Markthalle 9 oder Neu?

Der Slowdude macht mal Linz gegen Berlin. Diesmal beschäftigt er sich im weitesten Sinn mit der Vorstufe zum lukullischen Genuss – nämlich der Beschaffung guter Basisprodukte in gewogenem Umfeld. Der Grünmarkt in Urfahr war ein nicht besonders ansehnlicher, aber dennoch netter Fixpunkt im Urfahraner Zentrum. Seine Anmutung als riesige Waschbetonplatte mag nicht allen BesucherInnen gefallen haben, war aber dennoch sehr unique. Und hat in ferner Vergangenheit stets an die Nähe zum eisernen Vorhang gewarnt – wenn auch nur architektonisch. Wenn der Slowdude an das alte Setting zurückdenkt, sind schon einige Tote darunter. Im wahrsten Sinn. Der nette und etwas schrullige Gemüsehändler, der leider vor einigen Jahren verstorben ist und die kooperativen Abgelebten, nämlich die Bäckerei Knott und die Fleischhauerei Lackinger. Ewig schade um Setting und AkteurInnen. Dann kam um 2012 die „Neugestaltung“ und damit wie so oft der Aderlass von Charme, Leben und Wirkung. Eine flache und eine nicht ums Verrecken entstehende Kooperenz der BetreiberInnen, ein Kommen und Gehen der MieterInnen und hilflose Versuche der Wiederbelebung. Und das ist wahrlich kein Vorwurf an die vergangenen oder aktuellen MarktbeschickerInnen oder die Gastro vor Ort. Die bemühen sich und kämpfen auf sich gestellt tapfer weiter und bieten auch feine Sachen! Zur gleichen Zeit – um 2011 – wurde in Berlin die Markthalle IX oder 9 zum Leben erweckt. Seitdem mit gemischtem Angebot. Nahversorger, Bauern aus dem Umland und Hipster, die Burger, Craftbeer und weitere Waren feilbieten. Auch ein Konzept, das nicht ohne Kritik auskommt. Tourismus-Overload, zu teuer, zu überfüllt und so weiter. Aber dennoch vibrant und bunt. Und im Kern das, was es behauptet zu sein: Ein Markt. Der Unterschied der beiden Ausformungen lässt sich schon auf den städtischen Websites erkennen. Die Stadt Linz so: „Grünmarkt Urfahr – Der Markt im Zentrum von Alt-Urfahr-West. Gastronomie und Lebensmittel.“ Und die Stadt Berlin so: „Markthalle Neun Berlin-Kreuzberg. In der historischen Markthalle bieten Händler vorrangig faire, ökologisch und regional erzeugte Lebensmittel an.“ Die kritische LeserInnenschaft vermutet hier vielleicht zwar Haarspalterei oder gar böse Vibes gegen arme Website-Content-Kreateure, aber der Dude möchte es gerade an diesen kurzen und simplen Texten festmachen. Linz macht es sachlich und Berlin fokussiert das Regionale und Ökologische. Und da ist genau der Hund begraben. Das zuständige Amt der Stadt Linz hat den Grünmarkt etwas uninspiriert verwaltet und in Berlin hat eine private Initiative das Heft in die Hand genommen und die Neuausrichtung konzipiert. In Linz ist jetzt Ähnliches geschehen – zwar unter politischem Kuratel – aber der Dude möchte ja nicht als Miesepeter enden. Geben wir der Neuausrichtung eine Chance. Ein Biobauern-Verband soll die Bespielung übernehmen. Grundsätzlich sehr positiv. Weil eine lokale bzw. regionale und biologische Ausrichtung versprochen wird. Platz sollte aber auch für die alten BeschickerInnen sein (Gemüsebauern, Gastro, Bäckerei …) und auch diverse Gastroangebote wie den aktuell vor Ort platzierten Foodtruck. Nicht wieder alles neu und am Reißbrett gestaltet. Vorhandenes ist Substrat für Neues! Wichtig ist, dass nicht zu uniform und markenverbohrt gedacht wird, sondern die Vielfalt von Linz und dem Umland, der Region und der Kulturen der Stadt manifest werden. Potential hätte der Markt mit seiner Lage. Für BewohnerInnen und BesucherInnen, für HändlerInnen und LandwirtInnen – als Ort guter Qualität und saisonaler Angebote. Und auch als Raum zu verweilen, jemanden zu treffen und zu schauen. Alle guten Attribute eines schönen Marktes wünscht der Dude dem Grünmarkt. Möge es gelingen!

Das gepanzerte „Wir“

Stephan Roiss steht auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises und hat für seinen damals noch unveröffentlichten Debütroman auch schon zwei Förderpreise bekommen. Kürzlich ist das Buch mit dem markanten Titel Triceratops erschienen. Es erzählt von einer Kindheit und Jugend, die durch familiäre Verstrickungen und Hypotheken belastet ist. Silvana Steinbacher mit einer Annäherung an das Buch und den Autor in sechs Fragestellungen.

WORUM geht’s in Triceratops?
Eine Familie im Ausnahmezustand: Die Mutter wechselt zwischen Aufenthalten in der geschlossenen Anstalt und dem Bemühen, zu ihren Kindern ein liebevolles Verhältnis aufzubauen. Der Vater ist tief gläubig und versucht in einem geregelten Alltag zu leben. Und die Tochter, von ihr wird nur am Rande berichtet, ist, vorsichtig ausgedrückt, verhaltensauffällig. Mitten in diesem Wahnsinn muss sich der Sohn, ein namenloser Protagonist, der von sich selbst in der ersten Person Plural spricht, irgendwie zurechtfinden.
Stephan Roiss erzählt in raschen – manchmal vielleicht auch zu raschen – Szenenwechseln von der Welt dieser als „Wir“ apostrophierten Person und deren Flucht in eine Phantasiewelt, ihrer Einsamkeit und dem familiären „Erbe“, dem sie kaum entkommen kann. Einziger Lichtpunkt ist die Aschbach-Großmutter, bei der der Protagonist Geborgenheit findet. Doch auch bei seinen Großeltern beiderseits wuchern die Katastrophen, von nationalsozialistischer Vergangenheit bis hin zum Selbstmord des Großvaters, den die Mutter von „Wir“ tot auf der Toilette entdeckt. Stephan Roiss entwickelt also eine vertrackte Familienaufstellung, in der der planlose und irritierte Jugendliche seinen Platz zu finden hofft.

WER ist der Autor Stephan Roiss?
Stephan Roiss ist ein vielseitiger, umtriebiger und origineller Künstler. Und das, obwohl erst 37 Jahre alt, schon sehr lange. Der gebürtige Linzer lebt als freier Autor und Musiker in Ottensheim und Graz. Sein literarisches Debüt legte er mit der Erzählung Gramding, erschienen in der Edition Linz vor, in der er in einer unprätentiösen Sprache den Alltag in einem Pflegeheim schildert. Er schreibt Prosa, Lyrik, Texte für Graphic Novels sowie szenisch-performative Texte. Sehr bald schon streckte er seine Fühler auch nach Deutschland aus, unter anderem durch eine Ausstellung in Hamburg, ein Studium am Literaturinstitut Leipzig oder den Förderpreis der Wuppertaler Literaturbiennale, mit dem er vor zwei Jahren ausgezeichnet worden ist. Auch Hörspiele wurden im SWR und Deutschlandradio Kultur gesendet. Stephan Roiss ist aber auch noch Vokalist, Performer und Texter und ganz offensichtlich findet er auch noch Zeit, um für die Referentin zu schreiben.

WIE nähert sich Roiss seinem Sujet?
Der Autor baut die Geschichte seines Protagonisten mit schnellen Orts- und Zeitwechseln und scharfen Schnitten, was durchaus reizvoll sein kann. In Triceratops geht das allerdings, so habe zumindest ich es empfunden, gelegentlich auf Kosten einer Atmosphäre oder Figur. Kaum tauche ich das eine oder andere Mal in eine Szene ein und lerne eine Figur kennen, wechselt der Autor schon wieder zu einem nächsten Schauplatz. So verkümmert so manche seiner literarischen Gestalten zur Statistin, wie beispielsweise die Schwester, von der ich gerne mehr erfahren hätte und über die es doch Wesentliches zu berichten gäbe …

An vielen Stellen gelingen ihm auch sprachlich starke, dichte Szenen, etwa jene in der Nervenklinik oder seine Ausflüge in die Fantasie.
Zitat: „Wir hätten uns nicht gewundert, wäre eines Abends ein Engel durchs Fenster in unser Zimmer geschwebt, um uns zu eröffnen, dass wir Gottes Sohn sind. Wir hätten ihn bloß gefragt, was genau unsere Aufgabe ist.“

Die Begegnungen des Protagonisten mit der blauhaarigen, schrillen Helix sind zum überwiegenden Teil von Leichtigkeit bestimmt, sie flitzt mit ihrem Skateboard nicht nur in diese Geschichte hinein, sondern bleibt auch ungreifbar für „Wir“, so wie überhaupt in Triceratops eine ständige Bewegung vorherrscht, und dem gleicht Roiss auch seinen Stil geschickt an. Ich vermute, es war seine Absicht, ein ständiges Fließen durch seinen Text zu erzeugen, der auch die Unruhe dieses „Wir“ unterstreichen sollte.

WAS steckt hinter dem Fas­zinosum der Familien­geschichte in der Literatur?
Die Familie, vor allem jene der Schriftstellerinnen und Schriftsteller als real präsentierte Familie entwickelte sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr zum literarischen Genre. Oft resultiert daraus sogar eine Ahnenforschung mit oft jahrelangen Recherchen. Monika Helfer landete mit Die Bagage, ihrer Geschichte über ihre vorarlbergischen Großeltern einen Bestseller, die deutsche Schriftstellerin Helga Schubert erzielte mit ihrem Text Vom Aufstehen, der vom Leben und Sterben ihrer Mutter berichtet, den diesjährigen Bachmann-Preis. Was steckt hinter dem Phänomen, dass Autorinnen und Autoren ihre persönliche, ja oft intime Herkunftsgeschichte einem oft breiten Publikum anbieten? Ist der Trend gar ein Indiz dafür, dass wir uns mehr und mehr in einer restaurativen Zeit befinden? Und interessiert es die Leserinnen und Leser überhaupt? Offensichtlich sehr. Bei Roiss verhält es sich aber in einigen Facetten anders. Nicht seine Verwandten sind die Helden oder Antihelden seines Textes, und es ist auch nicht die eigene Familie, die hier im Mittelpunkt steht (was ihm im Falle seiner Roman-Familie auch zu wünschen ist), sondern ein Repräsentant der jungen Generation. Dennoch ist es die Familie, die auch für sein „Wir“ stets präsent ist, vor allem durch die Zumutungen, die der Protagonist innerfamiliär ertragen muss und die sich in seinen Handlungen widerspiegeln.

WAS könnte der Titel bedeuten?
Ich muss gestehen, die Bezeichnung Triceratops habe ich, bevor ich den Roman in Händen hielt, noch nie gehört. Der Triceratops war einer der letzten Dinosaurier, der am Ende der Kreidezeit ausstarb, klärt mich meine Recherche auf. Er wurde bis zu neun Meter lang und wog bis zu zwölf Tonnen. Als besondere Merkmale sind sein massiver Schädel und seine gewaltigen Zahnbatterien zu nennen. Für diesen Roman wird das riesige Tier als Metapher gewählt. „Wir“ imaginiert einen Panzer, um in seiner Welt bestehen zu können. Und bereits in seiner Kindheit üben die Urzeittiere eine Faszination auf ihn aus, die ihn über die oft tragischen Ereignisse und das Chaos in seiner Familie trösten.

Zitat: „Wir spielten am liebsten mit dem Dinosaurier mit dem Nackenschild und den Hörnern. Er aß nur Pflanzen, aber war unbesiegbar. Er war kompakt, schwer gepanzert, ein guter Krieger. Niemand konnte ihn in den Hals beißen, nichts konnte ihn umwerfen. Er stand fest auf der Erde.“

Und schließlich: WAS sagt der Autor zu seinem Buch?
Oder ein Schusswort des Autors zu seinem ersten Roman

„In meinem Roman taucht mehrmals ein Mosaik als Symbol auf. Die raschen Szenenwechsel waren mir auch deshalb wichtig, weil ich auch auf diese Weise seine spezifische, zersplitterte Art die Welt wahrzunehmen darstellen wollte.
Mein Protagonist ist durch seine Familie sehr belastet. Allgemein glaube ich wird die Familie immer ein Thema in der Literatur sein, einmal mehr, einmal weniger. Unserer Familie entkommen wir nicht, sie ist ein sozialer Mikrokosmos, der uns prägt.
So wie in meiner Erzählung Gramding habe ich mich auch in Triceratops auf Elemente, die ich aus meinem Leben kenne, gestützt und diese dann fiktionalisiert. Ich denke, das liegt mir am meisten. Mit einer klassischen Recherche um ein Thema aus dem 18. Jahrhundert beispielsweise würde ich mir, glaub ich, schwertun. Für mich ist die Realität als Basis wichtig, das Sprungbrett der Kunst führt mich dann in die Fiktion.“

 

Stephan Roiss
Triceratops
Krenmayr & Scheriau
208 Seiten

KomA Ottensheim
10. Oktober

Echoraum, Wien
10. November, 20.00 h

3sat-Lounge, Buch Wien
13. November, 15.00 h

Stifterhaus, Linz
17. November, 19.30 h

Mehr: stephanroiss.at

Das Professionelle Publikum

Elisa Andessner, Claudia Czimek, Anna Fessler, Margit Greinöcker und Violetta Wakolbinger sind das Professionelle Publikum dieser Aus­gabe und haben ihre persönlichen Kunst- und Kulturempfehlungen für diesen Herbst gegeben. Kunst- und Kultur in Zeiten der Sars-Cov-2- Pandemie – eine Herausforderung, die man als BesucherIn unbedingt annehmen sollte.

Elisa Andessner
ist bildende Künstlerin und arbeitet in den Feldern Fotografie, Video und Performance. Sie initiiert internationale Austauschprojekte, ist Mitglied der Künstler*innenvereinigung MAERZ und Lehrbeauftragte an der Kunstuniversität Linz.

„Es ist MAERZ“
Schlommerstream Festival

Claudia Czimek
Künstlerin zwischen mikrouniversalen Rauminstallationen und Performances; Expeditorin zwischen Handwerk und Gegenwartskunst; Organisatorin des interdisziplinären ERZ | BERG | SCHMIEDE symposiums.
… mit der „The Cimi Schulz Show“ dem musikalischen Experimentaldilettantismus fröhnend …

IRON IS AN OPPORTUNITY – plastische und graphische Expeditionen von Claudia Czimek
Inbetriebnahme-Fest der Zeug­färberei Gutau – Experimentalwerkstatt für Färben und Drucken

Anna Fessler
ist für die Kommunikation im Verein PANGEA zuständig und leitet das Frauen*- und Mädchen*projekt „GLOSS Vol. V“. Bei Radio FRO ist sie Redakteurin im Infomagazin Frozine.

GLOSS Vol. V – Frauen*stimmen: Release-Feier
Holy Hydra 2020

Margit Greinöcker
untersucht mit unterschiedlichen künstlerischen Medien und Praktiken die gebaute und gelebte Umwelt.

OPEN STUDIO DAY im EGON-HOFMANN-HAUS
KUVA KUNSTSYMPOSION einfach.wohnen

Sarah Held
lebt in Wien, sie forscht, lehrt und arbeitet in Kunst und Kultur. Dabei beschäftigt sie sich viel mit sexualisierten Gewaltverhältnissen und Femicides, darüber hinaus ist sie Teil von „Pimmel Porn Protest“, einer performativen Film- und Diskursreihe zu queer-feministischer Pornografie. Aktuell ist sie mit „Girl Gangs over Berlin“ in der Ausstellung „Eine feminististische Perspektive für Berlin heute“ in der Alphanova Kulturwerkstatt – Galerie Futura in Berlin zu sehen. Infos: www.galeriefutura.de/ feministische-wohngeschichten-teil-2

H13 Preisverleihung: Julischka Stengele – Ballast | Existenz
Artist Talk im Rahmen der H13 Ausstellung
3. Diskussionsrunde Antiheldinnen: „Körperwahn, Haushaltswahn, Leistungsdruck“

Violetta Wakolbinger
lebt und arbeitet als freischaffende Medienkünstlerin, Fotografin und Filmemacherin in Linz / OÖ. Ihr Interesse entfaltet sich anhand der narrativen Strukturen von Motiv und Material, die sie in ihren Arbeiten aufnimmt, untersucht und erweitert.

Resurrexit – Translokale Monumente
Ausstellungseröffnung: 6 x 5 = 75

Tipps von Die Referentin

 

 

Sound Campus, Metaverse Enrique Tomás, Daniel Romero, Julia del Río
„THE WILD STATE“
Vernissage „Introducing“ Helga Schager | Herbert Schager | Oona Valarie | Ufuk Serbest | Felix Schager
KLANGSPUREN IMPROV #1–#6
Kulturviertelwochen
music unlimited 34

Editorial

Wir schreiben’s hier in ein paar Sätzen hin – nicht für die aktuelle Lese­rInnenschaft, die weiß ohnehin Bescheid, detailreich und experienced – sondern für die Nachwelt, die sich sonst vielleicht nicht auskennt: Wir hatten eine Corona-Krise, wegen der Sars-Cov-2-Pandemie gab es in Österreich einen Lockdown des öffentlichen Lebens, seit 15. März 2020 und etwa zwei Monate später eine schrittweise Öffnung. Systemrelevanz, Kurzarbeit, Ungleichheit, Ungleichbehandlung, Überbelastung, Online-Videokonferenzen bis die Augen glühen, eine Kultur down wie nie, Prekariat, Krisensituationen in den Homes, plötzliche Ahnungen über das tatsächliche Ausmaß der globalen Zusammenhänge, Über­wachung, noch mehr Kapitalakkumulation a la Amazon, Umbau in Richtung rechts – das sind einige Dinge, die sich nach Schulterschluss, erster Solidarität und unter einem Berg selbstgebackenem Brot im Corona-Biedermeier darlegten. Ja genau, Dinge, die immer da waren.

Und das gab und gibt es in der Krise auch: eine im globalen ökologischen Katastrophenzustand zumindest einige Wochen geschonte Umwelt, Menschen, denen es mit dem Herunterfahren des täglichen Stress-Desasters durchaus auch besser ging als vorher, und man staune, hier und da flackerten Diskussionen über ein zukünftiges Mehr an Solidarität, einer tatsächlichen ökologischen Wende oder auch eines bedingungslosen Grundeinkommens auf. Da und dort konnte man sich plötzlich zumindest ansatzweise ein Ende des Kapitalismus imaginieren, was bemerkenswert ist, denn das Ende des Kapitalismus soll ja angeblich weniger vorstellbar sein als das Ende der Welt. Allerdings: Die Wirtschaftshardliner wetzen schon ihre Klingen, in Vorschau auf eine Wirtschaftskrise, die bereits angekündigt ist und wie der Virus in Wellen kommen soll.

Wie wir auf diese Zeit zurückblicken werden – sicher anders als im derzeit permanent aufgeregten Erleben- und gleichzeitig Reflexionsmodus. Wir verzichten hier auf die großen Stellungnahmen zur Lage der Virus-Nation. Und sagen im Geiste Wiltrud Hackls, die für uns die Work Bitch verfasst: Umdenken, Dudes! Und Corona hin oder her: Es geht sowieso schon länger um einiges mehr als um eine lasche alte oder neue Normalität. Und wir schließen uns da ganz an: Bei der Kultur nicht aufzuhören, sondern einmal anzufangen, das wär ja tatsächlich mal was ganz anderes. Bitte da und dort nachlesen.

Anlässlich unseres Entfalls des „Professionellen Publikums“ in dieser Nummer: Als wir nach dreimaliger Planänderung zwischen zuerst regulär vorbereiteten Veranstaltungstipps, Home-Lifehacks und den klassischen Must-Have-Tipps der Marke Feuchter-Veranstaltungstraum-im-Netz nun schlussendlich doch wieder zu so einer Art – sagen wir es – neuer Normalität bei den Veranstaltungstipps übergehen hätten können, war es für diesmal zu spät. Die Aluhut-Fraktion vom Autokino-Regime hat alle kritischen Kulturschaffenden im Keller eingesperrt und zapft ihnen seitdem eine Substanz namens „Letzter Nerv“ ab, die Bevölkerung wurde mit einer Impfung gegen das so genannte kritische Kultur-Virus versehen, um sie schlussendlich mit 5G um die Ecke des echten Lebens zu bringen. Und die Echsenmenschen haben Stadtregierung und Landhaus gekapert. Sie haben das Virus ursprünglich freigesetzt und bauen seither die Kulturlandschaft zum Industriecluster mit Autokino um. Also, kurz gesagt: Es war kein professionelles Publikum erreichbar. Lustig ist das alles aber nicht, deshalb dröseln wir auf, beginnend mit Punkt 1, kein „Professionelles Publikum“ im Heft: Wir hatten von Anfang an kein Interesse beim aufgeregten Corona-Mainstreaming mitzuspielen, oder beim Marsch ins Netz, wo wir eigentlich eh schon alle dauernd sind. Wegen Ideologie-Alarm und den ohnehin auf der Hand liegenden guten Gründen, warum man gewisse Dinge im körperlichen Leben abhält. Jetzt, wo wieder so etwas wie öffentliches Leben da ist: Das Professionelle Publikum ist sich für diese Nummer einfach nicht mehr ausgegangen, zum einen wegen weitgehend noch nicht vorhandener Veranstaltungsfixierungen, individuellen Zeitvorlaufs und zum anderen hat es Referentin-seitig mit Inseraten und Finanzierung zu tun. Wir wollen unsere LeserInnenschaft aber nicht langweilen, deshalb weiter mit „Lustig ist das sicher nicht, wir dröseln auf“, Punkt 2, das erwähnte Autokino in der Conspiracy: Zuerst eine Autokino-Debatte im Jahr 2020, mehr Retro geht eigentlich nicht, und jetzt eine tatsächliche Autokino-Umsetzung auf dem Jahrmarktsgelände, geht‘s eigentlich noch? Dies als „Festival“ verklickern zu wollen, das dann noch im nächsten Jahr fortgesetzt werden soll, ist so was von deppert, dass man sich nur fragen kann, ob die Verantwortlichen und Macher gegen die Wand gelaufen sind – und bei dieser Formulierung wird bewusst auf eine Gender-Mainstreaming-Formulierung verzichtet. In diesem Zusammenhang kann ganz nebenbei auch bemerkt werden, dass wir eine neue Kulturstaatssekretärin haben, Andrea Mayer. Sie ist kompetent und könnte sicher den Unterschied zwischen Bespaßungsmodellen und Kultur im größeren Sinn erklären. So einen Blödsinn wollen wir von ihr aber nicht verlangen und lieber feststellen, dass mit der zurückgetretenen Ulrike Lunacek gerade seitens einiger saturierter Kultur-Platzhirsche ziemlich unfair umgegangen wurde, sowohl was ihren tatsächlichen Spielraum als auch diverse untergriffige Kommentare betrifft. Das hängt dann weiter zusammen mit „Lustig ist das sicher nicht, wir dröseln auf, Punkt 3“, mit dem oben erwähnten letzten Nerv der Kulturschaffenden: Abgesehen davon, dass ein paar Haberer eine oft recht zweifelhafte neue Normalität aufbauen wollen, geht es vielen KünstlerInnen und tatsächlichen Kulturtreibenden richtig schlecht – wegen eines oft ohnehin spärlichen Einkommens und nunmehrigen kompletten Verdienstentfalls und den allgemein mulmigen Aussichten für den Herbst. Hier kein Geld frei zu machen und stattdessen so was wie „Kreativität in der Krise“ einzufordern, ist blanker Zynismus. Unpackbar. Und zum Schluss mit „Lustig ist das sicher nicht, wir dröseln auf, Punkt 4“, nochmal zurück ins Conspiracyland, zu den Echsenmenschen und zum Umbau der Kulturstrukturen im Land OÖ: Dunkler Gossip durchspült die Stadt, ein Strom aus bizarren Informationen, echter Sorge und Fassungslosigkeit. Herr Landeshauptmann, tun Sie doch was für die Menschen!

Auf dem Pfad des kollektiven Too Big To Fail wandeln Ihre Referentinnen – und wünschen viel Spaß beim Lesen,
Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

Crossing und der kollektive Flow

Das internationale Filmfestival Crossing Europe musste im April aus bekannten Gründen abgesagt werden – und wurde quasi volée in etwas anderes transformiert, das mit Festivalpräsenz, Statement zur Situation und vor allem mit Film zu tun hat. Ein Interview mit Festival­leiterin Christine Dollhofer.

Eine Absage mitten in intensiven Vorbereitungen: Was ist rund um die Absage gelaufen – und wie waren die Erfahrungen mit einer blitzartig zu organisierenden partiellen Verschiebung eines Festivals in den digitalen Raum oder auf DorfTV?
Die der rasanten Ausbreitung von Covid-19 geschuldete Absage des Festivals stand bereits Anfang März im Raum. Von Tag zu Tag wurde klarer, dass das Festival in seiner seit Monaten geplanten Form nicht stattfinden wird können und dass wir das Festival in seine Einzelteile zerlegen und neu zusammensetzen müssen. Einerseits wollten wir nicht sang- und klanglos von der Bildfläche verschwinden, und vor allem auch alternative Angebote dem interessierten Festivalpublikum zur Verfügung stellen und zudem mit weiteren Aktivitäten im Herbst Perspektiven aufzeigen.
Das klingt jetzt sehr pragmatisch, hat aber unser Nervenkostüm doch dünner werden lassen. Neben der psychischen Belastung – es war ja nicht abzusehen, wie stark das Virus die Gesellschaft treffen wird – und der Sorge um die finanziellen Folgen – auch für die Mitarbeiter*innen – brauchte es vor allem Spontanität um vom „Geplanten“ Abschied zu nehmen und neue Ideen zu entwickeln. In einer Phase, wo alle Mitarbeiter*innen von zu Hause arbeiten, kein leichtes Unterfangen. Und parallel wollten wir unbedingt noch zu Dokumentationszwecken und als Belege auch für alle Filmschaffenden Katalog, Festivalzeitung und Website zum geplanten Vorverkaufstermin online stellen und somit der Öffentlichkeit präsentieren.
Die VoD-Plattformen sind direkt nach Bekanntgabe der Absage an uns herangetreten und nach und nach konnten wir uns mit der Idee, online zu gehen, auch anfreunden. Programmatisch stehen wir natürlich als Festival für das analoge Kinoerlebnis, welches auch für kollektives Schau­en und dem direkten Austausch mit den Filmkreativen steht. Aber im Nachhinein bin ich sehr froh, dass wir einen kleinen Querschnitt aus dem Programm auch online angeboten haben. Dazu mussten natürlich die Rechteinhaber*innen erst kontaktiert werden und die Abgeltung neu ver­handelt werden sowie Text- und Bild-Con­tent für die Plattformen aufbereitet und neue Bewerbungsstrategien entwickelt werden. Auch unser langjähriger Medienpartner DorfTV hat sich proaktiv angeboten und wir haben uns überlegt, was für diesen Ersatz-Eröffnungsabend program­matisch Sinn macht und auch rechtetechnisch zur Verfügung steht. Retrospektiv bin ich sehr zufrieden mit den gesetzten Aktivitäten und besonders erfreulich ist der rege Zugriffe auf die VoD-Angebote.

Wen trifft es am härtesten in der ganzen Kette von Filmschaffen? Ich meine, die Filmproduktion wurde unterbrochen, und scheint eventuell noch länger betroffen zu sein, der Veranstaltungsbereich wird wohl einer der letzten Bereiche sein, der wieder uneingeschränkt geöffnet wird, Reisebeschränkungen sind im internationalen Kulturschaffen ein wesentlicher Faktor. Die Stimmung pendelt irgendwie zwischen den diversen Ruhemodi – man weiß nicht, ob die Ruhe erholsam ist oder schon nahe dem Tod. Wie dramatisch ist die Situation? In Krisen zeigt sich ja ohnehin auch ein Status Quo der Kunstschaffenden – etwa als prekäre Gruppe, vergleichsweise lobbylos. Drohen nun ganze Branchen und Kunstsparten zu verschwinden, oder auch: Wo wird die Fragilität oder Stärke der Sparte besonders sichtbar?
Ich denke, so wie in allen Sparten und Bevölkerungsgruppen trifft es jene, die schon vor Corona prekär gearbeitet und keine Rücklagen haben, härter, als fest verankerte und finanziell bzw. institutionell abgesicherte Projekte/Initiativen/Institutionen. Das ist in Filmbereich ganz ähnlich, aber da Film immer zwischen Wirtschafts- und Kulturgut angesiedelt ist, gilt es eine „Filmindustrie“ zu retten, die aber von ganz vielen EPUs und Kunstschaffenden gespeist wird – und auch hier passen nicht alle ins Schema der Unterstützungsfonds und Hilfsmaßnahmen.
Ich fürchte, dass sich durch den mehrmonatigen Produktionsstopp und Verwertungsstau auch scheinbar gefestigte Produktions- und Verwertungsfirmen (dazu zählen Filmproduktionsfirmen, Filmverleiher, Kinos, PR- und Marketingunternehmen etc.), aber auch Festivals ins Straucheln geraten oder im schlimmsten Fall nicht überleben werden.
Die Interessensvertretungen sind zwar schon aktiv, um auf die Bedürfnisse aufmerksam zu machen, aber in Anbetracht der Ungewissheit, wann wieder gefahrlos gedreht werden kann bzw. wann Filme wieder ohne Einschränkungen in die Kinos kommen können, ist eine große Verunsicherung zu spüren. Zudem steigen merklich die Existenzängste. Hinzu kommt, dass erst kürzlich fertig gestellte Filme jetzt quasi ungesehen bleiben, weil es keine Festivals und Kinostarts gibt. Eine Welt­premiere auf Streaming-Plattformen strebt verständlicherweise kaum jemand an.
Aber es ist ein generelles Umdenken spürbar, immer mehr Festivals gehen online und entwickeln neue Kommunikationstools. So soll z. B. der Filmmarkt in Cannes online stattfinden. Meetings und Scree­nings für die Branche, die früher vor Ort wahrgenommen wurden, werden im Netz stattfinden. Einzelne Spartenfestivals haben inzwischen ihr gesamtes Programm ge­streamed.
Klarerweise ist dies für strukturell gut aufgestellte Festivals leichter, die z. B. auch schon vor Corona mit gut funktionierenden Screening Rooms – also eine Online-Videolibrary für Fachgäste – ausgestattet waren und in die Digitalisierung investiert haben, als für kleinere Festivals, die diese Infrastruktur aus finanziellen Gründen nicht anbieten können.
Die Verlagerung ins Netz ist mit zusätzlichen Kosten verbunden und auch die Bewerbung braucht dann andere Organisationsstrukturen. Zudem muss man auch klar unterscheiden, ob wir hierbei von Zugängen für das Fachpublikum oder für ein klassisches Kinopublikum sprechen.
Und ganz grundsätzlich ist es eine programmatische Frage, in welchem Ausmaß die Festivals das Filmangebot ins Netz verlegen oder darauf warten, wieder „klassisch“ im Kino Filme zu präsentieren.

Dazu auch einige Grundsatzfragen, die du schon angesprochen hast: Ich meine, Film funktioniert ja im Vergleich etwa zu Theater relativ gut im Netz oder im Fernsehen – ich spreche jetzt davon, dass ein Publikum Film auch zuhause konsumieren kann. Aber wo braucht der Film das Kino? Wo liegen die starken, tragenden Grundsäulen des Mediums, des Genres und einer Filmkultur, oder auch: einer Kunst, die etwas will? Mir gefällt auch die Definition des Festival-Begriffs als „temporäre Institution“. Deshalb anders gefragt: Was kann die „temporäre Institution“ eines Film­festivals? Was macht den unverzichtbaren künstlerischen Kern von Crossing aus – der nicht einfach ins Netz oder in an­dere Medien transformiert werden kann?
Eine klassische Kinofilmproduktion will zuerst mit dem Publikum kommunizieren – idealerweise eine internationale Festivalpremiere auf einem der renommierten A-Festivals, gefolgt von weltweiten Best-of-Festivals und dann Kinostarts in den jeweiligen Ländern. Bei den Festivals hat der Regisseur/die Regisseurin die Möglichkeit, direktes Feedback zu bekommen, die Verleiher der Filme nützen die Festivals für die Bewerbung eines Films, diese unterstützt dann eine spätere Auswertung im Kino. Journalist*innen haben die Möglichkeit, Interviews zu machen und diese dann bei Kinostart zu publizieren. Dieser gesamte Verwertungskreislauf ist strategisch, etabliert und vorab. Am Ende steht dann die Sekundärverwertung VoD, TV-Auswertung, Streaming, DVD/Blue Ray (ist aber eher schon ein Auslaufmodell). Dieser Ablauf ist natürlich auf jeden Film abzustimmen, bei manchen Filmen, z. B. Dokumentarfilme, die ein aktuelles Thema behandeln, wählen die Mache­r*innen vielleicht eine Straight-to-DVD-Auswertung nach der Festivalpremiere, oder gehen gleich direkt ins Netz. Oder wie im Fall von Die Dohnal, wo der überaus erfolgreiche Kinostart abrupt durch Covid-19 gestoppt wurde und jetzt intensivst auf österreichischen VoD-Plattformen abgerufen wird. Eine erfolgreiche TV-Auswertung kann man schon vorab für diesen Film prognostizieren.

Die Einzigartigkeit eines Festivals ist ganz klar der soziale und interaktive Aspekt, niederschwellig können sich Filmschaffende und Publikum austauschen, gemeinsam kann über Filme diskutiert werden. Rahmenprogramme wie Talks und Get-Togethers und natürlich auch Partys ergeben einen Ausnahmezustand, eine Verdichtung des Kollektiven. Außerdem darf nicht unerwähnt bleiben, dass bei einem Festival durch die Möglichkeit von vielen Filmen in kurzer Zeit ein so genannter „Flow“ entstehen kann, durch den das Gesehene noch intensiver nachwirkt oder neue inhaltliche oder künstlerische Verknüpfungen entstehen können.

Der reale Kinoraum versus eine Entwicklung der letzten Jahre hin zum digitalen Space, von neuen Produktions-, Seh- und Konsumgewohnheiten angetrieben, mit neuen Quantitäten und Qualitäten, die sich um das Medium Netz aufgebaut haben und die die Branche umzubauen schei­nen: Ich spreche das nochmal an, weil es heißt, dass wir nun durch die Krise gezwungen werden, uns mit einem umfassenden Boost an Digitalisierung auseinan­derzusetzen … Digitalisierung als Chan­ce mitten in der Krise. Wie wir wissen, haben vermischte Angst-und-Chancen-Palaver immer sehr viel mit Ideologie zu tun. Und hinter Scheindebatten von zum Beispiel ana­log vs digital liegen natürlich auch star­ke wirtschaftliche oder politische Interessen, denn die Entwicklung hin zum Konsum übers Netz liegt ja ohnehin voll ausgebreitet vor uns. Wo konkretisieren sich Interessen, und was sind für ein kulturelles Umfeld wie Crossing die Chancen und Verlustrechnung einer heutigen Zeit?
Hinter jedem neuen Trend liegen natürlich wirtschaftliche Interessen, die Digitalisierung der Kinos weltweit hat Investments in Hard- und Software von enormer Höhe mit sich gebracht und alle paar Jahre müssen die Projektoren und die Software upgedatet werden.
Warum die Filmvorführungen nach wie vor – auch für die großen Hollywood-Studios – wichtig und erfolgreich sind: Sie stellen einen wichtigen Teil des weltweiten Marketings dar. Jeder „Red Carpet“ auf Festivals ist Teil der Verwertungsstrategie. Ob seriöse Filmkritik oder Starportraits in Klatschblättern – alles Teil des Business. Wä­re dieser Teil der Verwertungskette nicht so kostbar und auch für die weitere digitale Auswertung wichtig, dann wäre die Kinoinfrastruktur wahrscheinlich noch mehr geschrumpft. Netflixen oder ein Kinobesuch sind ja zwei unterschiedliche Din­ge und stellen aus meiner Sicht auch keine wirkliche Konkurrenz dar. Wenn ich ins Kino gehe, möchte ich ausgehen, andere Menschen treffen, oder einfach alleine in Gesellschaft sein – Kino als „sozialer Raum“ hat nach wie vor seine Berechtigung. Streamen ist hingegen Teil des privaten Alltags geworden.

Mir kommt es ein wenig absurd vor, dass Kultur derzeit sehr viel unerwartete Aufmerksamkeit bekommt, Stichwort reguläre Regionalsender. Mir kommt vor, nachdem die letzten Jahre alles über den Besucherzahlen-Kamm geschert wurde, kommt nun der Corona-Kamm, so in die Richtung: Na schau ma mal, was alles abgesagt wird und was die Kultur jetzt draus macht, mit ganz vielen Grüßen von Balkonien. Stimmt der Eindruck? Bzw., von einer anderen Ecke gefragt: Wo würde jetzt eine medienpolitisch-strategische Chance auf Mehr liegen? Ich meine, könnte es ein Festival wie Crossing Europe im Fernsehen geben – ich erwähne den Bachmannpreis auf ORF, mehrere Tage nur Literatur, Lesungen und Diskussion … und sicher gab’s und gibt’s diverses anderes, an das man andocken könnte. Wäre es etwa eine Chance, wenn ein Festival wie Crossing Europe 4 Tage komplett die vorhandenen österreichischen Fernsehkanäle pro­grammiert? Mit, sagen wir, Spielorten auf den staatlichen und privaten Sendern und dazwischen den Talks auf DorfTV. Ist so eine Idee reizvoll? Ich meine, da könnte man als Kulturszene gemeinsam schon Programm bieten. Wenn grade schon alles auf den Kopf gestellt wird, und ein von oben verordnetes Corona-Mainstreaming passieren kann, könnte man doch eventuell gleich das große Übel der Kommerzialisierung und des permanenten Unterschreitens der Fernseh-Un­ter­haltung größer andenken? Ist das überlegenswert?
Mit Flimmit, die VoD-Plattform, die dem ORF angeschlossen ist, haben wir ja eine Kooperation mit den 10 aktuellen Cros­sing Europe Filmen (die noch bis 20. Mai zu sehen sind, genauso im Kino VoD Club) gewährleistet. Deine Überlegungen würde ich programmatisch unterstreichen und solche Angebote von den Sendern würden wir grundsätzlich gerne aufgegriffen. Mit DorfTV hat das ja gut geklappt, also warum nicht auch auf ORF III. Aber ich muss gestehen, wir haben uns auch aus Zeitnot nicht proaktiv darum bemüht.
Hindernisse sind hohe Lizenzgebühren für eine TV-Ausstrahlung bzw. Vorbehalte seitens der Rechteinhaber*innen. Hinzu kommt, dass die Crossing Europe Filme zumeist nur in Originalfassung mit englischen Untertiteln verfügbar sind, es gibt bei den meisten unserer Filme noch keine deutschen Untertitel, geschweige denn eine deutsche Synchronfassung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der ORF Filme mit englischen Untertiteln programmieren wür­de. Hier wäre wohl eine kleine Auswahl an Filmen das passende Konzept, mit der Option, noch deutsche Untertitel zu produzieren. Aber wir können das nicht finanzieren, da müssten auch die TV-Anstalten Geld in die Hand nehmen.
Grundsätzlich glaube ich, dass die großen TV-Anstalten zu lange Vorlaufzeiten haben und daher auch unflexibler bei der Programmgestaltung sind. Das liegt auch daran, weil die Lizenzierung für eine Ausstrahlung genügend Vorlaufzeit braucht und die Bewerbung auch geplant sein will. D. h. für die Zukunft und mit der angemessen Vorlaufzeit würde ich mir aber solche klei­nen Programm-Kooperationen wünschen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder mal Bemühungen einzelne Filme (v. a. Dokumentarfilme) aus dem Programm auch später in TV auszustrahlen, das hat sich als sehr mühsam herausgestellt, weil es entweder keine Slots dafür gab (Filme zu lang), oder die Filme zu teuer waren, oder andere TV-Anstalten beteiligt waren (z. B. Arte) und dann für österreichische Sender nicht möglich waren. Al­so alles Hindernisse, die auf den ersten Blick und für Laien nicht nachvollziehbar sind.

Auch mich hat es sehr überrascht, dass es für ein nicht stattgefundenes Festival mit einem kleinen Alternativprogramm sehr viel Presseaufmerksamkeit gab. Das ist na­türlich super für das Festival und die Filme, aber bestätigt deine Analyse, dass der Absagedominoeffekt Kern der Nachricht ist und weniger die Inhalte. Trotzdem bin ich froh, dass es so viel Aufmerksamkeit gab, auch um bewusst zu machen, dass Kunst- und Kulturveranstaltungen auch Verluste durch die Corona-Krise erleiden und sie Teil eines gesamtgesellschaftlichen Verbunds sind. Es sind nicht nur die Künstler*innen, sondern auch ganze Wirt­schaftszweige, die von Kulturveranstaltun­gen leben, die Zulieferer wie Druckereien, Gastronomen, Veranstaltungshäuser, PR-Agenturen, Veranstal­tungs­technikan­bie­ter etc. Ich denke, es ist ganz wichtig, das zu unterstreichen, weil oft so getan wird als wäre die Kultur nicht überlebensnotwendig und betrifft nur ein paar Künstler*innen und da könnte leicht gespart werden.

Corona ist ja zumindest schon über diese paar Wochen so eine Art Leitprogramm geworden. Man fragt sich zwischendurch ja durchaus, in diesem organisierten Shutdown, Lockdown, Hochfahren, der Lenkung, der fast totalen Berichterstattung und den ohnehin großen derzeitigen globalen Problematiken mit antidemokratischen Strömungen, Datenschutz und Über­wachung, was hier eigentlich wirklich geprobt wird – oder was diese Erfahrungen aus uns machen. Ich frage dich jetzt aber als Expertin in Sachen Film und Fiction: Erwartest du hier einschlägige Filme zum Thema? Und wenn ja, in welchem Genre?
Dystopien sind ja schon seit der Frühzeit des Kinos in der Filmgeschichte verankert und ich bin überzeugt, dass die Langzeitfolgen sowohl dokumentarisch aufbereitet als auch fiktional ihre Entsprechung in Form dramatisierter Verschwörungstheorien und Pandemie-Paranoia-Block-Buster auf die Spitze getrieben werden. In Amerika wird schon die erste Corona-Serie vorbereitet. Gewisse Serien wie z. B. A Good Fight, Homeland – oder Borgen, um auch eine europäische Serie zu nennen – waren ja ganz nah am politischen Geschehen. Ich bin auch schon gespannt, inwieweit die Pandemie auch die Präsidentenwahl in den USA im Herbst, aber auch andere demokratiepolitische Prozesse und damit einhergehend die Filmstoffe beeinflussen wird. Im Moment haben wir aber alle, glaube ich, genug von Corona-Tagebüchern, Corona-Talks, Corona-News. Ein bisschen Abstand tut zwischendurch auch mal gut!

Was ich beobachtet habe, war regionale Vernetzung immer schon wichtig für Cros­sing Europe. Wo liegt die Balance zwischen regional und international?
Das Herzstück des Festivals ist die Symbiose, das Zusammenspiel von regional und international. Ohne die europäischen Filme aus ganz Europa wäre das Profil des Festivals nicht gewährleistet, und ohne die Beteiligung der regionalen Szene wäre das Festival nicht verankert bzw. ohne Resonanzkörper. Beides bedingt sich und ein Fehlen dieses Zusammenspiels würde für mich konzeptuell nicht funktionieren.

Mir persönlich tut es ja heuer besonders leid um die Valie-Export-Filme. Wahrscheinlich kann man sie teilweise auch im Center sehen – ich muss zugeben, ich habe mich noch nicht erkundigt. Aber es ist ja durchaus auch interessant und auch angenehm, etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt serviert zu bekommen und das dann im Kinosaal zu schauen. Worum tut‘s dir leid – vielleicht in dem Sinn, dass diese Filme speziell den Kinosaal brauchen, oder den gegenwärtigen Moment?
Wie bereits medial angekündigt, wollen wir das Tribute an Valie Export im Herbst im Kino in Linz nachholen. Valie Export hat auch schon angekündigt dafür nach Linz zu kommen. Der Plan ist die Filme im Kino während des Ars Electronica Festivals zu präsentieren, also zwischen 9. und 12. September. Wie auch für Crossing Europe ursprünglich geplant, zeigen wir alle 6 Filmprogramme mit Einführungen und Filmgesprächen. Ich hoffe sehr, dass Corona uns keinen Strich mehr durch die Planung macht …
Darüber hinaus wird das Spotlight Mark Jenkin am 18. Oktober im Österreichischen Filmmuseum in Wien gezeigt, und von 8.–12. Oktober planen wir ein Local-Artists-Shorts-Wochenende im OÖ-Kulturquartier. Jeden Dienstag soll es dann 15-mal, von Mitte September bis Weihnachten, Crossing Europe-Filme aus der diesjährigen Festivalausgabe im City Kino geben. Also können wir dieses Jahr noch mit einigen Aktivitäten aufwarten, die ganz analog und altmodisch im Kino stattfinden.

 

Mehr Infos zu den erwähnten Angeboten: www.crossingeurope.at

Hinweis

Nachwuchskino aus OÖ

Die Nachwuchsinitiative Cinema Next präsentiert halbjährlich eine Tour mit aktuellem, jungen Kino aus Österreich in spannenden Kurzfilmprogrammen. Wegen Corona wird die Tour dieses Mal von den Kinos ins Digitale verlagert, der „analoge“ Tour-Gedanke bleibt aber aufrecht: 5 Filmprogramme für 5 Städte und 5 Kinos. Das Linz-Programm, das vom Moviemento Linz gehostet wird, ist vom 3. bis 9. Juni online und bietet ein Oberösterreich-Showcase: u. a. Animationsarbeiten von Studierenden der FH Hagenberg oder ein Dokumentarfilm von Gloria Gammer über die Schließung eines Wirtshauses im Mühlviertel.

Linz-Programm
Bird on the Wire von Elias Wagner & Corina Sand, 2019, 2 min
Guy proposes to his girlfriend on a mountain von Bernhard Wenger, 2019, 13 min
Persistent Disturbance von Laurien Bachmann & Sebastian Six, 2019, 8 min
What I Want von Jasmina Huynh, 2019, 3 min
2268, FRÜHER von Gloria Gammer, 2019, 29 min

 

Das Filmprogramm ist kostenlos und von 3. bis 9. Juni auf der Streaming-Plattform der heimischen Kinos, dem KINO VOD CLUB abrufbar. www.cinemanext.at

Aktuelle Info, Ankündigung vom 28. Mai 2020:

Künstler_innen sollen einen Pauschalbetrag von 1.000,– pro Monat für sechs Monate bekommen ‒ höhere einkommensbezogene Beträge stehen offenbar nicht zur Diskussion. Da die Abwicklung durch die SVS durchgeführt wird, ist davon auszugehen, dass ausschließlich in der SVS versicherte Künstler_innen davon profitieren werden. Dieser Fonds soll eine eigene gesetzliche Grundlage bekommen, die voraussichtlich Ende Juni in Kraft treten wird. Erste Auszahlungen wurden für Juli in Aussicht gestellt. Anspruchsvoraussetzungen (Vorliegen einer Notlage) sollen erst im Nachhinein geprüft werden. Ob es sich um eine Entschädigung ab Juli oder rückwirkend ab Mitte März handelt, wie es um eine vorstellbare Gegenrechnung etwa zum Covid-19-Fonds (KSVF) steht, ist bislang offen. Dasselbe gilt für die nach wie vor angekündigte Phase 2 des Covid-19-Fonds (KSVF). Nähere Info und Aktualisierungen auf den einschlägigen Seiten.

Es ist überhaupt nicht wurscht.

Pandemie und Lockdown: Otto Tremetzberger stellt gesellschafts­politische Beobachtungen an, wirft einen Blick auf die schon länger an­dauernde Misere eines kulturpolitischen Kennzahlenfetischismus – und thematisiert gerade in der Krise den Verlust von Kunst und Kultur als bedingungslosen Wert.

Die Kunst der Politik besteht darin, die Umstände, deren Urheber man häufig selber ist, im richtigen Augenblick zu beseitigen. Man beginne einen Krieg, um ihn zu beenden. Man sperre ein Tal, um die Eingeschlossenen zu befreien. Man setze die Daumenschrauben an, und lockere bei Gelegenheit. Die Umfragen, das Letzte, worauf er schaue, sagte unlängst der Kanzler, zeigen Erstaunliches. Lebensun­zufriedenheit und Zufriedenheit mit der Regierung korrelieren positiv. Arbeitslosigkeit und Zustimmung zur Regierung sinken. Ein Land, eine Gesellschaft im Stockholm-Syndrom? Hätte es schlimmer kommen können? Wahrscheinlich, sagen die meisten. Nein, sagen die Identitären, EsoterikerInnen, WutbürgerInnen, renitente 68er, HändewaschenverweigererInnen und linke wie rechte SektiererInnen.

„Widerstand“ ist generell kurz davor, sich auf den Faktor Empörung zu reduzieren. Linke und Rechte demonstrieren mancherorts Hand in Hand gegen ein System, das sich gegen Kritik weitgehend abschottet, koste es (Stichwort „Medienförderung“), was es wolle. Die Vernunft bleibt, wie so oft, auf der Strecke. Emotion ist die härteste Währung im politischen Geschäft. Die Bundesregierung investierte folgerichtig in Angst als Disziplinierungsmittel. Es ist dies, gewiss, nur die Spitze vom Eisberg jener polittaktischen, strategischen Überlegungen, deren sachliche Kritik gemeinhin als Verschwörung und Anpatzerei abgetan wird.

Von der Krise als „Katalysator“ war die Rede, womit die alte Reinigungsmetapher nur ein anderes, freundlicheres Gesicht bekommt. Aber dies hier wird auch nur eine weitere „Phase“ bleiben. Eine Phase hingegen, in der selbst in den kulturellen Leuchttürmen kein Licht brannte. Die großen Museen blieben, als ausgelagerte Kulturbetriebe den ökonomischen Prinzipien längst gesetzlich verpflichtet, mit den Touristenrouten geschlossen, weniger lange, hieß es, als sie es selbst wollten. „Wir Österreicher genügen wohl nicht“, zitierte der Standard einen Steuerzahler. Blockbuster verschoben. Theater zu. Die Albertina geschlossen. Auf die Idee, dass es im „Shutdown“ nicht nur um kulturtouristische, sondern eben auch kultur- oder gesellschaftspolitische Aspekte gehen könnte, kamen auffällig wenige. Die Diskussion über die Auswirkungen der Pandemie auf das künstlerische und kulturelle Leben kreiste weitgehend um Eigenfinanzierungsquoten, Einnahmenausfälle, Quadratmeter, Besucherzahlen und Deckungsbeiträge.

Die mancherorts geäußerte Hoffnung, dass die großen, und ohne den modernen Massentourismus, ins Schlingern geratenen Tanker, sich wieder ihrem „Kernauftrag“ als „wissenschaftliche Anstalten“, und nicht der ökonomischen Nutzenmaximierung besinnen würden (und die Politik dies ermögliche), ist naturgemäß genauso unsinnig und vergeblich, wie die Hoffnung, im Bordone-Saal des Kunsthistorischen Museums in Wien demnächst nicht Vierteltagestouristen aus Beijing, sondern auf Reger und Irrsiegler zu treffen. Albrecht-Schröder: „Ich kann dieser Rückbesinnung auf provinzielle Zustände nichts abgewinnen.“ Der Bordone-Saal, Reger und Irrsiegler existieren nur bei Thomas Bernhard; und den hat 2017 nicht einmal die Kultursprecherin der ÖVP wiedererkannt. Als ob man Ischgl wieder zur Heidi-Alm rückbauen könnte und wollte! Im Übrigen handelt es sich bei der Albertina und Ischgl nicht um Gegensätze, sondern um die beiden Seiten ein- und derselben Medaille.

Sollte man nicht gerade jetzt darüber reden, dass die Kommerzialisierung von Kunst und Kultur eine Sackgasse ist, wie Ischgl eine ist? Ist es nicht so, dass, wer sich den Zahlen ausliefert (und nicht selten damit prahlt), am Ende schwach ist und angreifbar? Und dass die Ökonomisierung (Umwegrentabilität) in der kulturpolitischen Diskussion ein Trugschluss ist? Hat man nicht viel zu lange den gesellschaftlichen Wert einer kulturellen Sache mit dem wirtschaftlichen verwechselt? Soll man nicht, gerade jetzt, wie es Rudolf Scholten kürzlich im Falter nahelegte, abseits der Debatte um Zahlen, um Relevanz, um Qualität, nämlich wieder bedingungslos und grundsätzlich die Bedeutung von Kunst und Kultur behaupten? Und ist es nicht verräterisch, wenn die Misere und die Lockerungen in der Kultur nahezu ausschließlich vor dem Hintergrund von Einnahmen oder Nichteinnahmen reflektiert werden? Als handle es sich nur um eine Variante der Schanigartenöffnung. Als seien Museen, Theater, Kinos und (irgendwo dann auch genannt) Kulturvereine nur eine andere Form von Wirtshaus.

Die sehr häufig sehr hämischen Kommentare in den Onlineforen lassen erahnen, dass, wie in der Finanzkrise, nun auch in dieser, die vielbeschworenen „Lehren“, die Politik und Gesellschaft daraus ziehen SOLLTEN und MÜSSTEN, überschaubar bleiben, dass sich „am System“ selbst wieder einmal nichts ändern werde, dass die Unverhältnismäßigkeiten und die Widersprüche generell und also auch im Kulturbereich weiter ver-, und nicht entschärft würden.

Niemand, auch der jugendliche Kanzler im alten Kreisky-Zimmer, kann wirklich wissen, wie die Welt nach Corona sein wird. Man muss, soll Michel Houellebecq gesagt haben, aber damit rechnen, dass wir nicht in einer neuen Welt aufwachen. Es werde weiterhin die gleiche sein, nur ein wenig schlimmer.

Auch von dieser Seuche wird behauptet, dass sie alle gleichmache und alle gleich treffe. Aber handelt es sich nicht schon jetzt vornehmlich um eine Krankheit der Schwächeren? Gesundheitlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich, kulturell und sozial. Schon die zunehmend unverblümt gestellte Frage, ob das Leben von 85jährigen es letztlich wert sei, dass man eine Wirtschaft herunterfährt, lässt erahnen, wo die Reise hingeht. „Der teure Schutz der Alten“ und „Alles Riskieren für die Alten?“, schreibt der Standard. Noch nie, so Michel Houellebecq, sei mit einer solch gelassenen Schamlosigkeit zum Ausdruck gebracht worden, dass das Leben aller Menschen nicht denselben Wert habe. Wird man über „die Alten“ also demnächst unwidersprochen so reden und so urteilen, wie – nach der sogenannten Flüchtlingskrise – über diese? Die Kunst der Politik besteht mittlerweile auch darin, im ersten richtigen Zeitpunkt das zu sagen, was man (noch) nicht sagen darf, und das tun, was man nicht tun darf, aber demnächst eben schon, weil es dann „Mainstream“ ist. Wo heute Angst und Empörung groß sind, werden es morgen Gleichgültigkeit und Achtlosigkeit sein.

In den Tageszeitungen die Kulturseiten, die Not zur Tugend erklärend, sind so „kulturpolitisch“ wie noch nie. Schließlich fehlen die Events, die Blockbusterausstellungen, die großen Festivals, die großen Premieren in den großen Kinos und auf den großen Bühnen. Dutzende Journalisten haben sich abgearbeitet an Ulrike Lunacek. Am Finanzminister brauchte die Kritik nicht einmal abprallen.

Unlängst, während tausende Kulturschaffende und andere nicht unselbstständig Beschäftigte mitten in den Trümmern ihrer Existenz und an den Abgründen ihrer Zukunft standen, hat Wolfgang Katzian, Präsident des ÖGB, die nicht neue Forderung nach einem „Grundeinkommen“ im Interview mit Ö1 brüsk polternd vom virtuellen Tisch gewischt. Es würden die Konzepte fehlen. Der ÖGB hat, wie die allermeisten politischen Akteure in den vergangenen Monaten, den einfachen Kulturschaffenden nicht viel zu sagen.

Als man im März von heute auf morgen das Veranstalten und Verkaufen von Kultur unterband, wollte Ö1, auch nur konsequent, das „Kulturjournal“ sogleich einstellen. Womit der ORF nicht nur Sinn fürs Sparen bewies, sondern auch, dass man als kleiner Kulturschaffender jetzt und auch in Zukunft kaum mit ihm zu rechnen braucht. Traditionell steht die Kultur bei den Zahlenfuchsen auf der Streichliste an erster Stelle. Dieser halbe Schritt, ein Geständnis, brachte dem ORF völlig zurecht die wahrscheinlich 10.000ste Petition des Gerhard Ruiss.

Der laute Aufschrei in der Kultur täuscht. Viele, die Masse, die es nicht in die Zeitungen und Talkshows schafft, schweigt. „Von Nichts kommt nichts.“ Unter den Kulturschaffenden führen deshalb weitgehend die UnternehmerInnen das Wort. Die MacherInnen. Die ManagerInnen. Helga Rabl-Stadler darf sich als „Eisbrecherin“ rühmen. Als Anwältin der vielen freien, lange vor Corona nicht- und unterbezahlten Kulturschaffenden kennt man sie nicht. Wortgewaltige Fernsehkabarettisten sorgen für den nötigen Schmäh, für spärlich bekleidete junge Frauen im Bildhintergrund, und die Quote, ohne die nichts, schon gar nicht im ORF, mehr geht. Kulturpolitik im Interesse der eigenen Sache. Das breite Schweigen der Kulturzampanos und Kulturfunktionäre zu den eigentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen hingegen ist skandalös.

Die Welt steht nimmer lang. Dieser notorisch österreichische Weltschmerz („Eh schon wurscht“) ist eingewoben in ein ziemlich reales Problem, das am 14. März für viele Kulturschaffende nicht erst begann, sondern, ist zu befürchten, endete. 20 Jahre hat sich kaum jemand um das leise Sterben der Kulturschaffenden gekümmert. Über die „Soziale Lage der Kulturschaffenden“ wurden Studien präsentiert, die Unglaubliches zu Tage brachten. So unglaublich wie die beschämende Bezahlung der Pflegerinnen und der Erntehelfer. In den Augen vieler handelte es sich bei deren Beschäftigung bisher aber nicht um Ausbeutung, sondern um „Wirtschaftshilfe“, oder (Stichwort „Streichen der Kinderbeihilfe“) um „Sozialbetrug“. Es wäre nun die Gelegenheit, auch diesen Widerspruch aufzulösen.

Stadtblick

Foto Die Referentin

Die Relevanz des Systems

Ok, Corona-Pause. Oder ist eh alles schon wieder zu Ende? Sind alle gesund, auf die es ankommt? Haben alle überlebt, die es braucht, um weiterzumachen, dort, wo wir aufgehört haben? Das scheint ja schließlich das Wichtigste: an der Stelle, an der wir das „System runterfahren“ mussten, weiterzumachen, so, als ob nichts gewesen wäre. „Kreativ in der Krise“ waren wir hoffentlich auch alle? Bilder gemalt, Gedichte geschrieben, den Roman endlich fertiggestellt, drei Fremdsprachen gelernt, den Körper gepflegt, den Urlaub in Österreich gebucht. Die Pause genutzt? Gut, dann kann es ja wieder richtig losgehen, jetzt können auch die Nicht-Systemrelevanten wieder zeigen, dass sie doch auch von Relevanz sind. Die systemrelevanten Menschen gingen ja weiterhin arbeiten, versorgten diejenigen mit dem Notwendigen, auf die es eigentlich gar nicht ankommt. Viel wurde darüber gesprochen, was dieses Notwendige ist, ohne das wir nicht auskommen und wer es vor allem bereitstellt. Wenig wurde hingegen über den Wert der Arbeit gesprochen, ebenso wenig über das Recht auf Arbeit und über Lohnarbeitsverhältnisse, ob sie gerecht sind und wenn nicht, was eine Regierung tun muss, um sie gerechter zu gestalten – um der vielbeschworenen Relevanz also Rechnung zu tragen. Wenig wurde auch darüber gesprochen, ob eine Lehre aus der Krise sein könnte bzw. sein müsste, laut und ernsthaft über soziale Verbesserungen für Menschen zu sprechen, die aktuell von dem, was sie verdienen, offenbar kaum leben können. Und nicht einmal angedacht wurde, darüber zu sprechen, ob eine Regierung, anstatt auf Forderungen zu warten, lieber Angebote machen sollte. Um neben App­laus und Dank auch Platz für glaubwürdiges Handeln zu machen. Aber: nicht Veränderung, sondern Normalität wurde zum Ziel erklärt. Die „neue Normalität“ versprach sogar eine leichte Steigerung: In der „neuen Normalität“ wird sich nicht viel geändert haben, kaum bemerkbar. Der Brand „Normalität“ wird adjustiert. So wie Marken wie Nivea oder Coca Cola unmerklich ihr Erscheinungsbild über die Jahre verändert haben, so drehen Bundeskanzler und Gefolgschaft dank Corona ein paar Schrauben enger. Österreich in Zeitlupe also, bitte nicht zu viel reflektieren und verändern – weder wurde hier von „demokratischen Zumutungen“ ge­spro­chen wie in Deutschland noch wurden Grundeinkommen oder Viertage-Woche diskutiert wie in Spanien oder Neuseeland. Veränderungen nach Pandemien blieben aber immer unausweichlich, was natürlich auch verheerenden Ausgangslagen vor Krisen geschuldet war – in anderen Ländern und vor allem zu anderen Zeiten: „Die Löhne verdoppelten sich in Italien, Frankreich und Deutschland (…). In der Gegend um Rhein und Donau entsprach der Tageslohn eines ländlichen Arbeiters dem Preis eines Schweines oder Schafes, und diese Löhne galten auch für Frauen, da sich das Gefälle zwischen Männer- und Frauenlöhnen im Gefolge des schwarzen Todes drastisch verringert hatte. (…) Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts war die Leibeigenschaft so gut wie verschwunden. Die Leibeigenen wichen überall freien Bauern – Zinslehen- oder Pachtbauern – die nur gegen eine beträchtliche Vergütung zu arbeiten bereit waren.“ (Silvia Federici, Caliban und die Hexe, 1998, S. 64). Ohne durch entsetzlich hohe Todesraten wie der Pest im 14. Jahrhundert (knapp ein Drittel der europäischen Bevölkerung innerhalb weniger Jahre) dazu gezwungen zu werden, sollten wir 600 Jahre danach als Gesellschaft eigentlich in der Lage sein, über soziale Verbesserungen für Menschen, die als „systemrelevant“ eingestuft werden, zu sprechen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir hören von Strukturen, die der Leibeigenschaft jedenfalls ähneln – in Schlachthöfen, auf Feldern und anderen „systemrelevanten“ Betrieben, deren Manager sich nur dann schöne Boni auszahlen können, wenn die Lohnkosten eben schön niedrig bleiben.

Wenn wir also von „Systemrelevanz“ sprechen, aber nicht gleichzeitig offen diskutieren, wie sich das „System“, dem hier zugearbeitet wird, überhaupt bildet und ob es gerecht ist, sind wir eigentlich ziemlich falsch unterwegs und sehr „unkreativ in der Krise“.

Wenn Federici in ihrem Forschungsprojekt der Zeit des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Europa nachging, wäre es nun dringend an der Zeit, darüber nachzudenken, in welcher Phase eines wirtschaftlichen, sozialen und politischen Übergangs wir uns aktuell befinden und wer welche Auswirkungen dieser Systemstrukturen zu ertragen hat. Wir kennen die Symptome, haben aber wenig Ahnung vom System an sich. Wir wissen, dass Warenströme fließen, Pakete sortiert, Kinder und alte Menschen betreut werden müssen, Spargel gestochen und Fleisch erzeugt werden muss, wissen, dass die Post und Kaufhäuser derart systemrelevant sind, dass sogar Angehörige von Miliz oder Bundesheer einspringen. Und wir wissen, dass auf Schulen, Bildungseinrichtungen und Kulturinstitutionen hingegen eine Weile verzichtet werden kann. Die aktuelle Regierung hat sich rasch die Definitionshoheit darüber gesichert, wer in welcher Weise dem System zuträglich ist und wer ob seiner bzw. vor allem ob ihrer Irrelevanz warten kann bzw. ruhig noch ein paar Wochen länger mit unbezahlter Reproduktionstätigkeit dem System zuarbeiten darf. Kunst und Kultur, Bildung, Wissenschaft, Demokratie, Verfassung, faires Wirtschaften, Gemeinwohl, Geschlechtergerechtigkeit – sie alle blieben außerhalb der Grenzen, fanden keinen Platz in der Inszenierung, die die Entourage rund um den Bundeskanzler ganz ausgezeichnet – Applaus, Applaus – auf die Bühne gebracht hatte.

Warum aber bleibt es so still, bleibt so vieles unhinterfragt und unkritisiert? Es mutet ein wenig verzweifelt an, wenn nun Strategie ist, sich selbst als „systemrelevant“ zu erklären: „Kunst und Kultur sind auch systemrelevant“ als einziger Ausgangs- und auch schon wieder Endpunkt des Aufbegehrens zeigt, dass es nur ums Dazugehören geht, nicht aber um ein Hinterfragen dieses „Dazu“ – wie und wer es definiert und ob es nicht auch ein paar Systemcrasher bräuchte – nicht ausschließlich Systemerhalter*innen.
Auf kritische Diskurse versteht man sich hierzulande allerdings leider ebenso wenig wie auf Streitkultur. Echte Veränderungen werden auch nach bzw. mit Corona in Österreich wohl eher nicht stattfinden, die neue Normalität wird eine leicht autokratischere Form der alten sein.

Das ist nicht nur bedauerlich, es ist eigentlich verheerend. Denn natürlich braucht es auch in Österreich ein Grundeinkommen, muss auch ein bedingungsloses diskutiert werden. Selbstverständlich muss eine der Konsequenzen sein, sowohl das Recht auf Arbeit als auch den Wert von Arbeit zu diskutieren. Es muss eine der Lehren sein, die jede vernunftbegabte Regierung aus der Erfahrung dieses Lockdowns zieht, darüber nachzudenken, wie gerecht oder ungerecht – sowohl auf Klassen als auch auf Geschlecht bezogen – Österreich gestaltet ist. Krisen sollte Fortschritt folgen – in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht. Stillstand, Normalität und Systemkompatibilität zählen da nicht unbedingt dazu.