Ist das Geld oder kann das weg?

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Wir könnten auch Apfelbaum sagen!

Das Aktionstheater Ensemble macht seit mehr als 30 Jahren Theater. Mit der Produktion „Bürgerliches Trauerspiel“ ist es im Mai zum ersten Mal am Landestheater Linz zu sehen. Theresa Luise Gindlstrasser hat den Regisseur Martin Gruber zum Gespräch getroffen – und beginnt mit einem kurzen Abriss über Stil, Geschichte und diverse Nominie­rungen des Ensembles.

Die Nominierung ist ein bisschen willkürlich, schreibt der Kritiker Thomas Rothschild: „Im Grunde wäre Österreichs interessanteste freie Gruppe mit jedem Stück ein Kandidat für das nachtkritik.de-Theatertreffen, wegen der bühnenwirksamen Choreographien, der musikalisch komponierten Texte und der hochprofessionellen Schauspielkunst“. Willkür hin oder her, das im Juni 2019 im Theater Kosmos Bregenz uraufgeführte „Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft“ konnte als eine von insgesamt zehn Produktionen die meisten Stimmen des virtuellen Nachtkritik-Theatertreffens 2020 auf sich vereinen. Zum jährlichen Theatertreffen in Berlin (das die zehn „bemerkenswertesten“ Inszenierungen im deutschsprachigen Raum versammeln will) wurde das Aktionstheater Ensemble bisher noch nicht eingeladen. Aber ist, mit jährlich mindestens zwei Produktionen und den Arbeitsmittelpunkten Bregenz und Wien, definitiv einer der wichtigsten Player der Freien Szene.

Gegründet wurde das Aktionstheater Ensemble 1989 von Regisseur Martin Gruber, seither sind über 70 Produktionen entstanden, die vielerorts gezeigt wurden (in Linz zum Beispiel im Posthof). 2016 gab es für „Kein Stück über Syrien“ den Nestroy-Preis in der Kategorie (sie nennen es immer noch so despektierlich:) „Beste Off-Produktion“. Waren die Arbeiten am Anfang noch dramenorientierte Klassikerbearbeitungen, entstehen die hochtourigen Theaterereignisse nunmehr über Improvisationen, Interviews und das Szenenmaterial wird zum unverkennbaren Aktionstheater-Duktus destilliert, montiert. Aufgrund eben dieser Unverkennbarkeit mag die Nominierung von „Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft“ willkürlich erscheinen. Nochmal Rothschild: „Die Aufführungen des Aktionstheater Ensemble sind einander ähnlich. Positiv formuliert: Sie haben einen eigenständigen, unverwechselbaren Stil“. Was ist das für ein Stil? Sicher nicht der sogenannte „neue“. Ich würde sagen: Niemand gelangt so elegant vom Hundertsten ins Tausende, ins Private, ins Politische, dahin wo dir die Zusammenhänge vor lauter Komplexität den Kopf verdrehen und Handeln dennoch möglich, ja notwendig, wird. „Es liegt an dir!“, versucht Gruber den selbstermächtigenden Anspruch seiner Arbeiten zusammenzufassen.

Die Inszenierung „Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft“ beginnt mit dem Satz „Bis ich 23 war, habe ich nie masturbiert“ und endet mit einem wiederholt geweint-gebrüllten „Mama!“, bis zur Gänsehaut. Dazwischen liegen 60 Minuten, in denen die sechs Schauspielenden in rasantem Tempo über Afrika, Eigentumswohnungen und Milka-Schokolade diskutieren, in denen Wörter auseinandergenommen werden und nur solche mit einer geraden Anzahl von Buchstaben gute Wörter sind, in denen sich der „Weltfrieden“ insofern leider nicht ausgeht – weil elf Buchstaben. Das Sprechen ist von hoher Musikalität, mal verwischen die Sätze die eigenen Inhalte, mal lässt der Rhythmus die Assoziationen aufs Publikum einprasseln. Die Arbeiten des Aktionstheater Ensemble erweisen der Sprache eine doppelte Ehre: Als das kognitive Nonplusultra und als etwas, das gerade im „Faden verlieren“ passiert.

Wenn die Schauspielerin Michaela Bilgeri zum x-ten Mal fragt „Wie geht’s weiter, wo waren wir jetzt?“, dann ist das hochkomisch, weil: Reflexion über „die gelähmte Zivilgesellschaft“ beim Aktionstheater immer auch Reflexion über den Theatervorgang selbst bedeutet. „Es gilt Refugien zu schaffen, wo sich Künst­le­r*innen wohl fühlen – eine möglichst anarchische Atmosphäre und das hat natürlich etwas mit Geborgenheit zu tun. Der pekuniäre Rahmen schafft Voraussetzungen, trotzdem darf die Institution nicht wichtiger werden als die Kunst“, postuliert Gruber. Gemeinsam mit seinem langjährigen Dramaturgen Martin Ojster und einem beständigen, aber wechselnden Ensemble von assoziierten Schauspielenden wird Sprache so verdichtet, wiederholt und in kuriose Satzkonstruktionen gebracht, dass der alltäglichste Alltagssprech die ungeahntesten Inhalte preisgibt. Dabei konterkarieren scheinbar deplatzierte Choreografien den Schnellsprech, Unzusammenstellbares wird zusammengestellt und rückt umso dringlicher ins Bewusstsein hinein.

Am 8. Mai, also nicht ohne zeitgeschichtlichen Kontext, hat „Bürgerliches Trauerspiel“ als Koproduktion von Aktionstheater und Landestheater in Linz Premiere. Andreas Erdmann, leitender Dramaturg für Schauspiel am LTL, habe die Zusammenarbeit initiiert. Und Gruber zeigt sich im Gespräch positiv angetan von der Bereitwilligkeit dieser Institution auf die Aktionstheater-Arbeitsbedingungen einzugehen. Beispielsweise ist eine dreimonatige Probenzeit ungewöhnlich für einen Landestheaterbetrieb, wo Inszenierungen üblicherweise innerhalb von sechs Wochen entstehen müssen. Es wurde zunächst ein Blanko-Vertrag abgeschlossen, weil Titel, Inhalt, Ausrichtung zum Zeitpunkt der Abmachung noch nicht vorhanden waren. „Die Trägheit von solchen Institutionen kommt der Kunst nicht unbedingt entgegen“, meint Gruber, „jedenfalls ist es fein, dass sich das Haus auf uns einlässt“. So entsteht für Linz (aber nachher geht’s auf Tour) eine Begegnung von Freier Szene und Institution. Schauspielende vom Haus treffen auf Aktionstheater-erprobte Spieler*innen. „Es geht immer um die Personen, um deren Standpunkte und Ideen, insofern ist es wichtig, dass ein gewisser Stil nicht einfach nachgeahmt wird, sondern dass die jeweilige Produktion wirklich mit den Beteiligten entsteht, wir treten immer wieder neu in Kommunikation. Das hat etwas mit dem Moment zu tun. Mit Momentum, dass wir sagen können, gefällt uns nicht, schmeißen wir die Szene wieder raus. Und mit Mut: Sind wir im künstlerischen Ausdruck stärker als die Struktur? Was machen Machtstrukturen mit mir? Machismus ist ja ein Thema, das wir auf der Bühne immer wieder verhandeln, insofern gilt es das auch im Arbeitsprozess zu reflektieren“.

Der Titel „Bürgerliches Trauerspiel“ ist aus einem Scherz heraus entstanden. Auf die Frage nach der Gattung des geplanten Projektes habe Grubers Dramaturg Ojster, bloß so, das Theatergenre (das als Emanzipationsbewegung des Bürgertums im 18. Jahrhundert entstand und in der deutschsprachigen Variante zum Beispiel von Gotthold Ephraim Lessing entwickelt wurde) genannt. Aus dem Scherz ist Ernst geworden und Ausgangspunkt für ein Nachdenken über „das sogenannte Bürgerliche“: Französische Revolution, der „Citoyen“, ein neues Selbstbewusstsein gegenüber dem Adel, aber auch Spieß- oder Kleinbürgerlichkeit, Muffigkeit und so weiter, das ist der Horizont auf dem sich Gruber für den Probenprozess bewegen will. Die bürgerliche Institution Landestheater Linz wird mit dem „Bürgerlichen Trauerspiel“ selbstreflexiv: „Kulturpolitik in Oberösterreich – ein Trauerspiel“.

„Wir machen kein Eins-zu-eins-Polit-Kabarett, sondern wollen genau denken: Wie wirkt sich Politik auf das Individuum aus?“, formuliert Gruber einen Anspruch des Aktionstheaters. Das Landestheater schreibt in der Stückankündigung: „Die Produktionen des Aktionstheaters der letzten Jahre könnte man, in Anlehnung an Schiller, dramatische Gedichte nennen“. Auf meine Frage (Gedicht? Sind die Arbeiten nicht vielmehr post-gedichtisch, also prozessual, in dem Sinne, dass sie eben nicht auf einem vorgängigen dramatischen Text basieren?) reagiert der Regisseur mit einem Lob des Gedichts im Sinne von Verdichtung: „Das Aktionstheater arbeitet sozusagen mit totaler Verdichtung. Wir gehen von der Alltagssprache aus, finden einen Umgang, um diesen Duktus nicht zu verlieren, insinuieren dadurch eine gewisse Wahrhaftigkeit, als dokumentarisch lassen sich die authentischen Fragmente trotzdem nicht bezeichnen, es geht um eine verdichtete Art von Wirklichkeit“.

Sollen wir die Arbeiten des Aktionstheater Ensemble „Stückentwicklungen“ nennen? Wir könnten auch „Apfelbaum“ sagen, meint Gruber lakonisch, den solche Kategorisierungen eher weniger interessieren: „Natürlich ist es Text, mit dem wir umgehen, ich bringe was mit, wir schreiben was auf, es passiert was damit. Hauptsache keine Heldenerzählung. Ich gehe immer von meiner eigenen Blödheit aus. Es beginnt in der Grauzone des Menschseins, des ganz normalen Alltags, dort wo es, im Unterschied zum Theater keine ‚Helden‘ gibt, sondern Situationen, in denen wir uns vielleicht ‚heldisch‘ verhalten“. Er wolle niemandem erklären, was richtig sei und was falsch, so Gruber, „denn das wäre arrogant“. Um eine Ermächtigung des Publikums in Gang setzen zu können, sei es notwendig von Gut-Böse-Dichotomien und großen Welterklärungen von der Bühne herab abzusehen. Gruber will das Publikum als intrinsisch wichtig für das Zustandekommen eines Theaterabends begreifen: „Wir auf oder hinter der Bühne sind keinen Schritt weiter, wir gehen gemeinsam, das ist Demokratisierung des Theaters“.

Insofern ist es vielleicht gar nicht so abwegig, das Aktionstheater Ensemble in der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels zu verorten. Indem es sich im 21. Jahrhundert an der Formulierung eines zeitgenössischen aufklärerischen Impulses versucht. „Sapere aude!“, hieß das mal, Martin Gruber sagt „Es liegt an dir!“.

 

Das Aktionstheater Ensemble ist mit der Produktion „Bürgerliches Trauerspiel“ am Landestheater Linz zu Gast.
Uraufführung 08. Mai, Spieltermine bis 27. Juni
www.landestheater-linz.at
aktionstheater.at

Über den weltver­kommenen Sonka

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe Anarchist_innen und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Peter Haumer schreibt in dieser Ausgabe über Hugo Sonnenschein – seines Zeichens „Judenjunge, Slowakenkind, Kulturbastard“.

Hugo Sonnenschein alias Sonka – skizziert von Egon Schiele. Bild Egon Schiele (gemeinfrei)

Wer dir von Pflicht der Arbeit spricht dem speie ins Gesicht! Stiehl! Du! – Bettel nicht.1

Der deutschsprachige expressionistische Dichter Hugo Sonnenschein (1889–1953), der in der Literaturgeschichte auch unter seinem Pseudonym „Sonka“ bekannt ist, dieser anarchistische Abenteurer und spätere Parteikommunist bis zu seinem Ausschluss 1927, stammte aus Kyjov in der Nähe von Brünn. Anhand seiner Bücher können wir das Leben des Landstreichers „Sonka“ nachvollziehen: Wie er auszog als trotziger verträumter Anarchist, „Judenjunge, Slowakenkind, Kulturbastard“; einer, der dürftige, aber zähe Familienbande zerriss, um der wilden, schaurigen Luft der Vagabondage willen. Die Heimat aller Heimatlosen, die Straße, die heiße, staubige Straße des „Packs“, das dumpf zur Arbeit geht, die freie Straße des Vogelfreien, die böse Straße, an deren Rand erschöpfte Bettler sinken, gerade jene Straße, die zu meiden der damalige literarische gute Ton befahl – sie wurde zur Heldin seiner revolutionären Vagabundenlyrik. In seinen Gedichten treten Einzelgänger, Rebellen, Vagabunden, Narren, Juden und Sexarbeiterinnen auf. Gott handelt als Anarchist und Jesus ist ein Vagabund wie er selbst einer war. Die Straße führte Hugo Sonnenschein aus dem slowakischen Ghetto, vorbei an Fabriken, Schmieden, Jahrmarktsbuden und vermittelt ihm die bösen, verbotenen Lieder der Lohnsklaven, der Bettler, der Lumpen und Sexarbeiterinnen. Er vernahm das Lied der Entrechteten, das aus Hammerschlägen und Sirenengeheul und aus Bettlerflüchen klingt und vernahm, dass die Zeit reif sei, sich zu wenden, dass in die geballten Fäuste der Empörten die Waffe der Revolution gehöre!
Aber nicht die soziale Revolution wurde Wirklichkeit, sondern 1914 ist der 1. Weltkrieg vom Zaun gebrochen worden. Über die von „Sonka“ geliebten Landstraßen zogen nun endlose Soldatenkolonnen, bis an die Zähne bewaffnet. Sie haben es nicht für ihre Rechte und ihre Zukunft getan, sondern waren vielmehr Kanonenfutter imperialistischer Barbarei und sind – unter ihnen auch der k. k. Infanterist Hugo Sonnenschein – nach den Fronten gekrochen. Unsäglich Scheußliches musste geschehen und endloses Leid sich erfüllen, ehe die irregeführten Massen wieder ihre Stimme erheben konnten gegen ihre Peiniger: jetzt aber sind es Millionen und Abermillionen Stimmen, organisiert in Arbeiter- und Soldatenräten. „Sonka“ war nun kein einsamer Landstreicher mehr auf seinen Straßen, kein eigenbrötlerischer Rebell. Er erkannte das vermeintliche Gebot des geschichtlichen Augenblicks. Aus dem anarchistischen Schwärmer war ein halbwegs disziplinierter, seiner proletarischen Klasse dienen wollender Kommunist geworden, dessen Lebensbild ein Aufruf war zur menschheitsbefreienden Tat, zur Weltrevolution. „Sonka“, der sich zum proletarischen Dichter entwickelt hatte, versuchte in diesem Kampf voranzugehen.
Hugo Sonnenschein lebte in Wien von 1907 bis zu seiner Ausweisung nach den Februarkämpfen 1934, danach in der Tschechoslowakei. Er wollte die Welt verändern, kämpfte für die soziale Revolution und gegen den aufkommenden Nationalsozialismus und überlebte dabei selbst Auschwitz, wo aber seine Frau ermordet worden war. Sein Leben ist eine schwindelerregende Folge von Abenteuern, Liebe, Politik und Kunst. „Sonka“ war gern an Orten, an denen außergewöhnliche Ereignisse stattfanden: Streiks, Aufstände und Revolutionen. Er agitierte gegen die stalinistischen Schauprozesse in Moskau und war viele Male selbst im Gefängnis. Er traf, vagabundierend durch halb Europa, Mussolini, Hitler, Lenin, Kropotkin und Goebbels, korrespondierte mit Leo Trotzki und diskutierte mit ihm im Cafe Central in der Wiener Innenstadt. Egon Schiele und F. H. Harta2 machten eindrucksvolle expressionistische Skizzen von ihm und er hatte viele Freunde und Bekannte unter tschechischen Künstlern: Březina, Deml, Šrámek, Neumann, Olbracht. Hugo Sonnenschein, der jüdische Dichter und Abenteurer, hatte es geschafft, mit seinen Ideen die herrschenden Ideologien herauszufordern. Er starb eines natürlichen Todes, wenn auch in einer Zelle des Gefängnisses von Mirov in Tschechien – wo er doch gerade nach Auschwitz solch eine Sehnsucht hatte in Freiheit zu sterben.
Im März 1945 schrieb „Sonka“: „Am 7. Jänner 1945[?]3 um 2 Uhr 27 Minuten nachmittags kam eine sowjetische Vorpatrouille ins Lager Oswiecim [dt.: Auschwitz], das ich nicht mit den Häftlingstransporten verlassen hatte. Drei weiße Gestalten kamen, die mir in ihren langen Schneemänteln herrlich, wie die Erzengel der Freiheit erschienen: die ersten drei Soldaten des großen Befreiers. Wir hatten keine Worte. Wir reichten ihnen die Hände und weinten.“4
Die Rote Armee befreite vor 75 Jahren die wenigen Überlebenden des nationalsozialistischen Mordlagers Auschwitz – unter ihnen Hugo Sonnenschein. Er lebte und wunderte sich. Er war frei – und staunte. Da schrieb er das Wenige auf, das er aus der Zeit jenseits des Lebens aus jener Welt der Träume im Gedächtnis behalten hatte. Das Ergebnis waren seine „Schritte des Todes, Traumgedichte aus Auschwitz“ – Verse, die nicht gedichtet, nicht erdacht und nicht geschrieben, die erträumt worden sind. „Als ich sie in einer Art Dämmerzustand vernahm, befand ich mich in den blutigen Klauen der SS, SD und Gestapo, in ihren Gefängnissen und Konzentrationslagern. Ich war in ständiger Gefahr getötet zu werden. Täglich wurden Hunderte aus unseren Reihen hingemordet. Man kommandierte uns, die blutigen Leiber der Kameraden auf unseren Schultern zu den Verbrennungsgruben und Krematorien zu tragen. Nachts hörten wir oft in den Zellen die Köpfe der Gefährten, die vorher noch das Lager mit uns geteilt haben, in die Kiste fallen. Oder bellende Salven, die sie hinstreckten, weckten uns aus dem Schlaf. Jeden Augenblick konnte ich selbst abgeholt werden und zum Galgen gebracht werden. Ich träumte Gedichte. Sie blieben ungeschrieben. Eine Notiz hätte das Leben kosten können.“5 Ein paar Monate nach seiner Befreiung hatte Hugo Sonnenschein sie bereits im März 1945 zu Papier gebracht und – es waren Gedichte, angesichts deren tiefer Innerlichkeit und verbissenen Kraft jede ästhetische Kritik abzudanken hätte, wie Karl-Markus Gauß6 befand. Doch schon bald wurde Hugo Sonnenschein erneut inhaftiert, diesmal aber auf Weisung von der eigenen Regierung. Verantwortlich für die Verhaftung war der damalige Innenminister der Tschechoslowakei und Stalinist Vaclav Nosek, der „Sonka“ absurderweise eine Kollaboration mit der Gestapo zum Vorwurf machte. Der ehemalige Bergarbeiter Nosek war ein alter Bekannter von Sonnenschein. Beide waren Gründungsmitglieder der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Im Gegensatz zu Nosek, der ein strammer Stalinist geworden war, wurde Sonnenschein jedoch ein Antistalinist, der es unter anderem auch gewagt hatte, Leo Trotzki in den Moskauer Schauprozessen 1936 zu verteidigen. Vaclav Nosek, der sich auch das Ziel gesetzt hatte, Oppositionelle aus den eigenen Reihen zu eliminieren, wurde schnell wieder auf Hugo Sonnenschein aufmerksam. Dieser musste mundtot gemacht und aus dem Verkehr gezogen werden. Obwohl kein einziger Anklagepunkt nachgewiesen werden konn­te, wurde Hugo Sonnenschein mit Wirkung vom 28. April 1947 zu zwanzig Jahren schweren Kerkers in der Haftanstalt Mirov verurteilt. Er stirbt schließlich nach acht Jahren Kerkerhaft an einem von Tuberkulose ausgelösten Gehirnschlag. In einem seiner letzten Gedichte „Auschwitzer Testament“ resümiert er sein Leben:

Mein Leben war nichts als Furcht vor dem Tod,
der mir gefolgt war bis tief in die Träume,
mein Leben: die Chance, die sich mir bot,
damit ich sie sicher und glücklich versäume.

Ein ruhlos Beginnen, doch nur ein Beginnen
und kein Beenden und nie ein Vollenden.
So geh ich von hinnen,
Ohnmacht in Händen.

Ich hab nichts zu vererben
als Schäume und Schein.

Mein Leben war ein stetes Sterben –
das Sein wird Sinn des Todes sein.7

Hugo „Sonka“ Sonnenschein, nach eigener Definition „Judenjunge, Slowakenkind und Kulturbastard“, wartet noch immer auf seine Rehabilitation. Das Schandurteil von 1947 ist nie aufgehoben worden!

 

1 Hugo Sonnenschein, Ichgott, Massenrausch und Ohnmacht, Utopia des Herostrat, Verlag Utopia, Paris/Wien, 1910, S. 122, „Gebot“.

2 Harta, Felix Albrecht (1884–1967), österreichischer Maler und Graphiker, lebte in Wien.

3 Seit dem 27. Januar 1945 ist Auschwitz-Birkenau befreit. Militärärzte und Sanitäter der Roten Armee, unterstützt von Freiwilligen des polnischen Roten Kreuzes, und ehemalige Häftlinge, die im Auschwitzer Krankenrevier arbeiteten, bemühten sich, die Überlebenden – 7500 Menschen – zu versorgen.

4 Hugo Sonnenschein Sonka: Schritte des Todes, Traumgedichte aus Auschwitz; Edition Wilde Mischung, Band 6, S. 2.

5 Ebd., S. 1.

6 Karl-Markus Gauß, Der „weltverkommene Bruder Sonka“. Leben und Werk des Dichters Hugo Sonnenschein. In: Österreich in Geschichte und Literatur, 28 Jg., Heft 4, 1984, S. 262.

7 Hugo Sonnenschein Sonka: Schritte des Todes, Traumgedichte aus Auschwitz; Edition Wilde Mischung, Band 6, S. 9.

Ein Fest für Hugo Sonnenschein.
Eine Revue von Papiertheater Zunder featuring Laut Fragen
Das Papiertheater Zunder featuring Laut Fragen hat zu Hugo Sonnenschein aktuell ein Programm gestaltet: Die musikalische Revue bewegt sich zwischen Leseperformance und Puppentheater. Im Rahmen eines turbulenten, szenischen Festaktes wird der jüdisch-mährische Schriftsteller, Vagabund und Revolutionär Hugo Sonnenschein geehrt und dieser wird sich noch einmal kräftig zu Wort melden.

Institut für Anarchismusforschung: anarchismusforschung.org

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.

Öffentlicher Raum

Oona Valarie Serbest „Out of the Box, Feminismus und Krawall 2012–19“, 2019 Illustrationen aus der Streichholzschachtel, Druck auf Papier, 4 × 13 x 8 cm, Neuproduktion.
Foto Otto Saxinger

Feminismus und Krawall (f.u.k.) ist ein kollektives Bestreben in Oberösterreich, feministische Fragen zu Gleichstellung auf sozialer, kultureller, rechtlicher und politischer Ebene mit künstlerischen Strategien auf die Bühne des öffentlichen Raums zu bringen. Seit 2013 werden feministische und frauenpolitische Forderungen in einem partizipativ gestalteten Protest in eine breite Öffentlichkeit transportiert: mit der Wahl einer Päpstin, einer antropo­fagischen Prozession, einer Offenen Tafelrunde oder einem Krawallschiff, bis 2019 schließ­lich Das Goldene Matriarchat Realität wurde. Oona Valarie Serbest erinnert mit dem goldenen Matriarchat aus der Streichholzschachtel an den langen Weg, der dahin geführt hat.

 

Zu sehen in „Wunderkammer Oberösterreich El Dorado (ob der Enns)“
noch bis 29. März 2020
OK Offenes Kulturhaus im OÖ Kulturquartier, OK Platz 1, 4020 Linz

Einer der letzten Antiquare

In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren haben elf Antiquariate in Linz zugesperrt. Peter Steinberg ist einer der letzten, der seinen Beruf mit Leidenschaft und mittlerweile ohne finanzielle Abhängigkeit ausübt. Silvana Steinbacher hat das Antiquariat Steinberg in Urfahr besucht und fragt nach den Perspektiven dieses Berufs, falls es sie denn noch gibt.

Komm doch ins Antiquariat in der Peuerbachstraße 9 in Urfahr. Foto Christian Steinbacher

„Der Raum hatte sieben Wände, aber nur vier davon enthielten Öffnungen, breite Durchgänge zwischen schlanken, halb in die Mauer eingelassenen Säulen, überwölbt von Rundbögen. Vor den Wänden erhoben sich mächtige Bücherschränke voller säuberlich aufgereihter Bände.“

Die Ordnung in Umberto Ecos Bestseller Der Name der Rose täuscht, doch das stört mich nicht, denn schon befinde ich mich gedanklich in diesen Räumen mit – so stelle ich es mir weiter vor – knarrenden, alten Holzböden.
Und damit zur Realität: Die Städte wechseln, die Atmosphäre aber bleibt die gleiche. Ob in Köln, Lyon oder Venedig, es sind nicht nur die touristischen Highlights und die berühmten Kirchen, die ich sofort besuche. Mich zieht es immer auch zu den Antiquariaten. Hier kann ich stöbern, womöglich sogar über Bücherberge steigen und meine literarischen Fundstücke erwerben. Verändert hat sich aber die Dauer meiner Suche, denn noch vor einigen Jahren bin ich bei den Städteerkundungen zwangsläufig auf ein Antiquariat gestoßen, jetzt muss ich mich davor erst informieren, um nicht unnötig Zeit zu verlieren. Wo auch immer ich bin, die Antiquariate verschwinden mehr und mehr.
Fest steht: Mit alten Büchern lässt sich immer schwerer ein Geschäft machen, und dafür sind diverse Gründe verantwortlich. Die meisten Antiquariate bleiben angesichts der düsteren finanziellen Perspektiven ohne Nachfolge, passionierte Bibliophile sind, warum auch immer, rar geworden, billige Nachdrucke nehmen überhand und zudem werden die Mieten vor allem in der Innenstadt zu teuer.
Linz ist da keine Ausnahme. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren haben elf Antiquariate zugesperrt, Neugebauer am Taubenmarkt erst Anfang 2018, die dazugehörige Buchhandlung blieb erhalten. Als die letzten beiden Dinosaurier haben nun die Alt-Buch-Zentrale Linz und das Antiquariat Steinberg, beide in Linz/ Urfahr überlebt.
Bereits bei einem Blick durch die großen Rundfenster des Ladens von Peter Steinberg bekomme ich einen Eindruck der thematischen Vielfalt seines elftausend Exem­plare umfassenden Bestands, rund siebentausend sind im Internet aufgelistet. Und dabei sind wir in unserem Gespräch bereits bei jenem Stichwort angelangt, das für die Arbeit und das Überleben des Antiquars unvermeidlich wurde. Es zählt jedoch noch immer nicht zu seiner Leidenschaft.
Als Antiquar hingegen arbeitet der über siebzigjährige Peter Steinberg seit beinah fünfundzwanzig Jahren leidenschaftlich gerne und manchmal sogar sechzig Stunden wöchentlich. Sein Verdienst stehe in keinem Verhältnis zu seinem Aufwand, doch er sei seit seiner Pensionierung unabhängig, erzählt er mir, während wir an einem kleinen Tisch mit Blick auf die Friedenskirche sitzen. Die Leidenschaft, um diesen Begriff noch einmal zu bemühen, stand auch am Beginn seiner Berufszäsur vom Einkaufsleiter eines Elektrogroßhandels zum Antiquar. Zunächst unschlüssig, ob er eine Kunstgalerie oder ein Antiquariat eröffnen sollte, versuchte er anfangs beides zu verknüpfen. So zeigte er in seinen Räumen, damals noch in Harbach, auch Ausstellungen, diese Kombination ließ sich allerdings in der Praxis nicht nach seinen Vorstellungen realisieren.
In diesem Vierteljahrhundert seines Lebens als Antiquar hat er das Auf und Ab und besonders das Ab seines Gewerbes miterlebt. Steinberg erzählt mir von dem „riesigen Wandel“, der innerhalb seiner Branche stattgefunden habe. Zwei Jahre nach der Gründung seines Antiquariats im Jahr 1996 ist er mit zweitausend Büchern online eingestiegen und konnte bereits am ersten Tag zweiundsiebzig Bestellungen registrieren. Die anfängliche Blüte des Verkaufs durch das Netz ist allerdings längst einem Existenzkampf gewichen. Im Internet knallen sich die Anbieterinnen und Anbieter quasi die Bücher um die Ohren, denn dort verkauft nur jener, der die günstigste Ware präsentiert. Durch diese Entwicklung stürzen die Preise ab. Der virtuelle Marktplatz für überwiegend deutschsprachige Bücher ist das sogenannte Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher, kurz ZVAB, bei dem nur professionelle Antiquariate anbieten dürfen. 1996 von drei Studenten gegründet, wurde es mittlerweile von Amazon geschluckt. Rückschlüsse aus dieser enthusiastischen Geschichte des ZVAB sind herzlich willkommen. Rund 350 Antiquarinnen und Antiquare gründeten aber als mittlerweile recht gut funktionierenden Versuch einen Gegenpol zu diesem Giganten. So entstand vor fünfzehn Jahren die Genossenschaft der Internet-Antiquare e. G., GIAQ, auf der sie unter antiquariat.de ihre Bücher anbieten. Als eine Intention der GIAQ stand ursprünglich auch der Wunsch eine Vertriebsmöglichkeit zu schaffen, in der das Wissen der Antiquare einfließen kann. Gegründet wurde das Portal als Genossenschaft, kann also nur dann übernommen werden, wenn alle Mitglieder zustimmen.
Womit könnte ein Antiquariat von heute noch verdienen, frage ich Peter Steinberg. Mit Heinz Prüllers Buch Grand Prix Story aus dem Jahr 1971 in tadellosem Zustand ließen sich beispielsweise sicher noch bis zu eintausend Euro erzielen (Anm.: Grand Prix Story ist der Titel von Prüllers seit 1971 geschriebenen Jahrbuchreihe über die jeweilige Formel-1-Saison). Sammelnde suchen oft lange, um die Bände einer Reihe zu vervollständigen und sind dafür auch bereit tief in die Tasche zu greifen. Für manche Erstausgaben eines Grillparzer-Werkes hingegen könne man nur noch wenige Euro lukrieren.
Ich erlebte an einem Freitagnachmittag bei Peter Steinberg auch die Besucher, in diesem Fall waren es nur Männer, die teils interessierte Anfragen zu Spezialgebieten stellten, sehr skurrile Wünsche äußerten, beinah freundschaftlich auf ein Glas Wein vorbeischauten oder dem Antiquar einfach die Geschichte ihrer fünfzigjährigen Ehe im Schnelldurchgang erzählten. Normalerweise aber kommen wenige Besucherinnen und Besucher in sein Antiquariat und die interessanten Begegnungen face to face haben sich so natürlich deutlich reduziert.
Für mich stellt sich in unserem Gespräch angesichts des Aussterbens vieler Antiquariate auch die Frage: Was wird vom Buch mit Qualität einst erhalten bleiben? Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges stellte bereits vor beinah achtzig Jahren eine poetische Prophezeiung an: „Ich vermute, dass die Gattung Mensch im Aussterben begriffen ist und dass die Bibliothek fortdauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen unbeweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, überflüssig, unverweslich, geheim.“
Kehren wir in unsere effiziente und unzureichende Realität zurück. Für die nächsten Generationen geht wohl vieles verloren, ist Peter Steinberg überzeugt, vor allem die Überprüfung der Fakten wird schwierig. Der vielzitierte Fake und Mutmaßungen entwickeln sich damit wohl zu sogenannten Tatsachen. Werden für die Generationen nach uns noch die Korrespondenzen von Kunstschaffenden, Forschenden, Politikerinnen und Politikern erhalten bleiben und sie somit an einem Teil des Denkens und Fühlens bestimmter Personen teilhaben können? Wohl kaum anzunehmen, dass E-Mails, SMS oder Social-Media-Timelines überdauern.
Peter Steinberg glaubt zwar an den Bestand des Buchs, doch nicht an den Bestand der Vielfalt, die wir heute noch vorfinden. Und bereits jetzt lässt sich das Buch doch beinah als Anarchist gegenüber den digitalen Medien bezeichnen. Die traditionell Lesenden, die wir alle seit Jahrzehnten kennen, beobachte ich im Alltag immer weniger. Hautnah erlebe ich es, wenn ich etwa reichlich „antiquiert“ mit dem Buch in der Hand im Zug sitze.
Kehren wir nach diesem kleinen Gedankenausflug wieder ganz zu den Antiquariaten zurück. Einige von Steinbergs Kolleginnen und Kollegen, und das sei auch nicht verschwiegen, blicken optimistischer in die Zukunft als er. „Das Antiquariatssterben gibt es nicht“, meint etwa die Frankfurter Vorsitzende des Verbands Deutscher Antiquare Sibylle Wieduwilt, „die Antiquariate sind nur umgezogen: ins Internet.“ Ihr Credo: Keine Massenware. Nach diesem Motto arbeitet auch das Antiquariat Hennwack in Berlin. Auf einer Fläche von über 1300 Quadratmetern finden die potentielle Käuferin und der potentielle Käufer rund 400.000 Bücher, zum größten Teil aus Spezialgebieten. Möglicherweise, und das bestätigt auch Peter Steinberg, kann diese Methode das Überleben einiger Antiquariate hinauszögern, denn Liebhaberinnen und Liebhaber eines bestimmten Buches stöberten auch gerne vor Ort. Sie schätzten die spezielle Atmosphäre in einem Antiquariat, den kompetenten Rat und die überbordenden Holzregale.

 

Antiquariat Steinberg
Peuerbachstraße 9, 4040 Linz
Tel.: 0732/750877
www.antiquariat-steinberg.at

Horrordates

Dating im digitalen Zeitalter: Sarah Held hat die Online-Plattform „Horrordatestorys“ besucht und schreibt über Geschichten aus dem Patriarchat 2.0

Screenshot eines Story-Highlights auf „Horrordatestorys“. Foto Horrordatestorys, Screenshot vom 16. Nov. 2019

Dating im Digitalzeitalter wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst – keine Sor­ge, das wird kein Artikel mit moralisierendem Beigeschmack, der sich zum Themenfeld „Dating-Apps bzw. Online-Dating tragen zu zwischenmenschlicher Entfremdung bei und lassen Menschen zu Konsum­gü­tern werden“ äußert. Diesen Acker haben andere Leute schon gut bearbeitet und es gibt genügend Beiträge im soziologischen und kulturellen Diskurs. Es geht auch gar nicht primär um Tinder & Co, sondern um „Horrordatestorys“ (für alle Grammatik-Nerds: schreibt man im Deutschen auch im Plural mit Y). Dabei handelt es sich um einen metakontex­tuel­len Account auf Instagram, wo Geschichten von ge­scheiterten Dates aus dem deutschsprachigen Raum gesammelt werden. Im Rahmen dieses Artikels sollen ein paar persönliche Beobachtungen geteilt werden, die mit einer Prise feministischem Framing daher­kommen.

Für alle, die mit dem Inhalt von „Horrordatestorys“ nicht vertraut sind, führe ich ein paar prägnante Beispiele bzw. folgen­de inhaltliche Zusammenfassungen auf: Neben unzähligen Postings, die von vor­zeitiger Ejakulation erzählen, themati­sie­ren viele Einträge den Ekel vor Körper­flüs­sigkeiten. Oder viele der Beiträge re­präsentieren ein patriarchales Denken in Form von „Slut Shaming“, wie beispiels­weise: „Tinder. Er meint, er sucht keine Beziehung, eher was Lockeres. Ich sage, ich auch, will einfach bisschen rumdaten. Er: ‚Sorry aber das klingt nach Flitt­chen’“. Viele der Geschichten reichen von banal bis witzig-skurril. In der Kürze, die in diesem Text möglich ist, verweise ich aber mit zwei Fallbeispielen auf soziokulturelle Richtungen, dir mir als Followerin besonders negativ aufgefallen sind: einerseits vermeintliche deviante Abweichungen von sexuellen Standardvorstellungen und andererseits tatsächlich deviantes Verhalten im sozialen Miteinander von Cis-Männern.

Pseudo „Patrick Bateman“
Eingehend auf Letzteres möchte ich ein Fallbeispiel vom 19. 09. 19 aufzeigen (Rechtschreibung wie im Originaltext): „Ich habe einen psychpath gedated. tinder, bar, ab zu ihm – er war sehr charismatisch und sah gut aus. Als wir uns auf der couch näherten holte er plötzlich sein Handy raus und ging auf horrordatestorys ich dachte mir nichts dabei bis er anfing diverse posts vorzulesen in denen er selbst involviert gewesen wäre. Amüsiert las er mit leuchtenden augen die widerwärtigsten schoten vor. Als ich ihn fragte ob er noch ganz dicht sei, nannte er mich eine ahnungslose h*re und fing an zu erklären. Für ihn wären horrordates eine kunstform in der er sich selbst verwirklichen könnte. […] seine eigene story im netz zu lesen würde in der szene sowas wie den ritterschlag bedeuten“ (gekürzte Fassung, die eingeladene Person hat die Wohnung verlassen).
Dieser kurze Erlebnisbericht weist auf abartiges Sozialverhalten und Männerbünde hin, es erinnert stark an die selbst ernannten Pick-Up-Artists, die bis vor einigen Jahren im feministischen Diskurs­universum ziemlich verbreitet waren. Dabei handelt es sich um heterosexuelle Cis-Männer, die sich im Internet zusammenschließen, Challenges ausmachen, um Frauen „aufzureißen“ oder sich mit weir­dem Verhalten, für die beteiligten Frauen meist herabwürdigend, im Nachhinein online brüsten. Sie sind allerdings immer noch da, nur scheinbar ruhig ist es geworden um diese fragwürdige Gruppe der Cis-Männer. Der Diskurs hat sei­nen Fokus aktuell in eine noch dunklere Ecke verlagert, wo sich Incels (Involuntary Celibate), also männliche Jungfrauen bzw. unfreiwillig zölibatär lebende Männer, zusammenrotten. Eines ist beiden Aus­prägungen männlicher Hybris und Dominanzverhalten gemeinsam: Es sind zutiefst misogyne Männer mit archaischen Besitzansprüchen und hegemonialen Denk­strukturen, in deren Mindset sich die toxische Verbindung von Rassismus, Sexismus, Homophobie und Antisemitismus spiegelt. Es geht im genannten Beispiel demnach nicht nur um das Erobern von Frauen und deren Verfüh­rung, sondern um deren gezielte Demütigung. Diese Gruppe heterosexueller Männer handelt nach „Ritualen der Macht“, die, gemäß Klaus Theweleits „Männerphantasien“, Folgen der männlichen So­zialisation sind. Das Performen von heteronormativer Männlichkeit benötigt in dieser toxischen Manifestation, wie das Beispiel oben illustriert, die Abwertung an­derer Geschlech­ter. Diese Abwertungs­strategie ist essenziell für die Herstellung der eigenen (vermeintlichen) Überlegenheit. Souveränität wird durch stereotype Hypermaskulinität inszeniert.

Standard ja, kink nein
Neben ausgeprägter Misogynie, die das angeführte Fallbeispiel traurigerweise darstellt, ist mir aufgefallen, dass generell Abweichungen von dem, was als Vorstellung eines sexuellen Standards verstanden wird, häufig als Kategorie Horror beim Date erzählt wird. Auffällig ist, dass im Gros der Posts Heteronormativität (Heterosexualität als dominante Gesellschaftsnorm) und sogenannter Blümchensex (Cis-Hetero-Missionarsstellung etc.) omnipräsent sind. Gerade wenn es um Kinksex (z. B. Fetisch, BDSM) oder andere trans­­gressive Sexualitätsausprägungen geht, wer­den diese von der Normgesellschaft als deviant oder pervers gelabelten Handlungen im Account ebenso durch Irritation oder Ablehnung inszeniert. Das lässt sich aus folgendem Fallbeispiel ableiten (Schreibungen wie im Originaltext): „Ich W19 er M24, es unser 5 date. Waren bei ihm und haben gekocht. Als es dann zu GV kam war alles gut, auf einmal holte er einen 1 Meter Dildo raus. Er wollte das ich ihn von hinten nehmen mit dem Rosa Monstrum. Als ich verneinte, hat er sich das Ding selbst reingesteckt und total abgegangen. Danach nie wieder gesehen“.
Die geschilderten Situation impliziert eine Konsensabfrage. Dieses Beispiel habe ich ausgewählt, weil es klar eine diskursiv zementierte Grenze von heterosexueller Männlichkeit durch die Begierde nach analer Befriedigung überschritten zeigt und somit als Irritation dargestellt wird. Das ist aus mehreren Perspektiven interessant, denn der heterosexuelle Cis-Mann wird selten Bottom (passiv Analsex empfangend) inszeniert. Inner­halb der heterosexuellen Matrix und ge­mäß dem wirkmächtigen Heteromainstream-Pornodiktum wird dieser Männ­lich­keitsentwurf im Kontext von Anal­ver­kehr als stählerner Top (aktiver Part beim Analsex) inszeniert. Die Person, die im Bei­spiel M24 genannt wird, äußert ihrem Gegenüber nicht nur das Verlangen nach analer Befriedigung, sondern performt diese Lust dann im Alleingang. Das Aus­sprechen solcher Kinks ist für viele Menschen mit Angst vor Beschämung verbunden. Was die knappe Erzählung nicht detailliert beschreibt ist, in welcher Weise Konsens und Sexpraktik besprochen wurden. Neben diesem prägnanten Fallbei­spiel ist mir beim Stöbern auf „Horrordatestorys“ aufgefallen, dass im Storytel­ling vieler Posts keine andere Flüssigkeit als Sperma zulässig ist. Alle anderen Formen von Körperflüssigkeiten werden dämonisiert, tabuisiert und stigmatisiert. Der Account bildet aber nicht nur das Standardbegehren der Dominanzkultur ab, son­dern auch die Abweichung von der körperlich-funktionierenden Norm zeigt sich mit sozialer Grausamkeit: Ein Rollstuhl­fahrer wird, gemäß seinem Beitrag, beim Zusammentreffen nach seinem Grindr-Date heftig beleidigt. Das Date äußert, den Rollstuhl als Fetisch verstanden zu haben und geht wieder, weil er keinen Sex mit einer körperlich beeinträchtigen Person haben möchte. Den genauen Wortlaut möchte ich hier nicht reproduzieren.
„Horrordatestorys“ bietet neben der skiz­zierten Kritik auch durchaus Unterhal­tungs­­potential. Das ist ein bisschen wie RTL2 oder ATV schauen, das wirkt zwar immer etwas verstörend und geht auch nur in der richtigen Stimmung – und in kleinen Portionen. Zum Abschluss möch­te ich aber noch einen besonders unangenehmen Aspekt erwähnen. Neben dem stark verbreiteten Hetero-Sexismus, dem Ableismus (Beschämen von nicht normativen Körpern) oder dem Kinkshame (Be­schämen von als pervers/deviant verstan­denen Sexpraktiken) finden sich auch ei­nige Fälle, die sich offenbar an der Grenze oder über der Grenze zur sexualisierten Ge­walt befinden, denn die Account-Betrei­ben­den geben in einem sogenannten Story-Highlight auf die Frage, was die „kras­sesten Geschichte“ gewesen wären, an, dass sie diese aufgrund ihres straf­recht­lichen Inhalts gar nicht veröffentlichen.

Abschließend möchte ich anmerken, dass mir ebenfalls eine Beeinflussung durch die­se Dating-Apps auf das Dating-Verhalten aufgefallen ist. Bei meinen Beobachtungen zum Account war mir ein nicht so neuer Gedanke häufig präsent: Das Fehlen von sozialen Verbindlichkeiten und die scheinbare Anonymität befördern unsoziale Verhaltensweisen, die durch Online-Dating vermutlich perpetuiert werden. Ohne soziokulturelle Nähe und Über­schnei­dun­gen in den Peergroups schei­nen manche Menschen dazu zu ten­dieren sich unso­zi­a­ler zu verhalten.

Buchtipp

Marlen Haushofer
Der gute Bruder Ulrich. Märchen-Trilogie
Limbus Verlag, 2020

Das Professionelle Publikum

Welche Veranstaltungstipps Veronika Barnaš, Walter G., Gernot Kremser, Andreas Kurz, Lisa Neuhuber, Rainer Noebauer-Kammerer, Monika Pichler und S. Abena Twumasi für Sie parat haben, lesen Sie auf den folgenden Seiten! Die Redaktion bedankt sich für die Auswahl und wünscht einen abwechslungsreichen Frühling!

Veronika Barnaš
arbeitet als Künstlerin und Kuratorin in Wien und Linz in unterschiedlichen Medien und genreübergreifend (Film, Bildende Kunst, Theater). Lektorin an der Kunstuniversität Linz.

„Budenzauber“
Ausstellungseröffnung: GRAFFITI & BANANAS – Die Kunst der Straße

Foto (Ausschnitt): Wolfgang Pauly

Walter G.
ist DJ in dieser Stadt (manchmal auch drüber hinaus). Musik ist nicht sein Beruf, doch seine Berufung und begleitet ihn in allen Lebenslagen. Er betrachtet sie hauptsächlich und passioniert aus dem Kontext der speziellen MODernistischen Sixties Subkultur und verblüfft sein Publikum mit Telefon und höchster Tanzbarkeit des Dargebotenen.

O Wow! Tanzabend mit dem Soul Lobster DJ Team
Jools Holland with special guest KT Tunstall

Foto: Posthof

Gernot Kremser
leitet die Sparte Musik im Posthof Linz.

Konzert: Joan As Police Woman Trio – Cover Two Tour 2020
Ausstellung: Approximation by Bilderbuch

 

 

Andreas Kurz
arbeitet an der Schnittstelle von Bildender Kunst und Musik an der Konzeption und Umsetzung von Ausstellungen, Installationen und Soundperformances.

Ausstellungseröffung: PÖCHHACKER/NOWAK/KURZ
Eröffung BERND OPPL Crossing Europe 2020, LENTOS Featured

Lisa Neuhuber
lebt im Salzkammergut und ist unter anderem Kultur- und Sozialanthropologin, Kulturarbeiterin im Kulturverein Kino Ebensee und seit Projektbeginn Teil des Kernteams der Kulturhauptstadt Bad Ischl-SKGT 2024.

Neu-Eröffnung Kunstforum Salzkammergut + Galerie Tacheles
Attwenger

© Rainer Noebauer-K.

Rainer Noebauer-Kammerer
ist Künstler und Initiator verschiedener Projekte und Ausstellungen, u. a. der Projektreihe „Experimentierfeld“ und des „Skulpturenpark Westautobahn“. Wiederkehrendes Thema sind ortspezifische Arbeiten und der öffentliche Raum. www.rainer.noebauer.info

Ausstellungseröffnung „Augen­schein des Rechtswesens“
Ausstellungseröffnung im EFES 42

Monika Pichler
ist Künstlerin und lebt und arbeitet in Linz und Wien. Sie absolvierte von 1984–1992 die Hochschule für künstlerische und industrielle Gestaltung (Fritz Riedl, Marga Persson) in Linz. Seit 2000 ist sie Ao. Universitätsprofessorin. Seit 2009 Leitung der Siebdruckwerkstatt am Institut für Bildende Kunst und Kulturwissenschaften, Abteilung Malerei und Grafik.

Monika Pichler Vernissage: „Au Temps Qui Passe – die Zeit vergeht“
Ausstellungseröffnung: „I haven’t been to Paris in 1952“ Martin Bischof, Julia Gut­weniger, Sabine Jelinek, Monika Pichler

Foto © Mehdi

S. Abena Twumasi
ist Obfrau des Vereins „JAAPO – für Partizipation von Women of Color“.

THE SOUND OF IDENTITIES – Von Traditionen und Werten der Leitkultur
10. Freiwilligenmesse FEST.ENGAGIERT

 

 

Tipp von Die Referentin

 


Ulrichsberger Kaleidophon 2020