Die Heldinnen der Notlage: Das Prekariat

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Antonio Zingaro, Multimedia Artist und Internet Hacktivist, arbeitet seit einigen Monaten bei einem Lieferdienst. Er schreibt aus der Realität seines Jobs über die Heuchelei während der Krise – und die Diktatur des Algorithmus.

Foto AZ

Ich stelle in diesen Tagen eine große Heuchelei fest, im Allgemeinen, aber insbesondere im Zusammenhang mit unseren Erfahrungen mit dem Corona-Virus. In diesen Wochen wurden wir Zeuge zahlreicher sozialer Initiativen. Einige hatten eine Art Bottom-up-Ansatz, andere nicht, alle sollten dem Covid-19-Notstand entgegenwirken, ihn eindämmen oder Abhilfe schaffen.
Bei einigen der Bottom-Up-Initiativen handelte es sich um selbstorganisierte, spontane und lokale Aktionen, wie z. B. die in Süditalien aufgehängten Weidenkörbe, die PassantInnen dazu auffordern, dort Lebensmittel und Vorräte für Bedürftige zurückzulassen. Oder es gab Botschaften der Hilfsbereitschaft, die Menschen in den verschiedenen Ecken der Städte auszuhängen begannen, um denjenigen NachbarInnen zu helfen, die am stärksten gefährdet waren, sich mit dem Virus zu infizieren.

Was mich in diesen Zeiten allerdings am meisten beunruhigt, ist die zentrale Rolle der Technologie und vor allem das blinde Vertrauen, das die Nationen und die meisten BürgerInnen in sie setzen. In den folgenden Zeilen werde ich versuchen, diese Heuchelei, die sich herausgebildet hat, hervorzuheben. Aufgrund des Zeitpunkts, an dem ich schreibe (Ende April, Aktualisierung Mitte Mai), fokussiere ich auf die Rolle der LieferantInnen, um hier konkrete Erfahrungen einzuarbeiten. Ich selber arbeite seit Oktober in einem dieser Unternehmen.

In diesen Tagen haben wir einen starken Shift in Richtung Technologie erlebt. Wir haben entdeckt, dass man nicht ins Kino gehen muss, denn es gibt Netflix; wir bemerkten, dass man nicht im Büro sein muss, um an Sitzungen teilzunehmen, denn es gibt Zoom; wir wussten auch vorher schon, dass man nicht in Geschäfte gehen muss, denn es gibt Amazon; und wir waren beruhigt, dass man nicht ins Restaurant gehen muss, denn es gibt Take-Away und Essenslieferungen. Als Autor dieses Artikels habe ich bereits in einem früheren Text die Verbindung zwischen Internet und Umwelt hervorgehoben. Es ging dort darum, dass die Bits, die durch die Internetkabel der Welt gepumpt werden, für die Umwelt keineswegs harmlos sind. Ich werde mich an dieser Stelle aber nicht mit ökologischen Auswirkungen, wie etwa auch von Streaming-Diensten, befassen. Stattdessen möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Haus-zu-Haus-Dienste lenken, insbesondere auf die Lieferung von Lebensmitteln.

Für die Lieferdienst-FahrerInnen hat sich seit Anfang der Krise, und damit seit der Einführung der sogenannten „kontaktlosen Lieferung“ nicht viel geändert. Die heuchlerischen Regeln, die die Verbreitung des Virus verhindern sollen, beinhalteten und beinhalten keinerlei Sicherheitsausstattung wie Masken und Handschuhe. Hingegen haben sich die Restaurants in Schlachtfelder verwandelt, die aus Tisch-Barrikaden bestehen, um zu verhindern, dass unbefugte Personen die Räumlichkeiten betreten – einst voll mit KundInnen, dann leer. Die EmpfängerInnen der Lieferungen verstecken sich hinter ihren Haustüren, als ob sie Angst hätten, die FahrerInnen wären Virenschleudern, die nun versuchen würden, in ihre Häuser einzudringen. Es sorgt meist für Gelächter und Verlegenheit, dass sie die Mahlzeiten aus den geöffneten, auf dem Boden stehenden Rucksäcken nehmen müssen, um zu verhindern, dass die FahrerInnen die Lebensmittel berühren. Zweifellos sind diese menschlichen Momente auf der Individualebene interessant, aber ich möchte mich eher auf technologische und makroskopische Aspekte konzentrieren, die ich aus meinem Erfahrungsbereich reflektieren konnte.

Die FahrerInnen, wie auch die PostbotInnen und alle anderen oben erwähnten Angestellten, die an vorderster Front in sogenannten „systemrelevanten Berufen“ tätig sind, sind die schweigende Armee, die es einigen Industrien und Unternehmen ermöglicht, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten fortzusetzen, wenn auch auf andere Weise. RestaurantbesitzerInnen, die ihre Mahlzeiten nur noch nach Hause liefern können und 30 % des Verdienstes den Zustelldiensten überlassen müssen, können in dieser Situation nur mit Not und Mühe den Kopf über Wasser halten. Sie sind oftmals gezwungen, einen Teil ihres Personals zu entlassen. Im Gegensatz dazu haben Unternehmen wie Amazon und Lieferando ihren Umsatz zweifellos gesteigert. So hat Amazon vor kurzem aufgrund der gestiegenen Nachfrage neue MitarbeiterInnen eingestellt. Und Lieferando bedient mit Stand Ende April sehr viel mehr Restaurants als einen Monat zuvor – wobei die gleiche Anzahl von MitarbeiterInnen mit dem gleichen Gehalt wie zuvor beibehalten wurde.
Ich frage mich: Wie ist es möglich, dass Unternehmen, deren Aktivitäten als system­relevant gelten, nicht verstaatlicht werden, um wirklich bedürftigen Menschen, die ohne Bewegungsmöglichkeit in ihren Häu­sern festsitzen, zu helfen, anstatt durchschnittliche Benutzer, die hauptsächlich der jungen Mittelschicht angehören, dazu einzuladen, ihre Zeit auf verschiedenen Plattformen zu verbringen, um durch Konsum den Geldfluss weiterhin sicherzustellen: „Sie brauchen sich nur zurücklehnen und auf Ihre Bestellung zu warten.“

Aber was hat das mit der Heuchelei bei technologischen Entscheidungen zu tun? Während KundInnen, die im Augenblick in ihren Wohnungen eingesperrt sind, immer mehr Zeit und Geld auf Plattformen investieren, die Daten der KundInnen sammeln und verwenden, um die Algorithmen zu verbessern oder um Marktanalysen durchzuführen, deren Resultate schließlich an Dritte weiterverkauft werden, leben Firmen, AnbieterInnen wie auch Kuriere in einem konstanten System, das ich als „Diktatur des Algorithmus“ definiere. Die MitarbeiterInnen der Versandzentralen von Amazon, Postkuriere, LebensmittelzustellerInnen, aber auch Su­permarktkassiererInnen, unterlagen schon lange vor Covid-19 einem algorithmisch berechneten Arbeitsablauf anstelle von An­weisungen durch einen menschlichen Manager. Sie wissen, dass die Geschwindigkeit, mit der sie die Produkte scannen, vom System überwacht wird. Zeit ist Geld, ohne Ausnahmen für menschliche Regungen. Das mag erklären, warum einige von ihnen manchmal so mürrisch wirken. Was jetzt, in Zeiten der Krise, besonders auffällt, und was ich vorher nie in Betracht gezogen hatte, ist aber die Abwesenheit einer menschlichen Figur in der Lieferkette. Ein Unternehmen wie Lieferando besteht für die FahrerInnen aus nur einem einzigen Namen, mit dem sie ständig digital in Kontakt stehen. Die anderen Figuren des Organigramms sind verborgen. Die wechselnd besetzte Kontakt-Position ist dafür zuständig, alles unter Kontrolle zu halten. Die Fahrer müssen die Anweisungen, die direkt in ihre Telefone gelangen, blind ausführen, ohne zu wissen, wie der Algorithmus funktioniert, der ihnen die Lieferungen zuweist. Im gleichen Chat, in dem sich die gesamte Kommunikation abspielt, müssen auch Probleme und individuelle Beschwerden gemeldet werden. Man ruft in den Wald und hat keine Ahnung, wer zuhört. Können wir eigentlich sicher sein, dass sich auf der anderen Seite des Bildschirms wirklich ein Mensch befindet, oder könnte es sich auch um eine Künstliche Intelligenz handeln? Zusätzlich macht es der beschränkte Kontakt mit dem gesichtslosen Namen auf dem Handydisplay den FahrerInnen schwer, die Strukturen des Unternehmens zu verstehen und die Dreh- und Angelpunkte zu identifizieren. Ohne zu wissen, wer der Anführer ist, wer seine Stellvertreter sind und wer diejenigen sind, die in der Pyramide noch weiter unten stehen, ist es den FahrerInnen unmöglich, einen gemeinsamen Gegner zu identifizieren, sich zusammenzutun und sich somit gewerkschaftlich zu organisieren.

Conclusio: Wir liefern an die gehobene Mittelschicht der Stadt, nicht an Arme oder Kranke. Wir ermöglichen es damit Multinationals, weiterhin Kapital in einer Situation zu produzieren, während Ladenbesitzer, Kunstschaffende und Selbständige zu Hause sitzen und ihre Schulden zählen. Wir sind nicht nur Teil dieser Armee von Arbeitern, die es der Nation ermöglichen wird, aus dieser Situation herauszukommen, und bleiben dennoch unbekannt – sondern die Gesundheit von uns „systemrelevanten“ LieferantInnen wurde gefährdet, ohne dass unser Dienst wirklich „systemrelevant“ war. Und wir arbeiteten nicht nur auf der Ebene der Ansteckung in einer potentiell gefährlichen Situation, sondern – was hier sichtbar wird – viele von uns arbeiten im größeren Zusammenhang und im großen Stil innerhalb einer Diktatur des Algorithmus, dem wir zunehmend ausgesetzt sind.

Denn in der neoliberalen Denkweise kommt Effizienz vor Menschlichkeit. Die oben genannten Arbeitsbereiche werden im Namen der Effizienz seit langem ständig von Algorithmen überwacht. Arbeiter und Arbeiterinnen in verschiedenen Bereichen werden ständig verfolgt, in Zeit und Raum – wie schnell sind sie unterwegs, wie lange brauchen sie, um von A nach B zu kommen, wie lange brauchen sie, um zu pinkeln, wo sind sie und mit wem? Und auch wenn diese Handlungen digital erscheinen mögen, geht es am Ende doch um die Arbeit eines Menschen. Zusätzlich müssen die Zusteller ihre ganze Emotionalität und Frustration in einem Chat ausleben. Eine Beschwerde einreichen, um Krankschreibung bitten und möglicherweise sogar gefeuert werden – alles muss innerhalb ihres eigenen Bildschirms geschehen. Dieses Modell der digitalen Kommunikation und des minimalen Kontakts von Mensch zu Mensch ist perfekt; es gewährleistet Effizienz zu einem sehr niedrigen Preis. Der Vertrag, den diese Leute erhalten, bewegt sich in der Regel an der Grenze zum Mindestlohn, und immer dann, wenn der Algorithmus unterdurchschnittliche Punktezahlen feststellt, sind die Arbeiterinnen und Arbeiter unmittelbar dem Risiko ausgesetzt, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Jemand anderes wird ihn immer dringend brauchen.

Wo ist die Grenze? Diese Diktatur des Algorithmus findet bereits überall statt: im Einzelhandel, am Fließband und im Callcenter. Wie wird es weitergehen? Bildung? Gesundheitssystem? Demokratie? Was wird in Zeiten nach einer Pandemie vernünftig erscheinen? Wird im Namen der Effizienz eine App eingeführt, die Ihre sozialen Kontakte aufzeichnet, während Sie nach den Quarantänemaßnahmen wieder einkaufen gehen können?

 

English Version:

The Heroes of the Emergency: The Precariat

Antonio Zingaro, multimedia artist and Internet hacktivist, has been working for a delivery service for several months. He writes from the reality of his job about the hypocrisy during the crisis – and the dictatorship of the algorithm.

I notice a great deal of hypocrisy these days, in general, but especially in relation to our experience with the corona virus. In these weeks we were witnessing numerous social initiatives, some of them in a kind of bottom-up approach, others not, which are intended to counteract, contain or remedy the Covid 19 emergency. Some of these initiatives were self-organized, spontaneous and local actions, such as the wicker baskets hung up in the south of Italy, which asked passers-by to leave food and supplies for those in need; or the messages of helpfulness left behind by neighbours in the various corners of towns to help those most at risk of contracting the virus.

But what worries me most in these times is the central role of technology and the blind trust that nations and even most citizens place in it. In the following lines I will try to highlight this hypocrisy that has emerged. In view of the moment I am writing (April 24), I will devote much attention to the role of suppliers. I myself have been working in one of these companies since October.

These days we have seen an emphasis on the role of technology. We have discovered that you don’t have to go to the cinema because there is Netflix; don’t have to be in the office to attend meetings because there is Zoom; don’t have to go to shops because there is Amazon; and don’t have to go to restaurants because there is Takeaway.

As the author of this article, I have already highlighted the connection between the Internet and the environment in a previous article on the same pages. In particular, it was about the fact that the bits pumped through the world’s Internet cables are by no means harmless to the environment. I will therefore avoid dwelling on the streaming services that have already been mentioned. Instead, I would like to draw attention to door-to-door services, especially food delivery services.

As for the drivers themselves, not much has changed since the beginning of the crisis, and thus the introduction of so-called ‘contactless delivery’. The hypocritical rules designed to prevent the spread of the virus do not include any safety equipment such as masks and gloves. The restaurants, on the other hand, have turned into battlefields consisting of barricades built with tables to prevent unauthorised people from entering the premises – once full of customers, now empty. The recipients of the deliveries hide behind their front doors as if they were afraid that the drivers are virus-slingers who are now trying to enter their homes. It usually causes laughter and embarrassment that they have to take the meals out of the open backpacks standing on the floor to prevent the drivers from touching the food. While the human aspect is very important here, in the following I will focus on the technological and macroscopic aspects rather than the individual level.

The drivers, as well as the postmen and women and all the other employees mentioned above who work on the front line (in so-called “system relevant professions”) are the silent army that enables some industries and companies to continue their economic activities, although in a different way. Restaurant owners who can only deliver their meals to their homes (and have to leave 30% of their earnings to the delivery services) can only keep their heads above water with difficulty in this situation and are often forced to lay off some of their personnel. But companies like Amazon and Lieferando have undoubtedly increased their sales, as the facts show that Amazon has recently hired new employees due to increased demand, and that Lieferando now serves many more restaurants than a month ago, while maintaining the same number of employees (with the same salary as before).

How is it possible that companies whose activities are considered systemically relevant are not nationalized to help people in real need, who are stuck in their homes with no means of movement, instead of inviting the average user, who is mainly from the young middle class, to spend their time on different platforms in order to continue to ensure the flow of money? “You just sit back and wait for your order.”

And what does this have to do with the hypocrisy of technological decisions? The category of suppliers, like that of couriers, lives in a constant system that I define as the “dictatorship of the algorithm”, while the clients, who are currently locked up in their apartments, spend more and more time and money on platforms that collect and reuse their data to improve the algorithms or to carry out market analyses, the results of which are eventually sold on to third parties.

Long before Covid-19, the employees of Amazon’s mail order centers, postal couriers, food delivery people, but also supermarket cashiers, were subject to an algorithmically calculated workflow instead of instructions from a human manager. They know that the speed at which they scan the products is monitored by the system. Time is money, with no exceptions for human impulses. That may explain why some of them sometimes seem so grumpy. What is particularly striking now, in times of crisis, and what I had never considered before, is the absence of a human figure in the supply chain. For the drivers, a company like Lieferando consists of just one name, with which they are in constant digital contact. The other figures in the organization chart are hidden from them. This, changing position, is responsible for keeping everything under control. The drivers have to blindly carry out the instructions that go directly into their phones, without knowing how the algorithm that assigns them the deliveries works. In the same chat where all communication takes place, problems and individual complaints must also be reported. Can we actually be sure that there really is a human being on the other side of the screen, or could it be an artificial intelligence?

The limited contact with the faceless name on the mobile phone display makes it difficult for drivers to understand the structures of the company and to identify the significant points. Without knowing who the leader is, who his deputies are and who are those who are even further down the pyramid, it is impossible for drivers to identify a common opponent, to join forces and thus to organise themselves into trade unions.

We suppliers deliver to the upper middle class of the city, not to the poor or sick. We thus enable multinationals to continue to produce capital in a situation where shopkeepers, artists and the self-employed sit at home counting their debts. Not only are we part of this army of workers that will enable the nation to get out of this situation and yet remain unknown – but the health of us „systemically relevant“ suppliers is put at risk without our service being truly „systemically relevant“. And, not only did we work at the level of infection in a potentially dangerous situation, but – as is evident here – many of us work in the larger context within a dictatorship of the algorithm to which we are increasingly exposed.

In the neoliberal mindset, efficiency has to come before humanity. All the categories of work mentioned above have, for a long time, been constantly under the surveillance of algorithms in the name of efficiency. Workers in all those different fields are constantly tracked, in time and space – how fast do you go, how long does it take you to get from A to B, how long does it take you to pee, where are you and with whom? And even though these might seem digital acts, in the end it’s about a human working. Additionally, delivery riders also have to discharge all their emotionality and frustration in a chat. Filing a complaint, asking for sick leave and possibly even getting fired, everything has to happen within their own screens. This model of digital communication and minimum human-to-human contact is perfect; it ensures efficiency at a very low price. The contract those people get are usually on the border of minimum wage and whenever the algorithm detects under-average scores, the workers are immediately at risk of losing their jobs. Someone else will always desperately need it.

Where will we stop then? This dictatorship of the algorithm is already happening everywhere: retail, assembly line and call center. What will be next? Education? Health system? Democracy? What will seem reasonable in post-pandemic times? Introducing, in the name of efficiency, an app that tracks your social contacts while you go shopping again after the lockdown?

Das flüchtige „und“

Mit dem Werk von Josef Bauer nimmt das Lentos Kunstmuseum ab Juni eine zentrale Position der österreichischen Gegenwartskunst in den Blick. Florian Huber über Josef Bauer.

Landschaftsmalerei „Linz, Blick gegen Norden“, 1997. Foto Josef Bauer Courtesy Josef Bauer; Krobath, Wien; Galerie Karin Guenther, Hamburg

Die umfangreiche, von Brigitte Reutner für das Lentos kuratierte Retrospektive des 1934 in Wels geborenen, in Linz und Gunskirchen lebenden Künstlers wurde in Zusammenarbeit mit dem Belvedere 21 von Harald Krejci konzipiert. Der Kunsthistoriker verantwortet gemeinsam mit Hemma Schmutz und Stella Rollig auch den materialreichen, im Verlag Walther König 2019 publizierten Katalog, der auch in buchgestalterischer Hinsicht zu überzeugen weiß. Gleich einem Atlas werden darin wesentliche Entwicklungslinien von Bauers seit den 1950er-Jahren geschaffenem Werk in Illustrationen und Texten dokumentiert und zugleich Fragen nach dem Verhältnis von Bildern, Worten und Dingen und ihrer adäquaten Repräsentation in Buch und Ausstellung provoziert. Streng nach einem Koordinatensystem geordnete Miniaturen von Aktionen, Schriftbildern, Wischungen, multimedialen Collagen und Skulpturen bestimmen den ersten Lektüreeindruck und versinnbildlichen die quasi ikonische Qualität von Bauers Arbeiten, die in systematischer Manier menschliche Zeichen und Gesten in Bildern, Skulpturen und Texten dokumentieren, um ihre Funktion und Bedeutung zu ergründen. In die Landschaft gepfropfte Buchstaben und Zahlen treffen darin auf vielgestaltige Gebilde aus Eisen, Polyurethanschaum, Polyesterharz und Pappmaché. Fotografien porträtieren Menschen als lebende Skulpturen, während wir dem Abguss einer Hand, die etwa ein Holzkreuz oder ein Zeichendreieck umklammert und immer wieder dem Künstler selbst begegnen. Dieser versieht Zeitungsausschnitte, Musterbuchseiten, Fundstücke aus der Natur und Warenwelt sowie selbst geschaffene Objekte mit seiner unverwechselbaren Handschrift in Gestalt einzelner Worte und farbsatter Pinselstriche.

Trotz zahlreicher prominenter Ausstellungsbeteiligungen, die Bauers Arbeiten etwa im Verbund mit Werken von Joseph Beuys, Richard Kriesche, Cornelius Kolig, Yves Klein oder Hans-Peter Feldman, mit dem den Künstler eine langjährige Freundschaft verbindet, präsentierten, blieben diese einem größeren Kunstpublikum weitgehend unbekannt. Dabei erweisen sich seine Beiträge zur Konzeptkunst nicht allein als repräsentativ für die künstlerischen Theoriedebatten der 1960er- und 70er-Jahre, sondern antizipierten auch die skulpturale Praxis so unterschiedlicher Kunstschaffender wie Franz West, Rachel Whiteread, Erwin Wurm oder Heimo Zobernig, wie der Katalog in seinen Textbeiträgen exemplarisch nachzuzeichnen sucht. Neben der Identifikation kunsthistorischer Vorläufer wie René Magritte wird dabei auch deutlich, wie viel Bauers Ästhetik einer Auseinandersetzung mit philosophischer Sprachkritik und Literatur verdankt, die nicht zuletzt der persönlichen Bekanntschaft mit konkreten Dichtern wie Eugen Gomringer und Heimrad Bäcker im Umfeld des „Bielefelder Kolloquium Neue Poesie“ und der Linzer Künstlervereinigung MAERZ geschuldet war. Die biographischen Begleitumstände von Bauers Werk unterstreichen hingegen, wie sehr die künstlerischen Neuerungen der Nachkriegszeit von AkteurInnen und Schauplätzen am vermeintlichen Rand, abseits von Metropolen und Weltmarkt, angeregt wurden. Die Ausstellung rückt zudem Bauers lebenslange Beschäftigung mit der eigenen Herkunft in Gestalt von nationaler Geschichtsschreibung, persönlichen Erinnerungen und politischem Tagesgeschehen in den Mittelpunkt. Sein mit flüchtiger Hand notiertes „und“, das viele seiner Arbeiten ziert, lässt sich vielleicht auch als Aufforderung lesen, das Kunstwerk als Teil eines größeren Sinnzusammenhangs zu begreifen, der nicht allein einem Individuum oder ausschließlich ästhetischen Überlegungen entsprungen ist. Die Erfahrungen und Wahrnehmungen des Künstlers im Umgang mit konkreten historischen Ereignissen wie dem Weltkriegsende, den Studentenprotesten von 1968 oder der Bildung einer schwarz-blauen Regierungskoalition im Jahr 2000 kreuzen sich im Werk mit Fragen nach ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung und den ihnen zugrundeliegenden Ursachen und Deutungshoheiten. Die Erforschung der individuellen und universellen Wirkmechanismen von Sprache und Bildern mit den Mitteln der Kunst zielt dabei vielleicht weniger auf einen Akt der „Versöhnung“, wie Harald Krejci vermutet, als eine schonungslose Offenlegung von Widersprüchen im Denken und Handeln des modernen Menschen, wie etwa in der Arbeit Schlagstock – Schlagzeile, die bereits im Titel mit Worten verbundene Gewalttaten evoziert. Verwendung und Bedeutung von Bildern und Texten entspringen schließlich vielen Quellen, führen ihr Eigenleben, widersetzen sich bisweilen jedweder Konvention.

Dementsprechend machen Präsentationsort, Vorwissen und individuelle Erwartungen ihren Einfluss bei der Kunstbetrachtung geltend, wie etwa die Farbfotografie Landschaftsmalerei: Linz, Blick gegen Norden demonstriert. Die Bildunterschrift löst ein, was der Hintergrund nicht zu erkennen gibt. Die Hand im Bild, die ein rotes Stück Farbe hochhält, erinnert an die Flüchtigkeit der Szenerie, die bald an einem neuen Ort in neuer Verbindung erscheinen und anderen Sinn entfalten wird. Die Ausstellung trägt diesem Umstand Rechnung, indem skulpturale Arbeiten gelegentlich in anderer Folge und an die neue Raumsituation angepasst oder auch in Form von Bildern und Texten präsentiert werden. Denn Bauers Kunst spielt virtuos mit Erwartungen. Nichts ist so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte. rot gelb blau zeigt etwa „gelb“ in blauen Lettern auf einem grauen Bilduntergrund und nötigt so zum Hinterfragen festgefügter Sehgewohnheiten, die nicht nur die Kunst, sondern auch die herrschenden Verhältnisse und ihre natürliche Selbstverständlichkeit in neuem Licht erscheinen lassen.

 

Josef Bauer
Demonstration
2. Juni – 4. Oktober 2020
www.lentos.at

Wir Können Da Was Machen

Wir Können Da Was Machen – so der Titel der aktuellen Publikation des Kunstraum Goethestrasse xtd. Der Katalog versammelt 29 Arbeiten der letzten Jahre und reflektiert Zugänge und größere Zusammenhänge zwischen zeitgenössischer Kunst und psychosozialer Gesundheit. Claudia Schnugg, Expertin zwischen Kunst, Wissenschaft und Kollaboration hat den Katalog zentral mitgestaltet und gibt Einblick.

Der Titel des Katalogs, der eine Auswahl an Projekten aus den Jahren 2010 bis 2019 dokumentiert, ist auf mehreren Ebenen Programm: Wir Können Da Was Machen ist Selbstreflexion des Kunstraums Goethestrasse xtd auf sich als Ort und auf seine unterschiedlichen Konstellationen der Beteiligten, er beschreibt den hausinternen Zugang der Herausforderungen und den Prozess der Projektentwicklung, und er stellt indirekt Fragen zu potenziellen Wirkungen von Kunst, künstlerischer Produktion und kultureller Teilhabe. Im Katalog gezeigt werden 29 künstlerische Arbeiten, die sich aus Aufträgen, Kooperationen und Langzeitprojekten zusammensetzen: Gestaltungen, Designs, Inszenierungen, Performances, Installationen, Tagungsbeiträge, Kampagnen, Videoproduktionen, fortlaufende Projektreihen.

In unserer Umgebung befinden sich so viele Orte, die wir vermeintlich kennen. Orte, die schon so lange da sind, dass wir meinen, sie ausführlich zu kennen, von denen vielleicht alle ein Bild haben. Ein Bild, das mehr oder weniger genau jenen Ausschnitt zeigt, wie wir diesen Ort wahrnehmen oder zuvor erlebt haben. Der Kunstraum Goethestrasse xtd hat sich für die neueste Publikation mit der eigenen Arbeit und jenen resultierenden Projekten auseinandergesetzt, die sich abseits des gewohnten Bildes und abseits des bekannten Spektrums ihrer Tätigkeit befinden. Der Prozess, der zu dieser Darstellung geführt hat, war eine Selbstreflexion gepaart mit Rückmeldungen von Projektpartner*innen und einer Analyse aus Expert*innenperspektive. Das Ergebnis ist ein Katalog von Projekten, die über das Jahresprogramm hinausgehen: Kunst am Bau, Kooperationen mit Künstler*innen, Auftragsarbeiten für Projektpartner*innen, Gestaltungsaufträge in Gebäuden, an öffentlichen Plätzen und bei Veranstaltungen. In diesem intensiven Prozess und im Rahmen des allseits gegenwärtigen Wirkungsdiskurses entstand eine Publikation, die über die bloße Darstellung einer Auswahl dieser außergewöhnlichen Projekte hinausgeht. In Form von Kapiteln werden die Projekte an jedem einzelnen Wort des Titels Wir Können Da Was Machen abgearbeitet: nach einer kurzen Einleitung werden ausgewählte Projekte zu dem jeweiligen Thema reflektiert. Im Fokus der Darstellung stehen die eigenen Communities (Wir), die Formate, Methoden und Expertisen (Können), die Orte, Räume und Zeitpunkte (Da), die Wirkungen (Was) sowie die Prozesse und Ergebnisse (Machen).

Wer ist das also, deren Bild es durch diesen Katalog neu zu sehen gibt? Der Kunstraum Goethestrasse xtd ist ein Produktionsort und Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst, dessen Arbeit sich an der Schnittstelle von Kunst und Sozialem, Kunst und psychosozialer Gesundheit als Angebot von Pro Mente OÖ bewegt. Jedes künstlerisch-partizipative Projekt fußt auf der Idee, durch Projekte nachhaltig individuelle und soziale Veränderung in Gang zu setzen, zur psychischen Gesundheit und Widerstandsfähigkeit von Individuen wie Gesellschaften beizutragen und ein respektvolles Miteinander zu ermöglichen. Gleichzeitig wird das Ergebnis nie aus den Augen gelassen, denn das Ziel ist es, mit diesem vielschichtigen Prozess hochwertige Ergebnisse zu schaffen – als Aufwertung des Prozesses und als Referenz auf die intensive künstlerische Auseinandersetzung des jeweiligen Teams und der Kooperationspartner*innen. Die Arbeiten haben den Anspruch, sich im zeitgenössischen Kunstdiskurs zu verorten und gleichzeitig werden unterschiedlichste Personengruppen in den Prozess der Kunstproduktion und -erfahrung aufgenommen bzw. adressiert. Im Zuge dessen werden Methoden zu individueller und gesellschaftlicher Teilhabe kontinuierlich hinterfragt und weiterentwickelt, wobei das künstlerische und das soziale Feld auf mehreren Ebenen voneinander profitieren sollen.

Unter der Prämisse eines erweiterten Kunstbegriffs und des gesellschaftlichen Auftrags der Kunst, greifen die Projekte Themen des aktuellen gesellschaftlichen, politischen und künstlerischen Kontextes auf und laden Menschen ein, einen Beitrag zu leisten um ein wertvolles Werk im zeitgenössischen Kunstdiskurs zu schaffen. Es zeigt sich in den Prozessen und Ergebnissen das kontinuierliche Ausverhandeln eines Mit- und Nebeneinanders von Zugängen, Themen, Methoden, Menschen aus Kunst und Sozialem sowie von Menschen mit und ohne psychosozialen Unterstützungsbedarf. Wie im Katalog sichtbar wird, verschwimmen dabei die Grenzen zwischen Produzierenden und Rezipierenden in der täglichen Arbeit, die Menschen stehen im Vordergrund.

Das Kernteam des Kunstraum Goethe­strasse xtd sind Susanne Blaimschein und Beate Rathmayr, die ihre Visionen vorantreiben und gleichzeitig im Hintergrund die Fäden ziehen. In jedem Projekt gibt es Möglichkeiten, auf unterschiedliche Art und Weise anzudocken, teilzunehmen und gemeinsam umzusetzen. Wie vielfältig sich das „Wir“ in einem Projekt gestalten kann, zeigt wahrscheinlich am besten das Beispiel einer bekannten Projektreihe. „City of Respect“ ist ein Überbegriff für seit über 10 Jahre stattfindende Projekte, um zu einem respektvollen Miteinander beizutragen, gemeinsam mit u. a. Stadtbewohner*innen und der eigenen Community. Bei der Kampagne wurden 2017 und 2018 mit den Linz AG Linien und der Friedensstadt Linz eine Reihe an Initiativen zu diesem Thema entwickelt. In weiteren Initiativen wurden u. a. Künstlerkolleg*innen eingeladen u. a. Projekte im öffentlichen Raum beizutragen, oder es wird mit Schüler*innen in einer Workshopreihe das Thema aufgegriffen, wobei die Ergebnisse als Interventionen oder in einer Ausstellung präsentiert werden. Es gibt Einladungen an Kultur- und Sozialorganisationen, gemeinsam ein Projekt zum Thema umzusetzen, wie auch Einladungen an lokale und internationale Gemeinschaften, Unternehmen und Wissenschaft, sich zu beteiligen. Jedes Projekt steht für sich und trägt die Idee weiter. Auch in Gestaltungsarbeiten werden Grundkonzepte aus dieser Projektreihe gerne aufgegriffen: am Lonstorferplatz in Linz, zum Beispiel, wurde der überdachte Tiefgaragenabgang mit Grafiken, die an die City-of-Respect-Kampagne erinnern, gestaltet und mit Gedanken daraus bereichert.

Dreh- und Angelpunkt der Herangehensweise, des Tuns ist der hohe Stellenwert von Handwerk und Inhalten. Mit Fingerspitzengefühl werden Prozesse für die Teilnehmenden und die Ziele der gemeinsam zu realisierenden Arbeit ausgewählt. Gestaltet werden dabei persönliche Zukunftsvisionen und Veranstaltungen ebenso wie öffentliche Plätze, Neubauten, gemeinschaftliche Wohnräume oder alltägliche Arbeitsutensilien wie Geschirrtücher. Exemplarisch lassen sich hier nur wenige Projekte herausgreifen, die wesentliche Methoden und Formate aufzeigen. Bei der Gestaltung des neu gebauten Wohnhauses von Pro Mente OÖ in Linz wurde das Kunstraum-Team schon frühzeitig in den Planungsprozess miteinbezogen: „Neues Zuhause – Die Welt im Großen und im Kleinen“ wurde diese Arbeit genannt. Der mehrstufige, auf zwei Jahre angelegte Prozess unterstützte die Bewohner*innen sich neu zu verorten, an diesem Ort und in der Gruppe, und sich selbst auszudrücken. Die Gestaltung selbst ist wichtiger Bestandteil des Wohnhauses, die Ästhetik erlaubt es eine angenehme entstehen zu lassen, den Eindruck klassischer betreuter Wohnhäuser gar nicht aufkommen zu lassen. In einem weiteren Beispiel, „Art Can’t Top Nature“ entwickelte der Kunstraum Goethestrasse xtd gemeinsam mit zwei eingeladenen Künstlerinnen, Karin Fisslthaler und Tea Mäkipää, eine künstlerische Gestaltung für den neu gebauten Verbindungstrakt der Anlage Wesenufer Hotel & Seminarkultur an der Donau. Als „Allianzen“ wurde eine Gestaltung im Rahmen einer Veranstaltung realisiert, die gleichzeitig als Inszenierung der Bedeutung des Ortes der Veranstaltung und als Intervention für die Besucher*innen fungierte.

Neben den unterschiedlichen Gestaltungsarbeiten von Orten, Räumen oder Zeitpunkten, die im Kapitel „Da“ exemplarisch vorgestellt werden, widmet sich das Kapitel „Können“ Formaten, die die Arbeit mit Projektpartner*innen und Teilnehmer*innen illustrieren. Es werden die wichtigsten künstlerisch-kreativen Methoden anhand von Projekten illustriert: Workshopreihen, eine fortlaufende Auseinandersetzung mit Materialien, Sprache und dem eigenen Körper, sowie Reflexionsprozesse, eine Entwicklung von Geschichten und ein Ausloten von Techniken und Materialien finden statt. Im letzten Kapitel „Machen“ wird die Vielfalt der Prozesse dargestellt, die unterschiedlichste Zusammensetzungen des „Wir“ zeigen, und kürzere Projekte wie auch über Jahrzehnte fortlaufende Themen aufgreifen.

Zusammenfassend befindet sich die Arbeit an einer Spezialposition zwischen zeitgenössischer Kunst, künstlerischer Betätigung, Kultur, Sozialem und psychischer Gesundheit. Somit ist die Frage des „Was“ nicht nur anhand von Projekten zu beantworten, sondern auch mit einem Blick auf theoretische Zugänge und die aktuelle Diskussion des Stellenwerts von Kunst und Kultur in der Gesellschaft mit einem Blick auf (psychische) Gesundheit. Um die Ergebnisse im aktuell allgegenwärtigen Wirkungsdiskurs zu verorten, der nach dem Beitrag von Kunst und Kultur frägt, werden in diesem Kapitel die Prozesse und Projektergebnisse dahingehend hinterfragt. Dank eines wachsenden Interesses an dieser Thematik konnten hier präsentierte Ideen anhand eines ausgewählten Projekts auch in der letzten Ausgabe des Magazins der IG Kultur unter dem Titel „Kultur auf Rezept“ vorgestellt werden. Vielleicht kann dieser Katalog sogar noch mehr als nur ein Puzzlestein im eigenen Bild hinzufügen und zeigen, was es denn da noch so zu entdecken gibt.

 

2019 ist ihr Buch Creating ArtScience Collaboration erschienen.
www.palgrave.com/gp/book/ 9783030045487

Claudia Schnugg hat ebenfalls in der Redaktion der im Text erwähnten IG-Kultur-Zeitschrift zum Thema „Kultur auf Rezept“ mitgearbeitet: igkultur.at/sites/default/files/posts/downloads/2020-01-07/IG%20Kultur_Zentralorgan_2019-01_Kultur%20als% 20Rezept.pdf

KunstRaum Goethestrasse xtd
Publikation:
Wir Können Da Was Machen Informationen und Ankündigungen zur Katalog-Präsentation sind bald zu finden auf www.kunstraum.at

Die Systeme von Vanessa Graf

2020 hat Vanessa Graf den Literatur-Förderungspreis von Rauris bekommen. Ines Schütz über die Texte „Life in a box“ und „Friend in a pot“ – und eine Autorin, die sich mit keinem der Themen, die sie interessieren, auf nur einem Weg auseinandersetzt.

„Wir sind auf Engste mit menschlichen und nicht-menschlichen Wesen rund um uns verbunden, eingebunden in einem komplexen Ökosystem, das komplizierter und verwobener ist, als wir es uns nur ansatzweise vorstellen können“, schreibt Vanessa Graf auf ihrer Homepage zu ihrem Projekt „Friend in a Pot“. Mit diesem Freund, einer Topfpflanze, die zum social interface wird und mit Menschen interagiert, will sie diese Verbindung erfahrbar machen. Der „Friend in a Pot“ nimmt einen mit auf eine Erkundungstour der Umgebung, spricht mit einem und kratzt so an der Vorstellung, der einzelne Mensch könne sich losgelöst von seinem Umfeld betrachten und sich, bei Bedarf, einfach aus dem System nehmen.
Systeme sind, so könnte man sagen, Vanessa Grafs „Ding“. Zunächst einmal das Ökosystem, das auch „Friend in a Pot“ zum Thema hat. Mit dem sich Vanessa Graf außerdem in ihrer Master-Arbeit zum Abschluss des Studiums Medienkultur- und Kunsttheorien an der Kunstuniversität Linz auseinandersetzt, wenn sie den ökologischen und kulturellen Auswirkungen des Internets nachgeht und der Frage, wie wir ein symbiotisches Netzwerk in Inhalt und Infrastruktur schaffen können. Davor hat sie sich wissenschaftlich mit anderen, menschlichen Systemen beschäftigt, hat Politikwissenschaften am Institut d’Etudes Politiques de Paris (samt einem Austauschjahr in Kirgistan) studiert mit Schwerpunkt Europäische Politik und sich im Speziellen mit Ökonomie, Recht und Geschichte beschäftigt.
Und dann gibt es noch die Systeme, die Vanessa Graf selbst aufbaut: Mit keinem der Themen, die sie interessieren (und davon gibt es viele), setzt sie sich auf nur einem Weg auseinander. Da ist die Wissenschaft, die auch nie auf nur ein Fachgebiet bezogen bleibt (um eine gute Basis für ökologische Aspekte in ihrer Masterarbeit zu haben, hat sie ein Biologie-Studium begonnen), da ist die künstlerische Arbeit in den Bereichen Schreiben, Illustration, Media-Art und Musik. Und die journalistische in Text, Foto und Film.
Als freie Journalistin leitet sie die Linzer Redaktion des Onlinemagazins „Fräulein Flora“, die sie nach dem Salzburger Vorbild aufgebaut hat. Ihr journalistischer Arbeitsschwerpunkt liegt in der Kommunikation von komplexen und/oder wissenschaftlichen Inhalten, vor allem in den Bereichen Tech, Digitalisierung, Kunst, Feminismus und Philosophie. Außerdem war Vanessa Graf die letzten vier Jahre mitverantwortlich für die Online-Inhalte der Ars Electronica (zuletzt zuständig für Inhaltliches im Futurelab) und hat dafür, wie sie schreibt, „viele Interviews mit sehr spannenden KünstlerInnen gemacht, viele Videos gefilmt, viele Ausstellungen fotografiert, und vor allem recht viel gelernt.“ Dem Lernen (was sie am liebsten ihr ganzes Leben lang tun würde) widmet sie sich derzeit in ihrer Bildungskarenz, die sie für die Fertigstellung ihrer Masterarbeit und die Suche nach einer anschließenden Doktoratsstelle nützt. Und für andere Projekte wie die Konzeption und Programmierung eines Computerspiels oder drei Schreibprojekte, zwei davon kooperativ.
Geschrieben hat Vanessa Graf schon immer, nicht nur journalistisch. „Das war eher Tagebuchartiges, Notizen“, sagt sie selbst. Dann wollte sie es wissen, mit dem literarischen Schreiben, verfasste einen Text auf die Ausschreibung des Rauriser Förderungspreises hin – und gewann.
Ausgeschrieben war der Preis zum Motto „Innehalten“, ein Thema, das bei Vanessa Graf sofort Assoziationen zu Yoga, dem Schlagwort „Achtsamkeit“ und grünen Smoothies weckte. „Ich habe mich gefragt: Warum müssen immer alle achtsam sein? Warum soll man immer Yoga machen?“, sagt sie im Gespräch. Und das sei überhaupt nicht gegen Yoga gerichtet, sondern dagegen, dass man immer auf seine Mitte achten solle, fast müsse, um in unserer Gesellschaft leistungsfähig zu bleiben. In ihrem Text „Genauso schwarz wir hier“ versteht sie „Innehalten“ denn auch als ein Bedürfnis nach Rückzug, dem heute selten Verständnis entgegengebracht wird. „Mir ging es sehr stark um Solidarität“, schreibt Graf. „Und darum, dass Altern, genauso wie auch Rückzug-Brauchen oder einfach ein unerwartetes Sich-Zurückziehen gerne sehr schnell pathologisiert wird.“

Beispielhaft für diesen Hang zur Pathologisierung steigt der Text in einer Arztpraxis ein: Der Partner der Ich-Erzählerin hat ohne ihr Wissen einen Termin ausgemacht, in dem es um ihre Mutter gehen soll. Die Mutter altert, kommuniziert immer weniger, wird leiser und leiser. Zwischen sich und die Welt packt sie Schachteln, zuerst unmerklich wenige, die man als Kuriosum abtun und ignorieren kann, später quellen sie aus dem Haus und versperren den Zugang. Die Grenze zwischen drinnen und draußen ist abgesteckt, wo die Mutter bleiben möchte, ist ebenfalls klar. Nur alle anderen können oder wollen nicht so recht umgehen mit dieser Tatsache. Der Partner vereinbart den Arzttermin, weil sonst nicht geholfen werden könne, der Bruder wäre gern früher informiert worden, um ein Heim zu organisieren. Und die Tochter – die schiebt zunächst alles zur Seite, tut sich schwer: „Mit dir darüber zu reden, hatte ich seit dem letzten Mal nicht mehr versucht“, heißt es im Text, „mit anderen war ich verloren, setzte an, redete von Kartons und Kisten, verlor mich zwischen Ecken und Kanten und blieb erst recht wieder stumm. Wie eine Verrückte, dachte ich, ob ich mich oder dich damit meinte, wusste ich nicht.“
In dieser Zeit des Begreifens und der Suche nach Orientierung zieht auch sie sich zurück: Anrufe und Nachrichten bleiben unbeantwortet, das Handy landet überhaupt in der Bestecklade, dafür geht die Erzählerin wieder spazieren: „Ich wusste nicht, wohin mich meine Beine trugen, sagt man, man sagt das doch so?, wie von selbst, das sagt man auch, aber ehrlich, beides gelogen.“
Auch in diesem Text geht es um Systeme und ihre Wechselwirkungen: Um das gesellschaftliche, das den Störfaktor „Für-sich-sein-Wollen“ nicht akzeptiert, und um ein familiäres, in dem jede Veränderung alle anderen Beteiligten unmittelbar beeinflusst. Durch die Rhythmusänderung der Mutter kommt die Tochter aus dem Takt und findet gerade so einen Weg, Gemeinsames wieder erleben zu können, einander nah zu sein.
Dass das Thema Demenz sofort mit ihrem Text in Zusammenhang gebracht worden ist, von der Jury des Rauriser Förderungspreises genauso wie von vielen anderen Leserinnen und Lesern, habe sie zum Schmunzeln gebracht, meint Graf, weil sie es beim Schreiben überhaupt nicht im Kopf gehabt habe, sich auch nicht damit auskenne. Und vielleicht ist gerade das das beste Beispiel für die These, die ihrem Text zugrunde liegt: Wir tun uns schwer mit dem Altern und leichter, wenn wir ein Krankheitsbild dazu haben.

In der Jurybegründung (Ludwig Hartinger, Liliane Studer, Erika Wimmer) heißt es: „Dass die Mutter an Demenz erkrankt ist, kann die Ich-Erzählerin in Vanessa Grafs Text ‚Genauso schwarz wie hier‘ nicht länger leugnen. Sie nimmt die Herausforderung an, die Mutter auf diesem Weg zu begleiten. Symbolisch für die Welt, in die sich die Mutter zurückzieht, stehen die Schachteln, die sich in und vor deren Wohnung türmen und für die Tochter zunehmend unüberwindbar werden. Unbeirrt sucht sie jedoch weiter nach Kontaktmöglichkeiten zur Mutter, findet sie über Berührungen, über körperliche Nähe. Dabei werden auch Verunsicherung und aufkeimende innere Widerstände nicht ausgespart.“
Der Rauriser Förderungspreis 2020 (vergeben von Land Salzburg und Marktgemeinde Rauris, dotiert mit € 5.000,–) konnte heuer nicht wie geplant im Rahmen der Rauriser Literaturtage verliehen werden. Die Covid-19-Maßnahmen versetzten alle, die am Festival beteiligt gewesen wären, notgedrungen in einen Zustand des „Innehaltens“ (das Motto der Förderungspreisausschreibung hatte eigentlich auf das 50-Jahr-Jubiläum dieser Veranstaltung angespielt, Anlass zur Rück­schau und zum Nach-vorne-Blicken). Der Förderungspreis an Vanessa Graf wird, sobald die Umstände es möglich machen, offiziell verliehen. Dann wird auch ihr vollständiger Text in der Literaturzeitschrift SALZ nachzulesen sein.

Genauso schwarz wie hier

Den Rauriser Förderungspreis 2020 zum Thema „Innehalten“ erhält Vanessa Graf für ihren Text „Genauso schwarz wie hier“. Eine Lese­probe von Vanessa Graf.

Bild Vanessa Graf

Als das mit dir anfing, besser, als ich es dann schließlich bemerkte, weil so etwas bemerkt man ja nicht von vorne weg, da braucht es Tage, Wochen, ein paar Besuche, jedes Mal ein bisschen anders, jedes Mal ein Stein im Weg, jedes Mal etwas, worüber ich beim Eintreten stolpern konnte – als man mir sagte, was eigentlich mit dir passierte, vergrub ich meinen Kopf in den Armen. Nahm das Gesagte und drückte es in die Ferne, weit, weiter weg von mir, eine abweisende Handbewegung, ein Schulterzucken, ein ausweichender Blick zur Seite. Nun, sagte die Frau hinter dem Schreibtisch, es gibt ja Optionen.
Optionen, dachte ich und fühlte die Möglichkeiten unter meinen Fingern gerinnen, sich über die Tischplatte ausbreiten, milchig-weiß bis hin zur Frau im Kittel gegenüber. Ein Heim, zum Beispiel, sagte die gerade, wie um mit ihrem Ärmel die Flüssigkeit auf ihrer Arbeitsplatte aufzusaugen. Betreuung, 12 Stunden, 24 Stunden, sie wischte ein Staubkorn vom Rande ihres Terminkalenders, oder wir können auch im Internet nachsehen, ich helfe Ihnen. Selbstverständlich.
Ich wollte nichts davon wissen, war verärgert. Wie können Sie nur, Sie haben sie ja nicht einmal gesehen, wollte ich schreien, blieb stattdessen stumm in der Ordination sitzen. Was heißt das jetzt für sie?, hörte ich mich schließlich doch fragen, während ich mental alle Anzeichen fein säuberlich verpackte, einsortierte, beiseiteschob. In Schachteln, was ironisch war, weil als ich es dann endlich wahrhaben konnte, lange nach diesem ersten Gespräch, erinnerte ich mich plötzlich wieder an all das, was ich damals so schön sorgfältig verschnürt an den Rand meines Bewusstseins stellte und verstauben ließ: Schachteln. So fing es nämlich wirklich an, mit Schachteln, und wäre ich weniger stur, weniger ängstlich, einfühlsamer oder einfach nur anders gewesen, hätte ich es vielleicht da schon bemerkt.
Der erste Tag, an dem ich deine Tür aufsperrte und meine Schuhspitze gegen etwas Hartes trat: nichts Außergewöhnliches. Ein Nicht-Ereignis, ein Un-Ding. Und trotzdem stand da etwas, eine kleine, schwarze Kiste, mitten in deinem Vorhaus, gerade so weit von der Türe entfernt, dass das Öffnen noch möglich war, das Eintreten aber bereits zum Über-Treten wurde. Ich stieg also darüber und gleichzeitig hinein in etwas, dessen Ausmaße ich weder erahnen noch mir vorstellen konnte, hätte ich es probiert. Ein schwarzes Loch, ein allesverschlingender Mahlstrom, unausweichliche Sogwirkung und ich ein Ästchen in der Brandung, ein falscher Zug und schon zerbrochen. Dass du damals eigentlich auch schon in Scherben vor mir lagst, das sah ich lange nicht. Ich trat also ein und darüber, über die schwarze Kiste, die Box in deinem Vorhaus, und dachte mir: Nichts. Nichts eigentlich, ich glaube nicht, dass ich sie damals überhaupt so wirklich wahrgenommen hatte, die Schachtel vor der Tür deiner Wohnung. Natürlich, ich sah die Falten in deinem Gesicht, jetzt klarer als vielleicht dort und dann an deinem Küchentisch, aber ich sah sie, die müden Augen, die schlaffe Haut, die Blässe. Komm, wir gehen spazieren, schlug ich irgendwann vor, raus an die frische Luft, die Sonne scheint. Du ziertest dich, deine Hände am Küchentisch wie ein Rettungsboot, während hinter dir der Dampfer in den Wogen versinkt und das Eiswasser deine Finger erstarren lässt, du wolltest nicht, nein, nein, ich war heute schon draußen, nein. Irgendwann gingen wir dann doch, du zögerlich in die Sonne blinzelnd, ich die Finger an den Blättern im Wald entlangstreichend. Ich kitzle den Wald und die Sonne kitzelt mich, lachte ich, du hinter mir, immer einen Schritt zurück. Ich dachte, du genießt. Du wusstest schon – du verlässt. Wir mussten beim Rausgehen auch über die Kiste gestiegen sein, die schwarze Box im Vorhaus, wir mussten die Tür einen Spalt aufgemacht haben, die Beine gehoben, eins, zwei, darübergestiegen sein. Davon weiß ich nichts mehr, wir redeten auch nicht darüber, nahmen sie nicht zur Kenntnis, taten so, als wäre sie nicht da. Keine Kiste im Vorhaus, keine Ringe unter deinen Augen. Rückblickend irritiert mich das, manchmal denke ich daran, wenn ich nachts wieder nicht schlafen kann.

Bild Vanessa Graf

Bei meinem nächsten Besuch waren es zwei.
Lange nur zwei.
Ich dachte nicht mehr daran, fand nichts merkwürdig, nur dich manchmal, wenn du dir wieder deine Augen riebst und verschlafen über die Tischplatte schautest. Wir sprachen noch immer nicht darüber, warum auch, zwei Kisten in deinem Vorhaus und eine Tür, die nicht mehr bis zum Anschlag zu öffnen war? Es gab Wichtigeres, Anderes: deine Mieterinnen, meine Beziehung, unsere gemeinsame Verwandtschaft, zum Schluss immer: unser nächstes Treffen. Wir redeten, anfangs noch stundenlang, wie früher. Es blieben immer Stunden, bis zum Schluss lange Stunden, aber das Reden war kürzer. Ebbte aus, bis wir gemeinsam, friedlich, wie ich dachte, auf der kleinen Bank auf deinem Balkon saßen und dem Nussbaum im Garten still beim Wachsen zusahen. Ich fand es schön, ich war zufrieden.
Mir fiel nichts auf, jetzt denke ich, mir hätte alles auffallen sollen: Die Art, wie du immer langsamer zur Tür schlurftest, die Klinke erst angriffst, dann kurz verharrtest, ehe du sie drücktest. Wie deine Worte, nicht alle, nicht einmal die meisten, aber manche, einige, gedehnter wurden. Leiser, das auch. Wie du die Augen niederschlugst und tief in deine Tasse starrtest. Wie die Farbe immer mehr aus deinen Wangen wich. Und wie lange ich das Leuchten in deinen Augen schon nicht mehr gesehen hatte.
Draußen – so nannte ich das, dann, nachdem ich es wusste, drinnen war bei dir, draußen war die Welt – draußen erschlug mich das Leben. Wo bist du, vibrierte meine Tasche, was machst du gerade, ich denke an dich. Eine Haltestelle später, ein Piepsen aus der Jacke, Sehr geehrte Frau und ich schreibe Ihnen weil, gleichzeitig ein Anruf, dazwischen wieder das Vibrieren: ich koche heute, wann kommst du, willst du, können wir, ich habe gerade, schau das, schau dies, wollen wir nicht, könnten wir, sollten wir.
Ich erzählte dir manchmal davon, vom Draußen, du nicktest stumm und nahmst noch einen Schluck Tee. Stille schlug mir ins Gesicht, das Vibrieren blieb in der Garderobe. Ich erzählte weniger, dann fast gar nichts mehr. Berichtete von anderem: Der Platz wird umgebaut, die Bahn hatte Verspätung, ich konnte heute nicht schlafen, der Sonnenaufgang war schön. Du antwortetest, die Rohre seien verstopft, das Essen war kalt, du schläfst schon lange nicht mehr.

Bild Vanessa Graf

Der Nussbaum begann, seine Blätter abzuwerfen.
Als es drei Kisten wurden, dann vier, fünf, sechs, schleichend immer mehr, sprach ich dich darauf an. Eine auf der Stiege, eine unter der Sitzbank in deiner Küche, eine am Balkon, Mama, was machst du, ziehst du um? Wieder der leere Blick, der Teekocher noch am Pfeifen, nichts, um die Hände zu beschäftigen, nichts, den Blick zu versenken. Ach, du, ich weiß nicht, was du meinst, es ist bloß, also, nichts. Mach dir keine Sorgen, magst du noch ein Keks? Was sind das für Kisten, fragte ich zwei Bissen später, was für Sorgen. Der Tee war fertig, du erzähltest mir vom Backen, ich erfuhr von Kilogramm Mehl und Vanillezucker und Ausstechformen, aber von den Boxen im Vorhaus, den Kisten am Flur erfuhr ich nichts. Kann ich dir helfen, probierte ich es später noch einmal. Du weißt doch, Stöbern, Aufräumen, ich liebe das. Komm, vielleicht finden wir noch was von Papa, zog ich dich vom Küchentisch in den Gang. Ich bückte mich zur nächsten Box, suchte die Öffnung, als du laut wurdest: Nein! Nein, nein, du drehtest dich auf der Stelle um, zurück in die Küche. Die Panik in deiner Stimme hallte in meinen Ohren nach wie eine Warnung: Lass mich. Ich blieb im Gang, setzte mich auf den Boden vor die Kiste. Hob sie, drehte sie in den Händen, schüttelte. Keine Öffnung, kein Geräusch, nur eine Kiste, sonst nichts. Willst du noch einen Schluck Tee, hörte ich dich vom Türrahmen fragen. Ja, nickte ich, gut, und ging zurück zu dir. Nach den Kisten fragte ich nicht mehr.

Der Abwärts­spi­rale entkommen

Im vergangenen Jahr erhielt Birgit Birnbacher den Bachmannpreis. Vor kurzem ist ihr erster Roman Ich an meiner Seite erschienen. Mit großem Respekt vor ihren Figuren stellt die Autorin auch in diesem Buch jene ins Rampenlicht, die sonst in unserer Gesellschaft ein Schattendasein fristen.

Silvana Steinbacher richtet ihren Fokus auf einige Aspekte, die sie an diesem Roman besonders überzeugt haben. Diesmal in alphabetischer Reihenfolge: von A wie Arthur bis Z wie Zufall.

Arthur: Er ist der Protagonist des Romans Ich an meiner Seite. Arthur ist ein intelligenter 22-jähriger Mann. Birnbacher steigt in sein Leben ein, als er im Jahr 2010 nach 26 Monaten im Gefängnis aus der Haft entlassen wird. Als Leserin erahne ich schnell: Zu einem „normalen“ glücklichen Leben wäre bei ihm nicht viel notwendig gewesen, etwas Zuwendung von zu Hause, ein Ort, an dem er sich aufgenommen fühlt, Geborgenheit. Innerhalb der über 270 Seiten umfassenden Geschichte wird Arthur plastischer, gewinnt an Konturen.

Börd: Ist es für einen Haftentlassenen erstrebenswert, bei einem Therapeuten wie Börd zu landen? Auch Arthur schwankt immer wieder bei der Beantwortung dieser Frage. Börd wirkt wie aus der Zeit gefallen. Alles an ihm scheint dubios, sein Lebenslauf, sein Therapieansatz, sein Aussehen, seine Wohnverhältnisse (Autowerkstatt), seine Funktion. Arthur ist eine der Testpersonen in einem Resozialisierungsprojekt. Von Börd erhält er den Auftrag, alles, was ihm zu seiner Kindheit und Jugend einfällt, aufzunehmen und an Börd weiterzuleiten. (siehe Punkt: Schwarzsprechen.)

Handlung: Das Buch bewegt sich zwischen Arthurs Geburt 1988 und 2010, dem Zeitpunkt seiner Freilassung aus der Strafjustizanstalt. Innerhalb dieses Zeitrasters jongliert Birgit Birnbacher zwischen Zeit und Ort, ohne die Handlungsfäden zu verlieren. Eine Erzählmethode, die der Autorin auch in Bezug auf das Tempo des Erzählten wichtig ist, wie sie mir in einem Interview, das wir nur per Mail führen konnten, mitteilt.

B. B.: „Ja schon. Ich persönlich mag es gerne, wenn es eher rasant dahingeht, aber auch auf Wechsel im Tempo oder Rhythmus achte ich. Wenn ein Text einen guten Sound hat, das ist schon etwas, was mir persönlich beim Lesen gut gefällt und ich freue mich, wenn jemand das auch in meinem Schreiben heraushört, weil es mir etwas wert ist.“

Arthur wächst ohne leiblichen Vater in Bischofshofen auf. Als er neun Jahre alt ist, wandert er mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und seinem Bruder Klaus nach Andalusien aus. Mutter und Stiefvater gründen dort ein Hospiz auf Luxusniveau. Klaus verschwindet bald, der orientierungslose Teenager Arthur zermürbt sich in einer Dreiecksgeschichte, der ein tödlicher Badeunfall einer Freundin ein abruptes Ende setzt und Arthur ins emotionale Chaos stürzt. Das familiäre Auffangnetz fehlt Arthur, und so flieht er ohne jeden Plan nach Wien. Von existentiellen Nöten getrieben, lässt er sich auf eine kriminelle Handlung ein. Über zwei Jahre verbringt Arthur daraufhin im Gefängnis, dann folgen die Mühen der Resozialisierung: Therapie, Haftentlassenen-WG und vor allem Arbeitssuche. Und dabei muss Arthur wiederholt erkennen, dass er ohne lückenlose Biografie mit nachweisbaren Ausbildungs- und Berufsjahren kein effizientes Mitglied im neoliberalen Wirtschaftskreislauf sein kann.

Humor: Romane, die von Gefängnis und Resozialisierung erzählen, gibt es einige, und meistens handelt es sich um Anklagen des herrschenden Systems. Im vergangenen Jahr ist, um nur ein Buch der jüngsten Zeit zu nennen, der Roman Ich bin ein Schicksal von Rachel Kushner erschienen. Dieses Buch, das vom beinharten Gefängnisalltag in Amerika berichtet, entwickelte sich, mir nicht wirklich nachvollziehbar, zum internationalen Bestseller. Birgit Birnbacher lässt in ihrem Roman auch humoristische, skurrile Szenen zu, ohne der Geschichte ihre Ernsthaftigkeit zu nehmen. Eine gelungene Gratwanderung, die in anderen literarischen Texten nicht immer aufgeht.

B. B.: „Ich glaube, das liegt daran, dass ich immer großen Respekt vor meinen Figuren habe. Wenn Figuren einer Pointe zuliebe ausgeliefert oder in ihren Lastern und Schattenseiten vorgeführt werden, ist das nicht Meines. Wenngleich es natürlich dazugehört, auch diese Seiten zu zeigen. Aber auf das wie kommt es an, und lesbar muss es bleiben.“

Ich an meiner Seite: ist einfach ein toller Titel (siehe auch Punkt: Schwarzsprechen)

Lebenslauf von Birgit Birnbacher: Es war keineswegs abzusehen, dass Birgit Birnbacher literarisch schreiben würde. Geboren wurde sie 1985 in Schwarzach im Pongau. Nach einer Lehre arbeitete sie im Rahmen einer Entwicklungshilfe in Äthiopien und Indien. Nach Absolvierung eines Soziologiestudiums wechselte sie in die Praxis der Sozialarbeit, und diese Erfahrungen prägen auch ihre Literatur. Heute lebt sie in der Stadt Salzburg.

Lichtgestalt: Die glamouröse Lichtgestalt dieses Romans heißt Grazetta. Sie wandelt fast wie eine Märchenfigur durch dieses Buch der ansonsten harten Realitäten. Die ehemalige Schauspielerin wartet als schwerkranker Gast im andalusischen Luxushospiz auf ihren Tod und lernt dort Arthur kennen. Dann beschließt sie doch ihre letzten Tage in Wien zu verbringen und wird Arthur zur emotionalen Stütze. Es ist eine gelungene Ebene, die Birgit Birnbacher in ihre Geschichte einzieht und dieser so einen für die Leserin und den Leser unerwarteten „Fremdkörper“ hinzufügt.

Schwarzsprechen: Der Ansatz, den Arthurs unkonventioneller Therapeut entwickelt hat, lautet „Schwarzsprechen“ und so schickt Arthur regelmäßig Tonaufnahmen an Börd mit Berichten aus seinem Leben. Anhand dieser Aufnahmen entwickelt Börd eine optimale Version seines Klienten, stellt ihm ein ideales Ich zur Seite, das ihm in Konflikten helfen soll.
Dadurch baut Birgit Birnbacher zugleich geschickt eine weitere Erzählmethode ein, denn so erfährt die Leserin und der Leser auch gleich mehr über Arthurs Leben.

Sprache und Stil: Birnbachers Sprache in diesem Roman ist präzise und pointiert, in manchen Szenen gelingt es ihr, einen Drive, der an einen Stakkato-Rhythmus erinnert, zu erzeugen.
Hervorheben möchte ich vor allem auch ihre gewitzten Komposita – „Allgemeingartenmöbel“, Einfamilienhausthujenheckenidylle – und ihre Ausschmückung durch Adjektiva: „neongelber Schweißausbruch“

Strafanstalt: Erst relativ spät berichtet Birnbacher, welche Straftat Arthur überhaupt begangen hat, was zumindest ich keineswegs vermisst habe. Eher im Gegenteil. Dem brutalen Gefängnisalltag, in dem der neu Hinzugekommene nicht die besten Karten hat, streift Birnbacher nur und erhöht so die Eindringlichkeit der geschilderten Szenen. Von seinen drei Mitgefangenen in der Zelle wird Arthur gequält und verprügelt und muss die Regeln und Hierarchien unter den Häftlingen schnell kennenlernen. Den Gefängnisalltag kann er in Freiheit nicht abstreifen. Immer wieder überwältigen ihn die Flashbacks aus diesen 26 Monaten.

Zufall: Birgit Birnbacher führt in diesem Buch einen Aspekt vor Augen, der uns ohnehin allen bewusst ist, aber hier tritt er besonders markant und schmerzlich hervor. Nämlich die Frage: Wie würde unser Leben verlaufen, wenn wir schon früher abgebogen wären, uns anders entschieden hätten? Die Tatsache also, dass ein Leben unendlich viele Facetten in sich birgt und nur ein kleiner Schritt fatale Folgen nach sich ziehen kann. „Das kommt halt darauf an, wie sich der Mensch sein Schicksal erklärt. Ich persönlich bin nicht gläubig und gehöre keiner Religion an. Streng gesagt, glaube ich an das Faktische und an die Wissenschaft, was nicht heißen soll, dass ich Wunder grundsätzlich ausschließe, im Gegenteil! Das zeigt sich auch im Roman: Arthur hat Pech, aber er baut auch komplett selbstverschuldet Mist und er trifft ein paar falsche Entscheidungen. Doch Arthur verfügt über unglaubliche Kräfte, die er lernt, zu seinen Gunsten zu mobilisieren. Er enthebt sich aus der Abwärtsspirale, die sein Lebenslauf vorgibt. So wird er bereit für Wunder, auch wenn er nicht an sie glaubt. Letztlich passiert ihm dann ja auch ein kleines: Er knüpft dort an, wo er eigentlich alles hinter sich lassen wollte. Aber das steht alles im Buch.“

P. S.: Nur fünf Tage nachdem Birgit Birnbachers Roman im Handel war, mussten die Buchhandlungen aufgrund der Corona-Krise schließen und viele ihrer Lesungen wurden storniert. „Durch den Bachmannpreis habe ich eine Reserve und nichts zu jammern. Meine Verdienstausfälle durch Corona sind erst einmal enorm gewesen, aber viele der Lesungen werden wohl verschoben und ich habe großes Glück, weil mein Buch, wahrscheinlich vor allem durch den Bachmannpreis, wahrgenommen wird. Ich mache das Beste daraus. Abgesehen davon komme ich gut zurecht, ich meine: Während der letzten Jahre habe ich ein Buch geschrieben, Sommer wie Winter, bei jedem Wetter und in jedem Zustand. Dass ich jetzt noch ein halbes Jahr dranhänge und wieder nur zuhause bin, nutze ich dazu, gleich weiter zu schreiben. Das wäre während einer Lesereise nicht möglich gewesen.“

 

Birgit Birnbacher
Ich an meiner Seite
Zsolnay Verlag, Wien
272 Seiten

Literatur-Hinweis

Das Wiener Literaturhaus bietet derzeit die Video-Ausstellungen KEINE | ANGST vor der Angst, die zum Internationalen Literaturfestival Erich Fried Tage im November 2019 entstanden ist, sowie das schicke Nachfolgermodell KEINE | ANGST vor der Angst – revisited. Letzteres präsentiert bis Juni jede Woche ein neues Exponat zum situationsadäquaten Thema. Das Institut für poetische Alltagsverbesserung, vertreten von Lisa Spalt, zeigt in diesem Rahmen einen Ausschnitt aus dem gerade entstehenden Text „Die grüne Hydra“. Ein Kollektiv dieses Namens stellt dem Geschäft mit der Angst unverfroren eine Neuordnung des Vokabulars in den Weg, das Experiment einer Sprache, die zuerst einmal erfunden und dann erst gedeutet wird.
Alle Videos auf erichfriedtage.com

Lisa Spalt ist Autorin, lebt als derzeit einzige feste Mitarbeiterin des Instituts für poetische Alltagsverbesserung in Linz, hin und wieder Referentin-Autorin und stellt der Referentin außerdem einen Literatur-Tipp zur kontagiösen Normalität zur Verfügung:
Das passende Werk zur Pandemie? Empfohlen sei Wilfried Ihrigs Band „Literarische Avantgarde und Dandysmus. Eine Studie zur Prosa von Carl Einstein bis Oswald Wiener“. Hier paradiert, was die Welt für kontagiös hält, was den Alltag, die Frau, den Einfluss, jegliche Vermischung wie Krankheitserreger fürchtet. Wer sich je über Leute geärgert hat, die Abweichung per se für einen Wert halten, findet hier die selbstherrlichen Originale der Attitude. Carl Einstein predigt aus Angst, mit „Normalität“ angesteckt zu werden, Enthaltsamkeit, Baudelaire brilliert in allen Fächern der Unberührbarkeit. Die Frau ist ihm scheußlich, läufig und vulgär. Und: „Kann man sich einen Dandy vorstellen, der zum Volk spricht, außer, um es zu verhöhnen?“ …

 

Literarische Avantgarde und Dandysmus. Eine Studie zur Prosa von Carl Einstein bis Oswald Wiener. Athenäum 1988.

Sei Pippi, nicht Annika!

Ich hatte die Freude mit starken, meist unangepassten Frauenbildern aufzuwachsen.

Gabi Husar begeisterte als grandiose Pilotin die österreichischen Ralley-Szene. Entfesselt. Hemmungslos. Rücksichtslos. Ausschließlich mit weiblichen Co-Pilotinnen. 240 PS. 240 km/h Spitze. Porsche 911 SC. In diesem Auto gewann sie mit ihrer Beifahrerin Elisabeth Fekonja einen Lauf zur österreichischen Meisterschaft 1986. Sie war eine fixe Größe in einem von Männern völlig dominierten Sport.

Eine international fixe Größe und ein leuchtender Stern am Himmel war Lynn Hill. Die US-Amerikanerin hat lange Zeit der Kletterszene den Weg gewiesen und neue Maßstäbe gesetzt. Beim Klettern und im Denken. Das zeigte sie eindrucksvoll 1994 mit der freien Begehung der „Nose“ am El Capitan im kalifornischen Yosemite an einem Tag. Heinz Zak, ein österreichischer Kletterer & Fotograf, der damals dabei war: „Wir Männer haben blöd dreingeschaut, mit welchen Ideen Lynn dahergekommen ist. Die ‚Nose‘ frei an einem Tag, das war ein unglaublicher Denkschritt. Eine Jahrtausendleistung im Klettern.“

In früheren Jahren wurden ihre Leistungen und ihr Talent nicht immer gerne gesehen, gerade von ihren männlichen Kletterpartnern. Das sollte sich aber schnell ändern. John Long, ein US-Topkletter jener Zeit: „Doch Lynn durchbrach die Grenzen ihres Geschlechts derart gründlich, daß der knochenharte Chauvinismus, dem viele von uns unbewußt anhingen, rasch wie Butter in der Sonne schmolz. Die Jungs forderten sie nicht mehr zu gemeinsamen Klettertouren auf, weil sie so ein erfreulicher Anblick war, sondern weil man jede verdammt Route schaffte, wenn man mit Lynn zusammen kletterte.“

Sexistische Äußerungen im Kletterumfeld enttäuschten sie umso mehr, weil für sie Klettern der erste gleichberechtigte Sport war, den sie ausübte. Trotz Männerdominanz und Sexismus ging sie ihren Weg. Mit Vorstellungskraft, Willen und Anstrengung sei jede Route auch für eine Frau zu klettern. Lynn Hill kletterte bis zum fünften Schwangerschaftsmonat. Nach der Geburt ihres Sohnes fand sie an der überhängenden Westwand des Leaning Tower im Yosemite Valley in der Route „The Westie Face“ (X-) in Schwierigkeitsgrade zurück, die selbst ambitionierte Kletterer niemals erreichen.

Doch nicht jede Frau mit grandiosen Leistungen schreibt so eine Geschichte und darüber ein Buch. Die englischsprachige Plattform Timeline.com ruft aktiv dazu auf, sich zu beteiligen und weibliche Persönlichkeiten der Geschichte zu porträtieren und deren Geschichten zu erzählen. Neben „Women in History“ gibt es ebenso informative „Black History“. Eine sportliche Webseite mit demselben Auftrag für Surfen ist „History of Women Surfing“.

Eine grandiose Leistung erbrachte die 36-jährige Britin Jasmin Paris beim 431 km Langstreckenlauf des Spine Race 2019 in Wales. Sie gewann 15 Stunden vor dem schnellsten Mann und brach den Streckenrekord um 12h. Zwischendurch pumpte sie Milch für ihre Tochter ab. In jüngster Vergangenheit gewinnen immer mehr Frauen Ultra-Ausdauer-Wettkämpfe. Die deutsche Radrennfahrerin Fiona Kolbinger triumphierte 2019 im Transcontinental Race durch Europa, das bedeutet knapp 4.000 km in zehn Tagen.
Sarah Thomas (USA) schwamm ohne Pause als erster Mensch viermal hintereinander den Ärmelkanal und legte 216 km in 54 Stunden zurück. Je länger und härter ein Rennen ist, desto eher scheinen Frauen ihre männlichen Gegner zu schlagen, sagt die Wissenschaft.
Diese sagt übrigens auch, dass Frauen mit „ihren“ Hefepilzen das Bier geprägt haben. Im Mittelalter war Bierbrauen Frauensache. Forscher sind sicher, wenn Männer das Brauen übernommen hätten, wäre es anders geworden. Also beim nächsten Bier dankbar an die vielen Frauen denken, die zum guten Geschmack beigetragen haben. Und die Geschichten starker, außergewöhnlicher aber auch gewöhnlicher Frauen weitererzählen! Prost!

 

Tipps:

Buch-Tipp: Lynn Hill – Climbing Free. Ohne Seil in den steilsten Wänden der Welt (2011 Piper Verlag)

Women in History
timeline.com/women-history/home

History of Women Surfing
www.historyofwomensurfing.com/#

„Good Night Stories for Rebel Girls 1–3“ über außergewöhnliche Frauen erhältlich auch als Hörbuch auf Deutsch.  
www.der-audio-verlag.de/autoren/favilli-elena

Stadtblick

Foto Die Referentin

Abhilfe bei Frauenzeitschriften und Patriarchat

Sarah Held fühlt sich grundsätzlich so gar nicht abgeholt von den üblichen, so genannten Frauenzeitschriften. Nachdem sie ausführlich berichtet warum, empfiehlt sie als lokalen Tipp für die Kennerin* der Materie oder für alle, die es werden wollen, das Gloss-Magazin.

Gloss Cover. Bild Gloss/Pangea

Ich hasse sogenannte Frauenzeitschriften, weil sie mir erzählen wollen, was sogenannte Frauen- und Männerthemen sind. Frauenzeitschrift, Frauenthemen – Frauen, Männer, sonst wird da niemand repräsentiert. Es ist das Patriarchat in der Nussschale, gezeigt am Beispiel von sogenannten Frauenthemen und der damit automatisch verbundenen Angst des Cis-Mannes, auch im – natürlich geglaubten – Habitat Zeitschriftenauslage ein Stück abtreten zu müssen.
Gern gehe ich in die Trafik oder in den Bahnhof-Zeitschriftenladen, wo mich innerlich immer so eine schöne, wohlige Hasstirade überkommt, die meinen ganzen Körper durchströmt, weil das Angebot so geil ist. Da fühle ich mich abgeholt und meine Interessen befriedigt. Das Angebot changiert zwischen Selbsttuning, Autotuning, Familientuning, Haustiertuning, Jugend-Tuning, was weiß ich denn, was es noch für Tunings gibt, Royals und noch viel abgründigeren Sachen. Ja, abgründig, so fühlt sich ein Blick in die Zeitschriftenauslagen an. Zeig mir deine hässliche Fratze, Mainstreamgesellschaft, materialisier dich in Form von Brigitte oder Blonde.
Manchmal, also ganz selten, frage ich mich, warum ich so angepisst bin. Bitte nicht falsch verstehen, es ist nicht so, dass ich grundsätzlich grantig oder griesgrämig drauf wäre. Ganz im Gegenteil, ich bin so voll die Lustige, aber trotzdem bin ich randvoll mit Hass. Nein, nicht die Art Hass, die Leute dazu bringt, andere wegen ihrer Hautfarbe zu hassen, oder die Sorte, die Leute dazu bringt, andere wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Begierden umzubringen. Mein ganz persönlicher und privater Hass besteht aus mehreren Schichten, zusammengesetzt sind diese von unterschiedlicher Dichte und Konsistenz. Quasi ein über Jahre gereiftes und gewachsenes Hasskonglomerat, das sich mit der Zielgenauigkeit einer Scharfschützin auf das Patriarchat richtet.
Wenn ich die Zeitschriftenregale so taxiere, frage ich mich: Wo sind Hefte in denen (feministische) Frauen, Femmes, Non-Binaries sich ungehemmt selber feiern können? Sind sie etwa unsichtbar in dem Wirrwarr aus gestählten Photoshop-Brüsten, öligen Motoren, den Diättipps von Prinzessin Herta von Absurdistan oder dem dargestellten nacktem/rohen Fleisch!? Es wäre ja einfach zu sagen: „Die übersieht man halt leicht!“ Aber das stimmt nicht, denn sie sind einfach so gut wie nicht vorhanden. Im Zeitschriftenregal genauso wenig repräsentiert und selbstverständlich wie in der Mehrheitsgesellschaft. In der gutsortierten Trafik oder dem Bahnhofskiosk eures Vertrauens, und damit meine in den W I R K L I C H gut sortierten, finden sich das Missy Magazin oder die Anschläge, aber dann ist auch schon Schluss mit dem Feminist-Content. Das ist doch zum Kotzen, ja genau so richtig zum Kotzen. Wo sind die richtigen Frauen*themen wie Kunst, Revolution, Subversion, Latex, Schallplatten, Kulturkritik, Politik machen, Spandex, Bodypositivity oder Eisenwaren?
Das bringt mich zurück zu meiner Hass­tirade. Wie es sich für eine ordentliche patriarchale Haltung gehört, haben die Typen doch eh bloß Angst, dass in Zukunft die Regale am Bahnhofskiosk, Premiumformate wie Beef (ja, das heißt wirklich so), BusinessPunk oder öde Männerbefindlichkeitsblätter, wie die Men’s Health zusammenrücken müssten. (Frauenzeitschriften gehören da auch dazu, die möchte ich aber nicht auch noch aufzählen.) In meiner Vorstellung läuft das dann ungefähr so: Oh nein, da kommt ein feministisches Magazin, wo sollen denn nun all die Viagra-Absatzförderungsmaßnahmen in Form von übersexualisierten Frauenkörpern, die an schlabberpenisbesitzende Herren mit kreisrundem Haarausfall adressiert sind hin!? Es geht hier nicht nur um Regale, sondern um ganze Läden voll mit Schundheftchen, die zwischen Haarimplantaten, Penisprothesen aka fette Autos und monströsen Grilllandschaften oszillieren. Das Programm wird eben dann unter anderem mit sogenannten Frauenthemen-Heften aufgepeppt, und da geht’s um Diättipps, Hetenprobleme oder Stylingtrends, alles auch schon wieder binär und stereotyp aus patriarchaler Perspektive. Visuell fühlt es sich an, als würde ich von allen Seiten mit Scheiße beworfen werden. Nun gut, ich verliere mich in meinem eigenen Rant. Was sind denn nun diese ominösen sogenannten Frauenthemen? Warum haben es diese schäbigen Blätter eigentlich scheinbar so einfach und werden von der Öffentlichkeit so unkritisch konsumiert? Eh klar, ne rhetorische Frage, ich habe ja schon mal was von patriarchal-kapitalistischen Strukturen gehört.
Was ist nun los, wenn ich keinen Bock habe zwischen einem Gros aus Kacke und Scheiße, bekannt als „Fachzeitschrift“, zu wählen? Nein, ich meine nicht, irgendeinen geilen Shit online zu bestellen, der für die örtliche Kundschaft nicht zugänglich ist, ich meine auch nicht irgendein zusammenkopiertes Cut’n’Paste-Zine. Oh, da fällt mir ein, ich habe bisher die sogenannten Musikzeitschriften „vergessen“, sowas wie die Intro (haha!), das Ox, peinliche Metal-Hefte oder so Dad-Rock-Schinken wie den Rolling Stone, ich habe es so satt. Diese ganzen Dudes schreiben Dude-Sachen für Dudes. Letztlich ist es im Zeitschriftenregal genauso wie in den meisten gesellschaftlichen Räumen, Dudes feiern sich ab – Zeitschrift gewordene Langeweile.
Worauf ich raus will, wenn feministische Themen doch schon so hip und kapitalisiert sind, dann bitte aber echt mehr! Gerne auch die „sperrigen“, nicht so richtig vermarktbaren Themen wie Frauen*morde, sexualisierte Gewalt oder Migration/ Flucht. Es wäre super, wenn ich im Laden zwischen mehr als zwei feministischen Magazinen auswählen könnte. Und mit diesem Wunsch wechsle ich zu positiven Ausnahmen, zu einem in Linz erscheinenden Magazin: Als lokalen Tipp für die Kennerin* der Materie, oder alle, die es werden wollen, empfehle ich das Gloss-Magazin. Es wird von Pangea – Werkstatt der Kulturen der Welt geframed und ein großes Team aus unterschiedlichen Leuten mit verschiedenen Backgrounds basteln an den Ausgaben mit. Basteln, auch schon wieder so’n stigmatisiertes sogenanntes Frauenthema, aber was weiß denn ich schon, ich bin ja nur eine kleine Feministin. Zurück zum Thema: Gloss erscheint nicht regelmäßig, kommt aber immer mit einem neuen Themenschwerpunkt raus, der feministisch gerahmt ist. Die Ausgabe Gloss IV, beispielsweise, verhandelte feministische Sichtweisen auf Medien und Gesellschaft. Neben vielen wechselnden Akteur*innen trägt in fast allen bisherigen Ausgaben der Verein Maiz etwas bei. Es macht Spaß, Artikel über die Dekonstruktion von Werbebildsprachen zu lesen und Nachahmungen von Models und Werbeposen aus Alltagsperspektive unter Nutzungsaspekten zu sehen. Die Hefte liefern eine interessante Mischung aus gar nicht so spaßigen bis sehr unterhaltsamen Inhalten an. Gut, dass dieses Jahr Gloss V erscheint, es wird sich mit der Themenwelt Krise aus der Perspektive von Frauen* und Mädchen* auseinandersetzen: „Das GLOSS-Magazin erscheint im Jahr 2020 in seiner fünften Ausgabe und widmet sich unter dem Titel Frauen*stimmen dem Thema Krisen aus feministisch-diskursiver Perspektive. Um dem Gefühl einer wachsenden Unzufriedenheit, Ohnmacht und dem Nichtstun in den gegenwärtig spürbaren Krisen entgegenzuwirken, baut diese Ausgabe auf bestehendes Wissen auf und schafft ein Sprachrohr für ein Sichaufbegehren und Die-eigene-Stimme-Finden“ (Vgl. Call für die 5. Ausgabe: pangea.at/de/programm/gloss-vol-v). Was Gloss auszeichnet, ist, dass die Betreiberinnen partizipativ und mit einem festen, gleichbleibenden Team an Beitragenden zusammenarbeiten. Das bringt viele Leute und Ideen zusammen und es wird auch in der kommenden Ausgabe sicher wieder ein buntes Potpourri aus Frauen*themen im Heft versammelt. Laut werden, Teil vom Diskurs sein, sich der Öffentlichkeit aus der eigenen Position zeigen und damit die eigene Perspektive auf Gesellschaft sichtbar machen, das ist die Devise von Gloss. In der nächsten Ausgabe werden auch wieder (feministische) Initiativen, Vereine und Einzelpersonen ihre ganz individuellen Schwerpunkte und themenbezogene Haltungen darstellen. Daneben wird es auch wieder eine Menge an künstlerisch-gestalterischen Werken geben, die das Heft so lebhaft auszeichnen. Zudem gibt es auch immer verschiedene Ansätze aus Kunst, Kultur und politische Themen. Besonders schön ist, dass sich Feminismen im 21. Jahrhundert auch dahingehend entwickelt haben, sich nicht mehr so stark über die Negierung, bisweilen Ablehnung von Femininität und stattdessen über Aneignung von vermeintlicher Maskulinität zu definieren. Gloss, Missy und Anschläge zeigen, dass durch die Genderbrille nicht nur Butler, Truman, hooks, Anzaldua, Davis und so gelesen werden können, sondern darunter auch ein fesches Make-Up getragen werden kann.

 

Alle vier Ausgaben des unregelmäßig seit 2013 erscheinenden Gloss-Magazines: pangea.at/de/gloss-magazine

GLOSS Vol. V wird diesen September erscheinen und im selben Monat bei einer Release-Feier präsentiert. Genaues Datum: Watch out, pangea.at/de