Stadtblick

Foto Die Referentin

Billy

Plakat Ines Hanf

Drei Stunden hat er daran herumgewerkelt. Fast ist es fertig. Zwei Schrauben noch. Wo sind die Schrauben? Sauschrauben! Wo seid ihr?! Er sucht und flucht, aber fündig wird er nicht. Eine Wutader pulsiert auf seiner Stirn. Frucade. Er legt den Schraubenschlüssel aus seiner verschwitzten Hand auf den wackeligen Esstisch und geht zum Kühlschrank, nimmt sich eine 0,5 Liter Flasche und kühlt damit seinen Nacken, ehe er sie in einem Zug leert. Die Szene gäbe einen guten Werbespot ab, wenn er nicht blad wäre. In der Werbung findest du ja hauptsächlich Menschen, die von sich selbst sagen können, dass sie eine gute Masturbationsvorlage abgeben. Die Hornbach Werbespots bilden da eine Ausnahme. Obwohl, der Ai Weiwei ist erfolgreich, das macht bekanntlich auch geil. Nach der Aufnahme der flüssigen Zuckerbombe beruhigt er sich wieder. Das Objekt, an dessen Fertigstellung er durch den Fehler einer Maschine oder einer unterbezahlten Arbeitskraft gescheitert ist, wird von ihm mit einem großen schwarzen Müllsack abgedeckt, um es besser ignorieren zu können. Es ist für ihn an der Zeit sich zu entspannen. Gegen Stress hat bei ihm Pokémon noch immer am besten geholfen. Mit einem Level 86 Glurak ein Level 12 Taubsi wegfegen fühlt sich einfach gut an.

Elias Takacs

Wir stehen da wie aufgeregte Kinder, die gerade 50 verschiedene Ahornblätter gesammelt haben.

Amanda Burzic und Edgar Lessig über die im Oktober laufende Ausstellung Billy. Die Fragen zur Ausstellung und zum Regal hat die Referentin gestellt.

Billy ist der Titel der Ausstellung. Rosenholzstückchen formen den Namen am Plakat. Im Kurztext zur Ausstellung wird klar, dass es sich um Billy, das Regal handelt – und um einen Aufbau mit Schwierigkeiten. Was hat es mit dem Regal, das jeder kennt, auf sich?
EL: Das Billy-Regal ist ein simples, billiges und einfach aufzubauendes Regal und ist wahrscheinlich deshalb auch so berühmt geworden. Es fasst so viel zusammen, fast jede Person hat so ein Regal daheim stehen. Dort sind gesammelte Dinge drinnen, die alle gleich viel bedeuten. Das Regal verbindet sie miteinander, macht sie gleichwertig und plötzlich sehr intim.
AB: Es ist noch wichtig zu erwähnen, dass der Titel Billy dazu fungiert, die spezielle Intimität und den Witz der Ausstellung zu vermitteln. In der Ausstellung selbst wird kein Billy-Regal stehen. Matthias Tremmel wird eine Arbeit machen und darin die anderen Werke platzieren. Außer den skulpturalen Sitzmöbeln von Tina Graßegger und Alexandra Kahl. Unser kuratorischer Eingriff beschränkt sich also tatsächlich nur auf die Auswahl.
EL: Die Dinge im Regal sollen greifbar bleiben. Die gezeigten Kunstwerke brauchen eben keine weiße Galeriewand, die sie erhöht. Ich glaube, dass es nicht viele Arbeiten gibt, die sich in so einem Regal, mit Holzleisten und Plastikladen, beweisen können und dort immer noch ihre Intimität bewahren.

Billy als Titel hat ja auch etwas ungemein Persönliches. Vom „Du“ des gewissen Möbelhauses bis zu einem möglichen Billy als Person … Jedenfalls: Das Regal fasst in seinem Gebrauch oft Dinge zusammen, die so nicht unbedingt zusammengehören, kann quasi auch eine „unsaubere“ Sammlung abbilden. Diese persönliche Auswahl, die sich im Laufe der Zeit bildet, kann einem dafür umso teurer sein?
AB: Die Individualität, die der Titel vermittelt, ist ausschlaggebend in der Hinsicht, dass die Ausstellung nicht einfach eine Sammlung ist, sondern diese Auswahl eine Persönlichkeit bekommt. Die Auswahl wird zu einer subjektiven Auswahl. Wir haben Kunstwerke ausgesucht, die uns im Moment beschäftigen und gefallen.
EL: Es war uns aber auch ein Anliegen, Kunst auszuwählen, die in ihrer Machart sehr persönlich zu sein scheint, und so eine ganz bestimmte intime Qualität hat. Es stimmt, dass diese Dinge zusammengewürfelt wirken, aber nur äußerlich oder ästhetisch. Die Intimität der Arbeiten ist der rote Faden. Also willkürlich ist es dann doch wieder nicht.

Waren zuerst die KünstlerInnen und dann die Themen? Beziehungsweise: Was ist euch beim Ausstellungsmachen aktuell wichtig? Und: Wer oder was würde nicht in ein Billy-Regal passen?
AB: Bei unserer zweiten Ausstellung haben wir viel intensiver über das Thema gesprochen, bevor wir überhaupt einen Pool an möglichen Künstler*innen hatten, als bei der ersten. Generell läuft das bei uns aber parallel ab.
EL: In der Vorbereitung war auch unsere Einstellung zum Ausstellungsmachen sehr wichtig. Dass die Veredelung der Arbeiten durch einen Galerieraum momentan sehr überflüssig wirkt.
AB: Die einzige Möglichkeit, unserer Meinung nach, momentan eine Ausstellung zu machen, ist sich dieser Veredelung zu verweigern. Das Regal stellt keine Behauptungen auf. Wir stehen da wie aufgeregte Kinder, die gerade 50 verschiedene Ahornblätter gesammelt haben.
EL: Im Endeffekt passt alles in ein Billy-Regal. Wenn eine Arbeit gerade nicht in unser Regal passt, dann passt es in ein anderes. Wenn wir Billy ein halbes Jahr später machen, dann sind wieder andere Arbeiten dabei.

Arbeiten von euch beiden sind nun nicht in der Ausstellung zu finden. Wer seid ihr als KünstlerInnen? Woran arbeitet ihr, was treibt euch an?
AB: Neugierde, Humor und die Sprache in jeglicher Form. Ob sie nur als Metapher fungiert, als ein verblasstes Symbol oder als Witz. Wenn man mit einer Ehrlichkeit herangeht, kann man machen was man will. Das ist wahnsinnig frustrierend und gleichzeitig wahnsinnig erfüllend. Es gibt nicht viele Felder, in denen man angehalten ist, komplett ehrlich zu sein. Die Dinge, die ehrlich von mir kommen und ehrlich motiviert sind, sind die Dinge, die mir am meisten bedeuten.
EL: Ideen formulieren finde ich toll; und diese Ideen dann verweben zu können, wie man es woanders nicht machen könnte. Ohne alles genau erklären oder zu einem Ziel kommen zu müssen. Wenn ich ehrlich bin, könnte ich sicher auch was anderes machen. Aber ich wollte Kunst machen, weil mich die Freiheit der Kunst angezogen hat. Als ich mich so richtig mit ihr beschäftigt habe, ist mir die Kunst wichtig geworden. Das treibt mich an, weiter zu machen.

Also mich würde dann noch euer Name interessieren: Wieso eigentlich Wanja Hack? Und ich will wissen: Was ist die Frage, die ihr euch im Zusammenhang mit Billy jeweils gegenseitig stellen würdet? Oder euch vielleicht sogar auch NIEMALS stellen würdet?
EL: An dem Namen ist spannend, dass die Person Wanja Hack unglaublich präsent ist, weil der ganze Kunstraum nach ihr benannt ist, und gleichzeitig total irrelevant, weil sie nicht existiert. Ich würde gern wissen, was in deinem privaten Billy-Regal steht.
AB: Eine täuschend echt aussehende Schwedenbombe aus Gips, eine Schatulle mit Streichholzschachteln, die ich sammle, und bis vor kurzem ein gerahmtes Porträt von Rihanna. Und bei dir?
EL: Ein Chili Con Carne „Höllenfeuer“, ein Shotglas mit Eierschalen und eine gerahmte Fotocollage vom Fußnagel-Pilz einer Freundin.

BILLY
Ausstellung
Eröffnung: 07. Okt.
Dauer: 08. – 21. Okt.  
Kunstuniversität Linz
Hauptplatz 8  

Wanja Hack
www.wanjahack.com

Digitalia Theater: Ephemer, exklusiv, jetzt.

Was Corona mit der deutschsprachigen Theaterwelt auf jeden Fall gemacht hat, ist die so genannte Streaming-Debatte vom Kopf auf die Füße und als Tatsache in die Realität gestellt zu haben. Theresa Gindlstrasser reflektiert Erfahrungen mit Theater-Onlineformaten, die während des Lockdowns gelaufen sind.

Theater im Netz: Statt Applaus ohne Ende rauchen. Foto Elisabeth Schedlberger/Thomas Scharl

Es war einmal Anfang März. Da war ich auf Kampnagel. Auf dem Gelände des internationalen Produktionshauses in Hamburg sollte eine Weiterbildungs-Akademie betreffs Zeitgenössischer Theaterjournalismus stattfinden. Inklusive vieler Theaterbesuche. Aber dann kam es, wie es kam – und zwar Lockdown. Wir sprachen mit verzweifelten Künstler*innen, besichtigten leere Hallen und eine letzte, allerletzte Vorstellung, waren irgendwann dann gefühlt alleine am riesengroßen ehemaligen Maschinenfabrik-Areal und drehten Samstagabend, den 14. März, die Lichter hinter uns ab. Wir Theaterjournalist*innen waren nicht minder verzweifelt: Was ist denn bitte Zeitgenössischer Theaterjournalismus ohne Theater? Und die darauffolgenden Fragen zwei und drei: Was schreiben? Wovon leben?

Frage Nummer drei, die ökonomische, bleibt weiterhin bestehen. Aber das Theater ist ja ein Fuchs. Oder ein Phönix. Was in Linz umso mehr stimmt, aber in dem Fall meine ich nicht das Linzer Theater, sondern die Auferstehung aus der Asche. Denn noch am selben Wochenende Anfang März startete das Online-Theaterportal Nachtkritik.de mit dem Streamen von Vorstellungen. Andere Häuser und Institutionen reagierten ebenso prompt. Was Corona mit der deutschsprachigen Theaterwelt auf jeden Fall gemacht hat, ist die „Streaming-Debatte“ vom Kopf auf die Füße bzw. als Tatsache in die Realität gestellt zu haben. Streaming-Debatte? Nun! Das Theater bildet sich, sehr zu Recht, was darauf ein, Live-Kunst zu sein. Ephemer, exklusiv, jetzt. Und ergänzte bis dato nur bedingt oder nur vereinzelt die Live-Präsenz um einen Stream. Diese Debatte besteht aber nicht ausschließlich aus ideologischen Bedenken. Ist doch die Rechtslage zwischen Theatern, Verlagen und Kunstschaffenden kompliziert und die Frage nach Tantiemen ökonomisch wichtig.

Seit 2013 veranstalten Nachtkritik.de und die Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin jährlich die „Theater&Netz“-Konferenz zu ge­nau diesen Themen. Dort wird, quasi zwischen Theatertreffen und Re:publica, über Möglichkeiten und Notwendigkeiten im Zusammenspiel von Darstellender Kunst und Digitalität diskutiert. Auch diese Veranstaltung konnte 2020 nicht in der geplanten Form stattfinden. Inhalt „Digitalität“ und Format „Live“ – das ging sich nicht aus. Stattdessen gab’s von 17. bis 19. April eine Veranstaltung namens Der erste Weltübergang-Hackathon. Theatermacher*innen, Game-Designer*innen und Hacker*innen arbeiteten sich auf Video- und Chatplattformen an der Frage ab: „Wie können wir uns auch online miteinander verbinden?“ Eine dazugehörige Website versammelt Ergebnisse, Ideen und Anknüpfungspunkte. Auf dass der Entwicklungsschub ein nachhaltiger sei.

In der Vorbereitung zu diesem Text kam es übrigens zu einem witzigen und wahrscheinlich paradigmatischen Moment zwischen der Redakteurin Tanja Brandmayr und mir. Der Mail-Verkehr ging ungefähr so: „Bitte beim Online-Hot-Shit trotzdem auf Linz und Lokalität achten“ – „Mir fällt kein Projekt ein, das während Corona von Linz aus ins Digitale gegangen wäre“ – „lokal und digital“ – „haha“. Genau das! Wenn das Theater sich ins Internet streamt, dann muss ich mir kein Zugticket checken, um diesen einen herausragenden Abend in Frankfurt, Zürich oder Bregenz sehen zu können, meine Kaufkraft und Mobilität werden nicht in Anspruch genommen, außerdem kann ich während des Schauens rauchen – es lebe die Demokratisierung der Zugänge zur Kunst! Oder ist das gar keine Demokratisierung, sondern bloß Ver-Nerd-isierung? Wer in Linz braucht denn bitte Theater in München?

Apropos München! Und das hier ist die Überleitung vom Streamen von vorgefertigten bzw. live übertragenen Bühneninszenierungen hin zu genuinen Online-Formaten, die während der Zeit des Lockdowns nicht minder prompt von den Rändern der Theaterwelt ins Zentrum der Aufmerksamkeit katapultiert wurden. Gro Swantje Kohlhof, Schauspielerin im Ensemble der Münchner Kammerspiele, startete kurz nach Einstellung des Spielbetriebs ihre vielteiligen „Hogwarts Exkursionen“. Per Zoom spielte sie, in ihrem Hamburger Kinderzimmer-Kleiderschrank sitzend, immer mittwochs um 18 Uhr „Harry Potter“ nach. Sie verwandelte die eigene Lockdown-Depression in Harrys Missmut bei den Dursleys unter der Treppe oder verzauberte ihre zwei Katzen plus Kuscheltier zum dreiköpfigen Hund. So schnell hatten die Münchner Kammerspiele ihren charmanten DIY-Online-Spielplan. Zu dem das Landestheater Linz zum Beispiel bis zuletzt nicht kam.

Ich bleibe, wenn schon nicht lokal, so zumindest in Österreich, wenn ich schreibe: Die für immersive Spiel-Anordnungen bekannten Gruppen Nesterval (aus Wien) und Planetenparty Prinzip (aus Graz) wanderten mit ihren Projekten während des Lockdowns mehr oder weniger problemlos ins Internet aus. Da wurde per Konferenzschaltung und über mehrstufige Fragerunden ein neuer sozialdemokratischer Hoffnungsträger gewählt. Oder über die Steuerung eines Live-Avatars ein Mordfall gelöst. Dagegen war das Burgtheater mit seiner Wiener Stimmung recht antiquiert unterwegs: Autor*innen schreiben, Schauspieler*innen spielen und User*innen sehen schnörkellose Videos. Halt alles nicht so geil wie Netflix. Und auch nicht so geil wie in Real Life. Wieso? Weil diese Texte, dieses Spiel und diese Ausstattung ein Live-Format 1:1 im Virtuellen versuchten. Weil leibliche Ko-Präsenz von Akteur*innen und Publikum, also die theatertheoretisch vielbeschworene Feedback-Schleife, vor dem Bildschirm so nicht funkt. Es funkt dann, wenn irgendeine Art von Interaktion stattfinden kann. Wenn es dem Geschehen da vorne auf der Bühne oder da drinnen im Netz nicht wurscht ist, dass ich da bin. Da gilt es, digitale Übersetzungen zu finden, für „ephemer, exklusiv, jetzt“. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Kollektive, die immer schon mehr mit dem Herstellen einer gemeinsamen (Gaming-)Situation als mit dem Darstellen eines bestimmten Handlungsablaufs beschäftigt waren, sich problemloser auf die in dieser Hinsicht verschärften Anforderungen von Theater im Internet einstellen konnten.

Der Online-Spielplan des Burgtheaters war aber umfassender als die genannten Videos. Am 12. Mai wurde unter #vorstellungsänderung zum Twitter-Theater­abend geladen. Heißt: Wir sollten twittern, als ob wir im Theater eine Vorstellung besuchen würden. Inklusive gestresstem Pinkeln beim Klingelzeichen und Hustenzuckerl-Raschlerei. Es war aufregend! Nämlich mein erster journalistischer Arbeitsauftrag seit Anfang März. Ich durfte eine Kritik schreiben, über einen „Theater­abend, der gar nicht stattfindet“, zu einem „Stück, das gar nicht existiert“, in einem „Theater, das gar nicht geöffnet haben darf“. Weil, es gab nämlich kein Theater oder besser gesagt: Das Theater entstand als Twitter-Gewitter, war der Entstehungsprozess selbst. Die Vorstellung, also die Theateraufführung, geschah als Vorstellung, also als Imagination. „Wir zusammen“, schließlich hieß es „Regie: Via Zusamm“, machten uns eine Vorstellung, nicht ausgehend von irgendwelchen vor uns hin gestageten Vorgängen, sondern andersherum: Indem wir vorstellten, stand es auf Twitter zu lesen und war also kein Fake. In diesem Absatz steht nun sehr oft „wir“– und darum ging’s bei #vorstellungsänderung auch ausdrücklich und darum geht’s im Theater ja immer: Dass das etwas ist, das „wir“, Akteur*innen und Publikum und Techniker*innen (undundund) gemeinsam tun.

Einzig offene Frage: Wie geht Applaus im Internet? Alleine vor dem Laptop in die Kamera klatschen fühlt sich vor allem bescheuert an, einfach die Konferenz-Schaltung beenden, den Live-Stream schließen oder aus Telegram aussteigen noch viel mehr. Zu applaudieren, das ist ja nicht nur Gradmesser der Publikumsgunst, das ist auch Rahmung des Ereignisses „Theater“. Beim Klatschen findet ein Übergang statt, von einer Art Wirklichkeit in die andere. Oder zumindest ist es der zeitliche Marker, an dem wir die Räumlichkeit verlassen. Eine Räumlichkeit, an der wir grade irgendwas gemacht, gedacht, gehört oder gesehen haben. Das Internet aber kann vergleichzeitigen und vergleichörtlichen: Ich muss nie aufhören zu rauchen. Was wäre dann ein adäquater Übergang? Ich weiß es nicht. Weiß aber schon, dass, als ich am 16. Juli zum ersten Mal wieder in einem Theatersessel saß, beim Applaus gar nicht aufhören wollte, weil mir die Selbstverständlichkeit bezüglich dieser spezifischen Bewegung während der vier theaterfreien Monate abhanden gekommen war.

Sowieso gibt es noch jede Menge anderer offener Fragen. Zum Beispiel: Und was nun? Die Salzburger Festspiele laufen als erstes Großereignis seit dem 1. und noch bis zum 30. August, zumindest bis zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Text schreibe, ohne Corona-Alarm. Feuilleton auf und ab wird dem Festival eine Leuchtturm-Funktion im Hinblick auf künftige Kunst- und Kulturveranstaltungen zugesprochen. Aber auch andernorts wird wieder gespielt. So richtig mit mehr oder weniger Sitznachbar*innenschaft. Und mit Einnahmen-Einbußen aufgrund von Zugangsbeschränkungen. Und mit Mehr-Aufwand aufgrund von Sicherheitsauflagen. Und mit auf längere Sicht durcheinander geworfenen Spielplangestaltungen. Und mit ungeklärten Ausfalls-Tantiemen-Vereinbarungen. Und mit Absagen für junge Theatermacher*innen zugunsten großer Kassenschlager. Und mit ganz viel Planungsunsicherheit.

Auch für den zeitgenössischen Theaterjournalismus, mit dem dieser Text ja begonnen hat, stellen sich Fragen: Wie lassen sich theatrale Feedback-Schleifen konsequenter in Kritiken einschreiben? Wie reflektiere ich Plexiglas-Visiere als Kostümbild? Wie bewahre ich meine Aufgeschlossenheit in Anbetracht all der Die Pest- und Decamerone-Bearbeitungen? Und werde ich das Adabei-Geraune im Foyer jemals wieder ertragen können? Ich werde! Weil, ich liebe diesen Scheiß. Ob „Hot-Shit“ oder „Festspiele“ – Live is life.

Tune in on 432 Hz

Meine Kolumne durchforstet die Bereiche Sport und Kultur. Die Überschneidung sehe ich derzeit an der Ent-Menschlichung in beiden Bereichen. Es gibt weder Sport-, noch Kulturveranstaltungen, so wie wir sie kennen, gewohnt sind und lieben. Menschen in Masken sitzen in weiten Abständen voneinander … Was für ein Bild für die KünstlerInnen auf den wenigen Bühnen! Die gesamte (Nacht-)Veranstaltungsbranche wird per Verordnung in die Knie gezwungen und bald zum Ausverkauf stehen. Martin Ho freut’s! Oder vielleicht kommen gleich Konzerne wie Disney oder MGM und beglücken uns mit ihrem Dreck.

Einst stärkte der Sport den Körper, nun verliert er seinen Status als gesundheitsfördernde Kraft. In Vor-Corona Zeiten wurde Ausdauertraining empfohlen. Für die Gesundheit und das eigene Leistungspotential: Je besser das Vermögen, Sau­erstoff aufzunehmen und an die Zielorgane zu transportieren, desto besser die Leistung, die Konzentrations- und Merkfähigkeit, Koordination, Regeneration, … desto besser der Schlaf.

Doch diese sportwissenschaftlichen Grundlagen einer ausreichenden Sauerstoffzufuhr sind seit dem Tag des Lockdowns nicht mehr dieselben. Die Menschen knallen sich Masken vors Gesicht und behindern somit ihre Atmung. Obwohl fehlender Sauerstoff bekanntlich ab circa 3 Minuten zum Tode führt. Außer bei geübten Apnoe-Tauchern, deren Rekord liegt bei 11:35 Minuten! Natürlich lässt die Maske Sauerstoff durch, genauso wie Viren, aber die Atmung ist behindert und führt zu einer Rückatmung von Kohlendioxid. Über kurz oder lang führt das im Alltag zu Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, verminderter Merkfähigkeit, gestörter Feinmotorik und einem generellen Abfall der Leistung. Leipziger Mediziner testeten mit Hilfe der Spiro-Ergometrie eine verstärkte körperliche Belastung mit unterschiedlichen Masken. Es stellte sich eine Verringerung des Atemvolumens, eine verminderte Ausatemgeschwindigkeit und eine deutlich reduzierte maximal erreichbare Kraft dar. Bei Anstrengung antwortete der Stoffwechsel mit einer schnelleren Ansäuerung des Blutes. Der pH-Wert steigt. Saures Milieu schafft optimale Bedingungen für Krankheitserreger. Die subjektive Wahrnehmung attestierte eine erhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlempfindens. Das alles wäre und ist ein Grund für mehr sportliche Betätigung.

Ausschlaggebende Leistungsparameter im Sport sind auch die psychologischen Fähigkeiten. Wir erinnern uns an die Olympischen Winterspiele 1998 in Nagano. Hermann Maiers Flug zum Olymp. Begonnen mit seinem spektakulären Sturz in der Abfahrt. Der Fotograf, der eigentlich in einer verbotenen Sperrzone stand, schoss das Bild seines Lebens. Es ging um die Welt. 72 Stunden später triumphierte „Herminator“ im Super-G. Mit dem folgenden Riesentorlauf-Sieg krönte er sich zum Doppel-Olympiasieger und machte sich unsterblich. Zumindest in der Sportwelt.

Die psychische Verarbeitungsfähigkeit des Sturzes, das Ausgeliefert-Sein, keine Kontrolle zu haben, nur wenig zur Situation beitragen zu können – und dann erneut Vertrauen und Fokus zu finden für das nächste Rennen in einem ruhigen Nervenmodus, darum geht es. Denn Angst sollst du nicht spüren im Leistungssport. Auch nicht im Alltag. Angst ist die ansteckendste Krankheit. Angst essen Seele auf. Du kannst der Angst entgegentreten, und hinschauen. Das eine entpuppt sich als Illusion. Das andere will losgelassen werden. Ätherische Öle helfen dabei. Beim Riechen wirken sie direkt ins limbische System, unmittelbar auf die Psyche. Ob du es spürst oder auch nicht. Es wirkt. Genauso wirkt Musik auf uns. Insbesondere wenn sie mit dem Kammerton A auf 432 Hz gestimmt ist. Das berührt unser Herz und wir gehen in Resonanz. Unser Herz beginnt zu schwingen und wir spüren das Menschsein. Schwingen, Singen, Springen, Tanzen, Lachen. Lausche, denn auch in dir ist die Kraft zu handeln mit der Weisheit deines Herzens!

 

Wandle deine Musik um in 432 Hz! Tune in on 432 Hz!
www.lotta-gaffa.at

Tipp:
www.fro.at/sendungen/strictly-female-music
Ab 6. September jeden 1. + 3. Sonntag von 15–17 h auf Radio FRO – „Strictly Female Music“ hosted by DJ Lotta Gaffa

!!! Es ghert vü mehr TANZT !!!

Stadtblick

Total Eclipse of our Hearts

Die Literaturzeitschrift PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb / Politisch Schreiben ist gegenwärtig eines der engagiertesten Vorhaben in der deutschsprachigen Literaturlandschaft, meint Andreas Pavlic. Er hat mit dem Redaktionskollektiv ein Interview über ihre Zeitschrift, die Illusion der Chancengleichheit im Feld der Literatur, das einsam schreibende Genie und über diverse Hefttitel geführt.

Andreas Pavlic: Eure Zeitschrift wurde ja vor 5 Jahren gegründet. Wie kam’s zur PS?
Redaktionskollektiv Politisch Schreiben: Die PS entstand, weil wir arg unzufrieden waren und die Kapazitäten hatten, was daran zu ändern. Erstmal im Kleinen für uns, später bald als Möglichkeit auch für andere.
2014 studierten zwei von uns schon länger am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) und empfanden zum einen eine Lücke im Sprechen über den politischen Kontext von Texten und zum anderen ein starkes Befremden demgegenüber, wie sich uns der Literaturbetrieb vorstellte – das war eine Zukunft, in der wir so nicht leben und arbeiten wollten. Deswegen haben wir eine Gruppe gegründet und andere kamen dazu.
Die erste Zeitschrift, sie erschien im Herbst 2015, war ein Wunder, und es war selbstgemacht. Wir waren sehr euphorisch, weil wir tatsächlich von vielen Menschen innerhalb und außerhalb des Betriebs die Rückmeldung bekamen, dass ein ‚Werkzeug‘ wie die PS bisher gefehlt hätte: Eine Zeitschrift, die explizit die Dynamiken des eigenen Umfelds einer kritischen Analyse unterzieht und gleichzeitig versucht, auf verschiedenen Ebenen (Textauswahl, Lektorat, Veröffentlichungsprozess, Netzwerkgedanke) andere, solidarische Räume der Zusammenarbeit aufzubauen.
Seither haben wir jedes Jahr im Oktober eine neue Ausgabe veröffentlicht, zwischendrin viele Lesungen und Workshops organisiert und versucht, mit dem stetig wachsenden Netzwerk ein Gefühl von Gemeinsamkeit gegen die Vereinzelung von Schriftsteller_innen zu setzen.

AP: In der ersten Ausgabe schreibt ihr, dass ihr ein feministisches bzw. queeres Kollektiv seid. Hat sich in der Selbstbeschreibung in den letzten Jahren etwas geändert?
PS: Nein. Das ist so geblieben. Wir verstehen uns weiterhin als feministisch und queer. Natürlich haben wir aber unser Selbstverständnis an sich erweitert. Unsere Rolle als Autor_innen wurde uns wichtiger hervorzuheben, ebenso wie das Lektorat. Als wir 2015 mit PS angefangen haben, war das mit feministisch und queer gerade gar nicht en vogue. Jetzt ist das ja anders und auch andere Zeitschriften, wie die Bella Triste, bewegen sich entlang dieser Selbstbeschreibung. Das finden wir gut, sofern es auch in der Umsetzung dann dem entspricht. Allzu oft verkommen ja Adjektive zu bloßen Behauptungen.

AP: Bei der letzten Heftpräsentation im Literaturhaus Wien habt ihr betont, dass PS ein Netzwerk ist. Warum benötigt man im Literaturbetrieb ein Netzwerk?
PS: Im Literaturbetrieb, so, wie er momentan gestaltet wird, ist es sehr schwierig, solidarisch zu handeln. Das liegt einerseits an den durch und durch kapitalistischen Produktions- und Distributionsverhältnissen, die oft durch das berühmte Qualitätsargument, aber auch durch die Illusion prinzipieller Chancengleichheit verschleiert werden: Es gibt soziale Zugangsbeschränkungen, die unsichtbar bleiben. Es fällt dann jeweils auf eine_n selbst zurück, wenn er_sie es nicht ‚schafft‘, also nicht wahrgenommen wird und auf der Strecke bleibt. Dass dabei Faktoren wie Erstsprache, Hautfarbe, habituelle Dispositionen, Geschlechtermarkierungen und auch der finanzielle Background eine objektiv messbare Rolle spielen, wird ausgeblendet. Einerseits. Andererseits basieren die Förderstrukturen, also Stipendien- und Preisvergaben, auf einem knallharten Konkurrenzprinzip: Jede_r tritt bei den Ausschreibungen gegen jede_n an und muss permanent die Eigenmarke pflegen, um symbolische und auch ökonomische Anerkennung zu erfahren.
Um diesen Mechanismen die Möglichkeit von solidarischen Beziehungen entgegen zu setzen, versteht sich PS auch als Netzwerk: Dabei geht es sowohl darum, sich gegenseitig zu unterstützen, Erfahrungen auszutauschen, offen über die jeweilige persönliche Situation zu sprechen, auf Ausschreibungen hinzuweisen etc., als auch darum, die Zugangsbeschränkungen und die Verschleierungsstrategien zu benennen und sichtbar zu machen.

AP: Es gibt ja landläufig eine recht dominante Erzählung. Literatur, das ist der einsame Autor, der in einem kontemplativen Zustand Wahrheiten über die Welt in prosaischer Weise hervorbringt. Mit dieser Vorstellung gehen sogar Literaturnobelpreisträger hausieren. Eure Vorstellung ist da eine andere. In der PS#2, die den Titel Genie wider Kollektiv trägt, seid ihr dieser Frage nachgegangen. Was wäre eure Gegenerzählung?
PS: Wir sehen da schlicht andere Realitäten. Dass Literatur nur einem Lebensmodell entspringen kann, ist doch Unsinn. Schreiben braucht Konzentration, klar. Heißt das, nur die, die über die meiste Zeit verfügen, können schreiben? Aus feministischer Sicht denken wir hier natürlich daran, dass sich Autoren historisch diese Zeit unter anderem damit geschaffen haben, dass Frauen für sie sämtliche Reproduktionsaufgaben übernommen haben. Im Wesentlichen besteht diese gesellschaftliche Arbeitsteilung weiter, daher muss es einerseits unser Ziel sein, literarische Texte von Menschen mit weniger Zeitvermögen – das sich vermutlich auch in der literarischen Form niederschlägt und Miniaturen, Erzählungen, Montageformen, fragmentarische Essays etc. hervorbringt –, vom Makel und der vermeintlichen Minderwertigkeit gegenüber dem Roman als markttauglichster Form zu befreien. Und andererseits müssen wir gesellschaftlich Zeitvermögen gleicher verteilen.
Zum Kollektiv: Einsame Genies werden nie wirklich etwas verändern. Ihr Ruhm als Solitäre gründet auf dem Status quo. Wenn im Betrieb etwa alle vereinzelt sind, spricht niemand über Geld, und so können sich Ungleichheit und Ausbeutung bestens reproduzieren. Wir von PS schreiben nicht ständig in Kollektiven, wir sitzen auch oft allein am Schreibtisch. Aber wir sind in permanentem Austausch mit anderen über das, was wir Schreiben – und darüber, unter welchen Bedingungen wir das tun.

AP: Was, denkt ihr, kann literarisches Schreiben, sei es Lyrik, Prosa, Drama oder auch Essays, was andere Formen nicht können? Warum sollte ich Literatur lesen? Eine Leserin könnte sich denken: Ich lese schon die Referentin, eine Onlinezeitungen und hin und wieder ein Sachbuch. Warum auch noch eine mir nicht geläufige Schriftstellerin, die vielleicht in einem wenig bekannten Kleinverlag publiziert?
PS: Literarischem Schreiben haftet etwas Elitäres an. Die Debatten um Literatur sind es auch oft. Das kann abstoßend wirken. Oder man denkt: Es ist unnötig. Wozu soll ich das lesen? Ich persönlich lerne als Leserin ungeheuer viel über Menschen, wenn ich literarische Texte lese. Darin, wie sie schreiben, wie sie Sprache verwenden, über was sie schreiben, und was sie in ihren Texten auslassen. Es ist so subjektiv und sagt darin oft so viel über die Welt aus. Bei Kleinverlagen fallen auch zahlreiche elitäre Schranken weg (nicht alle, natürlich, und nicht immer) – es gibt viel zu entdecken, was jenseits des genormten Mainstreams liegt. Und Sprache und Imagination, welchen Ersatz gibt es dafür?

AP: Jede Ausgabe der PS hat einen inhaltlichen Schwerpunkt. In der ersten seid ihr der Frage nach Konkurrenz & Kanon nachgegangen, in der dritten ging es um das Thema alter. Die letzte Nummer hatte den Titel Total Eclipse of our Hearts. Ich denk da natürlich sofort an Bonny Tylers Hit. Was hat es mit der totalen Finsternis der Herzen auf sich?
PS: Ohja, es war finster in uns. Die Ausgabe zuvor, ‚alter‘, wog gefühlt einen Zentner und es war ein Jahr mit vielen internen Auseinandersetzungen gewesen. Wir hatten uns also arg übernommen, waren ausgelaugt und wussten, das soll sich nicht wiederholen. Gleichzeitig wollten wir natürlich unbedingt die nächste Ausgabe angehen und die beginnt bei uns immer direkt am Tag nach der letzten Release-Feier. In dieser heiter-zerknüllten Stimmung entschieden wir, dass die kommende Ausgabe das Lustvolle, das Gelingende zum Thema haben sollte – damit auch wir daraus wieder neue Energie ziehen können. Um aber gleichzeitig für notwendige Kritik und die anstehenden Veränderungen nicht blind zu werden, entschieden wir uns im Laufe der Monate für diesen ambivalenten Titel und somit auch, augenzwinkernd, für diese Ballade von Bonnie Tyler – oh, es gab so manchen Abend, wo wir auf dem Boden knieten und aus voller Kehle krächzten every now and then I fall ap-aaa-art! Aber immer folgte auch: Together we can take it to the end of the line.

AP: Was erwartet uns in der nächsten PS?
PS: Die Zeitschrift gliedert sich in einen Themen-Teil mit Essays und Gesprächen und einen vom Heftthema unabhängigen literarischen Teil, in dem alle Genres vertreten sind. Im Themen-Teil der nächsten Ausgabe, die im Oktober 2020 erscheinen wird, geht es um das Prosadebüt: Wir haben uns mit jenen Mechanismen beschäftigt, die in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass das Prosadebüt im deutschsprachigen Raum zusehends an symbolischer, aber auch an finanzieller Bedeutung gewonnen hat – was nicht unbedingt immer ein Vorteil für Autor_innen oder für kleinere und mittlere Verlage sein muss. Wir haben dazu eine Umfrage mit Autor_innen und Verlagen konzipiert und ausgewertet, ein langes Gespräch mit einer Verlagsleiterin und Lektorin, einer Autorin und einem Kritiker geführt. Wir bringen außerdem Essays, die sich mit ganz unterschiedlichen Facetten des Debüts befassen.

AP: Für alle, deren Interesse nun geweckt wurde. Wann kann man euch das nächste Mal live sehen und wie (und wo) kommt man zu einer PS?
PS: Am 19. September im Kulturraum Spitzer, am 24. September im FLUC , beide in Wien und am 24. Oktober in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut. Auch bei den Kritischen Literaturtagen, von 5.–8. November in Wien wird PS vertreten sein. Die Zeitschrift kann über unsere Homepage bestellt oder in ausgewählten Buchhandlungen, die auf der Homepage angeführt sind, bezogen werden.

 

www.politischschreiben.net

Die vielen Nebenflüsse der sozialistischen Bewegung

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe AnarchistInnen und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Über den 1865 geborenen ‚Sammler und Historiker des Anarchismus‘, über Max Nettlau, schreibt in dieser Ausgabe Andreas Gautsch.

„Nettlau (Max; geboren 30. April 1865 in Neuwaldegg, bei Wien), freiheitlicher Sozialist ohne öffentlichen Wirkungskreis, kleinen Kreisen bekannt als Bearbeiter historischen sozialistischen Materials, Sammler derartiger Dokumente und Druckwerke im weiteren Umfang, die im I[nternationaal] I[nstituut voor] S[ociale] G[eschiedenis] konserviert sind, und auch als Vertreter mancher von der Routine abweichender Anschauungen, was sich alles aus seiner eigenen Entwicklung erklärt.“1 So beginnt Max Nettlau im März 1940 die Schrift Biographische und Bibliographische Daten, die er für die Bibliothekarin Adama van Scheltema-Kleefstra am erwähnten IISG in Amsterdam verfasste. Drei Sachen lassen sich in diesem kurzen Auszug herauslesen. Nettlau war ein Historiker der sozialistischen Bewegung, hatte eine größere Sammlung aufgebaut und liebte das Understatement. Letzteres lässt sich auch an seinem Werdegang und politischen Auffassungen zeigen. Dass Max Nettlau überhaupt zur Geschichtsforschung kam, war zumindest von seinem Studium her nicht vorgesehen. Er studierte indoeuropäische Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt der keltischen Sprache, ab 1882 in Berlin und promovierte dort über die cymrische Grammatik. Ab 1885 führten ihn seine Forschungen immer wieder nach London, wo er auch in Kontakt mit der sozialistischen Bewegung kam. Knapp 15 Jahre zuvor hatte sich die sozialistische Bewegung an den Fragen nach Zentralismus oder Föderalismus und der Haltung gegenüber der Staatsmacht gespalten. Vor allem, nachdem die autoritäre Richtung mit Karl Marx als ihrem bekanntesten Vertreter, die Antiautoritären, für die u. a. Michael Bakunin stand, ausschloss.

Auf der Suche nach den anarchistischen Nebenflüssen
Nettlau trat für die antiautoritäre oder anarchistische Seite ein und begann Ende der 1880er Jahre erste Artikel über die Entstehung dieser Bewegung zu verfassen und ihre Geschichte zu studieren. Für Marx hatte er wenig Bewunderung übrig, er verabscheute „den totalistischen Sadismus und Grössenwahn von Marx und Engels, die sich (…) einbildeten, eine für alle Zeiten geltende Formel des Sozialismus gefunden zu haben und daraufhin alle anderen Sozialisten ihr Leben lang bekämpften und zu vernichten suchten und sie mit Ausnahme ganz weniger mit Geringschätzung oder Verachtung behandelten.“2
Nettlaus Vorstellung von sozialistischer Bewegung war eine ganz andere, „an Stelle des nacheinander und statteinander (wobei immer einer den andern erschlägt und sich an seinen Platz setzt) das nebeneinander (sic!), das Zusammenleben (convivance), das Platz für Alle (…)“3, was sich auch in der Gestaltung seiner Sammlung wieder findet. Grob gesagt sammelte er alles, was er bekommen konnte, Zeitungen, Zeitschriften, Pamphlete, Flugblätter, Briefe – und er führte viele Gespräche mit Zeitzeugen. Nur die Klassiker, die in jeder Bibliothek zu finden waren, die sammelte er nicht. In seinem Fokus lag nicht die Hauptströmung des Sozialismus, sondern die vielen Nebenflüsse. In einem Brief an den Anarchisten Siegfried Nacht erklärte Nettlau seinen Ansatz folgendermaßen: „Ich hatte immer Sympathie für die schwächeren, nicht erfolgreichen Sachen, und so war mir nichts auf diesem Gebiet zu gering, ohne dass ich persönlich die Kleinigkeiten überschätzen würde. Ich strebte nie nach der Einheit, freute mich über jede Verschiedenheit, und das kam der Sammlung zugute, die, sagen wir, das sozialistische Flusssystem bis zu den geringsten Bächen hinauf nach Möglichkeit verfolgt und den sich im Sand verlierenden Steppenflüssen und den von Felsen verschlungenen, aber doch anderswo wieder auftauchenden Karst-Flüssen.“4
Was noch hinzukommt und die Sammlung im Laufe der Jahrzehnte so spektakulär und einzigartig machte: Sie war international! Und so waren auch seine Forschungsarbeiten. Sein erstes großes Werk war eine umfangreiche Bakunin-Biografie – die er von 1892 bis 1900 schrieb. Jedoch fand er für diese Arbeit keinen Verlag und deshalb ließ er 50 handgeschriebene Exemplare drucken und verschickte diese an mehrere europäische Nationalbibliotheken und Freunde wie Gustav Landauer und Petr Kropotkin. Auch wenn in der Folge seine Bakunin-Biografie im geringen Umfang in Englisch, Spanisch und Deutsch erschien, ist das charakteristisch für die Forschungsarbeiten von Nettlau. Neben seinen großen biographischen Büchern über den italienischen Anarchisten Enrico Malatesta oder den französischen Elisée Recluss sind viele seiner Arbeiten verschollen, ungedruckt geblieben und im besseren Fall in der ganzen Welt verstreut in den verschiedensten anarchistischen Zeitschriften. Sein Hauptwerk, eine auf sieben Bänden angelegte Geschichte der Anarchie ist bis heute noch nicht vollständig erschienen. Zu Lebzeiten wurden nur die ersten drei Bände gedruckt und die handschriftlichen Manuskripte von Band 6 und 7 liegen bis heute unveröffentlicht im IISG in Amsterdam.

Wie man sein Erbe Sinnvoll durchbringt
Die Frage, die in diesem Zusammenhang von Interesse ist: Wie konnte sich Max Nettlau ein Leben in einem nicht gerade lukrativen Geschäft wie Anarchismusforschung und Sammlung von Sozialistika leisten? Die Antwort ist recht einfach: Eine Erbschaft. Sein 1892 verstorbener Vater hinterließ ihm ein Vermögen von 50.000 Goldfranken. Von den Zinsen dieses Kapitals hatte er einen jährlichen Etat, der ungefähr 3 Mal so groß war wie das Jahresgehalt eines Zeitungsredakteurs, wobei er die Hälfte des Geldes für Bücher und Miete ausgab und die andere Hälfte für (Forschungs-) Reisen und Lebenserhaltung. Nach dem 1. Weltkrieg schrumpfte auf Grund der einsetzenden Inflation sein Vermögen gegen Null und Nettlaus Lebenssituation änderte sich drastisch. Der „kapitalistische Nichtstuer“5, wie er sich selbst bezeichnete, hatte nun ein Einkommen von einem Drittel oder Viertel eines ungelernten Taglöhners6. Sein Versuch, beruflich Fuß zu fassen, um zu geregelten Einnahmen zu kommen, scheiterte. Übrig blieben ihm seine publizistischen Tätigkeiten und die Zuwendungen von Freund_innen und Genoss_innen. Denn auch die Sammlung mit ihren Depots in Paris, München und London verschlang weiterhin Geld. Sie hatte einen enormen Umfang eingenommen, wie Nettlau 1920 berichtete:
„Anarchistisches, Bücher und Broschuren: 3.200; Zeitschriften: 1.200; Freiheitliches (dabei auch der revolutionäre Teil des Syndikalismus etc.): 1.300 Druckwerke und 600 Zeitschriften;
Sozialistisches: 10.500 Druckwerke und 2.750 Zeitschriften; Sozialreform: 2.000 Druckwerke und 2.300 Zeitschriften; Politisch-Radikales etc.: 13.000 (inkl. die Zeitschriften). Das gibt 36.850; – dazu mehrere tausend weniger prononzierte Literatur, wodurch 40.000 erreicht, wenn nicht überschritten wird. Dazu dann die tausenden kleineren Sachen. Dabei sind mehr als 10.000 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, von denen teils einzelne Nummern, teils sehr viele oder alle Nummern, manchmal ganze Kisten voll, vorhanden sind;“7

Der Weg der Sammlung nach Amsterdam
Auf Grund Nettlaus prekärer Lebenssituation wurden die Überlegungen, die Sammlung an einen sicheren und guten Ort zu bringen, immer dringlicher. 1925 zeigte das Moskauer Marx-Engels-Institut Interesse an seiner Sammlung und bot ihm Geld sowie einen Arbeitsort für seine Bakuninstudien. Nettlau lehnte ab. 1928 verkaufte er an den holländischen Historiker N. W. Posthuums, jedoch im letzten Moment trat Nettlau vom Verkauf zurück. Es sollten weitere sieben Jahre vergehen, bis er sich von seiner geliebten Sammlung trennen konnte. Im buchstäblich letzten Augenblick, bevor Faschismus und Krieg sie zerstören konnten, verkaufte er seine komplette Sammlung ans IISG in Amsterdam. 1937 konnte er sie dann zum ersten Mal in ihrem vollständigen Umfang sehen und er zeigte sich mehr als zufrieden mit dem Ergebnis. Ein Jahr später übersiedelte Nettlau selbst nach Amsterdam und arbeitete bis zu seinem Tod 1944 an seinen Me­moiren und an der Erschließung seines un­geheuren Nachlasses, der heute zwar digitalisiert und online abrufbar, aber immer noch nicht vollständig aufgearbeitet ist.
Rudolf Rocker, ein großer Bewunderer von der Person Nettlau und seinem immensen Wissen, erzählt in seiner Biographie, die er über ihn verfasste, folgende Anekdote, die einiges über das Selbstverständnis und die Selbsteinschätzung dieses ungewöhnlichen Forschers der Anarchie zeigt. „Ach nein, lieber Rocker, wir wissen alle nicht viel und lange nicht genug, und gerade wenn die Zeit unserer besten Erfahrungen beginnt und wir das Beste leisten könnten, stellt uns der Tod ein Bein und macht Schluß mit unserer ganzen Weisheit. Deshalb müssen wir zusammentragen, was möglich ist, damit andere daran weiterbauen können. Dabei wird es, glaube ich, ohne Gelächter nicht abgehen, wenn jene anderen unser angebliches Wissen unter die Lupe nehmen und vielleicht gar nicht begreifen werden, weshalb wir so viel Hirnschmalz darauf verwendet haben.“8
Es wird wohl auch noch einiges an Hirnschmalz notwendig sein, um Nettlaus Nachlass umfassend aufzuarbeiten.

 

1 Max Nettlau: Biographische und Biblographische Daten von 16–18. III. 1940, in: Geschichte der Anarchie. Ergänzungsband, S. 21

2 Ebd. S. 25

3 Ebd. S. 24

4 Maria Hunink: Das Schicksal einer Bibliothek, Max Nettlau und Amsterdam’, in: International Review of Social History Vol. 27 (1982) 4–42, S. 9

5 Ebd. S. 12

6 Ebd. S. 12

7 Rudolf Rocker: Max Nettlau, Leben und Werk des Historikers vergessener sozialer Bewegung, Berlin, 1978, S. 229

8 Ebd., S. 220 Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.

Falling

Foto Snookerookians

Markthalle 9 oder Neu?

Der Slowdude macht mal Linz gegen Berlin. Diesmal beschäftigt er sich im weitesten Sinn mit der Vorstufe zum lukullischen Genuss – nämlich der Beschaffung guter Basisprodukte in gewogenem Umfeld. Der Grünmarkt in Urfahr war ein nicht besonders ansehnlicher, aber dennoch netter Fixpunkt im Urfahraner Zentrum. Seine Anmutung als riesige Waschbetonplatte mag nicht allen BesucherInnen gefallen haben, war aber dennoch sehr unique. Und hat in ferner Vergangenheit stets an die Nähe zum eisernen Vorhang gewarnt – wenn auch nur architektonisch. Wenn der Slowdude an das alte Setting zurückdenkt, sind schon einige Tote darunter. Im wahrsten Sinn. Der nette und etwas schrullige Gemüsehändler, der leider vor einigen Jahren verstorben ist und die kooperativen Abgelebten, nämlich die Bäckerei Knott und die Fleischhauerei Lackinger. Ewig schade um Setting und AkteurInnen. Dann kam um 2012 die „Neugestaltung“ und damit wie so oft der Aderlass von Charme, Leben und Wirkung. Eine flache und eine nicht ums Verrecken entstehende Kooperenz der BetreiberInnen, ein Kommen und Gehen der MieterInnen und hilflose Versuche der Wiederbelebung. Und das ist wahrlich kein Vorwurf an die vergangenen oder aktuellen MarktbeschickerInnen oder die Gastro vor Ort. Die bemühen sich und kämpfen auf sich gestellt tapfer weiter und bieten auch feine Sachen! Zur gleichen Zeit – um 2011 – wurde in Berlin die Markthalle IX oder 9 zum Leben erweckt. Seitdem mit gemischtem Angebot. Nahversorger, Bauern aus dem Umland und Hipster, die Burger, Craftbeer und weitere Waren feilbieten. Auch ein Konzept, das nicht ohne Kritik auskommt. Tourismus-Overload, zu teuer, zu überfüllt und so weiter. Aber dennoch vibrant und bunt. Und im Kern das, was es behauptet zu sein: Ein Markt. Der Unterschied der beiden Ausformungen lässt sich schon auf den städtischen Websites erkennen. Die Stadt Linz so: „Grünmarkt Urfahr – Der Markt im Zentrum von Alt-Urfahr-West. Gastronomie und Lebensmittel.“ Und die Stadt Berlin so: „Markthalle Neun Berlin-Kreuzberg. In der historischen Markthalle bieten Händler vorrangig faire, ökologisch und regional erzeugte Lebensmittel an.“ Die kritische LeserInnenschaft vermutet hier vielleicht zwar Haarspalterei oder gar böse Vibes gegen arme Website-Content-Kreateure, aber der Dude möchte es gerade an diesen kurzen und simplen Texten festmachen. Linz macht es sachlich und Berlin fokussiert das Regionale und Ökologische. Und da ist genau der Hund begraben. Das zuständige Amt der Stadt Linz hat den Grünmarkt etwas uninspiriert verwaltet und in Berlin hat eine private Initiative das Heft in die Hand genommen und die Neuausrichtung konzipiert. In Linz ist jetzt Ähnliches geschehen – zwar unter politischem Kuratel – aber der Dude möchte ja nicht als Miesepeter enden. Geben wir der Neuausrichtung eine Chance. Ein Biobauern-Verband soll die Bespielung übernehmen. Grundsätzlich sehr positiv. Weil eine lokale bzw. regionale und biologische Ausrichtung versprochen wird. Platz sollte aber auch für die alten BeschickerInnen sein (Gemüsebauern, Gastro, Bäckerei …) und auch diverse Gastroangebote wie den aktuell vor Ort platzierten Foodtruck. Nicht wieder alles neu und am Reißbrett gestaltet. Vorhandenes ist Substrat für Neues! Wichtig ist, dass nicht zu uniform und markenverbohrt gedacht wird, sondern die Vielfalt von Linz und dem Umland, der Region und der Kulturen der Stadt manifest werden. Potential hätte der Markt mit seiner Lage. Für BewohnerInnen und BesucherInnen, für HändlerInnen und LandwirtInnen – als Ort guter Qualität und saisonaler Angebote. Und auch als Raum zu verweilen, jemanden zu treffen und zu schauen. Alle guten Attribute eines schönen Marktes wünscht der Dude dem Grünmarkt. Möge es gelingen!

Das gepanzerte „Wir“

Stephan Roiss steht auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises und hat für seinen damals noch unveröffentlichten Debütroman auch schon zwei Förderpreise bekommen. Kürzlich ist das Buch mit dem markanten Titel Triceratops erschienen. Es erzählt von einer Kindheit und Jugend, die durch familiäre Verstrickungen und Hypotheken belastet ist. Silvana Steinbacher mit einer Annäherung an das Buch und den Autor in sechs Fragestellungen.

WORUM geht’s in Triceratops?
Eine Familie im Ausnahmezustand: Die Mutter wechselt zwischen Aufenthalten in der geschlossenen Anstalt und dem Bemühen, zu ihren Kindern ein liebevolles Verhältnis aufzubauen. Der Vater ist tief gläubig und versucht in einem geregelten Alltag zu leben. Und die Tochter, von ihr wird nur am Rande berichtet, ist, vorsichtig ausgedrückt, verhaltensauffällig. Mitten in diesem Wahnsinn muss sich der Sohn, ein namenloser Protagonist, der von sich selbst in der ersten Person Plural spricht, irgendwie zurechtfinden.
Stephan Roiss erzählt in raschen – manchmal vielleicht auch zu raschen – Szenenwechseln von der Welt dieser als „Wir“ apostrophierten Person und deren Flucht in eine Phantasiewelt, ihrer Einsamkeit und dem familiären „Erbe“, dem sie kaum entkommen kann. Einziger Lichtpunkt ist die Aschbach-Großmutter, bei der der Protagonist Geborgenheit findet. Doch auch bei seinen Großeltern beiderseits wuchern die Katastrophen, von nationalsozialistischer Vergangenheit bis hin zum Selbstmord des Großvaters, den die Mutter von „Wir“ tot auf der Toilette entdeckt. Stephan Roiss entwickelt also eine vertrackte Familienaufstellung, in der der planlose und irritierte Jugendliche seinen Platz zu finden hofft.

WER ist der Autor Stephan Roiss?
Stephan Roiss ist ein vielseitiger, umtriebiger und origineller Künstler. Und das, obwohl erst 37 Jahre alt, schon sehr lange. Der gebürtige Linzer lebt als freier Autor und Musiker in Ottensheim und Graz. Sein literarisches Debüt legte er mit der Erzählung Gramding, erschienen in der Edition Linz vor, in der er in einer unprätentiösen Sprache den Alltag in einem Pflegeheim schildert. Er schreibt Prosa, Lyrik, Texte für Graphic Novels sowie szenisch-performative Texte. Sehr bald schon streckte er seine Fühler auch nach Deutschland aus, unter anderem durch eine Ausstellung in Hamburg, ein Studium am Literaturinstitut Leipzig oder den Förderpreis der Wuppertaler Literaturbiennale, mit dem er vor zwei Jahren ausgezeichnet worden ist. Auch Hörspiele wurden im SWR und Deutschlandradio Kultur gesendet. Stephan Roiss ist aber auch noch Vokalist, Performer und Texter und ganz offensichtlich findet er auch noch Zeit, um für die Referentin zu schreiben.

WIE nähert sich Roiss seinem Sujet?
Der Autor baut die Geschichte seines Protagonisten mit schnellen Orts- und Zeitwechseln und scharfen Schnitten, was durchaus reizvoll sein kann. In Triceratops geht das allerdings, so habe zumindest ich es empfunden, gelegentlich auf Kosten einer Atmosphäre oder Figur. Kaum tauche ich das eine oder andere Mal in eine Szene ein und lerne eine Figur kennen, wechselt der Autor schon wieder zu einem nächsten Schauplatz. So verkümmert so manche seiner literarischen Gestalten zur Statistin, wie beispielsweise die Schwester, von der ich gerne mehr erfahren hätte und über die es doch Wesentliches zu berichten gäbe …

An vielen Stellen gelingen ihm auch sprachlich starke, dichte Szenen, etwa jene in der Nervenklinik oder seine Ausflüge in die Fantasie.
Zitat: „Wir hätten uns nicht gewundert, wäre eines Abends ein Engel durchs Fenster in unser Zimmer geschwebt, um uns zu eröffnen, dass wir Gottes Sohn sind. Wir hätten ihn bloß gefragt, was genau unsere Aufgabe ist.“

Die Begegnungen des Protagonisten mit der blauhaarigen, schrillen Helix sind zum überwiegenden Teil von Leichtigkeit bestimmt, sie flitzt mit ihrem Skateboard nicht nur in diese Geschichte hinein, sondern bleibt auch ungreifbar für „Wir“, so wie überhaupt in Triceratops eine ständige Bewegung vorherrscht, und dem gleicht Roiss auch seinen Stil geschickt an. Ich vermute, es war seine Absicht, ein ständiges Fließen durch seinen Text zu erzeugen, der auch die Unruhe dieses „Wir“ unterstreichen sollte.

WAS steckt hinter dem Fas­zinosum der Familien­geschichte in der Literatur?
Die Familie, vor allem jene der Schriftstellerinnen und Schriftsteller als real präsentierte Familie entwickelte sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr zum literarischen Genre. Oft resultiert daraus sogar eine Ahnenforschung mit oft jahrelangen Recherchen. Monika Helfer landete mit Die Bagage, ihrer Geschichte über ihre vorarlbergischen Großeltern einen Bestseller, die deutsche Schriftstellerin Helga Schubert erzielte mit ihrem Text Vom Aufstehen, der vom Leben und Sterben ihrer Mutter berichtet, den diesjährigen Bachmann-Preis. Was steckt hinter dem Phänomen, dass Autorinnen und Autoren ihre persönliche, ja oft intime Herkunftsgeschichte einem oft breiten Publikum anbieten? Ist der Trend gar ein Indiz dafür, dass wir uns mehr und mehr in einer restaurativen Zeit befinden? Und interessiert es die Leserinnen und Leser überhaupt? Offensichtlich sehr. Bei Roiss verhält es sich aber in einigen Facetten anders. Nicht seine Verwandten sind die Helden oder Antihelden seines Textes, und es ist auch nicht die eigene Familie, die hier im Mittelpunkt steht (was ihm im Falle seiner Roman-Familie auch zu wünschen ist), sondern ein Repräsentant der jungen Generation. Dennoch ist es die Familie, die auch für sein „Wir“ stets präsent ist, vor allem durch die Zumutungen, die der Protagonist innerfamiliär ertragen muss und die sich in seinen Handlungen widerspiegeln.

WAS könnte der Titel bedeuten?
Ich muss gestehen, die Bezeichnung Triceratops habe ich, bevor ich den Roman in Händen hielt, noch nie gehört. Der Triceratops war einer der letzten Dinosaurier, der am Ende der Kreidezeit ausstarb, klärt mich meine Recherche auf. Er wurde bis zu neun Meter lang und wog bis zu zwölf Tonnen. Als besondere Merkmale sind sein massiver Schädel und seine gewaltigen Zahnbatterien zu nennen. Für diesen Roman wird das riesige Tier als Metapher gewählt. „Wir“ imaginiert einen Panzer, um in seiner Welt bestehen zu können. Und bereits in seiner Kindheit üben die Urzeittiere eine Faszination auf ihn aus, die ihn über die oft tragischen Ereignisse und das Chaos in seiner Familie trösten.

Zitat: „Wir spielten am liebsten mit dem Dinosaurier mit dem Nackenschild und den Hörnern. Er aß nur Pflanzen, aber war unbesiegbar. Er war kompakt, schwer gepanzert, ein guter Krieger. Niemand konnte ihn in den Hals beißen, nichts konnte ihn umwerfen. Er stand fest auf der Erde.“

Und schließlich: WAS sagt der Autor zu seinem Buch?
Oder ein Schusswort des Autors zu seinem ersten Roman

„In meinem Roman taucht mehrmals ein Mosaik als Symbol auf. Die raschen Szenenwechsel waren mir auch deshalb wichtig, weil ich auch auf diese Weise seine spezifische, zersplitterte Art die Welt wahrzunehmen darstellen wollte.
Mein Protagonist ist durch seine Familie sehr belastet. Allgemein glaube ich wird die Familie immer ein Thema in der Literatur sein, einmal mehr, einmal weniger. Unserer Familie entkommen wir nicht, sie ist ein sozialer Mikrokosmos, der uns prägt.
So wie in meiner Erzählung Gramding habe ich mich auch in Triceratops auf Elemente, die ich aus meinem Leben kenne, gestützt und diese dann fiktionalisiert. Ich denke, das liegt mir am meisten. Mit einer klassischen Recherche um ein Thema aus dem 18. Jahrhundert beispielsweise würde ich mir, glaub ich, schwertun. Für mich ist die Realität als Basis wichtig, das Sprungbrett der Kunst führt mich dann in die Fiktion.“

 

Stephan Roiss
Triceratops
Krenmayr & Scheriau
208 Seiten

KomA Ottensheim
10. Oktober

Echoraum, Wien
10. November, 20.00 h

3sat-Lounge, Buch Wien
13. November, 15.00 h

Stifterhaus, Linz
17. November, 19.30 h

Mehr: stephanroiss.at