Editorial

Keine Corona-Tagebücher mehr, keine Balkonkonzerte – der zweite Lockdown ist ja doch nicht nur schlecht. Aber im Ernst: Vor und hinter den Kulissen hat sich Ernüchterung breitgemacht. Wir machen ja eh weiter, aber im Untergrund formieren sich die Dinge in einer unglaublichen Gemengelage von Krisen neu – irgendwo zwischen einem guten radikal Neuen, das wir noch nicht kennen können und einem schlechten radikal Neuen, das wir hoffentlich nicht näher kennenlernen werden (frei nach Gramsci: Wir wissen noch nicht, welches Balg da noch nicht geboren werden kann, wir hoffen aber das Beste). Vielleicht fragt sich jetzt so manche Leserin, so mancher Leser: Muss man denn überhaupt von „gut“ und „schlecht“ reden, muss es denn immer gleich „radikal“ sein? Tja, einerseits gab und gibt es schon Vorgeschmäcker und Tatsachen, Stichwort diverse todesgetriebene Gesellschaftsordnungen, die man radikal ablehnen muss, andererseits zerrinnt uns derzeit die Natur und die Umwelt quasi zwischen den Fingern; jenseits jeder Conspiracy und jedes Pathos. Sprich, diese und noch mehr Realitäten stellen sich derzeit durchaus radikal und noch schlimmer: existenzbedrohend dar. Andererseits, stimmt schon, ja … zumindest scheint man mit herkömmlichen Radikalreflexen und den üblichen schnellen Antworten nicht weiterzukommen, weniger denn je. Selbst Herbert Kickl, Chef-Charismatiker des superrechten Kleinhäusler-Agitprop-Jargons schlechthin, jammert nur mehr dahin, so weinerlich, als ob er irgendwo am Weg sein Mojo verloren hätte. Das fällt schon auf. Mindestens eine tiefe Skepsis durchzieht jedenfalls die Entwicklungen, während sich die meisten ins Notwendige fügen. Schlimm genug.

Zum Heft: Barbara Eder analysiert einen Digitalisierungs-Diskurs ausgehend vom neuen Kunstuni-Studiengang „Critical Data“, und die wohlfeil kalkulierten Interessen von Politik, Wirtschaft und Industrie rund ums neue digitale Gold. Ingo Leindecker kritisiert aus der Warte der Freien Medien das enorme Missbrauchspotential, das mit den neuen, an sich wichtigen Hass-im-Netz-Regulierungsgesetzen einherzugehen vermag. Aus diesem Zusammenhang stammt übrigens der am Titel zitierte Begriff des „Overblockings“. Eine international angelegte Geschichte von Kunststreiks thematisiert die Publikation von Sofia Bempeza, die Vanessa Graf gelesen hat. Lokalen historischen BürgerInnenprotest in Lambach hingegen hat Silvana Steinbacher anhand des ebenfalls neu erschienenen Buches von Marina Wetzlmaier und Thomas Rammerstorfer ins Visier genommen. Was alles im Heft sonst noch zu finden ist: Minimalismus, Anarchismus, Musik, Literatur, bitte sich hier selbst ein Bild machen. Die Redaktion kann jeden einzelnen Beitrag empfehlen. Hier an dieser Stelle aber noch eine besondere Empfehlung für die Ausstellung Amor Vincit Omnia – das am Cover abgebildete Feminist Until Death stammt aus der Reihe No-Polit Poster von Linda Bilda, der die Retrospektive im Lentos gewidmet ist.

Kleines Detail: Interessant ist, dass beim Professionellen Publikum die Kunstuni-Ausstellung „Best off“ drei Mal getippt wurde. Die Redaktion vertraut aufs freie Spiel der angefragten professionellen Kräfte. Deshalb auch von dieser Seite, ganz im Sinne dessen, dass das Starke noch populärer gemacht werden soll, von Redaktionsseite ungeschaut hier Empfehlung Nummer 4: Unbedingt hingehen!

Und finally: Wir freuen uns sehr, einen Auszug aus Lisa Spalts kontradiktorisch dirigiertem Siegerinnen-Text der Floriana abdrucken zu können. Und beschließen das Editorial mit einer Textstelle aus Die grüne Hydra:
Tatsächlich dachte ich schon seit Längerem, man lasse uns leben. Ich meine: Man ließ uns leben, wie man uns früher arbeiten hatte lassen.

In dem Sinne: Leben Sie weiter.
Ihre Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

www.diereferentin.at

Träumen Waren von Geld?

Zwischen Comics, Malerei, Manifest und einem ausufernden Gesamtwerk der früh verstorbenen Künstlerin Linda Bilda stellt sich die Frage: Kunst als Ware oder doch umgekehrt? Linda Bildas Bildgalaxie hinterfragt den Kapitalismus mit geschickten Kniffen. Die fertige Retrospektive Amor vincit omnia im Lentos durfte Comic- und Popkulturfachwerker Christian Wellmann bereits während des Lockdowns beschnuppern. Mit diesem Vorgeschmack kann die Ausstellung bald besucht werden.

Im Aschehaufen, in dem Kultur mittlerweile vollends unterzugehen droht, wartet geduldig ein bereits fix und fertig installierter Vulkan darauf, endlich auszubrechen. Aber auch für Vulkane gilt bekanntlich ein Ausbrechverbot. Eine mit dir und deinen Sinnen spielende Zur-Schau-Stellung einer alternativen Kunstwelt harrt geduldig im Finsteren darauf, endlich von Schaulustigen begutachtet zu werden. Eine Märchenwelt des ganz normalen neoliberalen Wahnsinns, mit Auswirkungen auf Marginalisierte. Darin ist alles ein Manifest.
Sobald die Museenlandschaft wieder ihre automatischen Glasschiebetüren öffnet, sollte ein ausgehungertes Publikum die äußerst bereichernde Amor vincit omnia-Ausstellung Linda Bildas im Linzer Kunstmuseum Lentos fix am Radar haben. Die Referentin durfte bereits vorab in den Lentos-Keller hinabsteigen, dorthin, wo nun vorzugsweise das subkulturelle Angebot des Hauses kredenzt wird. Dankenswerterweise nicht als prekäre Nischenrandexistenz, der Raum im Untergeschoss eignet sich für dieses, ähem, Subkulturelle vorzüglich, u. a. war das auch 2017 so bei der Turnton-Show von Time’s Up.  

Überraschend verstarb Linda Bilda im Sommer 2019. Nun wird die Wiener Künstlerin mit einer ersten Retrospektive gebührend gewürdigt. Die Ausstellung und der dazu erschienene Katalog präsentieren einen überbordenden Einblick in die schillernden Arbeiten einer faszinierenden Künstlerin. Eine tabubrechende Allrounderin, die in mehreren Kunstgattungen zugegen ist, stets nach neuen Formen der Gestaltung suchend. Ein unerschrockener Geist, der mehr in anarchistischen Zirkeln zu verorten ist, denn in der Kunstwelt. Ihr poetisch-politischer Pop ist Richtung Zukunft gewandt, und zeigt – mit dem Ausstellungstext gesprochen – fürwahr „emanzipatorische Bildpolitik“, durch die sich feministische Kapitalismuskritik als roter Faden zieht. Schonungslos und angriffslustig, sinnliche und politische Wahrnehmung vereinend. Was sie produzierte, formte sich organisch und ganz selbstverständlich stets zum Nächsten – beginnend mit Malerei, Lese- und Diskussionszirkeln, Aktionen im öffentlichen Raum, Zeitschriften, Manifesten, Comix bis hin zu einem von ihr entwickelten Leuchtglas. Alle diese Aspekte ihres Schaffens, die sie oft miteinander verknüpfte, sind in der Amor vincit omnia-Schau allgegenwärtig.
Bilda beschäftigte sich damit, was neoliberale Ökonomien, Arbeit, Waren, Geldflüsse oder Geschlechterverhältnisse miteinander zu tun haben und kritisierte den Kapitalismus bei jeder Gelegenheit. Slogans und Manifeste lassen Buchstaben in ihrem bildnerischen Universum förmlich brennen. Die Aufhebung der Kunst, hineintransformiert in das tägliche Leben und von der Situationistischen Internationale übernommen, sollte ab den 1980er-Jahren ihr künstlerisches Schaffen prägen. Spezielle Beachtung verdient das von ihr erfundene, patentierte und mit zahlreichen internationalen Preisen überhäufte LightGlass, mit dem Motive auf (farbiges) Acrylglas übertragen werden, um mittels Laserschnitt ausgeschnitten und als Intarsien in Glasplatten eingelegt zu werden: Es findet sich in neueren Werken, Glasbildern oder zig öffentlichen Arbeiten.  

Betritt man den ersten Bereich der Ausstellung, befindet man sich inmitten einer Installation, wo dieses patentierte LightGlass mit verblüffenden Lichteffekten ein wahres Raumerlebnis herbeizaubert. Die dreidimensionale, mit Tisch und Stühlen gefertigte Installation Die Goldene Welt lässt farbige Schatten zum Comic werden, der im Raum gelesen wird. Wie an Höhlenwänden, hier als Update für die digitale Konsumgesellschaft. Hinterglas-Malerei goes crazy. In der Goldenen Welt geht es um sehr viel Mammon – ein Vermögen von einer Milliarde Dollar wird FreundInnen mit der Auflage hinterlassen: Der oder die wird es bekommen, die innerhalb eines Jahres den meisten Profit daraus machen wird. Ein Spiel mit sieben Personen, inkl. Gevatter Tod, das zum Mitspielen einlädt. Dieses moderne Märchen ist Chronik und Beschreibung unserer Zeit, in der Ökonomie, Widersprüche, Entwicklungsmöglichkeiten und Destruktivität aufgezeigt werden: Die Welt des strahlenden Geldes und die Welt des Scheins. Inwieweit ist die Wirtschaft die Realität der Welt? Die Goldene Welt basiert auf einem (Print-)Comix und kann auch via interaktiver Webpage weiter erkundet werden1. Im Ausstellungsraum: Eine architektonische Form und kathedralenartige Bögen an der Wand geben der Skulptur den Rahmen. Flankiert wird dies alles von ungewissen Schatten werfenden Plexiglas-Skulpturen, wie Der apokalyptische Reiter, der einen argentinischen Polizisten darstellt. Eine Kakerlake, ebenfalls zur Ordnungsmacht entfremdet, wird zur ironischen Mutation – zum wabernden, angstverbreitenden Schattenspiel. Diese deformierten Boten der Hölle hinterlassen eine sich multiplizierende, schwer irritierende Lichtstimmung im Raum. Autorität und was dahintersteht. Dieses „Ensemble“ wurde nach einer Ausstellung Bildas im Salzburger Kunstverein (2009) rekonstruiert.
Im zweiten Raum zeugen u. a. Comix-Originale auf Transparentpapier, Covers und diverse Materialien des von ihr gegründeten Kunstfanzines ARTFAN, Malereien oder Caro Diario, ein aus Leinwänden gefertigtes Buch, von der Vielfältigkeit und Aktualität ihres Werks. Dazu kommt die besonders hervorzuhebende Serie Digital Questions, eine neuere Arbeit von 2018, die Schwarz-Weiß-Grau-Illustrationen mit LED-Licht-Einsätzen verwendet und den Gebrauch von Handys sehr sarkastisch „beleuchtet“. Das Handy als Ersatzorgan, das den Menschen bereits übernommen hat. Dazu läuft dezent im Hintergrund ein Film-Loop, der eine Aktion Bildas und ihrer Mitstreiterin Arianne Müller zeigt. Ihre Persönlichkeit wird faktisch im Raum präsent, und gibt dir das Gefühl, dass dich Linda Bilda irgendwie durch diese Ausstellung führt. Fast schon wie ein Hologramm …  

Der zur Lentos-Schau erschienene Katalog gönnt uns ein umfassendes Bild ihrer mannigfachen Aktivitäten, so heißt es passend auch im Vorwort: „Das Interesse dieser Publikation ist nicht, Linda Bilda als individuelle Künstlerin für einen Kunstmarkt posthum zu etablieren, sondern die Vielfalt ihrer Aktionsmöglichkeiten mit einer Vielzahl von Texten punktuell zu beleuchten und zu würdigen.“2 Was auch wirklich bestmöglich gelungen ist, es handelt sich um eine augenöffnende Publikation, die mit viel Liebe und Herzblut zusammenmontiert wurde. Das findet man in dieser Form nicht so oft, hierzulande. In dieser Monografie wird dann, auch durch etliche bissfest auf den Punkt verfasste Beiträge sowie durch ausführlichstes Bildmaterial tatsächlich das extrem breite Feld transparent gemacht, das Bilda sozusagen händisch beackert hat.
Seit 1987 schuf sie auch Comics. Korrekter Comix, also Underground-Comix, der Riot-Grrrl-, Free Tek- oder Hard­core (Punk)-Szene mit Sympathie zugewandt. Comix als logischer Weg, der ihre Ansätze perfekt verbindet: Malerei, Manifeste, Politik, Agitprop – in Zeichnung und Wort vereint, Amen. Ihre poetische Leichtigkeit, trotz „schwer verdaulicher“ Themen, beatmet die Bildfolgen mit utopischer Luft, trotzdem auch Optimismus versprühend. Damit ist sie in den Kanon bahnbrechender österreichischer Comiczeichnerinnen, wie Ulli Lust, Edda Strobl, Sibylle Vogel oder neuerdings Nina Buchner, einzureihen. Bildas Stil kommt hier sehr 1970er-mäßig rüber, aber mehr Angela Davis als Janis Joplin. Guido Crepax’ Ästhetik ist da auch nicht weit entfernt. „Da mir die Gesellschaft, die ihre Mitglieder ungleich behandelt, widerstrebt, unterstütze ich alle Ziele der Frauenbewegung und auch Projekte darin. Mir schien Comics ein adäquates Mittel, da oft Klagen über die Ernsthaftigkeit der Diskussionen von verschiedener Seite kamen“3, so Linda Bilda. Zu ihren Comix-Serien gehören NO Politcomics4, als Propaganda für eine fortschrittlichere Gesellschaftsform, Keep It Real5 oder Die Goldene Welt, die ja auch in der Ausstellung zu erfahren ist. Macht, Gewalt, Staat, Demokratie, Anarchie, Widerstand und Sabotage sind wiederkehrende Begriffe in ihren sequentiellen Erzählungen. Der Illusionscharakter der kapitalistischen Ökonomie gehört zu den Grundeinsichten, die LeserInnen und Publikum mittels visueller Denkprozesse vermittelt werden sollen, wie sie im Manifest für emanzipatorische Bildproduktion forderte. Neben diesen Comix veröffentliche sie auch die Zeitschrift Die weiße Blatt (sic!), die sich mit Kunst, Politik und feministischer Kritik beschäftigte. Wie man sieht, ist ihrem ausufernden Produktionsradius nur schwer beizukommen, vor allem in einem kurzen Teaser-Textchen wie diesem, aber Katalog und Ausstellung drehen den Kopf gekonnt in die richtige Richtung. Unbedingt nicht versäumen das.

 

1 www.thegoldenworld.com
2 Katalog Linda Bilda: Amor vincit omnia. Hg. ARTCLUB Wien, C. Schäfer u. H. Schmutz, Verlag für moderne Kunst, Wien, 2020. Vorwort von Hemma Schmutz, Seite 7.
3 Interview mit Linda Bilda: www.grrrlzines.net/interviews/nocomics.htm
4 Eigenverlag, erhältlich bei www.pictopia.at
5 Text- und Comicsammlung, Salzburger Kunstverein, 2009

LINDA BILDA. Amor Vincit Omnia
Viel zu jung und überraschend starb Linda Bilda im Sommer 2019. Das Lentos zeigt eine erste Retrospektive der Wiener Künstlerin. Bilda (geb. 1963) intervenierte bereits früh mit unerschrockenen Aktionen im öffentlichen Raum, gründete mehrere Zeitschriften, produzierte Comics und anmaßende Malereien, organisierte Lese- und Diskussions-Zirkel, schrieb Manifeste, erfand neue Bildtechniken für den öffentlichen Raum und hielt als Erfinderin internationale Patente für ein von ihr entwickeltes Leuchtglas. Ihre Arbeit ringt um eine „emanzipatorische Bildpolitik“.

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Linda Bilda: Amor vincit omnia. Hg. ARTCLUB Wien, C. Schäfer u. H. Schmutz, Verlag für moderne Kunst, Wien, 2020.

Aktuelle Öffnungszeiten und mehr Infos: www.lentos.at

Malen nach Zahlen

Seit 1. Oktober dieses Jahres gibt es die erste und einzige Professur für Critical Data an der Kunstuniversität Linz. Eine genuin interdiszipli­näre Definition des Gegenstandsbereichs scheint dabei ebenso zu fehlen wie eine Open-Source-Strategie – analysiert Barbara Eder. Sie hat außerdem einen größeren Blick auf die Zusammenhänge von Industrie und IT im Land geworfen, und darauf, was im Digitalisierungsdiskurs derzeit alles schief läuft.

Malen nach Zahlen zwischen: 1 = Digitalisierungshimmelblau und 4 = Wirtschaftsstandortschwarz

„Hacker sind wie Künstler: Wenn sie mor­gens gut drauf sind, stehen sie auf und ma­len ein Bild“ – so beantwortete Wladimir Putin beim Sankt Petersburger Wirtschafts­forum im Juni 2017 die Frage des DPA-Journalisten Peter Kropsch nach dem mög­lichen Einfluss russischer Hacker auf den deutschen Bundestagswahlkampf. Der gedachte Vergleich scheint mit Blick auf die aktuelle Stellenpolitik an österreichischen Universitäten nicht allzu abwegig: Mit einer „Visual Culture Unit“, angesiedelt am „Institute für Art and Design“, bemüht die TU Wien sich seit 2014 um die Erweiterung ihrer technischen Studiengänge, unter dem Etikett „Künstlerische Forschung“ präsentierte die Wiener Universität für Angewandte Kunst einige Jahre später eine „Open Hardware Summit“ mit angeschlossenem „Hacker-Space“ und die Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz (UFG) springt derzeit mit einer neuen Professur für Critical Data auf den Zug der Zeit auf. Am Güterbahnhof „MINT“ – sprich: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – gibt es viel Fördergeld zu holen, weshalb die Beteiligung am Wettrennen auch für Kunstuniversitäten lukrativ ist. Was genau gemeint ist, wenn deren Exponent_innen von „künstlerisch-wissen­schaftlicher Aufarbeitung mit internationaler Beteiligung“ sprechen und was es zu bedeuten hat, wenn dieses ambitionierte Unternehmen in kritischer Absicht betrieben werden soll, ist jedoch nicht immer transparent.

Digitalisierung ist nicht einfach nur nichts Neues – die Telefonie ist etwa seit Mitte der Neunziger Jahre digital –, sondern auch ein Phänomen, dessen soziale Effekte oft und falsch einschätzt werden. Demgemäß ist in aktuellen Calls zum Thema – so etwa dem von der Wiener Kulturstadträtin Veronika Kaup-Hasler lancierten Fördertopf „Digitaler Humanismus“ und dem von der Arbeiterkammer Wien eingerichteten „Digitalisierungsfonds Arbeit 4.0“ – auch von vagen Ahnungen die Rede – obwohl seitens der noch jungen Disziplin der STS – sprich: Science and Technology Studies – derzeit ebenso brauchbare Hypothesen zum Gegenstandsbereich formuliert werden wie von technischer Seite. „Indem wir die traditionsreichen geisteswissenschaftlichen Hochschulen unserer Stadt und die EntwicklerInnen neuer Informationstechnologien miteinander verbinden, wollen wir den Menschen wieder ins Zentrum technischer Innovation stellen“, bemerkte Kaup-Hasler anlässlich der Erstversion des Calls von 2019 – ein Programm, das Wien im Zentrum der „neuen Ära der Digitalisierung“ positionieren soll. Den sogenannten „EntwicklerInnen“ – und damit auch denen, die von namhaften Institutionen zwecks Umsetzung ihrer tollkühnen Ideen zugekauft werden – kommt dabei nicht selten der subordinierte Part zu und auch in Kunstkontexten verhält es sich kaum anders: Die Kräfteverhältnisse sind bei der Arbeit am „Digitalen“ schon im Vorfeld festgelegt, im Zuge der Arbeitsteilung daran bleiben die Geschlechterrollen – Frauen repräsentieren, Männer programmieren – auf erstaunliche Weise analog.

Something is rotten in this digital Age of Hope – und die Missverständnisse sind zahlreich. Wenn Kulturwissenschafter_innen – so etwa Sybille Krämer in ihrem Artikel für ORF-Science vom 7. 10. 2018 – von einer „Virtuellen Maschine“ sprechen, meinen sie damit nicht etwa eine Virtualisierungsumgebung mit Zugriff auf ausgewählte Ressourcen eines Host-Systems, sie sprechen von Metaphern; beim Kommunizieren über Disziplinengrenzen hinweg – die Autorin dieses Textes steht dabei nicht selten auf beiden Seiten der Front – ist ein derartiger Einsatz von Begriffen jedoch nicht unproblematisch; die frisch berufene Professorin an der Kunstuni Linz, Manuela Naveau, scheint dahingehend kaum den entscheidenden Un­terschied zu machen. Laut Presseaussendung vom 12. Oktober 2020 sieht diese sich als „Begleiterin von Studierenden, die sich mit den aktuellen Herausforderungen der Digitalisierung beschäftigen“ – ein löbliches Anliegen, bei dem „der Mensch als Garant für Zufälliges in digitalen Netz­werken“ angesehen wird. Die elegante Ale­a­torik in der Positionierung digitaler Subjekte mag imponieren, in einem Punkt ist sie so beliebig jedoch nicht: Nachdem Wien sich bereits vor zwei Jahren zur Hauptstadt des „Digitalen Humanismus“ erklärt hat, will die oberösterreichische Landeshauptstadt es dieser nun gleichtun.

Am 28. August hat Kanzler Kurz verkündet, dass Linz eine Technische Universität (TU) bekommen soll – ein Vorhaben, das mit notwendigen Investitionen in den „Wirtschaftsstandort Oberösterreich“ be­gründet wird, der seit jeher mit der Voestalpine Linz verknüpft ist. Der weltweit tätige Stahlkonzern ist nicht nur der größte CO2-Emittent des Landes, sondern seit rund zehn Jahren auch von massiven Umsatzeinbußen betroffen – ein Umstand, dem mit der Verknüpfung von „Industrie-Wei­terentwicklung und Digitalisierung“ an der neuen Linzer Ausbildungsstätte begegnet werden soll. Während der Rektor der Johannes-Kepler-Universität (JKU) Linz, Meinhard Lukas, sich von der Idee des Digitalisierungsstandorts Linz restlos begeistert zeigt, kommen die kritischen Stimmen vor allem aus dem Präsidium der Technischen Universitäten – so verkündete Harald Kainz, Rektor der TU Graz, dass Österreich mit drei technischen Universitäten ohnehin gut versorgt sei und zieht dabei die Verteilung in der Bundesrepublik heran, die in drei Bundesländern von der Größe Österreichs – Bayern, Baden-Württemberg und Hessen – über je maximal zwei technische Universitäten ver­fügt. Vorangetrieben wird das Vorhaben der Linzer Digitalisierungs-Universität maß­geblich durch Industriellenvereinigung (IV) und Wirtschaftskammer (WKO), bereits im Präsidium der Wiener FH Technikum haben diese ihre Vertreter_innen – nebst jenen von Kapsch und Schrak – großzügig postiert; in Linz wird künftig auch der Handelsverband mitmischen.

Bis auf Weiteres würde es nicht wundern, wenn die Kunstuniversität Linz nebst der von Gerfried Stocker im Zusammenspiel mit der neuen Critical-Data-Professorin Manuela Naveau jährlich veranstalteten Ars Electronica die sanfte Vorbereitung für die harten Lektionen der Industrie leisten sollte – von offener Partizipation und freier Entfaltung war auch im Zusammenhang mit Stadtteil-Gentrifizierungen oft die Rede, als deren Avantgarde und erste Vertriebene seit jeher Künstler_innen fungierten; in den hellen Gängen des Studiengangs „Interface Cultures“ breitet sich schon jetzt der „kreative“ Geist der Maschine aus – nicht selten in Form von dauerparlierenden Dosen und bewegungssensitiven IP-Kameras, die jeder HTL-Schüler hacken kann; währenddessen wird über Big Data lamentiert und von Naveau mitunter beklagt, dass „Konzerne mit ähnlich gearteten Produkten“ sich zusammenschlössen, „um ihre Datenbanken zu koppeln und so noch bessere Kundenprofile für punktgenauere Produktplatzierung zu erstellen“ – cookiegetriebene Herdenwerbung funktioniert anders und von Koppelungen dieser Art würde man vielleicht nicht so leichtfertig reden, wenn man etwas über das Tabellenformat hinter dem Interface wüsste. Relationale Open-Source-Datenbanksysteme wie MariaDB oder MySQL machten dieses Wissen transparent, stattdessen wurde das kunstuniversitäre Areal jedoch mit Geräten der Firma Apple ausgestattet und besticht bereits die Erstsemestrigen „intutiv“ – mit studentischen Rabatten auf die Laptops und Tablets desselben Konzerns. Ihnen wird vorgesetzt, was gekauft wurde und damit der Grundstein für eine oft lebenslange Kundenbindung gelegt, die in Künstlerkreisen nicht selten als Synonym für technische Kompetenz gilt – damit man auch in Zukunft noch kräftig zubeißen kann.

Nicht immer sind Hacker wie Künstler – im Gegensatz zum Großmogulen-System der Meisterklasse absolvieren sie den Akt der Selbstautorisierung nicht selten hinter dem Bildschirm oder mit Bleistift vor einem weißen Blatt Papier. „Nun weißt Du die Antwort gewiß, und ich habe sie dir nie gesagt. Bei dieser Vorgehensweise gibt es keinen Weg, dich in die Irre zu führen oder die falsche Antwort zu geben“, heißt es etwa gegen Ende der im Februar 1985 verfassten Einleitung zu George Spencer-Browns „Laws of Form“. Im Anschluss an die Explikation der logischen Grundlagen schließen die Leser_innen ganz ohne Lösungsheft. Tätigkeiten wie diese überlässt die „Kreative Klasse“ jedoch gerne anderen. Wenn Manuela Naveau sich wünscht, „dass sie“ – gemeint sind die Maschinen – „hin und wieder nicht oder anders laufen“, nimmt sie kritische IT-Infrastrukturen von dieser Forderung hoffentlich aus. Nicht Künstler, sondern Hacker aller Länder sorgen seit jeher dafür, dass der technische Dauerbetrieb in Krankenhäusern und Rettungsdiensten ohne Unterbrechung funktioniert. Von Digitalisierung reden derzeit jedoch jene, die ein Betriebssystem noch nie von innen gesehen haben. Und der Kuchen, den es zu verteilen gibt, ist von vornherein knapp.

ufg.ac.at

Ein schlechter Tausch: Schutz vor Hass im Netz gegen Meinungsfreiheit

Das ursprünglich aus Radio FRO hervorgegangene Cultural Broadcasting Archive (CBA) organisiert sich neu und wird zum eigenen Verein. Auch aus diesem Anlass reflektiert Ingo Leindecker eine Meinungsbildung, die heute vor allem über das Internet stattfindet: Die gesetzlichen Bedingungen, unter denen wir dort debattieren, haben großen Einfluss auf unsere Meinungs- und Informationsfreiheit. Immer wieder sehen Gesetzesentwürfe weitreichende Einschränkungen vor, die besonders nicht-kommerzielle Initiativen in ihrer Existenz bedrohen.

Das Cultural Broadcasting Archive (CBA): Hier zum Beispiel gibt es überhaupt kein Problem zu lösen. Bild Screenshot CBA, Nov. 2020

Wenn wir heute an einer öffentlichen Diskussion teilnehmen, dann tun wir das vielfach auf den größeren kommerziellen Online-Plattformen, deren Monopolisierung im letzten Jahrzehnt die öffentlichen Diskursräume stark verengt hat. Abgesehen davon, dass diese Systeme ohnehin geschlossene Räume sind, tragen einseitige Algorithmen zusätzlich zur Bildung der bekannten „Filterblasen“ bei, sodass man von konträren Meinungen erst gar nichts mehr erfährt. Das dient vor allem der Profitmaximierung der Plattform selbst, wozu sie die persönlichen Daten ihrer User*innen systematisch sammelt und an Werbekunden verkauft. Derart werden öffentlicher Diskurs und Meinungsbildung zugunsten der ökonomischen Wertsteigerung eines Privatunternehmens reguliert. Die Nutzer*innen selbst verlieren dabei gleich zwei Mal: Sie verlieren wichtige Möglichkeiten zur qualifizierten Meinungsbildung und müssen sich einem Profiling sowie der Monetarisierung ihrer persönlichen Daten aussetzen, um überhaupt am Diskurs teilhaben zu können.

Dass sich diese Systeme neben dieser Instrumentalisierung auch für Missbrauch eignen, haben spätestens der US-Wahlkampf 2016 und der Skandal um Cambridge Analytica gezeigt. Hier wurde deutlich, wie leicht die kollektive Meinungsbildung und sogar der Ausgang von Wahlen beeinflusst werden kann, solange nur die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Gleichzeitig wird der öffentliche Diskurs durch (gezielte und teils im großen Stil organisierte) Hasspostings und Trolling vergiftet und behindert. Damit wurde evident, dass es einer politischen Regulierung dieser Plattformen bedarf, die User*innen vor solchen Manipulationen und vor Hatespeech schützt.

Die Medienpolitik der Bundesregierung: Diskurs­behinderung statt Förderung von Gemeinnützigkeit, Qualität und unabhängigen Infrastrukturen
Ebenso zeigt es, wie wichtig die Förderung gemeinwohlorientierter, nicht-kommerzieller Infrastrukturen und Algorithmen wäre, um Meinungsfreiheit nicht von den Finanzierungsmodellen der großen Plattformbetreiber abhängig zu machen. Im Sinne der Medien- und Meinungsvielfalt sollten Anreize geschaffen werden, um möglichst demokratische Diskursräume und Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen, von denen öffentliche Meinungsbildungsprozesse profitieren. Daneben muss die Förderung von Qualitätsjournalismus auch endlich für Onlinemedien möglich werden.

Die Bundesregierung geht hier bislang einen anderen Weg: Einerseits werden traditionelle, kommerzielle und qualitativ minderwertige Medien unverhältnismäßig gefördert, während es nach wie vor weder für neue Formen des Digitaljournalismus noch für die dafür benötigten Infrastrukturen Förderinstrumente gibt. Andererseits werden Gesetze vorgeschlagen, die vielfach das Gegenteil dessen erreichen, was sie offiziell bezwecken sollen. Sie schränken nicht nur die Vielfalt im Netz weiter ein, indem sie gemeinnützige Plattformen unnötigen Risiken aussetzen, sondern führen mitunter zur hanebüchenen Umkehr von eigentlich außer Frage geglaubten Rechtsprinzipien wie der Unschuldsvermutung und zu einer völligen Privatisierung der Rechtsdurchsetzung. Die Frage nach der politischen Motivation dahinter drängt sich auf: Entweder man ist schlicht zu kurzsichtig, um Gesetze entlang der Medienrealitäten zu formulieren oder man will Medien- und Meinungsvielfalt bewusst einschränken. Beides sollte die Alarmglocken schrillen lassen.

Neue Gesetzesentwürfe gefährden die Grundrechte
Aktuellste Beispiele sind das Kommunikationsplattformengesetz (KoPl-G, „Hass im Netz-Gesetz“) und das Audiovisuelle-Mediendienste-Gesetz, die nur durch vehementen zivilgesellschaftlichen Widerstand im letzten Moment entschärft werden konnten. Sie sollen Plattformen dazu verpflichten, ihre Diskussionsforen besser zu moderieren. So soll ab einem jährlichen Umsatz von 500.000 € oder einer User*innenanzahl von 100.000 die Einrichtung eines Meldesystems Pflicht werden. Mutmaßliche rechtliche Übertretungen müssen überprüft und innerhalb von 24 Stunden – bei eingehender Prüfung innerhalb von 7 Tagen – gelöscht werden, noch bevor jemals ein Gericht damit befasst wurde, ob es sich tatsächlich um eine Rechtswidrigkeit handelt. Die Kosten dafür sollen die Plattformen offenbar selbst tragen. Bedroht werden Unterlassungen mit Strafen bis zu 10 Mio. Euro. Bei den globalen Megakonzernen mag diese Forderung insofern nachvollziehbar sein, weil ihnen einerseits fast unbegrenzte Mittel zur Verfügung stehen, sie andererseits aber ihre Moderationspflichten weitgehend vernachlässigen und gleichzeitig massiv wirtschaftlich von der User*innenbeteiligung profitieren.

Überraschenderweise wurde (im Gegensatz zum deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz) im österreichischen Gesetzesentwurf aber kein Unterschied zwischen gewinnorientierten und nicht-kommerziellen Plattformen gemacht. Die anvisierten Untergrenzen sind so angelegt, dass ebenso Projekte wie WikiCommons, WikiData, Github, Respekt.net oder in nicht allzu ferner Zukunft auch das in Linz gegründete CBA – Cultural Broadcasting Archive1 uvm. unter diese Regelungen fallen würden2. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Informationsfreiheit und Meinungsvielfalt, werden dabei aber weder zur Verbreitung von Hatespeech genutzt, noch haben sie nur ansatzweise die finanziellen Mittel, juristische Beraterstäbe und Moderationsteams zu beschäftigen. Sie werden massiv in ihrer Existenz bedroht, obwohl es hier überhaupt kein Problem zu lösen gibt. Denn Sorgfaltspflichten hinsichtlich rechtlicher Übertretungen ihrer User*innen gibt es für diese Plattformen bereits jetzt.

Neben der fehlenden Treffsicherheit ist es vor allem beunruhigend, welcher gefährlichen Logik die in letzter Zeit vorgeschlagenen Digitalgesetze folgen, die sehr weitreichende Konsequenzen für uns alle haben.

Das KoPl-G konnte zwar schließlich mit einer Ausnahme für nicht-kommerzielle Plattformen abgeschwächt werden. Die nächsten Angriffe auf die Meinungsfreiheit stehen aber bereits vor der Tür.
Ähnlich wie das in den beiden angesprochenen Gesetzen vorgesehen war, sehen auch die geplanten Uploadfilter eine Beweislastumkehr und eine Privatisierung der Rechtsdurchsetzung vor: Anstatt dass ein*e Kläger*in ein Gericht zur – in diesem Fall urheberrechtlichen – Klärung bemüht, ob ein Inhalt rechtswidrig ist, müssen sich User*innen gegen eine Löschung „freibeweisen“, damit der eigene Content überhaupt erst einmal veröffentlicht werden darf – und dann ist die Diskussion meist auch schon längst vorüber. Über die Rechtmäßigkeit bestimmt dann anstatt eines Gerichts ein privates Unternehmen. Das ist Schuldvermutung bei gleichzeitiger Aushebelung der Gerichtsbarkeit. Und abermals ist keine Ausnahme für nicht-kommerzielle Plattformen vorgesehen.

Die Folgen: Medialer Kahlschlag und enormes Missbrauchspotential
Die nationale Umsetzung der EU-Urheberrechtsrichtlinie muss daher mit Argusaugen beobachtet werden. Kommt das Gesetz so wie vorgesehen, werden viele Plattformen aus Angst vor Strafen dazu übergehen, sehr vieles erst gar nicht zu veröffentlichen („Overblocking“) oder auf öffentliche Diskussionsforen bzw. auf user-generated Content im Allgemeinen zu verzichten. Viele kleine Plattformen werden ihren Betrieb einstellen oder stark einschränken müssen. Neue Projekte werden aufgrund des hohen Risikos erst gar nicht mehr entstehen. Die großen Player wie Facebook oder Youtube, die man eigentlich zu erreichen vorgibt, arbeiten unterdessen bereits an selbstlernenden Algorithmen, die die rechtliche Beurteilung automatisiert für sie erledigen sollen. Dann wurde die Rechtsdurchsetzung nicht nur privatisiert, sondern auch noch einem Algorithmus übertragen, der in Zukunft völlig intransparent darüber bestimmt, welche Postings veröffentlicht werden und welche nicht.

Hinzu kommt, dass solche Gesetze erst wieder leicht missbraucht werden können, indem etwa politische Gruppierungen konzertiert missliebige Inhalte auf einer Plattform melden. So könnten im großen Stil Inhalte lediglich mit der Behauptung einer Rechtsübertretung bis auf Weiteres offline genommen werden.

Ein gutes Beispiel dafür liefert etwa der prominente Fall um die Autorin Stefanie Sargnagel 2017, die aufgrund ihrer politischen Äußerungen zur Zielscheibe von rechten Agitator*innen wurde, die auf diese Weise die Veröffentlichung ihrer Postings verhinderten. Dass solche Gesetze genauso indirekt von staatlichen Stellen missbraucht werden können, macht das Ganze noch beunruhigender.

Conclusio: Sobald Gesetze vorsehen, Meinungsfreiheit, Medienvielfalt und grundlegende Rechtsprinzipien gegen welches Interesse auch immer einzutauschen, gehen sie zu 100% an den Interessen der allgemeinen Öffentlichkeit vorbei und müssen daher vehement bekämpft werden.

 

Radio FRO Studiogespräch im Rahmen von It’s Up To Us: www.fro.at/medienvielfalt-staerken

1 www.cba.media, Österreichs größter, gemeinnütziger Podcastprovider der Zivilgesellschaft, der aus der Freien Radioszene heraus entstanden ist.
2 „Welche Online-Plattformen vom neuen ‚Hass im Netz‘-Paket betroffen sein werden“ epicenter.works/content/welche-online-plattformen-vom-neuen-hass-im-netz-paket-betroffen-sein-werden, 13. 11. 2020

Dieser Text erscheint anlässlich des 20jährigen Bestehens des Cultural Broadcasting Archive (CBA): Das CBA ist Österreichs größter, gemeinnütziger und zivilgesellschaftlicher Podcastprovider, der aus der Freien Radioszene heraus entstanden ist. Über 100.000 Podcasts können kostenlos gestreamed werden. Zum 20jährigen Bestehen wurde die Plattform kürzlich relaunched und ein Verein gegründet.
www.cba.media

Memphis-Stream

Marlene Maier, Unreal Engines   

Foto Screenshot Stream, Startbild Unreal Engines

     

Referentin-Tipp auf die Online-Präsentation Unreal Engines im Stream des Projektraumes Memphis. Wir zitieren Maximilian Steinborn von der Kunsthalle Wien – von ihm ist ein Text zu Marlene Maiers Arbeit auf der Webseite von Memphis zu finden:

[…] Neben den berühmten Schattenfiguren der Philosophie, den Schatten, die verdunkeln, gibt es aber auch solche, die sichtbar machen: „Digital Shadows“ etwa sind Mitschriften unserer Aktivitäten im Internet, mithin die Form, in der wir im digitalen Raum in Erscheinung treten und für Unternehmen unterschiedlicher Couleur sichtbar – und vor allem verwertbar – werden.
In ihrer Filminstallation Unreal Engines spürt Marlene Maier der Dialektik des Schattens – als Metapher und Phänomen – entlang unterschiedlicher Erzählstränge nach. Wir sehen Schatten, die über eine Felswand huschen; scharfumrissene Schlagschatten auf den Terrassen einer scheinbar untergegangenen Stadt, die diskreten, kaum sichtbaren Schatten in den Unebenheiten einer Schneedecke; Schatten, die über das Fell eines Tieres gleiten. Maier entnimmt ihre Schattenimpressionen Videogames und unterschiedlichen 3D-Anwendungen. Es sind die flüchtigen, doppelt chimärischen Schatten des Digitalen, die sie interessieren.
Das Voice-Over ist eine Textcollage aus Fragmenten von Chatrooms und unterschiedlichen Tutorials, die Maier frei um- und weiterformuliert hat. Eine Quelle bildeten Onlineforen zu sogenannten Grafik-Engines, Programmelementen zur Generierung von 3D-Welten. […]

Marlene Maier, Unreal Engines
HD-Video, Farbe, Sound, 2019, 12:23 min
Online-Präsentation, Text und mehr Infos: www.memphismemph.is/memphis-stream-marlene-maier
Noch bis 26. Januar 2021

Memphis
Der Linzer Kunst- und Projektraum Memphis bietet seit 2014 Künstlerinnen, Filmemacherinnen, Theoretikerinnen und Autorinnen einen Raum zur kritischen Betrachtung zeitgenössischer Kultur. Ab Herbst 2020 präsentiert der Verein im Rahmen von Ausstellungen außerdem exklusiv für Memphis geschaffene Künstlerinnen-Editionen. Die Editionen sind käuflich zu erwerben. www.memphismemph.is

Die kleine Referentin

Juri & Terri Frühling

Mermaid On Your Side

„Schöne getreue Bertha! Ich bin nicht zu Deines Mannes Verderben erschienen. Ich vergebe ihm. Er ist ein Mensch, ängstlich, wie ihr alle seyd. Ich stellte ihn auf die Probe. Er hat sie nicht bestanden. Nun gebe ich alle Verbindungen mit Menschen auf.“1

Hulda wirft das Handtuch. Ein bissl entnervt und enttäuscht von Albrecht, der sich doch eher als Dolm erwiesen hat. Dabei hat Hulda, die Saal-Nixe in Christian Vulpius‘ Erzählung wie andere Wasserfrauen vor ihr, gar nicht so viel gefordert: 1. eine Affäre reicht völlig 2. Schweigen 3. Schweigen 4. Schweigen 5. gegebenenfalls das gemeinsame Kind bitte selbst und mit der Gattin aufziehen; sofern es ein Sohn ist, Töchter bleiben bei der Nixe.
(Möglicherweise hätte sich Hulda einfach gleich mit Bertha auf ein Packl hauen sollen, aber das wird eine andere Kolumne).

Erzählungen von europäischen Wasserfrauen sind voll von Entwürfen von Geschlechterkonstruktionen, die sich auf den ersten Blick einer patriarchal imaginierten Weiblichkeit widersetzen. So einfach ist die Sache bei näherer Betrachtung natürlich nicht, die Ausführung würde aber einerseits den Rahmen sprengen, andererseits darf ich hier ausnahmsweise ungschaut Aspekten von Wehrhaftigkeit und Widerständigkeit im Nixennarrativ nachgehen.

Seit Jahrhunderten ist Andersheit aus patriarchaler Sicht – auch – mit einer Imagination von Weiblichkeit verbunden, die sich nicht beherrschen, nicht kontrollieren lässt. Und aktuell wird sichtbar – ob in Belarus oder in Polen – nichts macht das Patriarchat wütender als eine Weiblichkeit, die sich ihrer körperlichen Autonomie und Macht bewusst ist, oder gar eine sich dem reproduktionsfähig und -willig imaginierten Konstrukt widersetzende Weiblichkeit. Selbstbestimmung mit einem patriarchalen Narrativ überschreiben – eine Strategie, die sich auch entlang der Entwicklung von Wasserfrauen festmachen lässt: Einer machtvollen, weiblichen Erzählung entnommen wurden sie in ein christianisiertes Korsett gepresst. Weibliche Identitätsfindung anhand von Nixen oder Undinen wurde ab dem späten Mittelalter so zum Irrlauf zwischen nicht verhandelbaren Archetypen: unberührbare Göttin vs. seelenlose Verführerin vs. bedürfnisbefreite Femme Fatale vs. rach­süchtiges Monstrum. Eine Suche, an deren Ende einzig die Position der unterwürfigen Gattin Ausweg versprach. Ein Bild von Weiblichkeit, in der sich Weiblichkeit spalten, doppeln oder auflösen sollte, um patriarchale Machtphantasie vom Dilemma des Geborenseins, der Herkunft aus einem weiblichen Körper zu befreien.2 Doch die Nixe schlägt in diesem Sommer zurück und schlägt sich auf die Seite der Protestierenden. Ausgehend von der Aneignung im Zuge der LGBTQ-Proteste im Sommer wurde in Warschau eine Replik der Bronzefigur von Ludwika Nitschowa, sie stellt die Warszawska Syrenka dar, auch zur Komplizin der Gegner*innen des verschärften Abtreibungsverbotes. Diese Figur ist eine stets mit Attributen der Verteidigung, des Kampfes ausgestattete Was­serfrau3, ihre Darstellung verweist auf die Gründungsmythen der Stadt, worauf sich auch das Manifest des Kollektivs Stop Bzdurom bezieht, das sich im Zuge der Proteste bildete:
„Die Warschauer Nixe hat ein Schwert und einen Schild in der Hand. Sie hat einen Regenbogen und ein Halstuch. Dies ist unser Aufruf zum Kampf. Solange wir mit dem Gedanken einschlafen, dass sich sowieso nichts ändern wird. So lange müssen wir daran erinnert werden, dass wir existieren. Dass wir nicht allein sind. Diese Stadt gehört auch uns. Kämpft!“4
Ein Blick auf die Gründungsmythen verdeutlicht und schärft den Bezug zur Nixe: In einigen wird die Warszawska Syrenka als Schwester der Kleinen Meerjungfrau5 beschrieben. Beiden wird die Stimme zum Kapital: Während Andersens Nixe die Stimme der Meerhexe gibt, um „Mensch“ zu werden, wird die Schwester gefangen genommen, um sie ihrer Stimme wegen zu verkaufen. Sie allerdings setzt die Stimme ein, um sich zu widersetzen, wird gerettet und dankt mit dem Versprechen, Warschau zu beschützen, hin und wieder aus der Weichsel an die Wasseroberfläche zu kommen, um die Veränderung der Stadt wahrzunehmen. Die Protestierenden erinnern nun die Nixe an dieses Versprechen eines wohlwollenden Blicks auf Veränderung. Die Wasserfrau wird so zu einer Erzählung von der Möglichkeit der Zugehörigkeit, bei gleichzeitiger Abgrenzung. Sie repräsentiert nicht länger ein Geschlecht, sie steht für ein Bezugssystem. Außerhalb der Regeln eines heteronormativen, patriarchalischen Gesellschaftskonstrukts zu stehen ist mit der Nixe an der Seite nicht länger gleichbedeutend mit dem Ausschluss aus dieser Gesellschaft. Die Nixe entscheidet, ob und wann sie sich entzieht. Und ohne die Nixe und ihren Blick auf die Stadt, in Warschau immerhin Gründungsnarrativ, hört die Stadt auf zu werden. So wird die Syrenka Komplizin im Sinne notwendiger, demokratischer Forderungen, gleichzeitig wird sie Erinnerung an und Echo von Weltentwürfen und Geschlechterkonstruktionen, die keiner patriarchal formulierten Norm entsprechen.
Mermaid on Your Side also – ach hätten Bertha, Berthalda in Undine oder die Prinzessin ohne Namen in der Kleinen Meerjungfrau – all die als „Rivalinnen“ der jeweiligen Wasserfrau also beschriebenen Nichtwasserfrauen – nur früher davon gewusst! Hulda und die Nixen-Meute würden sich sofort mit ihnen zusammentun – und das Patriarchat würde sich nie mehr davon erholen.

 

1 Vulpius, Christian August: Die Saal-Nixe. Eine Sage der Vorzeit. Leipzig: Rein, 1795
2 Vgl. Luce Irigaray, Devine Women, 1989
3 Die Bronzefigur Nitschowas – eine von zwei Darstellungen der Warszawska Syrenka im öffentlichen Raum – wurde vermutlich nicht ohne Grund gewählt: Modell für die Bronzestatue stand 1939 die Dichterin Krystyna Krahelska, die 1944 als Sanitäterin in einem der Warschauer Aufstände gegen die Okkupation der Nationalsozialisten starb.
4 www.facebook.com/stopbzdurom
5 archiwum.auslandsdienst.pl/3/22/Artykul/403052, Aus-dem-Archiv-Warschauer-Seejungfer

Wiltrud Hackl zum Thema Wasserfrauen
Kepler Salon, 14. Dez 2020, 19.30 h
„VON DEREN KUSS IHR ZU STERBEN FÜRCHTET, ZU STERBEN WÜNSCHT (…)“
Konstruktionen von Weiblichkeit und Wasser am Beispiel der Wasserfrau

ExistenzialistInnen- Sudoku

Von Widerstand, Protest und Totalverweigerung: Geschichte(n) des Kunststreiks

Ob radikaler Aufruf zum Generalstreik, politische Mobilisierung und Organisation oder stilles, temporäres Abwarten: In „Geschichte(n) des Kunststreiks“ erzählt die Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin Sofia Bempeza, wie Streikpraktiken im Kunstbereich aussehen, an wen sie sich richten – und was sie erreichen können. Vanessa Graf hat die gerade erschienene Publikation gelesen.

Es wird gestreikt: gegen schlechte Arbeitsbedingungen. Gegen fehlende oder unzureichende Entlohnung, gegen ausbeuterische Machtverhältnisse, gegen die Spielregeln in einem System, das nur allzu oft Profit aus den Schwächsten schlägt, gegen nicht vorhandene Wertschätzung und überfordernde Arbeitszeiten. Der Streik funktioniert für Angestellte und Arbeiter*innen als Druckmittel, als Mittel zum Zweck, manche würden sagen: auch als Waffe. Wie aber formt sich Streik in Kunst und Kultur, wo feste Arbeitsverhältnisse die Ausnahme zur prekären Regel sind, Arbeit sowohl work, eine Tätigkeit, aber auch labor, Lohnarbeit, ist? Was ist der Streik für eine Künstlerin, wie geht Widerstand für einen Künstler?

Genau diesen Fragen geht die Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin Sofia Bempeza in ihren „Geschichte(n) des Kunststreiks“ nach: anhand einer Vielzahl an Beispielen aus dem nordamerikanischen und europäischen Raum zeichnet sie nicht nur eine, sondern viele Geschichten des Streiks in Kunst und Kultur nach. Mit ihrer Arbeit schafft Bempeza damit nicht nur den geeigneten Rahmen, um über Kunst- und Kulturstreiks in der Vergangenheit und Gegenwart nachzudenken – sondern auch eine Aktualisierung des Streikbegriffs, der weit über die organisierte Arbeitsverweigerung im Kontext der Arbeiter*innenbewegung hinausgeht.

Kunststreik ist Kritik, Reform und Ablehnung auf einmal
Bempeza sieht dabei Kunststreiks als Angriffe auf die Produktionsregeln des Kunstsystems, „Ansätze, die die Produktion und Vermarktung von Kunst, ihren besonderen Status als eigenständige Arbeit innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise sowie das Künstlersubjekt als Arbeiter_in hinterfragen“. Damit zielen diese Proteststrategien immer auch auf jene, die das System erst ausmachen: Museen, Kulturinstitutionen und den Kunstmarkt. Kunststreiks leisten so außerdem Widerstand in einem Spannungsfeld, das von Kunst als Selbstverwirklichung über kreatives Denken als Dienstleistung bis hin zu überlebensnotwendiger Lohnarbeit reicht.

Mindestens genauso verzweigt und weitreichend wie dieses Feld der Kunst als Arbeit sind auch die Spielarten des Streiks, die Bempeza umreißt. Sie beginnt bei Beispielen aus den 1970ern, wie etwa jenes der amerikanischen Künstlerin Lee Lo­za­no, die den Protest nicht anders als total denken wollte, sich zur Gänze aus der Kunst zurückzog – und sich darüber hinaus ab Beginn ihres allumfassenden Generalstreiks vehement weigerte, mit Frauen zu sprechen oder auch nur in Kontakt zu treten. Besonders letztere, niemals öffentlich begründete Entscheidung wird, wie Bempeza beschreibt, bis heute intensiv diskutiert, wenig akzeptiert und trifft auch bei der Autorin selbst auf Unverständnis.

Über weniger totale, aber regelmäßig wiederkehrende und einander ähnelnde Streikaufrufe wie jene von Gustav Metzger, der Ende der 1970er eine dreijährige Schaffenspause forderte, führt das Buch schließlich bis hin zu jüngeren Protestaktionen in der Kunst. Diese bedienen sich zum Teil immer noch derselben Methoden von Verweigerung oder politischer Organisation (ein Beispiel wäre die litauische Protestveranstaltung Art Strike Biennial, einem Festival, das sich mit Improvisationen, Protestaktionen und Streik gegen die Kulturpolitik in Vilnius richtet), manche haben allerdings auch neue Formen gefunden. So zum Beispiel die Onlineplattform Art Leaks: die ursprünglich in Osteuropa entstandene, nun aber international agierende Protestplattform bietet Kunstschaffenden seit 2011 die Möglichkeit, Missstände in der Kulturarbeit anonymisiert zu veröffentlichen – und damit sichtbar zu machen.

Der Streik in drei Dimensionen
Spannend dabei: Bempeza denkt den Kunststreik über alle Beispiele stets in drei Dimensionen, die sich vermischen, gegenseitig stärken oder einander sogar benötigen. Da wäre zum einen die Verweigerung, ein bewusstes Nein-Sagen zu Arbeitsbedingungen, zum Versprechen von Sichtbar- und Aufmerksamkeit statt Entlohnung oder zum Ausnutzen von Kunstschaffenden als Ideen-Generator*innen für Industrie und Privatwirtschaft. Die zweite Strategie bezeichnet Bempeza mit „temporärer Adraneia“, aus dem Griechischen: ein Nicht-Tun, eine Inaktivität oder ein stilles Abwarten. Diese Strategie hat etwas mit Trägheit zu tun – Adraneia ist das zeitlich begrenzte Schweigen, Fühlen und Nachdenken. Die dritte Streikpraktik schließlich ist die politische Organisation, das Mobilisieren und Intervenieren, um Veränderung zu erzwingen. Bempeza sieht in ihrem Vorschlag der drei Dimensionen eine dringend notwendige Aktualisierung des Streikbegriffs – eine Aktualisierung, die das Denken (und Ausüben) von Streik über Arbeiter*innenstreiks hinaus auch im Kunst- und Kulturbereich miteinbezieht.

Genauso, wie die drei Dimensionen des Kunststreiks für Bempeza nicht vollständig voneinander zu trennen sind, vermischen sie sich auch mit anderen Streik- und Protestbewegungen: der Widerstand, der hier beschrieben wird, ist intersektional. Er kann solidarisch mit der Arbeiter*innenbewegung sein, manchmal kämpft er gegen Rassismus und Imperialismus, oft vermengt er sich mit der feministischen Bewegung und ab und zu steht er für Institutionskritik; in den meisten Fällen auch alles auf einmal.

Die Geschichte(n): viele Inseln im weiten Meer
So eindringlich und überzeugt auch von genau diesen Überlappungen, parallelen Entwicklungen und Verschränkungen geschrieben wird: beim Lesen sind es leider genau oft diese, die zu fehlen scheinen. Die Berichte und Erzählungen der einzelnen Streikpraktiken wirken wie schwindend kleine Inseln in einem riesigen Ozean, wenig vernetzt und mitunter ganz ohne Zusammenhang. Bempeza hakt in den Beschreibungen einen Streik nach dem anderen ab, ohne sich dazwischen ausreichend Zeit für eine Kontextualisierung und Vernetzung zu nehmen: wo also verstecken sich die Wechselwirkungen, auf die hier theoretisch so stark verwiesen wird? Wie lesen sich die verzweigten Geschichten zwischen den Streiks und Verweigerungen?

Zugegeben: Die Autorin gibt nie vor, eine einzige, definitive Geschichte des Kunststreiks erzählen zu wollen. Bereits der Titel verweist auf eine gewisse Vielstimmigkeit; Bempeza schreibt „Geschichte(n)“, ein zaghafter Plural also, und verweist auf Bewegungen und Streikpaktiken, die sich selbst beständig im Fluss befinden, vielleicht (noch) nicht abgeschlossen sind oder es gar nie sein werden. Dennoch: auch eine unvollständige Geschichte, eine Vielzahl an Geschichte(n), kann über lokal verankerten Widerstand, Protest und Aufbegehren blicken und das größere Ganze beleuchten.

Vielleicht ist es genau das, was Bempeza mit den zwei Berichten über die Strike Debt Bewegung in den USA und den Transnationalen Migrant*innenstreik in Wien am Schluss ihres Buches zumindest ansatzweise versucht. Im ersten Fall werden seit 2012 Überschuldung bestreikt sowie gleichzeitig Schuldenerlass gefordert, das Beispiel aus Wien hingegen befasst sich mit der Bestreikung von Alltagsrassismus, einer Normalität, die viele ausschließt, und – besonders spannend – die Sprache als eine „hegemoniale Sprache des Nationalstaates“ an sich. Es wären, so die Autorin, zwei Protestbewegungen, die sehr offensichtlich mehr als nur Kunst bestreiken – gemeinsam haben sie, dass sie beide Protestbewegungen sind, die ihr eigenes Umfeld ins Gericht nehmen, es radikal in Frage stellen und, ähnlich wie auch die besprochenen Kunststreiks, eine gewisse Performativität an den Tag legen. Der Vergleich zum Streik in der Kunst funktioniert besonders dann gut, wenn etwas zutiefst Grundsätzliches bestreikt wird – sei das die Kunst, das Schaffen und ihr Kontext selbst, oder, wie etwa beim Migrant*innenstreik, die Sprache an sich.

Von den großen Fragen der Sprache zum Protest im Kleinen
Bempeza schließt „Geschichte(n) des Kunststreiks“ also mit Überlegungen zu Protest und Sprache und knüpft somit an etwas an, was fast zweihundert Seiten zuvor ihr Buch eröffnete: ein Hinweis zur Sprache nämlich, der nicht nur einen äußerst sympathischen Einblick auf die Schreibweise und das Leseerlebnis gibt, sondern auch selbst als kleiner Protest agiert. „Es entspricht nicht allen akademischen Standards, die der deutschsprachige wissenschaftliche Raum vorgibt oder anerkennt“, warnt Bempeza gleich zu Beginn, die sich als Griechin nämlich dazu entschlossen hat, in einer Fremdsprache zu schreiben. Nur, um im nächsten Satz ohne Entschuldigung zu ergänzen: „Dieses Buch erscheint trotzdem auf Deutsch.“

Das scheint mir abschließend sehr dringend noch eine dritte Sprache zu erfordern: Chapeau!

 

Geschichte(n) des Kunststreiks Sofia Bempeza
mit einem Vorwort von Athena Athanasiou

Die Monografie Geschichte(n) des Kunststreiks versammelt historische wie gegenwärtige Positionen der Verweigerung, der Sabotage, des Dissenses und der politischen Organisation in der Kunst. Dabei ist es das erklärte Ziel der Autorin, zur heutigen Diskussion über (scheinbar) selbständige, kreative Arbeit im Kunstfeld beizutragen. Die von Bempeza diskutierten Kunststreiks setzen sich mit Museen, Kunstinstitutionen und dem Kunstmarkt auseinander – in Form radikaler Institutionskritik, in Gestalt symbolischer Kunstverweigerung und des ästhetischen Widerstands oder als organisierte kulturpolitische Intervention. Das Buch markiert außerdem das Verhältnis von Kunst zu produktiver und unproduktiver Arbeit. (Auszug Verlagstext)

transversal texts, Dezember 2019
ISBN: 978-3-903046-22-1
194 Seiten, 12,– €
Download auf: transversal.at/books/kunststreik

Die grüne Hydra

Im Oktober konnte Lisa Spalt mit dem Text Die grüne Hydra den Literaturwettbewerb Floriana für sich entscheiden. Hier ein Auszug.

Bild Lisa Spalt

Über mir saß wieder dieser bronzene Typ, der mir den Hintern des Pferdes zukehrte und in der Vorderansicht auch unzufriedene Mundwinkel hatte. In diesem Moment verstand ich, dass wir die Fremden fürchteten, weil sie im Gegensatz zu uns Mythen besaßen, die sie mit der Welt verbanden. Die unseren trennten uns von ihr und einander. Man erzog uns dazu, nach unserem Tod als Helden zu glänzen. Und so schufen wir uns eine Welt der Katastrophen, um zu beweisen, dass wir alle im Unterschied zu anderen darin überleben konnten. Ein junger Mann zeigte mir, als ich dabei war, dies zu denken, den Mittelfinger. Er erklärte mir auf diese Weise, dass er zu Calvin gehörte, zur Gruppe der Kleinen Calvinerinnen, die keine Kirchengebäude als Sehenswürdigkeiten anboten, sondern ihren Gläubigen gleißende Kleidung überzogen, welche die Wände heiliger Räume symbolisierte. Eine dieser mobilen Fortschrittskirche assoziierte Kosmetikmarke mit dem Namen Vichy Régime, welche beanspruchte, die neuesten Werte zu repräsentieren, lieferte den Anhängerinnen semitransparente, duftende Fläschchen, die die früheren Kerzen ersetzten. Sie wurden von den Auserwählten dazu benutzt, die Smartphones, über deren Bildschirme die Messen flackerten, daran anzulehnen, damit man die Hände freihatte, zum andächtigen Empfangen von mit göttlichem Fleisch belegten Brötchen.

Später, am Abend, lagen im Hotel Objekte auf dem Kopfkissen, die sich hintersinnig „Lebkuchen“ nannten. Ich kaute das Zeug und sah dabei eine Tiersendung über einen Süßwasserpolypen, der in Symbiose mit den Chloroplasten einer Alge lebt. Die dargebotenen Informationen reimte ich mir so halbwegs mit Hilfe der immer wieder ausgesprochenen lateinischen Bezeichnung des Tieres, anhand von einigen wenigen von mir beherrschten Wörtern der fremden Sprache – zum Beispiel die für „und“, „eins“ und „Gemüse“ – sowie durch intensives Surfen im Internet zusammen. Der Lernvorgang lief ziemlich interaktiv ab und ich kam, weil ich wenig verstand und die Worte in mir verschiedenste Bilder aus Vergangenheit, Gegenwart und Projektion verschmolzen, auf Gedanken, die nur durch eine starke Energie entstehen konnten. Ich vermutete zum Beispiel, es handle sich bei dem Süßzeug um Lebkuchen der Marke Sirius. Der Name hatte etwas mit den sich ankündigenden Hundstagen einer neuen Heißzeit zu tun. Er sollte aber, so tagträumte ich, auch ein Insider-Hinweis auf das Abmelken meiner Daten zum Vorteil einer weit entfernten Zentrale sein. Die Süßigkeiten enthielten relativ sicher essbare Wanzen, die mich nach dem Verschlucken von innen her abzuhören beginnen würden. Ein starkes „Rum-Aroma“, welches wahrscheinlich je nach Sprachzugehörigkeit besessene „Amor“ oder „Amour“ auslösen sollte, überdeckte den bitteren Geschmack der Mikro-Mikros. Die Verpackung der Dinger wiederum versprach, dass sie in die Kategorie Doppelabsahnstufe gehörten. „Gott versorgt dich mit allem, was du brauchst“, dachte ich, „nimm seinen Leib und iss ihn. Dann wird er in seinem Headquarter alias Über-Ich über dich wachen.“ Tatsächlich dachte ich schon seit Längerem, man lasse uns leben. Ich meine: Man ließ uns leben, wie man uns früher arbeiten hatte lassen. Mittlerweile waren unsere Auszucker ja wahnsinnig lukrativ. Und wir glaubten zwar immer noch, wir würden Liebe machen, die niemandem gehöre. Wir dachten immer noch, wir absolvierten – neben einem öffentlichen – auch ein wildes, privates Leben. Aber als ich die Herkunft des Wortes „privat“ gegoogelt hatte, das sich anscheinend vom französischen Verb „priver“ herleitet, – als ich verstand, dass es nichts anderes bedeutete als „jemandem etwas versagen“, wurde mir alles klar. Eigentlich bezog sich unsere Privatheit im Wortsinn der Beschränktheit nur noch darauf, dass die Arbeit, die wir durch unser Überleben leisteten, nicht mehr durch den Luxus schöner intimer Feiern des Umgangs aufgewogen wurde.

Gerade hatte sich im Zuge der Erderwärmung eine unbekannte Art von Flöhen ausgebreitet. Es wurden Gerüchte wiedergeflüstert, die in diesem Zusammenhang von Krankheiten sprachen. Man nannte die Botschaften „Rumors“ und wisperte von Menschen, die von diesen regelrecht besessen wären. In einer ersten Phase hielten die Befallenen alle anderen für Unbekannte. Dann behaupteten sie, die Platzhalter hätten es auf ihre Flöhe abgesehen, welche aber nur sie wegen deren winziger, also beinahe Nichtexistenz mit feinen Finanzinstrumenten liebkosen könnten. Lernten die Besessenen die Unbekannten schließlich näher kennen, misstrauten sie gemeinsam mit ihnen den noch Unbekannteren, bekämpften diese und entzweiten sich dabei mit den ersten Nummern, sodass sie wieder Unbekannte wurden. Bald predigten viele, ein einziges Gesetz durchwalte Mathematik und Natur. Die immer größer werdende Gruppe der Erkrankten wehrte sich aber dennoch gegen Linguistinnen, die das Wort „Ungeziefer“ von der „Ziffer“ herleiteten und erklärten, es meine etwas, das im Übermaß vorhanden sei. Die Berechnenden schlugen ein mathematisches Äquivalent zum Kreuzzeichen und monierten, die Anzahl der Flöhe wäre ganz im Gegenteil immer zu klein. „Manna“ riefen sie, es klang wie „Money“. Auch verwechselten sie zunehmend „Bucks“1 mit „Bugs“2 und sprachen in den höchsten Tönen vom sogenannten „Flohmarkt“. Gerüchte für Gerüche haltend, von denen sie glaubten, sie seien der Vermehrung der Flöhe günstig, marschierten sie daraufhin in Form von Armeen ein in Gebiete, die ihre Regierungen als unrein bezeichnet hatten. Es wurde behauptet, dort wohnten schmutzige Menschen, die die Flöhe unzulässigerweise an sich saugen ließen. Die Angehörigen des Militärs, die die Familie als Fleisch und Blut verlassen hatten, glaubten unterdessen, in den Soldatenröcken ihre Flöhe wie „Franken“, die Währung der Freiheit, mit sich zu schleppen. Doch waren die Tiere in den Taschen, wenn man nachsah, nie zu finden. Tatsächlich bekam man sie nur zu Gesicht, wenn sie im Zuge eines Sprungs vom Himmel fielen. Ein paar findige Köpfe verlegten sich daher darauf, auf dieses Erscheinen in der Abwärtsbewegung der parabelförmigen Kurse zu wetten. Und so begannen wir, während wir uns ganz nebenbei an die Behauptung gewöhnten, dass unauffindbare Werte die wichtigsten seien, den schlimmsten denkmöglichen Fall als „Glücksfall“ zu verstehen.

Der Kreislauf von „Pessimum“ – so die offizielle Bezeichnung der uns über die verschluckten Mikros abgezapften negativen Energie, die man mit den „Rumors“ beförderte – war bald auf nahezu bewundernswerte Weise geschlossen. Gut kalkulierte Geschichten sollten die Gegenwart zementieren, indem ihre Auswirkungen nur, wenn sie der nachhaltigen Produktion des von der Heimatpartei so genannten „Schlechtons“ dienten, von uns zugelassen wurden. Eine von niemandem verordnete, aber lückenlos rückwärtsgewandte dystopische Geschichtsschreibung lieferte die Modelle für unangenehme Figuren, die dadurch überproduktiv wurden. Ja, auch ich selbst verschmolz eines Morgens mit einem jungen, erfolgreichen Drogendealer aus der Folge einer Fernsehserie vom Vortag und konferierte, mit meinen eingeschmolzenen Pfunden wuchernd, mit auserwählten Performerinnen der Szene. Zur Begrüßung und zum Abschied rieben wir uns die Hände. Das Theater war perfekt. Professionell stellten wir den Markt dar, errichteten Stände und verwandelten unsere Gemeinschaft in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Dann begann das Militär, hauptberufliche Storyteller anzustellen, die die phantastischsten Szenarien für zukünftige echte Kriege erdichteten, damit es sich dafür rüsten konnte. Wir erlebten das Beispiel der Folterer von Abu Ghuraib, die eine Folge der Fernsehserie „24 Hours“ für ihre Quälereien zum Vorbild nahmen. Die Produktion von Negativität durch die von ihnen verursachten Schmerzen war derart effizient, dass die ganze, nach dem Pessimum süchtige Welt mit der giftigen Lösung, die man jetzt als einen „Ausweg“ bezeichnete, versorgt werden konnte. Ja, es konnte sogar noch das Bekanntwerden des Zusammenhangs mit der TV-Serie für den Gewinn und die Versorgung weiterer Junkies fruchtbar werden. Alle Bestrebungen einiger Widerstand Leistender, Schlussfolgerungen aus den Vorgängen auf den Flohmärkten zu ziehen, die zu ihrer zukünftigen Eindämmung führen hätten können, wurden unterdrückt. Manche phantasierten noch, die berühmten „vertretbaren Sachen“, die an den Börsen als und mit Pessimum teuer verkauft würden, seien in Wirklichkeit Scheine. Wo wir Bares sahen, sahen sie schräge Bezüge. Für uns aber waren die Auftritte dieser „Realisiererinnen“, wie sich die Leute nannten, Anlass für so viele ärgerliche Gefühle, wie wir uns zum Wohle des allgemeinen Fortkommens gerade noch abpressen konnten. Wir zahlten uns jetzt richtiggehend aus, will sagen: Wir verausgabten uns. Und so sperrte man die Leute in unserem Namen weg. Überhaupt geschah jetzt vieles in unserem Namen. Hinter gepolsterten Türen begründete man dies mit einem im Falle des Zuwiderhandelns gegen den Willen der negativen, also irgendwie nicht vorhandenen Öffentlichkeit drohenden Zusammenbruch der Weltwirtschaft, die als eine Art Wirtshaus verstanden wurde, dessen Überleben vom Überfluss von Pessimum abhängig war, welches den davon trunkenen Menschen wie Milch und Honig aus den Mundwinkeln laufen musste.

 

1 Amerikanisch für „Dollar“
2 Englisch für „Flöhe“ Textauszug aus „Die grüne Hydra“ von Lisa Spalt.

Literaturpreis Floriana
Lisa Spalt gewinnt die FLORIANA 2020. Jury-Statement: „Der erste Preis geht an einen Text, der von seinem Rhythmus und Sound lebt. Dessen Autorin fest im Sattel ihrer Sprache sitzt. Das Chaos nach der modernen Apokalypse mündet in einer Dystopie, in der Ökonomie auf Ökologie prallt. Der Text erzeugt eine experimentelle Fläche, in der die Wirklichkeit als Suada wurzeln kann.“ Alle PreisträgerInnen: Lisa Spalt, Robert Woelfl, Melanie Koshmashrab, Förderpreis für oberösterreichische AutorInnen: Vanessa Graf
literaturpreis-floriana.at