„Es war ein Öko-Krieg“

Der Kraftwerksbau im oberösterreichischen Lambach und die Protestbewegung der 90er: Die Klischees wurden hier nicht bedient. Denn nicht nur „gewaltbereite AktivistInnen“ harrten drei eiskalte Monate auf der Baustelle aus, sondern auch AnrainerInnen und PensionistInnen. Silvana Steinbacher über ein gerade erschienenes Buch, das die Geschehnisse im Winter 1996 nachempfinden lässt.

Es waren drei dichte Monate, und allen, die im Camp dabei waren, sind sie abrufbar. Als im Jänner 1996 die Rodungsarbeiten für den Bau des Kraftwerks Lambach ohne Einbeziehung der AnrainerInnen in Gang gesetzt werden, beginnen UmweltaktivistInnen mit der Besetzung der Baustelle. Sie sollte drei Monate dauern. Thomas Rammerstorfer, er war selbst einer der Protestierenden, und Marina Wetzlmaier lassen in ihrem gerade erschienenen Buch Kampf um die Traun. Der Widerstand gegen das Kraftwerk Lambach diese Zeit wiederaufleben.
Abseits der Fakten und Ereignisse, die von den beiden aufgerollt werden, sind es die Erinnerungen einstiger AktivistInnen und vielleicht auch Rammerstorfers eigener Rückblick, die das Leben im Camp spürbar werden lassen: der Alltag, die eiskalten Winternächte in den Schlafsäcken, die Furcht, vom Feuer erfasst zu werden, an das sich die Frierenden so nahe wie möglich gelegt hatten. Und schließlich die Beschimpfungen durch BefürworterInnen des Kraftwerks, aber auch der Zusam­men­halt der Protestierenden untereinander, der einigen von ihnen bis heute im Gedächtnis geblieben ist. Wetzlmaier und Rammerstorfer gelingt es, diesen Alltag so dicht zu schildern, dass man den Eindruck erhält, dabei zu sein.

Thomas Rammerstorfer, damals 20 Jahre alt, war auch teilweise im Camp: „Sobald jemand davon redet, wird mir heute noch kalt. Es hatte minus 15 Grad im Jänner 1996, minus 10 Grad nahe am Feuer. Die Vielfalt der Demonstrierenden im Camp war ungewohnt. Es waren auch ältere Damen dabei, die Gemeinschaft war toll. Ich kann mich erinnern, dass es gut organisiert war, es wurden auch täglich Pläne für die Lager erstellt, drei bis fünf sind es gewesen. Natürlich befürchtete ich manchmal, dass die Bewegung ins Radikale abgleiten könnte, doch die ersten Anzeichen dafür wurden schnell gebremst. Insgesamt würde ich sagen, war dieses Ereignis nicht nur eine Niederlage. Die OKA hat ihre Politik geändert und registriert, dass es für ihr Image förderlicher ist, ein paar Millionen mehr in den Umweltschutz zu stecken als in Werbung.“

Chronologie der Ereignisse: (partiell)
Im März 1995 erlässt das Landwirtschaftsministerium einen positiven Wasserrechtsbescheid.

1996 beginnen die Rodungsarbeiten

Im April desselben Jahres wird aus Formalgründen der Wasserrechtsbescheid aufgehoben.
Im Herbst 1997 verliert Landeshauptmann Josef Pühringer (ÖVP) bei der Wahl die absolute Mehrheit. Die ÖVP beschließt dennoch mit den Stimmen der SPÖ, sie stellte sich während des Konflikts dezidiert gegen den Bau, die endgültige Errichtung des Kraftwerks.

Ende Mai 2000 wird das Kraftwerk Lambach offiziell eröffnet. In den folgenden Jahren entwickelt sich rund um den Bau ein Naherholungsgebiet.

Marina Wetzlmaier hat während dieses Konflikts noch die Volksschule besucht. Sie ist freie Journalistin und Autorin und hat sich in ihren bisherigen Büchern mit türkischen Moscheevereinen (Mitautor: Thomas Rammerstorfer) und mit der Linken auf den Philippinen beschäftigt. Das aktuelle Buch ist ihr erstes über ein österreichisches Ereignis.

„Mein Spezialgebiet sind soziale Bewegungen und die Frage, wie sie entstehen. Auch Gruppendynamik interessiert mich. Und so hat mich auch dieses Ereignis interessiert. Ich habe mir auch am Beispiel Lambach die Frage gestellt, wie sich Widerstand formiert, welche Formen von Aktivismus festzustellen waren. Der Widerstand auf der Baustelle hatte viele Facetten zu verzeichnen: Tradition, kreativer Widerstand. Es gab also auch kulturelle Aktivitäten während dieser Zeit.“

Die Faktoren
Der Konflikt um das Kraftwerk Lambach spielte sich auf mehreren Ebenen ab. Auf der einen Seite GegnerInnen, Firmen, die sich durch den Bau Profit erhofften, die Politik, vor allem durch die ÖVP und die OKO, heute Energie AG, deren Privatisierungspläne parallel zu den Konflikten um das Kraftwerk Lambach verliefen. Und auf der anderen Seite die im Camp Protestierenden, die zwar intensiv von Global 2000, den Grünen und einigen AnrainerInnen unterstützt wurden, aber gegen diese machtvolle Mauer der Befürwortenden kaum eine Chance hatten. Viele der Protestierenden von damals meinen heute: „Es war ein Okö-Krieg.“

Gerüchte und Verleumdungen
Die Phantasie einiger Befürwortender des Kraftwerkbaus entwickelte sich zur Hochform, wenn es darum ging, die Protestierenden zu verleumden.
Feierte das Gerücht über die Berufsdemonstrierenden damals seine Premiere? Jedenfalls begegnet es uns in schöner Regelmäßigkeit immer wieder, wenn sich eine Protestbewegung formiert. Hohe Summen wurden genannt, die angeblich pro Tag und Person ausbezahlt worden seien. Von wem eigentlich?
Den widerlichen Höhepunkt setzte wahrscheinlich der ehemalige Sprecher der Vöest, der eine namentliche Erwähnung nicht verdient. Er bemühte in einem Kommentar, den ich nicht wörtlich zitieren will, eine Nähe der Protestierenden zum Nationalsozialismus und zu Goebbels. Pühringer gratulierte ihm daraufhin in einem Leserbrief und meinte später, er hätte den Kommentar nicht gelesen.

Plötzliche Wende und weitere Ereignisse:
Mit einem Unfall beginnt eine aufrüttelnde Wende im Camp. Ein Pensionist hält sich an der Kante einer Baggerschaufel fest, stürzt, bricht sich eine Rippe und verliert das Bewusstsein. Der Fahrer wird im Prozess freigesprochen. Der Pensionist überlebt glücklicherweise ohne bleibende Schäden.

Ein weiteres Ereignis: Bei Baggerungsarbeiten werden menschliche Skelette gefunden, ein Baustopp wird beschlossen, schließlich klärt sich, dass diese Überreste über 300 Jahre alt sind. Vorherige Vermutungen, es könnten Skelette von ehemaligen KZ-Häftlingen sein, veranlasste einige, sich zu antisemitischen Äußerungen der übelsten Art hinreißen zu lassen.

In ihrem Resümee führen die beiden AutorInnen recht ausgewogen auch die Perspektiven dieses lange zurückliegenden Konflikts vor Augen.
Als der faktische politische Gewinner ging der damalige Landeshauptmann Josef Pühringer hervor. Bei der nächsten Landtagswahl verlor die ÖVP allerdings 2,51 Prozent, was natürlich nicht 1:1 aus dieser Thematik resultiert. Die Grünen schafften den Einzug in den Landtag. Unterstützt wurden die AktivistInnen damals von der gesamten Prominenz der Grünen, von Peter Pilz über Madeleine Petrovic bis zu Alexander van der Bellen, die alle ins Camp kamen, allerdings auch wesentlich durch die Umweltschutzorganisation Global 2000 mit ihrem damaligen Pressesprecher Lothar Lockl.
Auf kommunaler Ebene zog die Liste „Lebensraum Stadl-Paura“, die ein besonderes Naheverhältnis zu den ehemaligen KraftwerksgegnerInnen zeigte, mit 17,91 Prozent in den Gemeinderat ein.

Eine Niederlage mit „Gewinn“
Im Herbst 1997 fällt die Entscheidung: Die ÖVP beschließt mit den Stimmen der SPÖ, die sich immer gegen diesen Bau ausgesprochen hat, schließlich für die Errichtung des Kraftwerks.
„Problematisch war ganz offensichtlich die Ausgangslage“, stellt Marina Wetzlmaier fest. „Die SPÖ war innerhalb ihrer Fraktion gespalten, denn die Gewerkschaft akzeptierte den Bau mit dem Argument der Arbeitsplätze.“
Die Aktivistinnen hatten auf einigen Seiten übermächtige Gegner. Als Verlierende in diesem Konflikt sehen sich die meisten dennoch nicht. Lothar Lockl wird von Wetzlmaier und Rammerstorfer einige Male zitiert. Er habe in Lambach gelernt, wie sich unterschiedliche Menschen zu einer Gemeinschaft formieren könnten. Bei einigen der Protestierenden entwickelte sich erst durch diesen Konflikt eine ernsthafte Politisierung.
Nicht zu beschönigen ist allerdings auch die Tatsache, dass der Protest in der Bevölkerung teils tiefe Gräben aufgerissen hat, bis hin zu Zerwürfnissen innerhalb von Familien.
Wetzlmaier und Rammerstorfer bleiben in ihrem Buch Kampf um die Traun. Der Widerstand gegen das Kraftwerk Lambach aber nicht ausschließlich in der Vergangenheit, sondern streifen auch – und dies ist eine Qualität des Buches – die Gegenwart.
Das Kraftwerksprojekt Tumpen-Habichen an der Ötztaler Ache in Tirol soll trotz einer Petition mit mehr als 12.000 Unterschriften und anderer Proteste bis spätestens 2022 in Betrieb gehen. Zurück zu Lambach: Rund um den Bau des Kraftwerks entwickelte sich ein Naherholungsgebiet. Die Protestierenden nutzten den Konflikt, um ein Rückbauprojekt der Traun zwischen Welser Wehr und Alm-Spitz zu fordern. Für ihre Verdienste um den Rückbau erhielt die Bürgerinitiative Traun den Landespreis für Umweltschutz und Nachhaltigkeit 2012.
Das aktuelle Buch von Thomas Rammerstorfer und Marina Wetzlmaier präsentiert eine Chronologie der Ereignisse und zeigt auch Methoden und Wege auf, wie bei künftigen Projekten Erfolge erzielt werden könnten.

 

Thomas Rammerstorfer, Marina Wetzlmaier
Kampf um die Traun. Der Widerstand gegen das Kraftwerk Lambach
Verlag Bibliothek der Provinz (vierfärbig)
240 Seiten, 26,– Euro

Lambach.
Im Jänner 1996 begannen die Rodungen für den Bau eines Wasserkraftwerkes an der Traun zwischen Lambach und Stadl-Paura. Eine Protestbewegung wurde aktiv. Anrainer/innen und Umweltschützer/innen aus ganz Österreich besetzten den Wald und lieferten Polizei, Bauarbeitern und Kraftwerksbefürwortern ein dreimonatiges „Katz und Maus“-Spiel. Das Buch erzählt ein bemerkenswertes Stück Zeitgeschichte anhand ökologischer, politischer und ökonomischer Aspekte, und davon, welche Rolle Politik, Medien und Zivilgesellschaft dabei spielen. Das Umschlagen von verbaler in körperliche Gewalt, aber auch das Streuen von Gerüchten, Verbreiten von „Fake News“ und Verschwörungstheorien waren dabei auch im prä-digitalen Zeitalter Teil des Konflikts. Die Front der Kraftwerksbefürworter bemühten sich etwa stets, die Gegner/innen als professionelle und gar bezahlte „Protesttouristen“ darzustellen. Nach einem Baustopp bis Herbst 1997 wurde das Kraftwerk schließlich doch errichtet, allerdings nach ökologischen Gesichtspunkten deutlich optimiert. So endete der „Kampf um die Traun“ einerseits mit einer Niederlage, bewirkte andererseits aber weitreichende Erfolge der Umweltschutzbewegung und des zivilgesellschaftlichen Protests.

Stadt mit mobilen Persönlichkeitsstörungen

Der Stadt Linz, die in einem etwa 5 Quadratkilometer großen Gebiet wie Urfahr-Zentrum 10% der Fläche – also zirka 0,5 Quadratkilometer – ohne mit der Wimper zu zucken der Autobahn zum Fraß vorwirft, muss man im Jahr 2020 wohl zu einer umfangreichen Therapie raten. Magnus Hofmüller und ein semi-professionell angelegter und eher laien-psychologisch formulierter Versuch, 5 verschiedene Diagnosen zu stellen.

Foto privat

Fall 1: Ersatzhandlung(en)
Man will ja nicht den Finger in die offene Wunde legen, aber Linz hat ein Brückenproblem. Und zwar nicht ob ihrer Anzahl, sondern aufgrund der fairen Aufteilung zwischen den unterschiedlichen Mobilitätsformen. Dutzende nationale und internationale Studien böten ein fundiertes Rüstzeug, dieses Problem anzugehen. Aber diese werden nicht angefasst. Stattdessen werden Mikroaktionen gestartet, die eher hilflos wirken. „Aktion scharf“ gegen BrückenradlerInnen, die gegen die Fahrtrichtung unterwegs sind, ein LED-Geschwindigkeitssmiley, der das Schnellfahren eher game-ifiziert als es zu unterbinden, oder ein neuer Anstrich, der wohl dünnsten RadlerInnenspur in Europa. Am launigsten sind aber die Ersatzhandlungen, die aus den Schubladen von Freizeitparkdesignern zu kommen scheinen: Seilbahnen und Hängebrücken. Hier ist dringender Handlungsbedarf.

Fall 2: Prokrastination
Lösung C ist erst möglich, wenn A und B fertig sind. Ein Radstreifen auf der Nibelungenbrücke ist erst möglich, wenn die oder die Brücke fertiggestellt ist. Der belegte Fakt, dass mehr Autospuren mehr Autoverkehr evozieren, verhallt in den meisten Parteigremien in Linz wohl ungehört. Dass aber mutige und vielleicht kurzfristig unpopuläre Regelungen Abhilfe schaffen könnten, wie in anderen Kommunen, ist bis Linz noch nicht vorgedrungen. Das ist schade – Linz hätte mit seiner Lage das Potential, Arbeit, Kultur und Leben in Einklang zu bringen. Weil mit einfachen, aber scheinbar zu harten Eingriffen Wohnraum, Gewerbezonen, Freizeitflächen usw. durchaus miteinander und ineinander funktionieren könnten. Es wird einfach immer weiter – seit Jahrzehnten – vertröstet und weiter vertröstet.

Fall 3: Verleugnung
Die grundsätzlich positive Idee eines Radmotorikparks wird durch die vorgeschlagene Location konterkariert. Die Idee: Die Anlage unter den massiven Betonstützen der neuen Autobahnbrücken-Konstruktion zu verstecken. Nichts gegen eine sinnvolle Nutzung der Brachflächen, aber eine schon geschundene Spezies noch weiter vorführen? Radverkehr – egal ob als Verkehrsmittel oder Sportaktivität – braucht mehr Sichtbarkeit, Sicherheit und nutzbaren Raum. Eine Stadt sollte zu ihren RadfahrerInnen stehen und diesen – gleich wie dem Autoverkehr – die angemessene Wich­tigkeit zusprechen. Nicht Fahrradzonen verstecken, verschmälern oder ignorieren.

Fall 4: Selbstverzwergung – Mikroeingriffe anstatt Masterplan
Linz – also die Kommune – betreibt des Öfteren Selbstverzwergung und macht sich als Player im Zentralraum oft kleiner bzw. unwichtiger als die Stadt ist. Linz könnte die Spielregeln aktiver gestalten, was zum Beispiel Park-and-Ride, Verkehrsführung für PendlerInnen usw. betrifft. Stattdessen probieren die einzelnen politischen AkteurInnen mit eher reflexartigen öffentlichen Auftritten ihre jeweiligen Zielgruppen zu befrieden. Stichwort Spurverbreiterung/Busspur an der Donaulände oder Radweg auf der Nibelungenbrücke. Ein größerer Wurf wie z. B. ein Linzer Verkehrsgipfel, der von Fachleuten geführt wird und konkrete Maßnahmen nach sich zieht, steht wohl noch in weiter Ferne. Zu sehr ist man in seinen Klüngeln verhaftet und fürchtet sich vor unpopulären Eingriffen.

Fall 5: Toxische Beziehungen der VerkehrsteilnehmerInnen
Die nicht naturgegebene, aber in Linz dennoch problematische Beziehung unterschiedlichster VerkehrsteilnehmerInnen bzw. Interessengruppen wird nicht aktiv moderiert, sondern eher befeuert und für die eigene (verkehrs)politische Agenda genutzt. Wobei hier der Nutzen wohl eher kurzfristig ist als nachhaltig wirkt. Im Gegensatz zu toxischen Paarbeziehungen kann man diese Beziehungen nicht auflösen, sondern muss sie therapieren. Oder sie wird weiter eskalieren. Auch hier sollten parteipolitische Grenzen überwunden und das konstruktive Gespräch gesucht werden. Andere Städte schaffen das auch – und auch hier wieder die Hinweise auf ExpertInnen und deren Erkenntnisse. Nicht zuletzt: Verkehrs- Städte,- und MobiltätsplanerInnen sind oft auch gute TherapeutInnen.

Als Quintessenz und Analyse: ExpertInnen, ExpertInnen und ExpertInnen ranlassen. Das ist wohl das einzige Breitbandmedikament zur Lösung dieser Probleme.

Und, was in Linz noch nicht angekommen ist, auch wenn der Terminus Innovationsstadt durchaus oft erwähnt wird: Das Fahrrad ist ein modernes, zukunftsträchtiges und innovatives Verkehrsmittel.

StädterInnenblick

Foto Die Referentin

Sonja Großmann. Anarchistin im Schatten?

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe Anarchist_innen und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Brigitte Rath beleuchtet dieses Mal das Leben und Wirken von Sonja Grossmann – und den Widerspruch, dass sich die anarchistischen Bewegungen in ihren Schriften für die Beseitigung von Hierarchien zwar einsetzten, aber wenige die Gleichstellung der Geschlechter gelebt haben.

Die 1884 im russischen Grodno (heute Weißrussland) geborene Sophie (später meist Sonja) Ossipowna Friedmann kam mit einer älteren Schwester nach England und lernte 1903 im Kreis um den russischen Anarchisten Petr Kropotkin den österreichischen Anarchisten Rudolf Großmann (1882–1942) kennen, besser bekannt unter seinem Pseudonym Pierre Ramus.1 1907 zogen die beiden nach Wien und veröffentlichten die Zeitschrift Wohlstand für Alle und später Erkenntnis und Befreiung. Ab ca. 1912 lebten sie in einem Haus in Klosterneuburg (Schießstättegraben 237), in das an Sonntagnachmittagen häufig Freund_innen und Aktivist_innen zu Besuch kamen. Die ältere Tochter Lilly2 kam am 5. Dezember 1907 zur Welt, die jüngere, Erwina, drei Jahre später. 1912 heirateten Sonja und Rudolf Großmann. Er erwähnte sie ausführlich in seinem stark autobiographisch geprägten, 1924 erschienenen Roman Friedenskrieger des Hinterlandes. Darin charakterisierte er sie „nicht als Gefährtin oder Weib, mit ihm in freier Vereinigung vermählt, sondern als Kameradin, als Anarchistin“.3 Ganz deutlich hob er ihre aktive Rolle im österreichischen Anarchismus hervor.

Überlieferung
Über Sonja Großmann sind wir vor allem indirekt informiert, d. h. sie wird in Briefen oder anderen Ego-Dokumenten erwähnt. Diese vermittelten Beschreibungen zeigen ihre Bedeutung für die österreichische anarchistische Bewegung rund um den charismatischen, aber auch umstrittenen Pierre Ramus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Selbst hat sie kaum schriftlich Spuren hinterlassen. Häufig waren Frauen in sozialen Bewegungen an wichtigen Schnittstellen tätig, ohne selbst schriftlich hervorzutreten. Ihre Tätigkeitsfelder sind schwer zu definieren, variieren und sind dennoch wichtig für die Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen, auch wenn die Frauen nur allzu oft im Schatten der Geschichte agierten. Konstellationen wie die hier genannte führen zu Verzerrungen, die auch heute noch eine Rolle spielen – zu Ungunsten der Sichtbarkeit von Frauen. Für Sonja Großmann kann dies deutlich belegt werden.

Der rumänische Schriftsteller, Pazifist und Anarchist Eugen Relgis (1895–1987) beschrieb bei einem Besuch in Wien 1930, dass sie die Administration der Zeitschriften führte.4 Da ihr Name jedoch nicht im Impressum aufscheint, blieb diese Tätigkeit lange unsichtbar. Sie hat wohl auch Übersetzungen vorgenommen, Vorträge organisiert und sich in Diskussionen eingebracht. In den Erinnerungen ihrer Tochter Lilly sind diese Aktivitäten präsent: Manchmal fuhr Sonja mit Pierre Ramus auf Vortragsreisen, wie beispielsweise zu einem Kongress nach Lyon, aber nicht sehr oft, denn sie musste bei den Kindern bleiben. Außerdem übernahm sie die Verantwortung für den Druck von Erkenntnis und Befreiung, fuhr in die Druckerei und schrieb auch selbst. Bei den häufigen sonntäglichen Treffen in Klosterneuburg versorgte sie die Gäste mit Kaffee.5

Sie versorgte die Gäste allerdings auch mit Tipps zu neuer anarchistischer Literatur. In der Korrespondenz zwischen dem Ehepaar Misar und dem Ehepaar Großmann, die sich von 1917 bis 1930 nachweisen lässt, wird der häufige – freundschaftliche – Austausch sichtbar, wie eben auch bei sonntäglichen Treffen. Brieflich versicherte Olga Misar am 3. September 1921: „Ihre Frau dürfte sich aber nicht jedesmal auf Bewirtung einrichten, sondern wir bringen etwas mit + verzehren es gemeinsam.“6 Dieser Eintrag zeigt die Bedeutung und Verflochtenheit von politischer Diskussion und alltäglichem Handeln.

Pädagogisches Interesse
Das Ehepaar Großmann teilte das Interesse für neue, rationalistische, gewaltfreie und koedukative Erziehung, wie sie der spanische Pädagoge Francisco Ferrer (1859–1909) im Model der Escuelas Modernas vertrat. Die Umsetzung der Ideen Ferrers führten Robert Bodansky7, Olga Misar und Pierre Ramus in einem Komitee zusammen, das ein internationales Francisco-Ferrer-Erziehungsheim in Wien errichten wollte. Ein Aufruf, Erziehungsheime im Stile Ferrers zu errichten, erschien im März 1921 in Erkenntnis und Befreiung, dem die oben genannten sowie Malva (Malvine, geb. Goldschmied) Bodansky (1877–?),8 Sonja Ossipowna-Großmann und andere nachkamen und gemeinsam diskutierten.9 Die Verschränkung von privaten und politischen Interessen war einer der Gründe, sich für die Umsetzung dieser neuen pädagogischen Konzepte zu engagieren, denn alle der genannten hatten Kinder, die sie freisinnig erziehen wollten. Das Engagement der Ehefrauen trat dabei besonders zu Tage, da auch in anarchistischen Kreisen Kindererziehung als Aufgabenbereich aber auch Einflussbereich von Frauen galt. Die für das Projekt gespendeten 200 Dollar reichten jedoch nicht aus, ein Haus anzukaufen. Das Ehepaar Grossmann sprach sich daraufhin dafür aus, das Geld an die Kinderfreunde zu spenden.“10

Sonja Großmann war als Aktivistin im Bund herrschaftsloser Sozialisten vertreten. Nachweisen lässt sich ihre Teilnahme an der Landestagung am 25. und 26. März 1922 in Graz, wo sie aufgrund der Erfahrungen der russischen Revolution „umfassendste Landpropaganda“ forderte.11 Auch in der bildlichen Darstellung wird ihre wichtige Position sichtbar. Zentral ist sie in der ersten Reihe neben Ramus platziert, womit eine klare Hierarchisierung verbunden ist. Im Vergleich zu anderen fortschrittlichen politischen Bewegungen, in denen auch häufig die politische Mitarbeit von Ehefrauen nachweisbar ist, die jedoch auch in der bildlichen Darstellung verborgen bleibt, bezeugt diese Darstellung die Praxis ihrer politischen Einbindung.

Historische Un/sichtbarkeit
Auch wenn Ramus in seinen Schriften, beispielsweise in der 1921 erschienen „Neuschöpfung der Gesellschaft durch den kommunistischen Anarchismus“ Freiheit und Gleichheit thematisierte, sind doch komplementäre Rollenaufgaben für die beiden Geschlechter in der Praxis des Familienalltags festzustellen. Damit folgte ihre gleichberechtigte Aufgabenverteilung des „Ehepaars als Arbeitspaares“, wie es die Historikerin Heide Wunder für die frühneuzeitliche Gesellschaft festgestellt hat.12 Diesen Verteilungen liegt eine Trennung von öffentlich und privat zugrunde. Auch wenn sich solche Polaritäten oft vermischen und nicht klar zu trennen sind, übernahm Ramus die historisch sichtbaren Aktivitäten, wie Texte schreiben und sie namentlich zu zeichnen, Vorträge halten, bei internationalen Kongressen präsent zu sein. Dennoch sind die Aktivitäten von Sonja Großmann, oft auf der informellen Ebene angesiedelt und damit für die historische Forschung schwieriger nachweisbar, für den Aufbau und die Funktion von sozialen Bewegungen ebenso wichtig.

Überschreitungen dieser dualen Geschlechterkonzepte werden auch in dem Eintreten von Ramus für Vasektomie, eine Praxis der temporären Sterilisation des Mannes, deutlich. Dass sich Männer aktiv um Empfängnisverhütung kümmern, war zu jener Zeit auf jeden Fall eine Grenzüberschreitung – und ist es wohl, in veränderter Form, auch heute noch. 1933, in einem Prozess in Graz, bei dem Ramus für durchgeführte Vasektomien verantwortlich gemacht wurde, bekam er einen Freispruch, ein Jahr später jedoch eine zehnmonatliche Gefängnisstrafe.13

Auch eine Migrationsgeschichte
Sonja Großmann musste mehrmals in ihrem Leben migrieren und sich damit an neue Lebensverhältnisse anpassen. In ihrer Jugend kam sie von Russland nach England und dann weiter nach Österreich. 1938 gelang mit der jüngeren Tochter und deren Ehemann die Flucht nach London, dann nach Paris, wo sie ihren Ehemann Pierre Ramus zum letzten Mal traf. Er starb auf einem Schiff nach Südamerika ganz plötzlich an einem Schlaganfall. Über London gelangten Sonja und ihre Familie daraufhin in die USA, wo sie am 14. November 1974 in Los Angeles starb. Mit dieser Migrationsgeschichte, teilweise erzwungen, ging auch ein sprachlicher und sicher auch ein kulturell breiter Horizont einher.

Ihr Leben zeigt, wie schwierig es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, auch in fortschrittlichen anarchistischen Zirkeln traditionelle Geschlechterzuschreibungen aufzubrechen. Wie sieht es heute mit Geschlechterzuschreibungen aus?

 

1 Biographische Verortungen dazu unternahm Reinhard Müller im Oktoberblatt des Kalenders Anarchistinnen aus Österreich 2017.
2 Dr. Elisabeth (= Lilly) Schorr.
3 Pierre Ramus, Friedenskrieger des Hinterlandes, Wien 2014, 222; von 219–239 beschrieb er ihre Erfahrungen mit seiner Kriegsdienstverweigerung.
4 Eugen Relgis, Evocando a Pierre Ramus, in: Hommage à la non-violence, Lausanne 2000, 21.
5 Lilly Schorr, „Mein Vater Pierre Ramus“ – ein Gespräch, in: Hommage à la non-violence, Lausanne 2000, 35.
6 IISG, Ramus Papers, 152, 96–97.
7 Robert Bodansky/Bodanzky Pseudonym: Danton, (1879–1923) Schriftsteller, Liberettist, Schauspieler und Regisseur.
8 Sie engagierte sich auch in der IFFF.
9 Erkenntnis und Befreiung, 3/14 (1921), 4.
10 Erkenntnis und Befreiung, 3/8 (1921), 3.
11 Erkenntnis und Befreiung, 4/20 (1922), 3.
12 Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond.“ Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992.
13 Reinhard Müller, „Wer pessimistisch in die Zukunft blickt, offenbart seinen schwachen Willen“, Wien 2016, 11–15.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden. Siehe auch: anarchismusforschung.org

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Wie wirklich ist die Wirklichkeit

Um seine Gipfel jagen Nebelschwaden. 1896 – nur 15 Jahre nach der Erstbesteigung, durchstieg die Österreicherin Rosa Friedmann als erste Frau die Watzmann-Ostwand im Berchtesgadener Land. Welch gewaltige Leistung! Einige Jahre später führte die Britin Beatrice Tomasson den frühen Frauen-Alpinismus zum Höhepunkt. 1901, an der majestätisch anmutenden Marmolata – Königin der Dolomiten – durchkletterte sie mit zwei heimischen Bergführern die Südwand. Diese Erstbegehung setzte einen Meilenstein in der Dolomitenkletterei.

In weniger schwindelerregende Höhen begab sich das Kollektiv Breathe In The City. Angepasst an die urbanen Strukturen im Mural Harbour, jedoch ganz schön hoch für ein DJ-Set, präsentierte Flip sein neues Album Experiences am Dach eines Linzer Hafengebäudes. Für das visuelle Spektakel sorgte die Tagtool Crew, die mit animierten Graphiken die sich hinter dem DJ auftürmende Hauswand mit unzähligen Beamern bespielte. Dabei partizipierten KünstlerInnen aus der ganzen Welt, die sich nach Voranmeldung in den Stream einloggten. Ebenso bestand die Möglichkeit des realen Erscheinens und künstlerischen Mitwirkens vor Ort.

Ob dieses lockere Zusammentreffen in Zukunft noch möglich sein wird, wird sich zeigen. Das Pendel schwingt Richtung virtuelle Realität. Wie weit die zeitgenössische Kunst hier euphorisiert vorprescht, demonstrierte bei einem Ars-Electronica-Panel zum Thema „Telling The Future Through Art and Technology“ etwa das Kollektiv Miro Shot mit seinen interaktiven Live-Events. Ein Hybrid aus Konzert, Installation, Theaterinszenierung und Live-Multiplay-Videogame. Eine Verschmelzung der künstlerischen Visionen und technischen Tools sowie der Potenziale des offenen Kollektivs aus MusikerInnen, Visual & Digital Artists, ProgrammiererInnen, SchreiberInnen und FilmemacherInnen. Ein Gesamtkunstwerk, das holographische Realitäten für die Menschen zusammen an einem Ort zur Verfügung stellt. Ich hoffe, das physische, gemeinsame Erleben nebeneinander und miteinander im selben Raum bleibt bestehen.

Derzeit werden wir rigoros vereinzelt und isoliert. Es erfolgt eine Reduktion auf virtuelle Interaktionen. Digitale Techkonzerne sind die globalen Gewinner des Rückzugs von der real-physischen Welt. Der Mensch verliert, ich als Mensch verliere: Meine Leidenschaft für den Fußballverein meines Herzens verblasst. Fan-Sein präsentiert sich nun am Bildschirm zuhause, jeder ist für sich alleine. Jeder trinkt für sich alleine. Niemand singt. Niemand feuert an. Kein gemeinsamer Jubel. Kein gemeinsames Gejammer. Emotionen können nicht mehr unmittelbar gelebt und geteilt werden. Ein Emoji dürfen wir posten. Juhuu – das ist Leidenschaft. Das Stadion ist leer. Und so leise, dass die Spieler in der Übertragung zu hören sind. Das ist gespenstisch. Die Redaktionssitzung von V-TV, das Video-Fanprojekt von Fans für Fans, abgehalten per Zoom. Das ansonsten lustige und sehr verbindende mehrstündige Treffen entpuppte sich als emotional erbärmlich und entbehrlich für mich. Ein seelenloser Austausch, der mich nicht berührt, der mir kein authentisches Miteinander ermöglicht und mich emotional verarmen lässt. Genauso wie der Blick in ein Heer identitätsloser Gesichter. Da verarmt die eigene Mimik, die Ausdruck von Emotion und Individualität ist. Eine erschlaffende oder verkürzte Muskulatur zieht Konsequenzen nach sich. Interessant in diesem Zusammenhang die Bezeichnung einiger mimischer Muskeln als musculus depressor … supercilii zieht die Augenbrauen nach unten … anguli oris zieht die Mundwinkel nach unten … labi inferioris zieht die Unterlippe nach unten … septi nasi zieht die Nasenflügel nach unten und verengt damit das Nasenloch. Bitte mal ausprobieren. Nomen est Omen. Ich schneid jetzt zuhause Grimassen oder versuche alle Gesichtsmuskeln abwechselnd oder miteinander zu aktivieren und trotzdem entspannt zu bleiben. Und jedem maskenfreien Gesicht schenke ich ein umwerfendes Lächeln!

 

Die Kolumne Spiele! wird ab 2021 nicht mehr in der Referentin veröffentlicht.
Wir bedanken uns bei Andrea Winter für ihre Arbeit bis dahin, distanzieren uns aber von Inhalten, die im Zusammenhang mit Corona-Leugnung und Verschwörungstheorien stehen.

Und so …

Die „Jazzpolizei“ würde sich hier schwertun. Aber Klaus Hollinetz ent­wickelt anlässlich von UND JA, AND YES einige lose Gedanken zu Improvisierter Musik und zur neuen CD von den Duos Puntigam/ Wilbertz und Puntigam/Keller. Und orchestriert mit weiterschweifenden Fragen: Ist das nun „Neue Musik“, „Avantgarde“, „experimentell“ – oder was? (Und spielt das noch eine Rolle?)

1.
(Es dunkelt, [tinct, tint] all das unsere spaßanimalische Welt –
James Joyce, Finnegans Wake)
Es atmet, zirpt, kratzt und klingt. Es schabt an Dingen, bringt sie in Bewegung und zum Leuchten, flößt ihnen Luft und Leben ein. Ein paar Töne, die zu flüstern scheinen, oder etwas in einer unbekannten Schrift und Sprache notieren, mit schnellem, sicherem Strich, mit Materialien, die flüchtig und fest zugleich sind, mit Schwingungen, die Zentrum und Ränder zugleich sind. Klare kleine Melodien und dann wieder Klangfolgen mit überraschenden Brüchen, Löchern, Fransen, mit unerhörten Wendungen, die doch gleichzeitig vollständig überzeugen.
Beim ersten Anhören der neuen CD Und Ja, And Yes tauche ich ein in ein unerwartetes Kaleidoskop von Klängen, Ideen und Formen, in ein vergnüglich-nachdenkliches Sammelsurium von Einfällen, die weder völlig zufällig sind noch minutiös genau geplant scheinen. Es sind vierundzwanzig Dialoge, Duos, die sich in freier Folge abwechseln, und die manchmal nicht einmal eine Minute lang sind. Dialoge, die – wie es sein sollte – mehr Fragen aufwerfen, als Antworten zu geben, Antworten, die sich in Stilen und Wendungen ausdrücken könnten, in zu erfüllenden Erwartungshaltungen, in Zuordnungen und Querverweisen.
Werner Puntigams Posaunen- und Muschelhornklänge verbinden alle diese Dialoge mit einerseits Schlagzeug und Perkussion und andererseits einer Feedbacker-Gitarre auf eine nicht dominierende Weise. Was wird hier mit Schlagzeug verstanden? Eine Fülle von Schlagwerk, Selbstklingern, idiophonen Materialien, vom Vertrauten bis ins Unbekannte. Und was nun ist eine Feedbacker-Gitarre? Klänge, die den Bogen spannen von bekannten Saitenklängen bis zu elektroakustischen Feinheiten.

Und welche Musik ist das überhaupt? Die manchmal recht fundamentalistisch auftretende „Jazzpolizei“ tut sich schwer mit freieren Formen der Musik, Formen, die sich in keinen unmittelbaren Kontext fügen, in keine vorgefertigte Kategorie passen, sich keiner Zeit und ästhetisch basierter Tradition verpflichtet fühlen. – Ist das denn noch oder schon wieder Jazz? Ist das nun „Neue Musik“, „Avantgarde“, „experimentell“ oder was? (Und spielt das noch eine Rolle?)
Kann man über Musik schreiben? (Kann man Bilder singen?) – Worüber man nicht schreiben kann, darüber soll man … ja, vielleicht. Ich denke, dass aufmerksames und konzentriertes Zuhören immer noch reichen sollte.

2.
(Erfahrung enthüllt in jedem Objekt, in jedem Ereignis die Erfahrung von etwas anderem –
Jean-Paul Sartre, Saint Genet)

Elliott Sharp, einer der Großmeister der Improvisierten Musik und des Jazz, und ein „Urgestein“ der New Yorker Improvisationsszene, auf dessen Label Zoar auch diese CD erschienen ist, schreibt in seinen eindrücklichen Liner Notes:
„With UND JA, AND YES, Messrs. Puntigam, Keller, and Wilbertz present a virtuosic music that operates across varied moods while traversing barriers of genre and style. This is accomplished not with a flaming sword but with sly humor and pointed technique. These pieces are miniatures and in their own way pay tribute to the master of the miniature, Anton Webern, who distilled primal energy into compact arcs of crystalline sonic purity. In this album, the balance between improvised spontaneity and structural integrity is achieved with the manifestation of pithy statements that never wear out their welcome but instead leave a lasting impression in the ear in much the same way that a powerful flash will imprint upon your visual cortex.“
Das bedarf eigentlich keiner weiteren Interpretation. Aber was ist eine Miniatur nun? Etwas Kleines, Kurzes vielleicht, eine Form, die sich aus den einfachsten Bestandteilen aufbaut, niemals geschwätzig, niemals angestopft und aufgefüllt, beginnt und endet auch schon wieder, und formt dennoch einen vollen und nicht fragmentarischen Bogen. „Minimal“ und „reduziert“ könnte man hier sagen – und diese Worte sind vielleicht zu Keywords in unserer durch Lärm und Hetze verdorbenen Welt mutiert – so als ob Kunst nur durch Subtraktion entstehen würde, durch ein Heraus-arbeiten aus einem amorph gewordenen Ursprung. Hier geht es allerdings um einen präzisen und nicht-reduntanten Einsatz der Mittel.
Außer den launigen und manchmal mysteriösen Titeln, die diese kurzen Stücke haben (nur eines ist länger als drei Minuten), wissen wir nichts von den Intentionen der Musiker, nichts weiteres Schriftliches geben sie zu ihrer Musik preis. Dennoch ist die Musik nicht „abstrakt“, denn sie scheint persönliche und höchst absichtsvolle Subjekte zu umkreisen, ohne sie zu verschleiern. Das unterscheidet sie von den formal abstrakten Konzepten einer Neuen Musik, die sich aus genauen kompositorischen Vorgaben herleitet.
Woran liegt diese Kunst dann, worin besteht sie? Immer schon hat mich interessiert wie eine authentische Improvisierte Musik zustande kommt. Es ist ja ein Rätsel, wie und warum gerade dieser Ton oder Klang auf einen anderen folgt, wenn es keine offensichtlichen Regeln dafür gibt. In einer eher traditionellen Musikauffassung bedeutet Improvisation meist das Variieren oder Fortspinnen von Gegebenem, und nur wenig unterscheidet sich die barocke Orgelimprovisation (über ein Thema zB.) von den doch so streng reglementierten Ritualen im Jazz, wo über eine Skala „improvisiert“ wird, ohne den vorgegebenen Kontext von Melos und Rhythmus zu verlassen.
In einer freien Musik ist das anders. In Ermangelung von anderen Bezeichnungen spricht man gerne von „Instant Composing“ um die Brücke zu einer „ernsteren“ Musikauffassung zu schlagen. Improvisation hat ja einen schlechten Ruf, sie bedeutet nicht nur im alltäglichen Sprachzusammenhang oft etwas Unfertiges, Spontanes, Halbherziges oder Billiges, und wird oft als Gegensatz zu einer komponierten Musik gesehen, die darob eine viel größere Wertigkeit hat. Schon Karl-Heinz Stockhausen hat sich zwischen seiner Phase, in der er sich mit einer seriellen Musik beschäftigt hat, und seinen späteren Formel-Kompositionen und Opern mit improvisierter Musik beschäftigt, die er aber – sich abgrenzend – als intuitive Musik bezeichnet. In Aus den sieben Tagen besteht jede „Partitur“ für eine „Komposition“ aus einem kurzen Gedicht, einem Text, der die MusikerInnen gewissermaßen einstimmen soll auf den Geist einer Musik. Es scheint einen Zwang zur Partitur zu geben, zu einer Abstraktion des später zu Hörenden, ohne die auch heute noch z. B. die Musikförderung nicht auskommen möchte. Keine gute Musik ohne Schrift, möchte man sagen. Einige Gedanken aus Stockhausens Texten waren aber schon längst integraler Bestandteil einer frei improvisierten Musik: Glücklicherweise sind die KünstlerInnen mit Präzision und Sicherheit des Spiels, jenseits aller Virtuosität oder Spielfreude, ihrer theoretischen Aufarbeitung immer einen entscheidenden, selbstbestimmten Schritt voraus.
Dort, wo doch die Vorgaben fehlen, die uns eine „seriöse“ Musiktheorie vorzuschreiben vermeint, scheint die vielbeschworene Freiheit eine Ausdrucksmöglichkeit zu finden. Und Regeln werden nicht von außen hereingetragen, sondern entstehen oder ergeben sich aus dem „Spiel“ selbst. In ihrer Autonomie, die oft ja über die scheinbaren Grenzen der instrumentalen Möglichkeiten hinausgeht, ist eine improvisierte Musik hochpolitisch, ein Feindbild für eine reglementierte Kulturpolitik. Sie lässt sich nicht einfangen, instrumentalisieren und frisst niemanden dankbar aus der Hand.
Doch ist das alles nur ein „anything goes“ einer langsam verblassenden Postmoderne? In ein neo-liberales Weltbild von Nützlichkeit und Warenwert lässt sie sich schwerlich einordnen. (Vielleicht findet man diese Musik als Tonträger deswegen so selten im Netz, meist in den Audiotheken einer interessierten und versierten ZuhörerInnenschaft.)

3.
(Ein Gedicht ist eine Maschine, mit der eine Wahl getroffen wird. –
John Ciardi, How Does a Poem Mean)
Ich selbst brauche für meine Musik viel mehr Zeit und Raum. Manchmal muss es eine Minute nur Rauschen geben, oder nur ein langes und fast unmerkliches Crescendo, bevor sich die Klänge ins Hörfeld vortasten. Es braucht manchmal einen langen Atem, um all die Nuancen aufzuspüren und zu Gehör zu bringen.
Doch in dieser hier besprochenen Musik scheint jeder Ton, jeder Klang, unmittelbar da zu sein, stellt sich vor (oder aus), verschwindet und kehrt vielleicht wieder, ohne sich allzu sehr in rhythmische oder melodische Muster zu verstricken. Diese Miniaturen haben eine Kraft wie Gedichte, eine poetische Form, in die Verdichtung, Konzentration und Metaphorik eingeschrieben ist. Ein „Buch“ mit kleinen Geschichten vielleicht, die sich zu nichts, außer sich selbst verpflichtet fühlen, die wie in einem Aufblitzen gewissermaßen Hör-Blicke in Territorien eröffnen, die irgendetwas zwischen seltsam vertraut, neuartig, unbekannt, anrührend, oder mit einer spröden Zärtlichkeit einfühlsam sind. Ein kleines, feines Meisterwerk, das nicht nur im Ohr bleibt, sondern das – wie es ein Kunstwerk doch immer tun sollte – uns in Bereiche führt, die wir vielleicht sonst nie erfahren hätten. Das machen diese Stücke mit leichter Hand und sicherem Gefühl. Eine einladende Geste, die nicht fremden, sondern den eigenen Gedanken folgt. Quirlige Goldfische in einem klaren Teich.
Ist es eine Zumutung eine entspannte aber konzentrierte Hörhaltung einzufordern? Kann sein, aber es ist eine höchst befriedigende. Hören wir als zu, gehen wir mit den Klängen ein Stück des Weges gemeinsam, bis sich alle Spuren wieder auflösen, am Rand des Wahrnehmungsfeldes. Und findet man aus diesem Labyrinth wieder hinaus? Dieses trägt wohl jede/r in sich: Es ist ja das eigene Labyrinth, aber die Klänge können Reiseführer sein oder Landkarten in diesen Entdeckungsspaziergängen.

 

Werner Puntigam. Beat Keller. Georg Wilbertz – UND JA, AND YES –
(z0aR ZCD066)

Fresh from the Tapeworm’s lair

Von No Wave über Black Metal bis Dark Synth: Was die aktuellen musikalischen Veröffentlichungen von Riesenschweine, Pfarre, VOILER und Tintifucks miteinander zu tun haben, verrät Rezensentin Leonie Landraub zwar nicht (Achtung: Preisfrage unten!), dafür aber, wie sie klingen.

Wem der Micropig-Hype auf die Nerven geht und in puncto Haustiere antizyklische Alternativen bevorzugt, ist bei Riesenschweine richtig: Da suhlen sich keine Kuschel-Paarhuferleins niedlich-friedlich im Fango-Jacuzzi – die Säue, die da durch die Dorfdisko getrieben werden, sind im No-Wave-Stampede-Modus. Vier Stücke finden sich auf diesem (auch als Digital-Album erschienenen) Split-Tape mit Benzinprinz – deren Spielzeit bleibt zwar unter 5 Minuten, man sollte aber nicht vorzeitig den Rüssel rümpfen, da sie diese Kürze mit recht undomestizierter Intensität ausfüllen. Keine Zeit für Verhausschweinung! Bis zum Anschlag verzerrte Stimme und Gitarre bellen, brummen und röhren durch Polizeigewerkschaft, Arbeitsplatz und Hundezone, bevor im abschließenden Semmellied ein übersteuertes Rhythmusgerät die ganze Rotte hinausexpediert. Gerade rechtzeitig, bevor die nicht minder widerborstige Formation Tintifucks die Puppentheaterbühne stürmt. Die 10 Stücke auf ihrem aktuellen (prä-covid betitelten) Album home­schooled (Kassette und Digital-Album) überschreiten zeitlich zwar auch nur knapp die 10-Minuten Marke – auch hier lässt sich Qualität aber nicht von der Quantität in die Kiste sperren. Schlagzeug (bzw. Drumbox), zwei Stimmen und Gitarre – mehr braucht es bei diesen Hochenergie-Sprints nicht, die von vier kleinen Interludien (Brr bis Brr Brr Brr Brr) unterbrochen werden. Mit Chipper ist jedenfalls ein veritabler Ohrwurm gelungen – Herrrrrrrreinspaziert! PFARRE ist auf haecce // hauto a different beast altogether and its number is 1010011010. Die Veröffentlichung (Kassette und Digital-Album) besteht aus einem einzigen Stück von ca. viertelstündiger Dauer. Ob das jetzt – unter Inkaufnahme aller damit einhergehender potentieller Missverständnisse – einfach Black Metal genannt werden soll, oder ob da jetzt ein Micro-Genre fünfter Potenz erfunden werden müsste (z. B. „Conscious Atmospheric Drone Anarchist Black Metal“), ist eine musikjournalistische Debatte und damit egal. Abgesehen davon, dass der Name Pfarre eine Faust aufs Genre-Auge ist, die passenderweise pandaeske Corpsepaint-Muster hinterlässt, finden sich auch musikalisch diverse stilbildende Charakteristika aus dem schwarzmetallischen Vokabular: In den sich langsam aufbauenden düsteren Klangteppich mischen sich erst ein tiefes Tuckern, das Uneingeweihte fälschlicherweise für eine 410bpm Electro-Bassdrum halten könnten – während es sich tatsächlich um das Geräusch des Dieselmotors handelt, mit dem die Fähre über den Totenfluss Styx angetrieben wird (Charon wird auch nicht jünger) –, sowie eine verzerrte Gitarre, die – mittels wenig freundlicher Akkordfolgen (kleine Intervalle, große Wirkung) – hypnotische Beschwörungen ausstößt. Falls das noch zu sehr nach Frucht schmeckt, sollte die guttural raspelnde Stimme Abhilfe schaffen, die sich daraufhin dazugesellt und nun einmal zu einer korrekt durchgeführten rituellen Invokation gehört wie das Himalaya-Salz zum gepflegten Kinderfresserfrühstück. Zur Halbzeit dann eine kurze Verschnaufpause, die aber tatsächlich nur ein kurzes Atemholen ist, bevor der Soundmoloch elektronische Blastbeats ausstößt, die sich wie Geschoße einer infernalischen Nagelpistole ins Hirn tackern. Diese stellt das Feuer dann abrupt ein und weicht tröstlichen Ambientsounds, mit denen haecce // hauto schließlich endet. Der Klang ist zwar immer Lo-Fi, aber an keiner Stelle breiig oder verwaschen – dabei nimmt PFARRE wohltuenderweise keine Anleihen an traditionellem Black-Metal. VOILER wiederum ist als Fortsetzung von THE BOILER (siehe Versorgerin #121) mit anderen Mitteln zu verstehen – manches haben die beiden Projekte gemein, anderes unterscheidet sie. Es verbindet sie zunächst die nüchtern-kühle Klangästhetik, die dennoch leiblich pulsiert. VOILER verzichtet aber auf 000 (Kassette und Digital-Album) gänzlich auf den Einsatz menschlicher Stimmen und auch die – bei The Boiler harmonisch oft tragende – Orgel fehlt. Dafür treten die Synthesizer kräftig in den Vordergrund und die Beats nicht minder in den Hintern. Alle drei Stücke der Veröffentlichung sind als „Edit“ ausgewiesen – wenn also noch Material für eine Triple-12’’-Maxi vorhanden ist, umso besser: Jigglypuff basiert hauptsächlich auf Pitch-Bend Mondulation, bei der der Grundton rhythmisch höher gezogen und wieder in die Ausgangsfrequenz gebracht wird. Goth Romantic ist insofern ein passender Titel, als sich über den Walking Bass und die Handclap-gesättigte Rhythmik blumig-flächige Akkorde legen, die auch Depeche Mode zur Ehre gereichen würden (Zuschriften an die Referentin mit dem Inhalt, wonach Depeche Mode mit Gothic nichts am Hut hätten, werden ausnahmslos ignoriert und der Rundablage überantwortet). Das abschließende Whitney setzt die massiven Bässe fort und führt gegen Ende auch den Pitch-Bend des ersten Stücks wieder ein, mit dem diese gelungene Werkschau auch endet.

Abschließende Preisfrage: Welche Verbindung besteht zwischen den Formationen Riesenschweine, Tintifucks, Pfarre und Voiler? First come, first serve: Die ersten zwei Einsender/innen gewinnen mit der richtigen Antwort eine der Veröffentlichungen (soweit noch verfügbar) als Hardcopy (Kassette) bzw. Download.

 

Riesenschweine/Benzinprinz: Split2019 cassette, epileptic media

Tintifucks: homeschooled, epileptic media

PFARRE: haecce // hauto, Transformer Music

VOILER: 000, cut surface

„Einfach komplex“

Vor zehn Jahren starb die Linzer Autorin und Kulturaktivistin Eugenie Kain, heuer wäre sie 60 Jahre geworden. Ein Sonderheft der Literaturzeitschrift Rampe und eine Ausstellung im Linzer Stifter-Haus widmen sich ihrem Leben und Werk. Helmut Neundlinger über Eugenie Kain.

April 1968: Die Welt befindet sich in Aufruhr, der Vietnam-Krieg mobilisiert globale Protestaktionen. Als Berichte über Napalm-Bombardements gegen die Zivilbevölkerung bekannt werden, setzt der Linzer Schriftsteller, Journalist und Chefredakteur der KP-Zeitung Neue Zeit Franz Kain ein persönliches Zeichen: Mit einem am Körper befestigten Protestschild promeniert er über die zentral gelegene Linzer Landstraße. An der Hand hält er seine damals achtjährige Tochter Eugenie, die ebenfalls ein Schild trägt, auf dem steht: „Schützt die Kinder von Vietnam!“ Vierzig Jahre nach diesem Ereignis erzählt Eugenie Kain in einem Interview dem Linzer Zeithistoriker Michael John: „Wir sind beschimpft worden, es haben uns Passanten angeredet und angepöbelt, ich habe das ziemlich unangenehm in Erinnerung.“

Das Widerständige war Eugenie Kain nicht nur über den bereits in Jugendjahren als Widerstandskämpfer aktiven Vater Franz (1922–1997) gleichsam familiengeschichtlich eingeschrieben. Die Urgroßmutter hatte die erste Demonstration zum 1. Mai im Linzer Vorort Pasching organisiert, die Großmutter war wegen der Gründung einer kommunistischen Frauen­gruppe eingesperrt worden. Ein Großonkel hatte bei den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft und galt als vermisst, ein anderer Großonkel war im KZ Mauthausen wenige Tage vor der Befreiung des Lagers noch umgebracht worden. Die im Jahr 1960 geborene Eugenie Kain ist vor diesem Erbe nicht geflohen, sondern hat es früh inkorporiert und auf ihre Weise weitergelebt und -geschrieben.

1978 übersiedelt sie nach Wien und inskribiert Germanistik und Theaterwissenschaften. Prägender als die Universität nennt Kain in einer Frage nach der kulturellen Sozialisation in der Zeitung der oberösterreichischen Dachorganisation der Kulturinitiativen (KUPF) die Kulturszene im WUK, das Kulturzentrum Gassergasse sowie die 1979 gegründete Linzer Stadtwerkstatt. Früh entwickelt sie auch ihr Sensorium für marginalisierte Arbeitswelten: Ein Ferialjob als Putzfrau bei einer Linzer Versicherung mündet auf Anregung ihres Vaters in eine Erzählung mit dem Titel „Endstation Naßzone“, in dem ihr literarisches Alter Ego einen ganzen Reigen weiblicher Arbeitsbiographien samt den damit verbundenen Ausbeutungs- und Demütigungserfahrungen einfängt. Die literarische Qualität der Arbeit bleibt nicht unbemerkt: 1982 wird Eugenie Kain für den Text mit dem von der Linzer AK vergebenen Max-von-der-Grün-Preis für Literatur zur Arbeitswelt ausgezeichnet.

1984 beginnt Kain in Wien für die KP-Tageszeitung Volksstimme zu schreiben, zunächst als freie Journalistin, ab 1987 als fixes Redaktionsmitglied in den Ressorts Kultur, Innenpolitik und Chronik. Nach dem Ende der Volksstimme im Jahr 1991 schreibt Kain für das Nachfolgeprojekt, das Wochenmagazin Salto, bis auch dieses im Jahr 1993 eingestellt wird.

Die Geburt ihrer Tochter Katharina im Jahr 1991 und die Lebensgemeinschaft mit dem politischen Liedermacher Gust Maly haben zur Folge, dass Kain sich Mitte der 1990er Jahre wieder in Linz ansiedelt. Auch in der alten Heimatstadt bleibt sie kulturpolitisch und publizistisch aktiv: Inspiriert von der Gründung der Wiener Obdachlosenzeitung Augustin, initiiert Kain gemeinsam mit anderen eine Linzer Variante unter dem Namen Kupfermuck’n. Neben ihrem beruflichen Engagement bei der Volkshilfe und später beim Institut für Ausbildungs- und Beschäftigungsberatung betätigt sie sich als Journalistin für das Freie Radio Oberösterreich (FRO) und entwickelt in Kooperation mit dem Stifter-Haus das Format „Anstifter“, für das sie regelmäßig Interviews und Porträts von schreibenden Kolleginnen und Kollegen gestaltet. Auch in der Zeitung der Stadtwerkstatt, der Versorgerin, publiziert sie regelmäßig. Zudem fungiert sie als Sprecherin der GAV OÖ., der Regionalvertretung der Grazer Autorinnen- und Autorenversammlung.

Für die ab 1995 erscheinende Zeitschrift des Linzer Kulturzentrums KAPU, hillinger, verfasst sie Reportagen über die geographischen und sozialen Randgebiete der Stadt, die als Serie unter dem Titel „Linz Rand“ erscheinen. Diese Arbeiten bezeichnet die Linzer Germanistin und Direktorin der Landesbibliothek Renate Plöchl in einem 2010 verfassten Nachruf auf die Autorin als „Matrix“ für Eugenie Kains ab der Jahrtausendwende in Buchform erscheinendes Erzählwerk. Kain entwickelt darin ihren doppelten Blick, der die strukturelle Benachteiligung gesellschaftlicher Randzonen klar benennt und zugleich mit großer Behutsamkeit die einzelnen Lebensgeschichten und Erfahrungshorizonte nachzeichnet.

Mit einer radikalen inneren Konsequenz entsteht ein Prosawerk, das sowohl in seinem Umfang als auch in seiner ästhetischen Ausrichtung „klein“ bleibt, im Sinne dessen, was Gilles Deleuze und Félix Guattari mit Blick auf Franz Kafka als „kleine Literatur“ bezeichnet haben: eine Form der literarischen Artikulation, die dem hegemonialen Diskurs des Zentrums eine Sprache des Minoritären entgegensetzt. In den Erzählbänden Sehnsucht nach Tamanrasset (1999), Hohe Wasser (2004) und Schneckenkönig (2009) erschafft Kain ein Kaleidoskop von Kurzgeschichten, die mehr den Innenwelten ihrer Figuren folgen als einer linearen, aus der Vogelperspektive erzählten Handlung. Kain hat ihr Schreiben selbst in einem Interview mit dem Vorgang des Komponierens verglichen, worin sich nicht nur die große Verbundenheit mit der Musik widerspiegelt, sondern auch ihre Arbeitsweise mit und an der Sprache ihrer Texte.

Auch die als „Roman“ bzw. „Erzählung“ ausgewiesenen Bücher Kains, Atemnot (2001) bzw. Flüsterlieder (2006), entwickeln ein vielstimmiges Netz von Bezügen, ein „kunstvolles Geflecht von Erzählungen“, wie die Germanistin und Autorin Nicole Streitler-Kastberger, Herausgeberin der eben erschienenen Sondernummer der Rampe und Kuratorin der Ausstellung im Linzer Stifter-Haus, schreibt. Die Lektüre des schmalen Werks sowie der Beiträge der Rampe verdeutlichen die Komplexität, die Kain in eine Reihe mit großen Autorinnen wie Ingeborg Bachmann oder Ilse Aichinger stellt, denen sie in ihren Arbeiten sowohl direkte als auch indirekte Reverenzen erweist. Mit Aichinger verbindet sie der zuweilen schmerzhaft genaue Blick auf unausgesprochene Spannungen zwischen den Figuren, mit Bachmann die mythologische Durchdringung der Wirklichkeit, die selbst in den entrücktesten Momenten des Erzählens nie den Boden unter den Füßen verliert. „Es wird alles immer kürzer und dichter“, beschreibt Kain in einem Interview mit Helga Schager ihre Arbeitsweise, an deren Ende gleichermaßen wirklichkeitshaltige wie poetisch funkelnde Gebilde stehen.

Die Rampe-Sondernummer eröffnet vielfältige Zugänge zu Werk und Biographie Kains: Zentrale Motive wie das Wasser bzw. die Donau, Linz als Stadt- und Lebensraum, Arbeitswelten oder die literarischen Funktionen der Körperbilder, musikalische Bezüge, aber auch literaturbetriebliche Aspekte, Kains journalistische Tätigkeiten sowie Freundschafts- und Arbeitsbündnisse werden darin erörtert. Die hohe Intensität der Auseinandersetzung lässt erahnen, welch enormer Reichtum an Motiven und welcher Grad an poetischer Dichte sich in dem schmalen Werk versammelt finden. Kains Prosa verknüpft die Perspektive auf den Mikrokosmos Linz, der sie hervorgebracht und den sie wesentlich mitgestaltet hat, mit der Welthaltigkeit eines rastlosen Umherschweifens, sei es in Genua, der Bretagne, Irland oder aber in dem bei Eferding gelegenen Örtchen mit dem schottisch klingenden Namen „Unterhillinglah“.

Ein nicht geringer Verdienst der Publikation besteht im Wiederabdruck dreier Texte Kains: Den bereits erwähnten Text „Endstation Naßzone“ kann man ebenso nachlesen (und dabei die frühe Meisterinnenschaft der Autorin bewundern) wie den 1994 in der Rampe zu ihrem Vater Franz erschienenen „Vom Schwimmen in der Donau“, ein zentrales (auto-)biographisches Dokument. Ergänzt werden diese beiden durch den Text „Im toten Winkel der Zeit“, dem Bericht einer Reise zur deutschsprachigen Minderheit in der Ukraine. An diesem Text wird deutlich, wie sehr sich Kain dem Genre der literarischen Reportage in der Tradition von Joseph Roth verpflichtet fühlte. Wiederabgedruckt findet sich auch das einseitige Exposé jenes Projektes, das Eugenie Kain noch im Jahr vor ihrem Krebstod in Angriff genommen hatte: die biographische Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte einer vom NS-Regime zwangssterilisierten Frau, die 2009 in einem Linzer Altenheim gestorben war. Dieser Text hätte im Rahmen des ebenfalls von Joseph Roths Arbeiten inspirierten Projektes „MitSprache unterwegs. Literarische Reportagen“ (2010) realisiert werden sollen.

Nicht zuletzt wird auch die Persönlichkeit der Autorin gewürdigt, unter anderem in einem berührenden Erinnerungstext ihrer Tochter Katharina, der Eugenie offenbar die warme Lakonie ihrer Prosa erfolgreich weitervermittelt hat. Regina Pintar, die Verantwortliche des Veranstaltungsbereichs im Stifter-Haus und durch das Radio-Projekt „Anstifter“ über viele Jahre hinweg mit Eugenie Kain verbunden, vermittelt auf einfühlsame Weise ein Bild von der ebenso bescheidenen wie offenen Wesensart der Autorin: „Sie hat, ohne verschlossen zu sein, nie viel von sich erzählt, sie wirkte auf mich robust und zart zugleich, energisch und sensibel, bodenständig und elegant, naturliebend und urban. Sie war sozialkritisch und poetisch, sie war einfach komplex – wie ihre Texte.“ Eugenie Kain stirbt am 8. Jänner 2010 an den Folgen ihrer Krebserkrankung in Linz.

 

Ausstellung „Beim Schreiben werde ich mir fremd.“
Eugenie Kain (1960–2010)
Stifterhaus Linz
1. Dez 2020 – 27. Mai 2021 (Stand Redaktionsschluss)
Aktuelle Informationen: stifterhaus.at

Die Rampe – Porträt Eugenie Kain.
Hrsg: Nicole Streitler-Kastberger.
Adalbert-Stifter-Institut/StifterHaus – Literatur und Sprache in Oberösterreich.
Linz 2020. 184 Seiten. EUR 14,90.

Eugenie Kains Bücher Hohe Wasser, Flüsterlieder, Schneckenkönig und Atemnot sind im Otto Müller Verlag erhältlich.

Time’s Up im Winter

Anlässlich der von Time’s Up ausgesendeten Seaso­nal Postcard zum Winter hat die Referentin nachgefragt, was bei Time’s Up demnächst so geplant ist. Und das sind die Schwerpunkte, Interessen, Ideen und Leidenschaften der Initiative am Winterhafen:

Clean Cargo Lunch Sessions
Zum Thema der sauberen Fracht waren zuletzt Expert*innen zu Gast bei Time’s Up. In den kommenden Wintermonaten werden Ausrichtung und Planungen der Clean Cargo Lunch Sessions in Angriff genommen.
timesup.org/CleanCargoApplied

Re:Thinking Work
Im Zentrum stehen Fragen zu Beschäftigungen und Entlohnung sowie Fragen nach möglichen Verschiebungen – speziell auch in Anbetracht aktueller Entwicklungen. Diese werden gemeinsam mit dem Centrul Cultural Clujean bearbeitet und in eine Serie von Workshops als auch in eine Ausstellung in Cluj/RO im kommenden Jahr einfließen.
timesup.org/ws20/futureswork02

Curiouser and Curiouser, cried Alice
Wie anstelle von Angst eine Lust auf Zukunft losgetreten werden könnte, ist weiterhin das zentrale Element des kunstbasierten Forschungsprojektes Curiouser and Curiouser, cried Alice (CCA). In diesem Kontext wird in den Wintermonaten die thematische Ausrichtung für ein im Herbst 2021 in Linz abgehaltenes Symposium erarbeitet.
timesup.org/cca

RISE. Turnton2047
Und ohne Dreck unter den Fingernägeln geht’s bei Time’s Up nicht: Die Produktionsarbeiten für RISE. Turnton2047 laufen im Winter, die Ausstellung gibt es im Frühling 2021 im OK zu sehen. Ein akustischer Vorgeschmack auf das runderneuerte Hörspiel soll zur Weihnachtszeit präsentiert werden.
timesup.org/RiseTurnton2047