Die Systeme von Vanessa Graf

2020 hat Vanessa Graf den Literatur-Förderungspreis von Rauris bekommen. Ines Schütz über die Texte „Life in a box“ und „Friend in a pot“ – und eine Autorin, die sich mit keinem der Themen, die sie interessieren, auf nur einem Weg auseinandersetzt.

„Wir sind auf Engste mit menschlichen und nicht-menschlichen Wesen rund um uns verbunden, eingebunden in einem komplexen Ökosystem, das komplizierter und verwobener ist, als wir es uns nur ansatzweise vorstellen können“, schreibt Vanessa Graf auf ihrer Homepage zu ihrem Projekt „Friend in a Pot“. Mit diesem Freund, einer Topfpflanze, die zum social interface wird und mit Menschen interagiert, will sie diese Verbindung erfahrbar machen. Der „Friend in a Pot“ nimmt einen mit auf eine Erkundungstour der Umgebung, spricht mit einem und kratzt so an der Vorstellung, der einzelne Mensch könne sich losgelöst von seinem Umfeld betrachten und sich, bei Bedarf, einfach aus dem System nehmen.
Systeme sind, so könnte man sagen, Vanessa Grafs „Ding“. Zunächst einmal das Ökosystem, das auch „Friend in a Pot“ zum Thema hat. Mit dem sich Vanessa Graf außerdem in ihrer Master-Arbeit zum Abschluss des Studiums Medienkultur- und Kunsttheorien an der Kunstuniversität Linz auseinandersetzt, wenn sie den ökologischen und kulturellen Auswirkungen des Internets nachgeht und der Frage, wie wir ein symbiotisches Netzwerk in Inhalt und Infrastruktur schaffen können. Davor hat sie sich wissenschaftlich mit anderen, menschlichen Systemen beschäftigt, hat Politikwissenschaften am Institut d’Etudes Politiques de Paris (samt einem Austauschjahr in Kirgistan) studiert mit Schwerpunkt Europäische Politik und sich im Speziellen mit Ökonomie, Recht und Geschichte beschäftigt.
Und dann gibt es noch die Systeme, die Vanessa Graf selbst aufbaut: Mit keinem der Themen, die sie interessieren (und davon gibt es viele), setzt sie sich auf nur einem Weg auseinander. Da ist die Wissenschaft, die auch nie auf nur ein Fachgebiet bezogen bleibt (um eine gute Basis für ökologische Aspekte in ihrer Masterarbeit zu haben, hat sie ein Biologie-Studium begonnen), da ist die künstlerische Arbeit in den Bereichen Schreiben, Illustration, Media-Art und Musik. Und die journalistische in Text, Foto und Film.
Als freie Journalistin leitet sie die Linzer Redaktion des Onlinemagazins „Fräulein Flora“, die sie nach dem Salzburger Vorbild aufgebaut hat. Ihr journalistischer Arbeitsschwerpunkt liegt in der Kommunikation von komplexen und/oder wissenschaftlichen Inhalten, vor allem in den Bereichen Tech, Digitalisierung, Kunst, Feminismus und Philosophie. Außerdem war Vanessa Graf die letzten vier Jahre mitverantwortlich für die Online-Inhalte der Ars Electronica (zuletzt zuständig für Inhaltliches im Futurelab) und hat dafür, wie sie schreibt, „viele Interviews mit sehr spannenden KünstlerInnen gemacht, viele Videos gefilmt, viele Ausstellungen fotografiert, und vor allem recht viel gelernt.“ Dem Lernen (was sie am liebsten ihr ganzes Leben lang tun würde) widmet sie sich derzeit in ihrer Bildungskarenz, die sie für die Fertigstellung ihrer Masterarbeit und die Suche nach einer anschließenden Doktoratsstelle nützt. Und für andere Projekte wie die Konzeption und Programmierung eines Computerspiels oder drei Schreibprojekte, zwei davon kooperativ.
Geschrieben hat Vanessa Graf schon immer, nicht nur journalistisch. „Das war eher Tagebuchartiges, Notizen“, sagt sie selbst. Dann wollte sie es wissen, mit dem literarischen Schreiben, verfasste einen Text auf die Ausschreibung des Rauriser Förderungspreises hin – und gewann.
Ausgeschrieben war der Preis zum Motto „Innehalten“, ein Thema, das bei Vanessa Graf sofort Assoziationen zu Yoga, dem Schlagwort „Achtsamkeit“ und grünen Smoothies weckte. „Ich habe mich gefragt: Warum müssen immer alle achtsam sein? Warum soll man immer Yoga machen?“, sagt sie im Gespräch. Und das sei überhaupt nicht gegen Yoga gerichtet, sondern dagegen, dass man immer auf seine Mitte achten solle, fast müsse, um in unserer Gesellschaft leistungsfähig zu bleiben. In ihrem Text „Genauso schwarz wir hier“ versteht sie „Innehalten“ denn auch als ein Bedürfnis nach Rückzug, dem heute selten Verständnis entgegengebracht wird. „Mir ging es sehr stark um Solidarität“, schreibt Graf. „Und darum, dass Altern, genauso wie auch Rückzug-Brauchen oder einfach ein unerwartetes Sich-Zurückziehen gerne sehr schnell pathologisiert wird.“

Beispielhaft für diesen Hang zur Pathologisierung steigt der Text in einer Arztpraxis ein: Der Partner der Ich-Erzählerin hat ohne ihr Wissen einen Termin ausgemacht, in dem es um ihre Mutter gehen soll. Die Mutter altert, kommuniziert immer weniger, wird leiser und leiser. Zwischen sich und die Welt packt sie Schachteln, zuerst unmerklich wenige, die man als Kuriosum abtun und ignorieren kann, später quellen sie aus dem Haus und versperren den Zugang. Die Grenze zwischen drinnen und draußen ist abgesteckt, wo die Mutter bleiben möchte, ist ebenfalls klar. Nur alle anderen können oder wollen nicht so recht umgehen mit dieser Tatsache. Der Partner vereinbart den Arzttermin, weil sonst nicht geholfen werden könne, der Bruder wäre gern früher informiert worden, um ein Heim zu organisieren. Und die Tochter – die schiebt zunächst alles zur Seite, tut sich schwer: „Mit dir darüber zu reden, hatte ich seit dem letzten Mal nicht mehr versucht“, heißt es im Text, „mit anderen war ich verloren, setzte an, redete von Kartons und Kisten, verlor mich zwischen Ecken und Kanten und blieb erst recht wieder stumm. Wie eine Verrückte, dachte ich, ob ich mich oder dich damit meinte, wusste ich nicht.“
In dieser Zeit des Begreifens und der Suche nach Orientierung zieht auch sie sich zurück: Anrufe und Nachrichten bleiben unbeantwortet, das Handy landet überhaupt in der Bestecklade, dafür geht die Erzählerin wieder spazieren: „Ich wusste nicht, wohin mich meine Beine trugen, sagt man, man sagt das doch so?, wie von selbst, das sagt man auch, aber ehrlich, beides gelogen.“
Auch in diesem Text geht es um Systeme und ihre Wechselwirkungen: Um das gesellschaftliche, das den Störfaktor „Für-sich-sein-Wollen“ nicht akzeptiert, und um ein familiäres, in dem jede Veränderung alle anderen Beteiligten unmittelbar beeinflusst. Durch die Rhythmusänderung der Mutter kommt die Tochter aus dem Takt und findet gerade so einen Weg, Gemeinsames wieder erleben zu können, einander nah zu sein.
Dass das Thema Demenz sofort mit ihrem Text in Zusammenhang gebracht worden ist, von der Jury des Rauriser Förderungspreises genauso wie von vielen anderen Leserinnen und Lesern, habe sie zum Schmunzeln gebracht, meint Graf, weil sie es beim Schreiben überhaupt nicht im Kopf gehabt habe, sich auch nicht damit auskenne. Und vielleicht ist gerade das das beste Beispiel für die These, die ihrem Text zugrunde liegt: Wir tun uns schwer mit dem Altern und leichter, wenn wir ein Krankheitsbild dazu haben.

In der Jurybegründung (Ludwig Hartinger, Liliane Studer, Erika Wimmer) heißt es: „Dass die Mutter an Demenz erkrankt ist, kann die Ich-Erzählerin in Vanessa Grafs Text ‚Genauso schwarz wie hier‘ nicht länger leugnen. Sie nimmt die Herausforderung an, die Mutter auf diesem Weg zu begleiten. Symbolisch für die Welt, in die sich die Mutter zurückzieht, stehen die Schachteln, die sich in und vor deren Wohnung türmen und für die Tochter zunehmend unüberwindbar werden. Unbeirrt sucht sie jedoch weiter nach Kontaktmöglichkeiten zur Mutter, findet sie über Berührungen, über körperliche Nähe. Dabei werden auch Verunsicherung und aufkeimende innere Widerstände nicht ausgespart.“
Der Rauriser Förderungspreis 2020 (vergeben von Land Salzburg und Marktgemeinde Rauris, dotiert mit € 5.000,–) konnte heuer nicht wie geplant im Rahmen der Rauriser Literaturtage verliehen werden. Die Covid-19-Maßnahmen versetzten alle, die am Festival beteiligt gewesen wären, notgedrungen in einen Zustand des „Innehaltens“ (das Motto der Förderungspreisausschreibung hatte eigentlich auf das 50-Jahr-Jubiläum dieser Veranstaltung angespielt, Anlass zur Rück­schau und zum Nach-vorne-Blicken). Der Förderungspreis an Vanessa Graf wird, sobald die Umstände es möglich machen, offiziell verliehen. Dann wird auch ihr vollständiger Text in der Literaturzeitschrift SALZ nachzulesen sein.

Genauso schwarz wie hier

Den Rauriser Förderungspreis 2020 zum Thema „Innehalten“ erhält Vanessa Graf für ihren Text „Genauso schwarz wie hier“. Eine Lese­probe von Vanessa Graf.

Bild Vanessa Graf

Als das mit dir anfing, besser, als ich es dann schließlich bemerkte, weil so etwas bemerkt man ja nicht von vorne weg, da braucht es Tage, Wochen, ein paar Besuche, jedes Mal ein bisschen anders, jedes Mal ein Stein im Weg, jedes Mal etwas, worüber ich beim Eintreten stolpern konnte – als man mir sagte, was eigentlich mit dir passierte, vergrub ich meinen Kopf in den Armen. Nahm das Gesagte und drückte es in die Ferne, weit, weiter weg von mir, eine abweisende Handbewegung, ein Schulterzucken, ein ausweichender Blick zur Seite. Nun, sagte die Frau hinter dem Schreibtisch, es gibt ja Optionen.
Optionen, dachte ich und fühlte die Möglichkeiten unter meinen Fingern gerinnen, sich über die Tischplatte ausbreiten, milchig-weiß bis hin zur Frau im Kittel gegenüber. Ein Heim, zum Beispiel, sagte die gerade, wie um mit ihrem Ärmel die Flüssigkeit auf ihrer Arbeitsplatte aufzusaugen. Betreuung, 12 Stunden, 24 Stunden, sie wischte ein Staubkorn vom Rande ihres Terminkalenders, oder wir können auch im Internet nachsehen, ich helfe Ihnen. Selbstverständlich.
Ich wollte nichts davon wissen, war verärgert. Wie können Sie nur, Sie haben sie ja nicht einmal gesehen, wollte ich schreien, blieb stattdessen stumm in der Ordination sitzen. Was heißt das jetzt für sie?, hörte ich mich schließlich doch fragen, während ich mental alle Anzeichen fein säuberlich verpackte, einsortierte, beiseiteschob. In Schachteln, was ironisch war, weil als ich es dann endlich wahrhaben konnte, lange nach diesem ersten Gespräch, erinnerte ich mich plötzlich wieder an all das, was ich damals so schön sorgfältig verschnürt an den Rand meines Bewusstseins stellte und verstauben ließ: Schachteln. So fing es nämlich wirklich an, mit Schachteln, und wäre ich weniger stur, weniger ängstlich, einfühlsamer oder einfach nur anders gewesen, hätte ich es vielleicht da schon bemerkt.
Der erste Tag, an dem ich deine Tür aufsperrte und meine Schuhspitze gegen etwas Hartes trat: nichts Außergewöhnliches. Ein Nicht-Ereignis, ein Un-Ding. Und trotzdem stand da etwas, eine kleine, schwarze Kiste, mitten in deinem Vorhaus, gerade so weit von der Türe entfernt, dass das Öffnen noch möglich war, das Eintreten aber bereits zum Über-Treten wurde. Ich stieg also darüber und gleichzeitig hinein in etwas, dessen Ausmaße ich weder erahnen noch mir vorstellen konnte, hätte ich es probiert. Ein schwarzes Loch, ein allesverschlingender Mahlstrom, unausweichliche Sogwirkung und ich ein Ästchen in der Brandung, ein falscher Zug und schon zerbrochen. Dass du damals eigentlich auch schon in Scherben vor mir lagst, das sah ich lange nicht. Ich trat also ein und darüber, über die schwarze Kiste, die Box in deinem Vorhaus, und dachte mir: Nichts. Nichts eigentlich, ich glaube nicht, dass ich sie damals überhaupt so wirklich wahrgenommen hatte, die Schachtel vor der Tür deiner Wohnung. Natürlich, ich sah die Falten in deinem Gesicht, jetzt klarer als vielleicht dort und dann an deinem Küchentisch, aber ich sah sie, die müden Augen, die schlaffe Haut, die Blässe. Komm, wir gehen spazieren, schlug ich irgendwann vor, raus an die frische Luft, die Sonne scheint. Du ziertest dich, deine Hände am Küchentisch wie ein Rettungsboot, während hinter dir der Dampfer in den Wogen versinkt und das Eiswasser deine Finger erstarren lässt, du wolltest nicht, nein, nein, ich war heute schon draußen, nein. Irgendwann gingen wir dann doch, du zögerlich in die Sonne blinzelnd, ich die Finger an den Blättern im Wald entlangstreichend. Ich kitzle den Wald und die Sonne kitzelt mich, lachte ich, du hinter mir, immer einen Schritt zurück. Ich dachte, du genießt. Du wusstest schon – du verlässt. Wir mussten beim Rausgehen auch über die Kiste gestiegen sein, die schwarze Box im Vorhaus, wir mussten die Tür einen Spalt aufgemacht haben, die Beine gehoben, eins, zwei, darübergestiegen sein. Davon weiß ich nichts mehr, wir redeten auch nicht darüber, nahmen sie nicht zur Kenntnis, taten so, als wäre sie nicht da. Keine Kiste im Vorhaus, keine Ringe unter deinen Augen. Rückblickend irritiert mich das, manchmal denke ich daran, wenn ich nachts wieder nicht schlafen kann.

Bild Vanessa Graf

Bei meinem nächsten Besuch waren es zwei.
Lange nur zwei.
Ich dachte nicht mehr daran, fand nichts merkwürdig, nur dich manchmal, wenn du dir wieder deine Augen riebst und verschlafen über die Tischplatte schautest. Wir sprachen noch immer nicht darüber, warum auch, zwei Kisten in deinem Vorhaus und eine Tür, die nicht mehr bis zum Anschlag zu öffnen war? Es gab Wichtigeres, Anderes: deine Mieterinnen, meine Beziehung, unsere gemeinsame Verwandtschaft, zum Schluss immer: unser nächstes Treffen. Wir redeten, anfangs noch stundenlang, wie früher. Es blieben immer Stunden, bis zum Schluss lange Stunden, aber das Reden war kürzer. Ebbte aus, bis wir gemeinsam, friedlich, wie ich dachte, auf der kleinen Bank auf deinem Balkon saßen und dem Nussbaum im Garten still beim Wachsen zusahen. Ich fand es schön, ich war zufrieden.
Mir fiel nichts auf, jetzt denke ich, mir hätte alles auffallen sollen: Die Art, wie du immer langsamer zur Tür schlurftest, die Klinke erst angriffst, dann kurz verharrtest, ehe du sie drücktest. Wie deine Worte, nicht alle, nicht einmal die meisten, aber manche, einige, gedehnter wurden. Leiser, das auch. Wie du die Augen niederschlugst und tief in deine Tasse starrtest. Wie die Farbe immer mehr aus deinen Wangen wich. Und wie lange ich das Leuchten in deinen Augen schon nicht mehr gesehen hatte.
Draußen – so nannte ich das, dann, nachdem ich es wusste, drinnen war bei dir, draußen war die Welt – draußen erschlug mich das Leben. Wo bist du, vibrierte meine Tasche, was machst du gerade, ich denke an dich. Eine Haltestelle später, ein Piepsen aus der Jacke, Sehr geehrte Frau und ich schreibe Ihnen weil, gleichzeitig ein Anruf, dazwischen wieder das Vibrieren: ich koche heute, wann kommst du, willst du, können wir, ich habe gerade, schau das, schau dies, wollen wir nicht, könnten wir, sollten wir.
Ich erzählte dir manchmal davon, vom Draußen, du nicktest stumm und nahmst noch einen Schluck Tee. Stille schlug mir ins Gesicht, das Vibrieren blieb in der Garderobe. Ich erzählte weniger, dann fast gar nichts mehr. Berichtete von anderem: Der Platz wird umgebaut, die Bahn hatte Verspätung, ich konnte heute nicht schlafen, der Sonnenaufgang war schön. Du antwortetest, die Rohre seien verstopft, das Essen war kalt, du schläfst schon lange nicht mehr.

Bild Vanessa Graf

Der Nussbaum begann, seine Blätter abzuwerfen.
Als es drei Kisten wurden, dann vier, fünf, sechs, schleichend immer mehr, sprach ich dich darauf an. Eine auf der Stiege, eine unter der Sitzbank in deiner Küche, eine am Balkon, Mama, was machst du, ziehst du um? Wieder der leere Blick, der Teekocher noch am Pfeifen, nichts, um die Hände zu beschäftigen, nichts, den Blick zu versenken. Ach, du, ich weiß nicht, was du meinst, es ist bloß, also, nichts. Mach dir keine Sorgen, magst du noch ein Keks? Was sind das für Kisten, fragte ich zwei Bissen später, was für Sorgen. Der Tee war fertig, du erzähltest mir vom Backen, ich erfuhr von Kilogramm Mehl und Vanillezucker und Ausstechformen, aber von den Boxen im Vorhaus, den Kisten am Flur erfuhr ich nichts. Kann ich dir helfen, probierte ich es später noch einmal. Du weißt doch, Stöbern, Aufräumen, ich liebe das. Komm, vielleicht finden wir noch was von Papa, zog ich dich vom Küchentisch in den Gang. Ich bückte mich zur nächsten Box, suchte die Öffnung, als du laut wurdest: Nein! Nein, nein, du drehtest dich auf der Stelle um, zurück in die Küche. Die Panik in deiner Stimme hallte in meinen Ohren nach wie eine Warnung: Lass mich. Ich blieb im Gang, setzte mich auf den Boden vor die Kiste. Hob sie, drehte sie in den Händen, schüttelte. Keine Öffnung, kein Geräusch, nur eine Kiste, sonst nichts. Willst du noch einen Schluck Tee, hörte ich dich vom Türrahmen fragen. Ja, nickte ich, gut, und ging zurück zu dir. Nach den Kisten fragte ich nicht mehr.

Der Abwärts­spi­rale entkommen

Im vergangenen Jahr erhielt Birgit Birnbacher den Bachmannpreis. Vor kurzem ist ihr erster Roman Ich an meiner Seite erschienen. Mit großem Respekt vor ihren Figuren stellt die Autorin auch in diesem Buch jene ins Rampenlicht, die sonst in unserer Gesellschaft ein Schattendasein fristen.

Silvana Steinbacher richtet ihren Fokus auf einige Aspekte, die sie an diesem Roman besonders überzeugt haben. Diesmal in alphabetischer Reihenfolge: von A wie Arthur bis Z wie Zufall.

Arthur: Er ist der Protagonist des Romans Ich an meiner Seite. Arthur ist ein intelligenter 22-jähriger Mann. Birnbacher steigt in sein Leben ein, als er im Jahr 2010 nach 26 Monaten im Gefängnis aus der Haft entlassen wird. Als Leserin erahne ich schnell: Zu einem „normalen“ glücklichen Leben wäre bei ihm nicht viel notwendig gewesen, etwas Zuwendung von zu Hause, ein Ort, an dem er sich aufgenommen fühlt, Geborgenheit. Innerhalb der über 270 Seiten umfassenden Geschichte wird Arthur plastischer, gewinnt an Konturen.

Börd: Ist es für einen Haftentlassenen erstrebenswert, bei einem Therapeuten wie Börd zu landen? Auch Arthur schwankt immer wieder bei der Beantwortung dieser Frage. Börd wirkt wie aus der Zeit gefallen. Alles an ihm scheint dubios, sein Lebenslauf, sein Therapieansatz, sein Aussehen, seine Wohnverhältnisse (Autowerkstatt), seine Funktion. Arthur ist eine der Testpersonen in einem Resozialisierungsprojekt. Von Börd erhält er den Auftrag, alles, was ihm zu seiner Kindheit und Jugend einfällt, aufzunehmen und an Börd weiterzuleiten. (siehe Punkt: Schwarzsprechen.)

Handlung: Das Buch bewegt sich zwischen Arthurs Geburt 1988 und 2010, dem Zeitpunkt seiner Freilassung aus der Strafjustizanstalt. Innerhalb dieses Zeitrasters jongliert Birgit Birnbacher zwischen Zeit und Ort, ohne die Handlungsfäden zu verlieren. Eine Erzählmethode, die der Autorin auch in Bezug auf das Tempo des Erzählten wichtig ist, wie sie mir in einem Interview, das wir nur per Mail führen konnten, mitteilt.

B. B.: „Ja schon. Ich persönlich mag es gerne, wenn es eher rasant dahingeht, aber auch auf Wechsel im Tempo oder Rhythmus achte ich. Wenn ein Text einen guten Sound hat, das ist schon etwas, was mir persönlich beim Lesen gut gefällt und ich freue mich, wenn jemand das auch in meinem Schreiben heraushört, weil es mir etwas wert ist.“

Arthur wächst ohne leiblichen Vater in Bischofshofen auf. Als er neun Jahre alt ist, wandert er mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und seinem Bruder Klaus nach Andalusien aus. Mutter und Stiefvater gründen dort ein Hospiz auf Luxusniveau. Klaus verschwindet bald, der orientierungslose Teenager Arthur zermürbt sich in einer Dreiecksgeschichte, der ein tödlicher Badeunfall einer Freundin ein abruptes Ende setzt und Arthur ins emotionale Chaos stürzt. Das familiäre Auffangnetz fehlt Arthur, und so flieht er ohne jeden Plan nach Wien. Von existentiellen Nöten getrieben, lässt er sich auf eine kriminelle Handlung ein. Über zwei Jahre verbringt Arthur daraufhin im Gefängnis, dann folgen die Mühen der Resozialisierung: Therapie, Haftentlassenen-WG und vor allem Arbeitssuche. Und dabei muss Arthur wiederholt erkennen, dass er ohne lückenlose Biografie mit nachweisbaren Ausbildungs- und Berufsjahren kein effizientes Mitglied im neoliberalen Wirtschaftskreislauf sein kann.

Humor: Romane, die von Gefängnis und Resozialisierung erzählen, gibt es einige, und meistens handelt es sich um Anklagen des herrschenden Systems. Im vergangenen Jahr ist, um nur ein Buch der jüngsten Zeit zu nennen, der Roman Ich bin ein Schicksal von Rachel Kushner erschienen. Dieses Buch, das vom beinharten Gefängnisalltag in Amerika berichtet, entwickelte sich, mir nicht wirklich nachvollziehbar, zum internationalen Bestseller. Birgit Birnbacher lässt in ihrem Roman auch humoristische, skurrile Szenen zu, ohne der Geschichte ihre Ernsthaftigkeit zu nehmen. Eine gelungene Gratwanderung, die in anderen literarischen Texten nicht immer aufgeht.

B. B.: „Ich glaube, das liegt daran, dass ich immer großen Respekt vor meinen Figuren habe. Wenn Figuren einer Pointe zuliebe ausgeliefert oder in ihren Lastern und Schattenseiten vorgeführt werden, ist das nicht Meines. Wenngleich es natürlich dazugehört, auch diese Seiten zu zeigen. Aber auf das wie kommt es an, und lesbar muss es bleiben.“

Ich an meiner Seite: ist einfach ein toller Titel (siehe auch Punkt: Schwarzsprechen)

Lebenslauf von Birgit Birnbacher: Es war keineswegs abzusehen, dass Birgit Birnbacher literarisch schreiben würde. Geboren wurde sie 1985 in Schwarzach im Pongau. Nach einer Lehre arbeitete sie im Rahmen einer Entwicklungshilfe in Äthiopien und Indien. Nach Absolvierung eines Soziologiestudiums wechselte sie in die Praxis der Sozialarbeit, und diese Erfahrungen prägen auch ihre Literatur. Heute lebt sie in der Stadt Salzburg.

Lichtgestalt: Die glamouröse Lichtgestalt dieses Romans heißt Grazetta. Sie wandelt fast wie eine Märchenfigur durch dieses Buch der ansonsten harten Realitäten. Die ehemalige Schauspielerin wartet als schwerkranker Gast im andalusischen Luxushospiz auf ihren Tod und lernt dort Arthur kennen. Dann beschließt sie doch ihre letzten Tage in Wien zu verbringen und wird Arthur zur emotionalen Stütze. Es ist eine gelungene Ebene, die Birgit Birnbacher in ihre Geschichte einzieht und dieser so einen für die Leserin und den Leser unerwarteten „Fremdkörper“ hinzufügt.

Schwarzsprechen: Der Ansatz, den Arthurs unkonventioneller Therapeut entwickelt hat, lautet „Schwarzsprechen“ und so schickt Arthur regelmäßig Tonaufnahmen an Börd mit Berichten aus seinem Leben. Anhand dieser Aufnahmen entwickelt Börd eine optimale Version seines Klienten, stellt ihm ein ideales Ich zur Seite, das ihm in Konflikten helfen soll.
Dadurch baut Birgit Birnbacher zugleich geschickt eine weitere Erzählmethode ein, denn so erfährt die Leserin und der Leser auch gleich mehr über Arthurs Leben.

Sprache und Stil: Birnbachers Sprache in diesem Roman ist präzise und pointiert, in manchen Szenen gelingt es ihr, einen Drive, der an einen Stakkato-Rhythmus erinnert, zu erzeugen.
Hervorheben möchte ich vor allem auch ihre gewitzten Komposita – „Allgemeingartenmöbel“, Einfamilienhausthujenheckenidylle – und ihre Ausschmückung durch Adjektiva: „neongelber Schweißausbruch“

Strafanstalt: Erst relativ spät berichtet Birnbacher, welche Straftat Arthur überhaupt begangen hat, was zumindest ich keineswegs vermisst habe. Eher im Gegenteil. Dem brutalen Gefängnisalltag, in dem der neu Hinzugekommene nicht die besten Karten hat, streift Birnbacher nur und erhöht so die Eindringlichkeit der geschilderten Szenen. Von seinen drei Mitgefangenen in der Zelle wird Arthur gequält und verprügelt und muss die Regeln und Hierarchien unter den Häftlingen schnell kennenlernen. Den Gefängnisalltag kann er in Freiheit nicht abstreifen. Immer wieder überwältigen ihn die Flashbacks aus diesen 26 Monaten.

Zufall: Birgit Birnbacher führt in diesem Buch einen Aspekt vor Augen, der uns ohnehin allen bewusst ist, aber hier tritt er besonders markant und schmerzlich hervor. Nämlich die Frage: Wie würde unser Leben verlaufen, wenn wir schon früher abgebogen wären, uns anders entschieden hätten? Die Tatsache also, dass ein Leben unendlich viele Facetten in sich birgt und nur ein kleiner Schritt fatale Folgen nach sich ziehen kann. „Das kommt halt darauf an, wie sich der Mensch sein Schicksal erklärt. Ich persönlich bin nicht gläubig und gehöre keiner Religion an. Streng gesagt, glaube ich an das Faktische und an die Wissenschaft, was nicht heißen soll, dass ich Wunder grundsätzlich ausschließe, im Gegenteil! Das zeigt sich auch im Roman: Arthur hat Pech, aber er baut auch komplett selbstverschuldet Mist und er trifft ein paar falsche Entscheidungen. Doch Arthur verfügt über unglaubliche Kräfte, die er lernt, zu seinen Gunsten zu mobilisieren. Er enthebt sich aus der Abwärtsspirale, die sein Lebenslauf vorgibt. So wird er bereit für Wunder, auch wenn er nicht an sie glaubt. Letztlich passiert ihm dann ja auch ein kleines: Er knüpft dort an, wo er eigentlich alles hinter sich lassen wollte. Aber das steht alles im Buch.“

P. S.: Nur fünf Tage nachdem Birgit Birnbachers Roman im Handel war, mussten die Buchhandlungen aufgrund der Corona-Krise schließen und viele ihrer Lesungen wurden storniert. „Durch den Bachmannpreis habe ich eine Reserve und nichts zu jammern. Meine Verdienstausfälle durch Corona sind erst einmal enorm gewesen, aber viele der Lesungen werden wohl verschoben und ich habe großes Glück, weil mein Buch, wahrscheinlich vor allem durch den Bachmannpreis, wahrgenommen wird. Ich mache das Beste daraus. Abgesehen davon komme ich gut zurecht, ich meine: Während der letzten Jahre habe ich ein Buch geschrieben, Sommer wie Winter, bei jedem Wetter und in jedem Zustand. Dass ich jetzt noch ein halbes Jahr dranhänge und wieder nur zuhause bin, nutze ich dazu, gleich weiter zu schreiben. Das wäre während einer Lesereise nicht möglich gewesen.“

 

Birgit Birnbacher
Ich an meiner Seite
Zsolnay Verlag, Wien
272 Seiten

Literatur-Hinweis

Das Wiener Literaturhaus bietet derzeit die Video-Ausstellungen KEINE | ANGST vor der Angst, die zum Internationalen Literaturfestival Erich Fried Tage im November 2019 entstanden ist, sowie das schicke Nachfolgermodell KEINE | ANGST vor der Angst – revisited. Letzteres präsentiert bis Juni jede Woche ein neues Exponat zum situationsadäquaten Thema. Das Institut für poetische Alltagsverbesserung, vertreten von Lisa Spalt, zeigt in diesem Rahmen einen Ausschnitt aus dem gerade entstehenden Text „Die grüne Hydra“. Ein Kollektiv dieses Namens stellt dem Geschäft mit der Angst unverfroren eine Neuordnung des Vokabulars in den Weg, das Experiment einer Sprache, die zuerst einmal erfunden und dann erst gedeutet wird.
Alle Videos auf erichfriedtage.com

Lisa Spalt ist Autorin, lebt als derzeit einzige feste Mitarbeiterin des Instituts für poetische Alltagsverbesserung in Linz, hin und wieder Referentin-Autorin und stellt der Referentin außerdem einen Literatur-Tipp zur kontagiösen Normalität zur Verfügung:
Das passende Werk zur Pandemie? Empfohlen sei Wilfried Ihrigs Band „Literarische Avantgarde und Dandysmus. Eine Studie zur Prosa von Carl Einstein bis Oswald Wiener“. Hier paradiert, was die Welt für kontagiös hält, was den Alltag, die Frau, den Einfluss, jegliche Vermischung wie Krankheitserreger fürchtet. Wer sich je über Leute geärgert hat, die Abweichung per se für einen Wert halten, findet hier die selbstherrlichen Originale der Attitude. Carl Einstein predigt aus Angst, mit „Normalität“ angesteckt zu werden, Enthaltsamkeit, Baudelaire brilliert in allen Fächern der Unberührbarkeit. Die Frau ist ihm scheußlich, läufig und vulgär. Und: „Kann man sich einen Dandy vorstellen, der zum Volk spricht, außer, um es zu verhöhnen?“ …

 

Literarische Avantgarde und Dandysmus. Eine Studie zur Prosa von Carl Einstein bis Oswald Wiener. Athenäum 1988.

Sei Pippi, nicht Annika!

Ich hatte die Freude mit starken, meist unangepassten Frauenbildern aufzuwachsen.

Gabi Husar begeisterte als grandiose Pilotin die österreichischen Ralley-Szene. Entfesselt. Hemmungslos. Rücksichtslos. Ausschließlich mit weiblichen Co-Pilotinnen. 240 PS. 240 km/h Spitze. Porsche 911 SC. In diesem Auto gewann sie mit ihrer Beifahrerin Elisabeth Fekonja einen Lauf zur österreichischen Meisterschaft 1986. Sie war eine fixe Größe in einem von Männern völlig dominierten Sport.

Eine international fixe Größe und ein leuchtender Stern am Himmel war Lynn Hill. Die US-Amerikanerin hat lange Zeit der Kletterszene den Weg gewiesen und neue Maßstäbe gesetzt. Beim Klettern und im Denken. Das zeigte sie eindrucksvoll 1994 mit der freien Begehung der „Nose“ am El Capitan im kalifornischen Yosemite an einem Tag. Heinz Zak, ein österreichischer Kletterer & Fotograf, der damals dabei war: „Wir Männer haben blöd dreingeschaut, mit welchen Ideen Lynn dahergekommen ist. Die ‚Nose‘ frei an einem Tag, das war ein unglaublicher Denkschritt. Eine Jahrtausendleistung im Klettern.“

In früheren Jahren wurden ihre Leistungen und ihr Talent nicht immer gerne gesehen, gerade von ihren männlichen Kletterpartnern. Das sollte sich aber schnell ändern. John Long, ein US-Topkletter jener Zeit: „Doch Lynn durchbrach die Grenzen ihres Geschlechts derart gründlich, daß der knochenharte Chauvinismus, dem viele von uns unbewußt anhingen, rasch wie Butter in der Sonne schmolz. Die Jungs forderten sie nicht mehr zu gemeinsamen Klettertouren auf, weil sie so ein erfreulicher Anblick war, sondern weil man jede verdammt Route schaffte, wenn man mit Lynn zusammen kletterte.“

Sexistische Äußerungen im Kletterumfeld enttäuschten sie umso mehr, weil für sie Klettern der erste gleichberechtigte Sport war, den sie ausübte. Trotz Männerdominanz und Sexismus ging sie ihren Weg. Mit Vorstellungskraft, Willen und Anstrengung sei jede Route auch für eine Frau zu klettern. Lynn Hill kletterte bis zum fünften Schwangerschaftsmonat. Nach der Geburt ihres Sohnes fand sie an der überhängenden Westwand des Leaning Tower im Yosemite Valley in der Route „The Westie Face“ (X-) in Schwierigkeitsgrade zurück, die selbst ambitionierte Kletterer niemals erreichen.

Doch nicht jede Frau mit grandiosen Leistungen schreibt so eine Geschichte und darüber ein Buch. Die englischsprachige Plattform Timeline.com ruft aktiv dazu auf, sich zu beteiligen und weibliche Persönlichkeiten der Geschichte zu porträtieren und deren Geschichten zu erzählen. Neben „Women in History“ gibt es ebenso informative „Black History“. Eine sportliche Webseite mit demselben Auftrag für Surfen ist „History of Women Surfing“.

Eine grandiose Leistung erbrachte die 36-jährige Britin Jasmin Paris beim 431 km Langstreckenlauf des Spine Race 2019 in Wales. Sie gewann 15 Stunden vor dem schnellsten Mann und brach den Streckenrekord um 12h. Zwischendurch pumpte sie Milch für ihre Tochter ab. In jüngster Vergangenheit gewinnen immer mehr Frauen Ultra-Ausdauer-Wettkämpfe. Die deutsche Radrennfahrerin Fiona Kolbinger triumphierte 2019 im Transcontinental Race durch Europa, das bedeutet knapp 4.000 km in zehn Tagen.
Sarah Thomas (USA) schwamm ohne Pause als erster Mensch viermal hintereinander den Ärmelkanal und legte 216 km in 54 Stunden zurück. Je länger und härter ein Rennen ist, desto eher scheinen Frauen ihre männlichen Gegner zu schlagen, sagt die Wissenschaft.
Diese sagt übrigens auch, dass Frauen mit „ihren“ Hefepilzen das Bier geprägt haben. Im Mittelalter war Bierbrauen Frauensache. Forscher sind sicher, wenn Männer das Brauen übernommen hätten, wäre es anders geworden. Also beim nächsten Bier dankbar an die vielen Frauen denken, die zum guten Geschmack beigetragen haben. Und die Geschichten starker, außergewöhnlicher aber auch gewöhnlicher Frauen weitererzählen! Prost!

 

Tipps:

Buch-Tipp: Lynn Hill – Climbing Free. Ohne Seil in den steilsten Wänden der Welt (2011 Piper Verlag)

Women in History
timeline.com/women-history/home

History of Women Surfing
www.historyofwomensurfing.com/#

„Good Night Stories for Rebel Girls 1–3“ über außergewöhnliche Frauen erhältlich auch als Hörbuch auf Deutsch.  
www.der-audio-verlag.de/autoren/favilli-elena

Stadtblick

Foto Die Referentin

Abhilfe bei Frauenzeitschriften und Patriarchat

Sarah Held fühlt sich grundsätzlich so gar nicht abgeholt von den üblichen, so genannten Frauenzeitschriften. Nachdem sie ausführlich berichtet warum, empfiehlt sie als lokalen Tipp für die Kennerin* der Materie oder für alle, die es werden wollen, das Gloss-Magazin.

Gloss Cover. Bild Gloss/Pangea

Ich hasse sogenannte Frauenzeitschriften, weil sie mir erzählen wollen, was sogenannte Frauen- und Männerthemen sind. Frauenzeitschrift, Frauenthemen – Frauen, Männer, sonst wird da niemand repräsentiert. Es ist das Patriarchat in der Nussschale, gezeigt am Beispiel von sogenannten Frauenthemen und der damit automatisch verbundenen Angst des Cis-Mannes, auch im – natürlich geglaubten – Habitat Zeitschriftenauslage ein Stück abtreten zu müssen.
Gern gehe ich in die Trafik oder in den Bahnhof-Zeitschriftenladen, wo mich innerlich immer so eine schöne, wohlige Hasstirade überkommt, die meinen ganzen Körper durchströmt, weil das Angebot so geil ist. Da fühle ich mich abgeholt und meine Interessen befriedigt. Das Angebot changiert zwischen Selbsttuning, Autotuning, Familientuning, Haustiertuning, Jugend-Tuning, was weiß ich denn, was es noch für Tunings gibt, Royals und noch viel abgründigeren Sachen. Ja, abgründig, so fühlt sich ein Blick in die Zeitschriftenauslagen an. Zeig mir deine hässliche Fratze, Mainstreamgesellschaft, materialisier dich in Form von Brigitte oder Blonde.
Manchmal, also ganz selten, frage ich mich, warum ich so angepisst bin. Bitte nicht falsch verstehen, es ist nicht so, dass ich grundsätzlich grantig oder griesgrämig drauf wäre. Ganz im Gegenteil, ich bin so voll die Lustige, aber trotzdem bin ich randvoll mit Hass. Nein, nicht die Art Hass, die Leute dazu bringt, andere wegen ihrer Hautfarbe zu hassen, oder die Sorte, die Leute dazu bringt, andere wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Begierden umzubringen. Mein ganz persönlicher und privater Hass besteht aus mehreren Schichten, zusammengesetzt sind diese von unterschiedlicher Dichte und Konsistenz. Quasi ein über Jahre gereiftes und gewachsenes Hasskonglomerat, das sich mit der Zielgenauigkeit einer Scharfschützin auf das Patriarchat richtet.
Wenn ich die Zeitschriftenregale so taxiere, frage ich mich: Wo sind Hefte in denen (feministische) Frauen, Femmes, Non-Binaries sich ungehemmt selber feiern können? Sind sie etwa unsichtbar in dem Wirrwarr aus gestählten Photoshop-Brüsten, öligen Motoren, den Diättipps von Prinzessin Herta von Absurdistan oder dem dargestellten nacktem/rohen Fleisch!? Es wäre ja einfach zu sagen: „Die übersieht man halt leicht!“ Aber das stimmt nicht, denn sie sind einfach so gut wie nicht vorhanden. Im Zeitschriftenregal genauso wenig repräsentiert und selbstverständlich wie in der Mehrheitsgesellschaft. In der gutsortierten Trafik oder dem Bahnhofskiosk eures Vertrauens, und damit meine in den W I R K L I C H gut sortierten, finden sich das Missy Magazin oder die Anschläge, aber dann ist auch schon Schluss mit dem Feminist-Content. Das ist doch zum Kotzen, ja genau so richtig zum Kotzen. Wo sind die richtigen Frauen*themen wie Kunst, Revolution, Subversion, Latex, Schallplatten, Kulturkritik, Politik machen, Spandex, Bodypositivity oder Eisenwaren?
Das bringt mich zurück zu meiner Hass­tirade. Wie es sich für eine ordentliche patriarchale Haltung gehört, haben die Typen doch eh bloß Angst, dass in Zukunft die Regale am Bahnhofskiosk, Premiumformate wie Beef (ja, das heißt wirklich so), BusinessPunk oder öde Männerbefindlichkeitsblätter, wie die Men’s Health zusammenrücken müssten. (Frauenzeitschriften gehören da auch dazu, die möchte ich aber nicht auch noch aufzählen.) In meiner Vorstellung läuft das dann ungefähr so: Oh nein, da kommt ein feministisches Magazin, wo sollen denn nun all die Viagra-Absatzförderungsmaßnahmen in Form von übersexualisierten Frauenkörpern, die an schlabberpenisbesitzende Herren mit kreisrundem Haarausfall adressiert sind hin!? Es geht hier nicht nur um Regale, sondern um ganze Läden voll mit Schundheftchen, die zwischen Haarimplantaten, Penisprothesen aka fette Autos und monströsen Grilllandschaften oszillieren. Das Programm wird eben dann unter anderem mit sogenannten Frauenthemen-Heften aufgepeppt, und da geht’s um Diättipps, Hetenprobleme oder Stylingtrends, alles auch schon wieder binär und stereotyp aus patriarchaler Perspektive. Visuell fühlt es sich an, als würde ich von allen Seiten mit Scheiße beworfen werden. Nun gut, ich verliere mich in meinem eigenen Rant. Was sind denn nun diese ominösen sogenannten Frauenthemen? Warum haben es diese schäbigen Blätter eigentlich scheinbar so einfach und werden von der Öffentlichkeit so unkritisch konsumiert? Eh klar, ne rhetorische Frage, ich habe ja schon mal was von patriarchal-kapitalistischen Strukturen gehört.
Was ist nun los, wenn ich keinen Bock habe zwischen einem Gros aus Kacke und Scheiße, bekannt als „Fachzeitschrift“, zu wählen? Nein, ich meine nicht, irgendeinen geilen Shit online zu bestellen, der für die örtliche Kundschaft nicht zugänglich ist, ich meine auch nicht irgendein zusammenkopiertes Cut’n’Paste-Zine. Oh, da fällt mir ein, ich habe bisher die sogenannten Musikzeitschriften „vergessen“, sowas wie die Intro (haha!), das Ox, peinliche Metal-Hefte oder so Dad-Rock-Schinken wie den Rolling Stone, ich habe es so satt. Diese ganzen Dudes schreiben Dude-Sachen für Dudes. Letztlich ist es im Zeitschriftenregal genauso wie in den meisten gesellschaftlichen Räumen, Dudes feiern sich ab – Zeitschrift gewordene Langeweile.
Worauf ich raus will, wenn feministische Themen doch schon so hip und kapitalisiert sind, dann bitte aber echt mehr! Gerne auch die „sperrigen“, nicht so richtig vermarktbaren Themen wie Frauen*morde, sexualisierte Gewalt oder Migration/ Flucht. Es wäre super, wenn ich im Laden zwischen mehr als zwei feministischen Magazinen auswählen könnte. Und mit diesem Wunsch wechsle ich zu positiven Ausnahmen, zu einem in Linz erscheinenden Magazin: Als lokalen Tipp für die Kennerin* der Materie, oder alle, die es werden wollen, empfehle ich das Gloss-Magazin. Es wird von Pangea – Werkstatt der Kulturen der Welt geframed und ein großes Team aus unterschiedlichen Leuten mit verschiedenen Backgrounds basteln an den Ausgaben mit. Basteln, auch schon wieder so’n stigmatisiertes sogenanntes Frauenthema, aber was weiß denn ich schon, ich bin ja nur eine kleine Feministin. Zurück zum Thema: Gloss erscheint nicht regelmäßig, kommt aber immer mit einem neuen Themenschwerpunkt raus, der feministisch gerahmt ist. Die Ausgabe Gloss IV, beispielsweise, verhandelte feministische Sichtweisen auf Medien und Gesellschaft. Neben vielen wechselnden Akteur*innen trägt in fast allen bisherigen Ausgaben der Verein Maiz etwas bei. Es macht Spaß, Artikel über die Dekonstruktion von Werbebildsprachen zu lesen und Nachahmungen von Models und Werbeposen aus Alltagsperspektive unter Nutzungsaspekten zu sehen. Die Hefte liefern eine interessante Mischung aus gar nicht so spaßigen bis sehr unterhaltsamen Inhalten an. Gut, dass dieses Jahr Gloss V erscheint, es wird sich mit der Themenwelt Krise aus der Perspektive von Frauen* und Mädchen* auseinandersetzen: „Das GLOSS-Magazin erscheint im Jahr 2020 in seiner fünften Ausgabe und widmet sich unter dem Titel Frauen*stimmen dem Thema Krisen aus feministisch-diskursiver Perspektive. Um dem Gefühl einer wachsenden Unzufriedenheit, Ohnmacht und dem Nichtstun in den gegenwärtig spürbaren Krisen entgegenzuwirken, baut diese Ausgabe auf bestehendes Wissen auf und schafft ein Sprachrohr für ein Sichaufbegehren und Die-eigene-Stimme-Finden“ (Vgl. Call für die 5. Ausgabe: pangea.at/de/programm/gloss-vol-v). Was Gloss auszeichnet, ist, dass die Betreiberinnen partizipativ und mit einem festen, gleichbleibenden Team an Beitragenden zusammenarbeiten. Das bringt viele Leute und Ideen zusammen und es wird auch in der kommenden Ausgabe sicher wieder ein buntes Potpourri aus Frauen*themen im Heft versammelt. Laut werden, Teil vom Diskurs sein, sich der Öffentlichkeit aus der eigenen Position zeigen und damit die eigene Perspektive auf Gesellschaft sichtbar machen, das ist die Devise von Gloss. In der nächsten Ausgabe werden auch wieder (feministische) Initiativen, Vereine und Einzelpersonen ihre ganz individuellen Schwerpunkte und themenbezogene Haltungen darstellen. Daneben wird es auch wieder eine Menge an künstlerisch-gestalterischen Werken geben, die das Heft so lebhaft auszeichnen. Zudem gibt es auch immer verschiedene Ansätze aus Kunst, Kultur und politische Themen. Besonders schön ist, dass sich Feminismen im 21. Jahrhundert auch dahingehend entwickelt haben, sich nicht mehr so stark über die Negierung, bisweilen Ablehnung von Femininität und stattdessen über Aneignung von vermeintlicher Maskulinität zu definieren. Gloss, Missy und Anschläge zeigen, dass durch die Genderbrille nicht nur Butler, Truman, hooks, Anzaldua, Davis und so gelesen werden können, sondern darunter auch ein fesches Make-Up getragen werden kann.

 

Alle vier Ausgaben des unregelmäßig seit 2013 erscheinenden Gloss-Magazines: pangea.at/de/gloss-magazine

GLOSS Vol. V wird diesen September erscheinen und im selben Monat bei einer Release-Feier präsentiert. Genaues Datum: Watch out, pangea.at/de

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Karlheinz Stockhausen Helikopter-Streichquartett, 1992/1996

Das Helikopter-Streichquartett ist eines von Karlheinz Stockhausens bekanntesten Stücken und ist (oder besser gesagt: war zu seiner Zeit wohl?) eines der am schwierigsten aufzuführenden: 4 MusikerInnen eines Streich­quartetts spielen bereits in den 1990er-Jahren in fliegenden Hubschraubern separat voneinander auf ihren Streichinstrumenten und werden live über Kameras und Mischpult zusammengespielt. Das Stück lief folgendermaßen ab: Ein Moderator, z. B. ein Tontechniker, stellt das Werk vor und erklärt seine technischen Aspekte. Die MusikerInnen werden auf den Monitoren gezeigt, wie sie mit ihren Streichintrumenten zu den Hubschraubern gelangen und dort einsteigen. Die 4 Hubschrauber heben ab, die Kamera im Hubschrauber zeigt in einer festen Einstellung Spieler, Instrument, die Umgebung während des Flugs. Die gemeinsame Partitur wird gespielt. Die Rotorblätter fungieren als weitere Instrumente, deren Klang fügt sich in den Klang der Hauptinstrumente ein. Die Hubschrauber kreisen in einem Radius von etwa 6 km um den Konzertsaal. Sie wechseln ständig die Flughöhe, um klanglich und optisch einen modulierenden Effekt zu erzeugen. Etwa 20 Minuten. Eventuell das erste gemeinsame Musizieren per Video-Schalte. Bereits 1991 von den Salzburger Festspielen in Auftrag gegeben, erster Entwurf 1992, 1994 abgesagt, 1996 in Amsterdam uraufgeführt, 2003 in Österreich usw … Im Netz mit den einschlägigen Suchbegriffen zu finden, etwa unter Wikipedia.

„… nicht den Zusammenhang mit dem Leben verlieren“

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe Anarchist_innen und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Über die 1882 geborene Schneiderin und Anarchistin Vilma Ritschel schreiben in dieser Ausgabe Peter Haumer und Andreas Gautsch.

Vilma Ritschel, vom Gerichtszeichner porträtiert. Foto Open Commons

Im Dezember 1930 schrieb Leopold Spitzegger1 unter seinem Pseudonym L. Krafft-Wien im Fanal – Organ der Anarchistischen Vereinigung, herausgegeben von Erich Mühsam2, dass der Anarchismus in Österreich im letzten Halbjahr über ansehnliche Erfolge berichten könne. „Der angekündigte Zusam­menschluß der Opposition gegen Klosterneuburg (gemeint ist Rudolf Großmann3, der in Klosterneuburg lebte), der der FANAL-Richtung nahestehenden Genossen, ist zustande gekommen. Ein Monatsblatt „Contra“ (Zuschriften und Bestellungen an Vilma Ritschel, Wien X, Rotenhofgasse 106, bisher 7 Hefte) erscheint vorläufig im Vervielfältigungsverfahren und bringt beachtenswerte Beiträge.“4

Wer war diese Vilma Ritschel, die Eigentümerin, Herausgeberin und Verlegerin der anarchistischen Zeitschrift Contra war? Die mit einer Gruppe Gleichgesinnter diese „neue Monatsschrift der anarchistischen Opposition in Österreich welche jeder antiautoritären Richtung dienen will“5 im ganzen deutschsprachigen Raum vertrieb?

Vilma Steinacher wurde am 6. Oktober 1882 in Wien als uneheliches Kind geboren, wuchs dann aber im Heimatort ihrer Mutter, in Reichenau an der Rax, auf. Später erzählte sie über sich: „Die Leute sagten, ich sei überspannt. Ich habe mir auch angewöhnt, Märchen zu erzählen, und war jähzornig.“6 Sie bezeichnete sich selbst als sehr empfindsam und wissbegierig. Nach dem Besuch der Volksschule erlernte sie das Schneider_innenhandwerk.

Im August 1902 heiratete Vilma in Stockerau den Ulanen-Wachtmeister und späteren Privatbeamten Gustav Ritschel. Mit ihm hatte sie den bereits im Februar 1902 in Stockerau geborenen Sohn Gustav Steinacher, legitimierter Ritschel. Als Vilma Ritschel ihn „unter dem Herzen trug, schoß auf sie ihr Stiefvater, aus Zorn über die Tochter, die sich den Ulanenwachtmeister Ritschel in den Kopf gesetzt hatte“, heißt es dann mehr als 20 Jahre später im Wiener Tagblatt, das am 17. Mai 1924 über eine handgreifliche Auseinandersetzung mit tödlichem Ausgang berichtete, am dem dieser Sohn Gustav beteiligt war – dazu aber weiter unten. Jedenfalls hatte sie mit ihrem Mann noch einen zweiten Sohn, Alfred, der jedoch mit fünf an Masern verstarb.

1904 übersiedelte Vilma Ritschel mit ihrer Familie nach Wien, wo sie als Hausnäherin tätig war. Sie wohnte zunächst in Wien-Erdberg, musste aber nach dem frühen Tod ihres Ehemannes nach Wien-Favoriten, Rotenhofgasse 106 übersiedeln, wo sie in unmittelbarer Nähe auch einen Schrebergarten in der Favoritenstraße besaß. Ihr Mann verstarb 1910 im 37. Lebensjahre an Schlagadernerweiterung, was auf seinen früheren Alkoholmissbrauch zurückgeführt wurde. Vilmas Sohn Gustav war damals acht Jahre alt. Als sie eine Stellung annehmen wollte, musste sie ihn zu seiner Großmutter Marie Grabner, die Gattin eines Eisendrehers war, bringen. Während der Kriegszeit kam er wieder zur Mutter nach Hause. Mit vierzehn Jahren musste Gustav eine Mechanikerlehre beginnen, obwohl er studieren wollte.
Gustav Ritschel hatte ein „abenteuerliches Proletarierschicksal“7. Er litt an offener Tuberkulose, und trotzdem war er immer wieder auf der Walz in Deutschland, Ungarn, Rumänien und Italien. Im Sommer 1919 ging Gustav Ritschel zur Roten Armee nach Ungarn,8 kurze Zeit darauf kehrte er wieder nach Wien zurück. Er nahm an den Betriebsbesetzungen in Italien 1920 teil – er arbeitete 6 Monate lang in einem Fiatwerk in Brescia in der Lombardei – und infolge des gescheiterten Generalstreiks im März 1921 ging er nach Wien zurück. Er bezeichnete sich selbst als Sozialisten, der die Russische Revolution verteidigte.

Vilma Ritschel weilte seit August 1922 wieder einmal als Hausnäherin und Wäscherin beruflich am Semmering. Während dieser Zeit kam es in ihrer Wohnung in der Rotenhofgasse zu einer tödlichen Auseinandersetzung ihres Sohnes mit dessen Untermieter, dem Studenten Robert Staudacher aus Bozen. Nach Aussage von Gustav stritten sie sich beim Schachspiel über die Russische Revolution, die der Student verurteilte, Gustav hingegen verteidigte. Staudacher, der Mitglied der Studentenverbindung „Eisen“ war, verhöhnte Gustav und ging auf ihn los, der ihn daraufhin mit einem Gewehrkolben erschlug. Das ist – kurz zusammengefasst – die Version von Gustav Ritschel. Die Geschworenen jedoch befanden ihn einstimmig schuldig einen meuchlerischen Raubmord begangen zu haben. Gustav Ritschel wurde am 16. Mai 1924 zu 18 Jahren schweren Kerkers verurteilt.

Vilma Ritschel trat bei dem Prozess gegen ihren Sohn als Zeugin auf. Im Prozessbericht des Neuen 8 Uhr Blattes wurde sie als eine nervöse Frau beschrieben und als „eine schlanke, zarte Frauengestalt. Der hübsche Kopf ist von blondem Haar umrahmt. Mutter und Sohn sehen sich sehr ähnlich. Sie betont auch in ihrer Aussage mehrmals, daß er so wie sie sehr empfindsam sei.“

Mitte der 1920er Jahre stieß Vilma Ritschel zur anarchistischen Bewegung. Die dominante Persönlichkeit zu dieser Zeit war der bereits erwähnte Pierre Ramus. „Sein“ Bund herrschaftsloser Sozialisten hatte nach Eigenangaben zu dieser Zeit über 4.000 Mitglieder. Ramus rigorose Haltung in der Gewaltfrage führte jedoch zu Konflikten innerhalb der anarchistischen Bewegung und schließlich zur Gründung der oppositionellen Gruppierung Contra. Diese war gegen einen rein gewaltfreien Anarchismus und gegen die herrschende gesellschaftliche Ordnung. Vilma Ritschel dürfte eine der treibenden Kräfte gewesen sein, zumindest war sie neben dem Redakteur Oskar Grünwald die Hauptverantwortliche für die gleichnamige Zeitschrift. Die erste Ausgabe der Contra erschien im April 1930, die letzte im September 1931. In den Beiträgen wurde sowohl die Situation in Österreich als auch in Deutschland diskutiert, hinzu kamen historische und theoretische Artikel. Als Autor_innen traten u. a. der Vagabund Artur Streiter, der Schriftsteller Rudolf Geist in Erscheinung, es gab auch übersetzte Artikel wie den von der japanischen Feministin Takamure Itsue.
Ritschel verlegte zudem die Schriftenreihe Propaganda Broschüre. Allerdings erschien nur ein Heft mit zwei Aufsätzen des französischen Anarchisten Élisée Reclus. Wie die Zeitschrift wurde auch die Broschüre auf einer Schreibmaschine getippt und mit einem Rotationsvervielfältiger von Ritschel selbst hergestellt. Lediglich die letzte Ausgabe der Contra wurde gedruckt, teilweise sogar in Farbe, was für einen größeren finanziellen Spielraum der Gruppe spricht. Da die letzte Nummer nicht als solche deklariert ist, dürfte das Ende der Zeitschrift so nicht geplant gewesen sein. Vilma Ritschel selbst verfasste insgesamt drei Artikel für die Contra.

Die Lebenssituation muss für Ritschel und die anderen der Gruppe schwierig gewesen sein. Die Wirtschaftskrise hatte bereits voll eingesetzt, die Arbeitslosigkeit war enorm, Banken gingen pleite und wurden gerettet, während der Staat an allen Ecken und Enden sparte. Dieses bis heute praktizierte Vorgehen kommentierte Ritschel im Artikel Rauf ma euer Gnaden, der in der 2. Nummer 1930 erschien: „Seitdem in Österreich der Staat saniert wurde, geht es begreiflicherweise dem Volke schlecht.“ Für die politisch, trotz Zugewinne bei den Wahlen in die Defensive geratene Sozialdemokratie hatte sie nur wenig übrig. Trotz ihrer Kampfrhetorik, so Ritschels Kritik, „wünscht sie gar nichts mehr, jetzt will sie nur hüten und bewahren, gegen etwaige Angriffe verteidigen. Damit darf sich eine Arbeiterbewegung nicht begnügen.“ Aber auch die anarchistische Bewegung hatte ihre Hochphase schon hinter sich und nur wenig Einfluss auf die Arbeiter_innenschaft. Daher wurde versucht, in der sich organisierenden Arbeitslosenbewegung an Einfluss zu gewinnen.

Im Artikel Vernunft und Herz in der Arbeitslosenbewegung vom Juni 1931 schrieb Ritschel, die sich als Revolutionärin verstand, über den Zwiespalt zwischen den partikularen, reformistischen Forderungen der Arbeitslosen und dem Bewusstsein, dass es einer radikalen und umfassenden gesellschaftlichen Veränderung bedarf. Ritschel sprach sich gegen eine instrumentalisierende Haltung revolutionärer Kräfte aus. Nur zu gern sehen diese „in den Massen der Notleidenden den Brennpunkt, von dem aus die ganze heutige Ordnung in Brand gesetzt werden kann“. Sie plädierte für Solidarität. „Hunger tut weh. Helfen und unterstützen wir die Anstrengungen der Arbeitslosen um nicht den Zusammenhang mit dem Leben zu verlieren.“ Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Hans Detter engagierte sie sich in dem 1931 gegründeten „Selbsthilfeverband der Arbeitslosen Österreichs“.

Selbst arbeitslos geworden zog Vilma Ritschel 1934 in ein Gartenhaus in Wien-Donaustadt, wo sie sich als Subsistenzbäuerin betätigte. Aus ihrem weiteren Leben ist wenig bekannt. Sie überlebte die NS-Zeit und es gibt Hinweise, dass sie sich auch nach dem Krieg in den kleinen anarchistischen Kreisen bewegt hat. Am 26. 12. 1960 verstarb sie in Wien.

 

1 Leopold Spitzegger (24. 12. 1895 – 15. 11. 1957; Pseudonyme: Leopold Egger, L. Krafft-Wien) war Bibliothekar, anarchistischer Publizist und Dichter.

2 Erich Kurt Mühsam war ein anarchistischer deutscher Schriftsteller, Publizist und Antimilitarist. Er war 1919 an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt, wofür er zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt wurde, aus der er nach 5 Jahren freikam. 3 Rudolf Großmann (15. 4. 1882 – 27. 5. 1942; Pseudonym: Pierre Ramus) war ein österreichischer Anarchist und Anhänger von Leo Tolstoi.

4 Fanal, Jg. 5, Nr. 3, Dezember 1930, S. 62.

5 Fanal, Jg. 5, Nr. 10, Juli 1931.

6 Arbeiter-Zeitung, 17. 5. 1924

7 Die Stunde, 16. 5. 1924, S. 2.

8 Die Ungarische Räterepublik wurde am 21. 3. 1919 ausgerufen und bestand bis 1. 8. 1919. Mehr als 1200 Österreicher schlossen sich der ungarischen Roten Armee an, um die Räterepublik zu verteidigen.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.

Öffentlicher Raum

Foto Oona Valarie Serbest