit über eine Lebenszeit hinaus.

Wie und womit wird das gemacht?

Es werden die freien Medien genutzt, um Themen in die Öffentlichkeit zu bringen, die von privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern vernachlässigt werden.

Thematische Vielfalt ist Programm. Breit gestreut reicht diese von Kunst- und Kulturaktivismus, Frauen*- / Gesellschafts- / Entwicklungs- und Migrationspolitik, Alltagsleben von Frauen*, Lesben, inter- und trans-Menschen über Hörspiele bis zu experimentellen Radiosendungen (Radio als Kunstform).
Außerdem wird der Kurzlebigkeit und Kurz­berichterstattung ein Schnippchen geschlagen.
Ausführlichkeit und seriöse Berichterstattung sind gelebte Praxis.

Und was hat es mit dem „queeren Biss“ im Sendungsuntertitel auf sich?

Der Begriff „queer“ bezog sich ursprünglich auf etwas Merkwürdiges, Fremdartiges, Abweichendes und wurde als Schimpfwort benutzt. Inzwischen ist es zu einem positiv besetzten Wort geworden, mit dem sich Menschen selbst bezeichnen. Queer meint eine politische Haltung, die auch die vorherrschenden Normen rund um Geschlecht und Sexualität hinterfragt und alternative Wege des Denkens und Handelns herausfordert.
„Ja und den Biss zum Biss haben wir noch immer und noch allemal!“2

 

1 Statement 2017
2 Statement 2019

X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört!
Das feministische Magazin mit queerem Biss FREIE Projektinitiative
Sendetermine: Jeden ungeraden Freitag, 19.00–20.00 h
Wiederholung jeweils: Jeden ungeraden Samstag, 11.00–12.00 h
am darauffolgenden Werktag, 14.00–15.00 h auf Radio FRO 105.0 und 102,4 MHz
Sendungsarchiv: cba.fro.at/series/x_xy-ungeloest-und-unerhoert

Kontakt: Helga Schager & Michaela Schoissengeier mailto: helgaschager@gmail.com, michaela.sch@gmx.at

Fan.Tastic Females – Football Her.Story

Sport als Mikrokosmos der Gesellschaft zeigt sehr plakativ das vorHERRschende Denken und Handeln. Obwohl Frauen seit Anbeginn des Fußballspiels als Zuseherinnen und Fans am Spielfeldrand standen und ihre Teams anfeuerten, werden sie weder in diesen Erzählungen noch ganz generell in der Geschichtsschreibung erwähnt. Eh klar, weil männliche Historiker immer den eingeengten Männerblick in die Welt bringen, wo Frauen keinen Platz finden, außer an der Seite ihres Ehemannes. Auch Archäologen konnten aus den Grabbeigaben in ihrer eindimensionalen Einfältigkeit nur die Schlüsse ziehen: Schmuck = Frau bzw. Waffen = Mann. Glücklicherweise gibt es mittlerweile DNA-Analysen, die nicht voreingenommen sind, bzw konnte durch DNA-Analysen festgestellt werden, dass auch weibliche Körper in Gräbern mit Waffen lagen. Erfrischenderweise gelangen immer mehr Wissenschafterinnen in entsprechende Positionen, um diese rein männlich geprägte Sichtweise neu zu zerlegen und neu zu konstruieren. Ebenso werden immer mehr Biographien geschrieben über Frauen, die Überdurchschnittliches leisteten, aber nie Anerkennung dafür erhielten. Das ist gut für ein stetig wachsendes Arsenal an diversen Rollenbildern für Kinder, junge Mädchen und Frauen. „If you can’t see it, you can’t be it“

Aber auch in der Durchschnittlichkeit des (Fußball-) Alltags wollen wir Frauen wahrgenommen werden als selbständige Wesen und nicht als Anhängsel des Freundes oder Ehemannes, wohlwollend mitgemeint im generischen Maskulinum der deutschen Sprache. Ja richtig gehört, wir Frauen schaffen den Weg ins Stadion alleine! Und der Grund unseres Erscheinens ist nicht uns einen Mann zu angeln, sondern unser Lieblingsteam anzufeuern, die Atmosphäre im Stadion zu genießen, FreundInnen zu treffen und eine gute Zeit zu haben. Wir wollen auch nicht pinkifiziert werden! Also echt, warum soll ich als Anhängerin eines Fußballvereins Merchandise-Artikel kaufen, die nicht in den Farben des Vereins gehalten sind?!! Welch gestörtes Frauenbild müssen Marketingverantwortliche haben, die allen Ernstes glauben, eine Frau möchte ihre Vereinszugehörigkeit mit Rosa ausdrücken?!

Die Vielfalt weiblicher Fußballfans, mit all ihren Leidenschaften, Problemen, Hoffnungen, Wünschen, Projekten, Netzwerken, Fanclubs …. steht im Fokus der Wanderausstellung „Fan.Tastic Females – Football Her.Story“, die Ende November in Linz gastiert. Die Ausstellung wurde konzipiert, entwickelt und umgesetzt von Mitgliedern des Netzwerks „Football Supporters Europe (FSE)“ und ist seit der Eröffnung im Hamburger FC St. Pauli Museum im September 2018 unterwegs in Europa.

Die Ausstellung zeigt Portraits von 78 weiblichen Fußballfans von Jung bis Alt aus 21 europäischen Ländern. Das Panorama der Darstellungen geht über die des Fußballfans hinaus und schließt verschiedene Rollen abseits des Fußballfeldes mit ein. Zu den Roll Ups, auf denen die Protagonistinnen dargestellt werden, gehören Videoclips, die über ein QR-Code gescannt am Smartphone zu sehen sind. Diese Codes gelten während der Ausstellungszeit in der jeweiligen Stadt und können zuhause nachgesehen werden.

Die Österreich-Tour der Ausstellung wird von FIN (Frauen im Fußball Netzwerk) in Innsbruck, Graz, Wien und Linz mit entsprechendem Rahmenprogramm organisiert. Vom 20.– 30. November stellt der Linzer KunstRaum Goethestrasse xtd seine Räumlichkeiten zur Verfügung, SKVrau und Arge TOR gestalten das abwechslungsreiche Rahmenprogramm. Am ersten Samstag erfreut uns die Sektion Menstruation mit ihren Erzählungen „Sex, Beer, Vaginas – We are the Vienna Rude Girrrls“ über das Fansein beim FC Vienna. Sie erzählt über ihre interne Vernetzung, verschiedene Projekte und über die Organisation des internationalen FIN Treffens in Wien 2017. Ganz besonders freut mich das Erscheinen von Almut Sülzle, Autorin der ethnographischen Studie im Fanblock: Fußball, Frauen, Männlichkeit, die sich auch hier in Linz dem Thema „Männlichkeit in Fanszenen, bezogen auf weibliche Fans“ widmet. Das Programm abrunden wird ein Film über weibliche Fußballfans, denen der Weg ins Stadion leider verwehrt bleibt. Den Abschluss am zweiten Samstag feiern wir mit mit einer grandiosen musikalischen One-Woman-Show.

 

Tipp: Fan.Tastic.Females – Football Her.Story
fan-tastic-females.org/index.php/de
Podcast mit Ausstellungsmacherinnen
rasenfunk.de/tribuenengespraech/26

Mi 20.–Sa 30. 11. 2019 in Linz im KunstRaum Goethestrasse xtd
Programm auf facebook www.facebook.com/FootballHerStory

Öffentlicher Raum

Foto Violetta Wakolbinger

wir sind sichtbar! Feministische Interventionen zum 2. Linzer Frauenbericht. Intervention Wiltrud Hackl. Konzept und Realisierung: FIFTITU% – Vernetzungsstelle für Frauen* in Kunst und Kultur in OÖ.