Die Systeme von Vanessa Graf
2020 hat Vanessa Graf den Literatur-Förderungspreis von Rauris bekommen. Ines Schütz über die Texte „Life in a box“ und „Friend in a pot“ – und eine Autorin, die sich mit keinem der Themen, die sie interessieren, auf nur einem Weg auseinandersetzt.
„Wir sind auf Engste mit menschlichen und nicht-menschlichen Wesen rund um uns verbunden, eingebunden in einem komplexen Ökosystem, das komplizierter und verwobener ist, als wir es uns nur ansatzweise vorstellen können“, schreibt Vanessa Graf auf ihrer Homepage zu ihrem Projekt „Friend in a Pot“. Mit diesem Freund, einer Topfpflanze, die zum social interface wird und mit Menschen interagiert, will sie diese Verbindung erfahrbar machen. Der „Friend in a Pot“ nimmt einen mit auf eine Erkundungstour der Umgebung, spricht mit einem und kratzt so an der Vorstellung, der einzelne Mensch könne sich losgelöst von seinem Umfeld betrachten und sich, bei Bedarf, einfach aus dem System nehmen.
Systeme sind, so könnte man sagen, Vanessa Grafs „Ding“. Zunächst einmal das Ökosystem, das auch „Friend in a Pot“ zum Thema hat. Mit dem sich Vanessa Graf außerdem in ihrer Master-Arbeit zum Abschluss des Studiums Medienkultur- und Kunsttheorien an der Kunstuniversität Linz auseinandersetzt, wenn sie den ökologischen und kulturellen Auswirkungen des Internets nachgeht und der Frage, wie wir ein symbiotisches Netzwerk in Inhalt und Infrastruktur schaffen können. Davor hat sie sich wissenschaftlich mit anderen, menschlichen Systemen beschäftigt, hat Politikwissenschaften am Institut d’Etudes Politiques de Paris (samt einem Austauschjahr in Kirgistan) studiert mit Schwerpunkt Europäische Politik und sich im Speziellen mit Ökonomie, Recht und Geschichte beschäftigt.
Und dann gibt es noch die Systeme, die Vanessa Graf selbst aufbaut: Mit keinem der Themen, die sie interessieren (und davon gibt es viele), setzt sie sich auf nur einem Weg auseinander. Da ist die Wissenschaft, die auch nie auf nur ein Fachgebiet bezogen bleibt (um eine gute Basis für ökologische Aspekte in ihrer Masterarbeit zu haben, hat sie ein Biologie-Studium begonnen), da ist die künstlerische Arbeit in den Bereichen Schreiben, Illustration, Media-Art und Musik. Und die journalistische in Text, Foto und Film.
Als freie Journalistin leitet sie die Linzer Redaktion des Onlinemagazins „Fräulein Flora“, die sie nach dem Salzburger Vorbild aufgebaut hat. Ihr journalistischer Arbeitsschwerpunkt liegt in der Kommunikation von komplexen und/oder wissenschaftlichen Inhalten, vor allem in den Bereichen Tech, Digitalisierung, Kunst, Feminismus und Philosophie. Außerdem war Vanessa Graf die letzten vier Jahre mitverantwortlich für die Online-Inhalte der Ars Electronica (zuletzt zuständig für Inhaltliches im Futurelab) und hat dafür, wie sie schreibt, „viele Interviews mit sehr spannenden KünstlerInnen gemacht, viele Videos gefilmt, viele Ausstellungen fotografiert, und vor allem recht viel gelernt.“ Dem Lernen (was sie am liebsten ihr ganzes Leben lang tun würde) widmet sie sich derzeit in ihrer Bildungskarenz, die sie für die Fertigstellung ihrer Masterarbeit und die Suche nach einer anschließenden Doktoratsstelle nützt. Und für andere Projekte wie die Konzeption und Programmierung eines Computerspiels oder drei Schreibprojekte, zwei davon kooperativ.
Geschrieben hat Vanessa Graf schon immer, nicht nur journalistisch. „Das war eher Tagebuchartiges, Notizen“, sagt sie selbst. Dann wollte sie es wissen, mit dem literarischen Schreiben, verfasste einen Text auf die Ausschreibung des Rauriser Förderungspreises hin – und gewann.
Ausgeschrieben war der Preis zum Motto „Innehalten“, ein Thema, das bei Vanessa Graf sofort Assoziationen zu Yoga, dem Schlagwort „Achtsamkeit“ und grünen Smoothies weckte. „Ich habe mich gefragt: Warum müssen immer alle achtsam sein? Warum soll man immer Yoga machen?“, sagt sie im Gespräch. Und das sei überhaupt nicht gegen Yoga gerichtet, sondern dagegen, dass man immer auf seine Mitte achten solle, fast müsse, um in unserer Gesellschaft leistungsfähig zu bleiben. In ihrem Text „Genauso schwarz wir hier“ versteht sie „Innehalten“ denn auch als ein Bedürfnis nach Rückzug, dem heute selten Verständnis entgegengebracht wird. „Mir ging es sehr stark um Solidarität“, schreibt Graf. „Und darum, dass Altern, genauso wie auch Rückzug-Brauchen oder einfach ein unerwartetes Sich-Zurückziehen gerne sehr schnell pathologisiert wird.“
Beispielhaft für diesen Hang zur Pathologisierung steigt der Text in einer Arztpraxis ein: Der Partner der Ich-Erzählerin hat ohne ihr Wissen einen Termin ausgemacht, in dem es um ihre Mutter gehen soll. Die Mutter altert, kommuniziert immer weniger, wird leiser und leiser. Zwischen sich und die Welt packt sie Schachteln, zuerst unmerklich wenige, die man als Kuriosum abtun und ignorieren kann, später quellen sie aus dem Haus und versperren den Zugang. Die Grenze zwischen drinnen und draußen ist abgesteckt, wo die Mutter bleiben möchte, ist ebenfalls klar. Nur alle anderen können oder wollen nicht so recht umgehen mit dieser Tatsache. Der Partner vereinbart den Arzttermin, weil sonst nicht geholfen werden könne, der Bruder wäre gern früher informiert worden, um ein Heim zu organisieren. Und die Tochter – die schiebt zunächst alles zur Seite, tut sich schwer: „Mit dir darüber zu reden, hatte ich seit dem letzten Mal nicht mehr versucht“, heißt es im Text, „mit anderen war ich verloren, setzte an, redete von Kartons und Kisten, verlor mich zwischen Ecken und Kanten und blieb erst recht wieder stumm. Wie eine Verrückte, dachte ich, ob ich mich oder dich damit meinte, wusste ich nicht.“
In dieser Zeit des Begreifens und der Suche nach Orientierung zieht auch sie sich zurück: Anrufe und Nachrichten bleiben unbeantwortet, das Handy landet überhaupt in der Bestecklade, dafür geht die Erzählerin wieder spazieren: „Ich wusste nicht, wohin mich meine Beine trugen, sagt man, man sagt das doch so?, wie von selbst, das sagt man auch, aber ehrlich, beides gelogen.“
Auch in diesem Text geht es um Systeme und ihre Wechselwirkungen: Um das gesellschaftliche, das den Störfaktor „Für-sich-sein-Wollen“ nicht akzeptiert, und um ein familiäres, in dem jede Veränderung alle anderen Beteiligten unmittelbar beeinflusst. Durch die Rhythmusänderung der Mutter kommt die Tochter aus dem Takt und findet gerade so einen Weg, Gemeinsames wieder erleben zu können, einander nah zu sein.
Dass das Thema Demenz sofort mit ihrem Text in Zusammenhang gebracht worden ist, von der Jury des Rauriser Förderungspreises genauso wie von vielen anderen Leserinnen und Lesern, habe sie zum Schmunzeln gebracht, meint Graf, weil sie es beim Schreiben überhaupt nicht im Kopf gehabt habe, sich auch nicht damit auskenne. Und vielleicht ist gerade das das beste Beispiel für die These, die ihrem Text zugrunde liegt: Wir tun uns schwer mit dem Altern und leichter, wenn wir ein Krankheitsbild dazu haben.
In der Jurybegründung (Ludwig Hartinger, Liliane Studer, Erika Wimmer) heißt es: „Dass die Mutter an Demenz erkrankt ist, kann die Ich-Erzählerin in Vanessa Grafs Text ‚Genauso schwarz wie hier‘ nicht länger leugnen. Sie nimmt die Herausforderung an, die Mutter auf diesem Weg zu begleiten. Symbolisch für die Welt, in die sich die Mutter zurückzieht, stehen die Schachteln, die sich in und vor deren Wohnung türmen und für die Tochter zunehmend unüberwindbar werden. Unbeirrt sucht sie jedoch weiter nach Kontaktmöglichkeiten zur Mutter, findet sie über Berührungen, über körperliche Nähe. Dabei werden auch Verunsicherung und aufkeimende innere Widerstände nicht ausgespart.“
Der Rauriser Förderungspreis 2020 (vergeben von Land Salzburg und Marktgemeinde Rauris, dotiert mit € 5.000,–) konnte heuer nicht wie geplant im Rahmen der Rauriser Literaturtage verliehen werden. Die Covid-19-Maßnahmen versetzten alle, die am Festival beteiligt gewesen wären, notgedrungen in einen Zustand des „Innehaltens“ (das Motto der Förderungspreisausschreibung hatte eigentlich auf das 50-Jahr-Jubiläum dieser Veranstaltung angespielt, Anlass zur Rückschau und zum Nach-vorne-Blicken). Der Förderungspreis an Vanessa Graf wird, sobald die Umstände es möglich machen, offiziell verliehen. Dann wird auch ihr vollständiger Text in der Literaturzeitschrift SALZ nachzulesen sein.