Editorial

May you live in interesting Times. Ein Wunsch, der noch nie etwas Gutes verheißen sollte. Eine Realität, in der wir angelangt sind.
Notieren wir einige Highlights. Menschen verkünden derzeit zu Hauf, lieber ins Gefängnis gehen zu wollen, als sich impfen zu lassen. Manche davon haben sich früher zwar schon mal gegen Tropenkrankheiten impfen lassen, Urlaubsreise und so, macht aber nix. Andere drohen, zwischen Querdenker-Demo und Widerstands-Schweinsbraten die Krankenhäuser zu sabotieren, dort ist eh fast nichts los. Oder behandeln sich gleich selbst mit Entwurmungsmittel, auch nicht schlecht. Herpferd hats schließlich gesagt. Na gut. Das sind die Zeiten zwischen Lockdown und Knockdown.
Vor dem allgemeinen Lockdown hat in der Szene der Begriff „professioneller Kulturbereich“ nochmal kurz aufhorchen lassen, bzw. der Umstand, dass kleinere Kulturinitiativen im halben Lockdown nicht veranstalten oder spielen sollten, größere aber schon durften. Ein Kommentar zu dieser unterschiedlichen kulturellen Systemrelevanz aus der Szene, dem wir zweifelsohne zustimmen könnten: Der Begriff „professioneller Kulturbereich“ bedeutet mit anderen Worten wieder einmal: Die von der Politik determinierte Unterscheidung zwischen Hochkultur und freie Szene und die Privilegierung der Ersteren. Dies ist die Diskussion, die hier zu führen ist.

Ja, die Unterschiede bestehen, dazu aber ein andermal. Wir kommen nun nämlich zu Familie Seif. Die Redaktion möchte die geschätzte Leser*innenschaft über ein Linzer Weihnachtsmärchen, das sich im nahen Umfeld zugetragen hat, informieren und gleichsam darauf hinweisen, dass Spenden unter dem angegebenen Konto jederzeit willkommen sind.

Frau Seif ist 2015 mit ihren zwei kleinen Kindern im Zuge der Flüchtlingswelle am Landweg nach Österreich geflüchtet. Ein Fluchtgrund neben Krieg, fehlender Nahrung und Grundversorgung war auch der Mord an ihrem Ehemann durch den IS. Die Familie war mit dem Leben bedroht. Valarie Serbest kennt die Familie, sie schreibt:

Ich durfte Frau Seif 2018 durch die Schule kennenlernen. In einem ersten Schritt haben sich unsere Söhne in der Nachmittagsbetreuung angefreundet. Schnell haben sich auch wir Mütter und unsere beiden Töchter kennengelernt. Seit 2018 war ich auf der Suche nach einer sicheren Wohnungssituation für die Familie, wo Ankommen und Integration ermöglicht werden kann. Aufgrund des Flüchtlingsstatus schieden Genossenschaftswohnungen aus, „leistbare“ Privatwohnungen sind mir – trotz intensiven Suchens – kaum untergekommen; und wenn, wurden Sie nicht an eine Familie, die unter Existenzminimum leben muss, vermietet. Die Erstwohnung in Linz war eine privat vermietete Kellerwohnung mit hohem Schimmelbefall für 680 Euro im Monat. Aus Kostengründen musste die Familie dann in den Spinatbunker umziehen und auf 20 m² unter widrigsten Bedingungen, die weder mit Kinderschutz noch Kinderwohl zu vereinbaren waren, leben. Nach drei Jahren intensiver Suche konnte ich nun glücklicherweise endlich im September eine Wohnung finden, bei der die Vermieterin bereit war, an Familie Seif mit marktüblichen, aber erschwinglichen Konditionen zu vermieten. Die Wohnung befindet sich im Franckviertel mit familiärem Umfeld. Die Familie ist überglücklich und das erste Mal – nach sechs Jahren – in einem sicheren Umfeld in Österreich angekommen. Die private Vermieterin hat sich auch bereiterklärt nur zwei Monatsmieten Kaution einzuheben und die Küche, Schränke, Mikrowelle, Lampen ohne Ablöse an die Familie abzutreten.
Die Mutter kann sich nur das Notwendigste zum Überleben leisten. Der gesamte Besitz der Familie besteht aus einer sehr alten Couch, zwei Klappbetten für die Kinder, einer Waschmaschine und einem Fernseher. Da der Bezugstermin in der neuen Wohnung im Franckviertel erst später möglich war, konnte die Kündigungsfrist im Spinatbunker nicht eingehalten werden. Es mussten noch zwei Monatsmieten an den Vermieter abgegolten werden, der leider nicht bereit war, auf diese zu verzichten. Die Gesamtkosten für die Übersiedlung bestehend aus den zusätzlichen Monatsmieten, der Kaution für die neue Wohnung, dem Ankauf von noch notwendigem Mobiliar und einer Basisausstattung an Geschirr, Bettwäsche und Wasserkocher, war für die Familie unmöglich selbstständig aufzubringen. Meine persönliche Verantwortung verstand ich darin, für die alleinerziehende Frau diese Kosten, rund 3.000 Euro, privat zu übernehmen und ihr eine Starthilfe zu ermöglichen, die sie und ihre Kinder schon lange verdient haben.

Die Referentin ersucht nun mit Valarie Serbest um Unterstützung, jeder Betrag ist willkommen.

Spendenkonto: Frauenlandretten
AT78 5400 0000 0070 4643
HYPO Oberösterreich
Verwendungszweck: Familie

Die Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

Hommage a Solidarność

Mit „Female Sensibility“ wird aktuell im Lentos Kunstmuseum eine Vielzahl an Arbeiten aus den 1970er-Jahren präsentiert, die unter dem Begriff „Feministische Avantgarde“ firmieren und Teil der Wiener Sammlung Verbund sind. Bettina Landl hat sich drei künstlerische Positionen näher angesehen: Die von Ewa Partum, Ketty La Rocca und Àngels Ribé.

Die Multimedia-Künstlerin Ewa Partum (geb. 1943) zählt zur ersten Generation polnischer Konzeptkünstlerinnen, ebnete den Weg für feministische Performance und Body Art und förderte den politischen Aktivismus des ehemaligen Osteuropa. Indem sie jeden „Denkakt“ als einen „Kunstakt“ fasst, bekräftigt sie die politische Ökonomie von Zeichen und die Materialisierung von Sprache in ihren Arbeiten. 1983 verließ sie Polen und zog nach Berlin. Aber beginnen wir mit ihrem Schaffen in Polen: Anfang der 1970er-Jahre gründete sie nach Studien in Łódź und Warschau die Galerie Adres in ihrer Wohnung. Die Galerie blieb fünf Jahre lang aktiv und widmete sich Konzeptkunst, Mail Art und Theorie. Im gleichen Zeitraum entstanden ihre ersten Installationen und Aktionen im Zusammenspiel mit Poesie, vermehrt im öffentlichen Raum: In „The Legality of Space“ (1971) und „Poem by Ewa“ (1971) sind die Buchstaben, die ihre Gedichte bilden, ausgeschnitten und ins Wasser oder auf die Straße geworfen. 1976 entwickelte sie mit „Drawing TV“ eine Videoperformance, in der sie mit einem Filzstift die Linien und Silhouetten einer Fernsehsendung auf den Bildschirm zeichnet. Ab 1974 realisierte die Künstlerin mit „Change“ eine der bedeutendsten feministischen Performances, die in Form einer Videodokumentation Teil der SAMMLUNG VERBUND und damit Teil der Ausstellung ist. Vier Jahre später fand die Arbeit in „Change. My Problem Is a Problem of a Woman“ (1979) ihre Fortsetzung. Dabei lässt sich Partum von einer Maskenbildnerin eine Hälfte ihres Gesichts und Körpers „alt“ schminken, begleitet von Kommentaren ihrer Künstlerkolleginnen Valie Export und Urlika Rosenbach. Ein weiteres Element der Arbeit ist die Bildunterschrift: „Auf den Boden habe ich geschrieben: ein Künstler hat keine Biografie. Eine Künstlerin hat jedoch eine. Es ist wichtig, ob sie jung oder alt ist.“ 1980 produzierte sie „Auto-Identification“, eine Serie von Fotomontagen, die sie als Protest gegen die standardisierte Rolle der Frau in einer stark patriarchalischen kommunistischen Gesellschaft verortete: Dabei ging sie nackt durch den öffentlichen Raum, positionierte sich vor dem Parlament und in der Nähe einer Gedenkstatue von Warschau. Die Regierung verbot die Aktion. Einige Jahre später präsentierte sich die Künstlerin in Berlin erneut nackt vor der Mauer und hielt die Buchstaben „W“ (West) und „O“ (Ost) in der Hand („Ost-WestSchatten“, 1984). „Hommage a Solidarność“ performte sie erstmals anlässlich des Solidarność-Jubiläums in einer privaten Galerie in Łódź. Partum wiederholte sie ein Jahr darauf in der West-Berliner Galerie Wewerka, die gleichzeitig eine Retrospektive der Künstlerin zeigte. Sie stand nackt vor einem Papiertuch, das sie mit fortlaufenden Buchstaben des Wortes „Solidarność“ (Solidarität), dem Namen einer antikommunistischen polnischen Oppositionsbewegung, markierte – zum Gedenken an die soziale Bewegung, die ihr zufolge selbst in erheblichem Maße künstlerischer Natur war.

Ketty La Rocca (1938–1976) war eine italienische Konzept- und Body-Art-Künstlerin sowie visuelle Poetin. 1964 begann sie mit Collagen und entwickelte ab den 1970er-Jahren performative Serien, in denen sie die „Sprache der Hände“ mit Worten ergänzte. Ihre Untersuchungen galten der Sprache, der sie zutiefst misstraute, den Bildern und stereotypen Zeichen der Alltagswelt – mit dem Ziel, die herrschende Politik der Körper sichtbar zu machen. 1972 war sie mit dem Video „Appendice per una supplica“ (Anhang für eine Bittschrift) auf der Biennale in Venedig vertreten. Darin arbeitet sie mit Spiegel- und Metallobjekten, Textgemälden und einzelnen aus schwarzem Kunststoff gefertigten Buchstaben, die sie an der Wand befestigt oder Skulpturen gleich frei im Raum platziert. Das „I“ und das „J“ stehen dabei für das englische bzw. französische „Ich“. La Rocca präsentierte ihre Textarbeiten auch im Rahmen von Aktivitäten der Gruppo 70, die in Florenz avantgardistische Veranstaltungen organisierte, und veröffentlichte sie in der Zeitschrift Tèchne. Ihr Werk umfasst Schriften, collagierte Kompositionen und Performances. Ausgehend von der „poesia visiva“ (visuellen Poesie) setzte sich La Rocca intensiv mit der Bedeutung und Wechselwirkung von Sprache und Bild auseinander. Zentral ist dabei die Beschäftigung mit der körperlichen Geste als dem zugrundeliegenden Mittel der Kommunikation. In der Serie „Le mie parole e tu?“ (Meine Worte und du?, 1971/72), die im Lentos zugänglich ist, sind Fotografien einer männlichen Hand zu sehen, die von Bild zu Bild jeweils einen Finger weniger ausstreckt. Auf die Fotos hat die Künstlerin neben Linien und grafischen Setzungen mehrfach das Wort „you“ geschrieben – ein Hinweis auf die kleinste Einheit möglicher Kommunikation. Die (aggressive) Adressierung durch das Wort und der Zeigegestus der Hand thematisieren in diesem Kontext (auch) das problematische Verhältnis der Geschlechter. In „Craniologia“ (Schädelröntgen, 1973) schreibt sie das Wort „you“ mehrfach auf ein Röntgenbild ihres eigenen Kopfes, der mit einer geballten Faust überblendet wird, und setzt sich damit kämpferisch mit ihrer eigenen Krebserkrankung auseinander. In Zeiten globaler Kommunikation nutzte sie alle verfügbaren Werkzeuge für ihre entideologisierenden und entmystifizierenden Zwecke.

Die Arbeit „El no vist. El no fet. El no dit (The Unseen. The Unmade. The Unsaid)“ von Àngels Ribé aus dem Jahr 1977 ist eine der jüngsten Ankäufe der Sammlung Verbund. Die assoziativen und symbolischen Funktionen der Kunst wurden im Laufe der 1970er-Jahre neu verhandelt. Das Kunstwerk hörte auf, eine autonome Einheit zu sein, wie es in der Tradition der Moderne üblich war. Seine Bedeutung war immer öfter vom Austausch mit den Betrachter*innen abhängig, indem diese die Mehrdeutigkeit und die Vielfalt der Bezüge und Lesarten eines Kunstwerks offenlegten. Unter diesen Rahmenbedingungen entwickelte die 1943 geborene katalanische Konzeptkünstlerin ihre eigene Sprache, die bis heute durch verschiedene Medien ihren Ausdruck finden. 1969 zog Ribé nach Paris und begann sich vor allem mit der Objekthaftigkeit des Körpers im Raum zu beschäftigen, insbesondere mit der Präsenz ihres eigenen Körpers (als Künstlerin) in Begegnung mit dem des Betrachters/der Betrachterin. Als ein narratives Moment dienen geometrische Formen, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihres künstlerischen Diskurses wurden. Einige Arbeiten Ribés zeichnen sich durch die Verwendung unkonventioneller Materialien wie Schaum, Wasser, Licht und Schatten aus, und spielen mit deren Dekontextualisierung. Wesentlich dabei wirken auch das Interesse der Künstlerin am Zufälligen und Vergänglichen. In den 1970er-Jahren übersiedelte Ribé in die USA, zunächst nach Chicago und wenige Monate später nach New York. In beiden Städten hatte sie Kontakt zu Macher*innen neuer Galerie- und Ausstellungsformate, die sich alternativ zu anachronistischen Institutionspolitiken und als Förderer einer aufstrebenden Kunstszene etablierten. In diesen Jahren realisierte Ribé auch Performances und Installationen, in denen dem Objekt seine künstlerische Einheit abgesprochen wurde; in denen die Präsenz der Künstlerin und ihres Gegenübers zu ihrem Hauptinteresse wurde und damit subjektiver Faktor im Handlungsverlauf – zu einer bestimmten Zeit und an einem konkreten Ort. Ziel war es, in einem Prozess der Entobjektivierung von Kunst die Bedeutungsproduktion des künstlerischen Objekts in Richtung Erfahrung zu verlagern. Es war ein Versuch, das Werk als etwas Nicht-Dauerhaftes zu begreifen, die Qualität des künstlerischen Objekts auf etwas Immaterielles zu übertragen und seine Objektivität zu negieren. Ribés Performances sind geprägt von Kontingenz, der Möglichkeit einer Transformation, vom Vergänglichen. Ribé erweitert ihr Vokabular mittels Intervention von Unbewusstem und Subjektivem in der Wahrnehmung, konjunkturellen Aspekten, der Analyse widersprüchlicher Informationen, ihrer Situation als Frau und ihrer persönlichen Geschichte. „Can’t Go Home“ und „Amagueu les nines que passen els lladres“ (beide 1977) sind Installationen, die über die Möglichkeit des Handelns, über den Gegensatz von Vergangenheit und Zukunft, Realität und Traumwelt, Erinnerung und Sehnsucht reflektieren. Die doppeldeutige Sichtweise, die Ribé in diesen Werken vorschlägt, zeigt eine persönliche, weibliche, fragmentierte und stigmatisierte Vorstellung, aber auch eine Parallele zur politischen Situation des Landes in einer prekären Zeit, zwischen der Last der jüngsten Vergangenheit und der Möglichkeit einer anderen Zukunft.

Gabriele Schor, Kuratorin der Ausstellung und Gründungsdirektorin der Wiener Sammlung Verbund, engagiert sich seit 2004 für „Feministische Avantgarde“ und Aufklärung rund um die Konstruktion des Weiblichen. Die Sammlung befindet sich seit 2010 auf Wanderschaft und war in Rom, Madrid und London. Diesmal wurde sie um 34 internationale Positionen aus Lateinamerika, Nordamerika, Asien sowie aus West- und Osteuropa erweitert. In fünf Bereiche gegliedert, ist (und bleibt) der weibliche Körper als Träger gesellschaftlicher Erwartungshaltungen im Fokus, der von der Dominanz eines männlichen Blicks und patriarchaler Machtstrukturen geprägt ist. Dem entgegen wird das Eintreten für die Selbstbestimmung der Frau gestellt, der Anspruch, eine feministische Ästhetik zu etablieren und durchzusetzen.

 

Female Sensibility
Feministische Avantgarde aus der SAMMLUNG VERBUND
24. 09. 2021 – 09. 01. 2022
Lentos Kunstmuseum Linz
www.lentos.at

Stadtblick

Foto Die Referentin

Zirkusfamilie

Dies ist die letzte Ausgabe dieser Kolumne. Aus mehreren, auch zeitlichen Gründen, vor allem aber, weil ich merke, dass ich nichts mehr beitragen kann und nicht zum hundertsten Mal darauf hinweisen will, wie paternalistisch, patriarchalisch und misogyn die Arbeitswelt nach wie vor und wieder strukturiert ist und wie gut es wäre, mal auf die zu hören, die nicht eh dauernd den Mund offen haben. Ich bin in der glücklichen Lage, auf andere Formen zurückgreifen zu können als sich die Finger wundzuschreiben, nach Solidarität zu rufen, oder danach, sich nicht zwingend grad mit denen zu verbünden, die Feminismus als momentanen Hype eh ganz sexy finden, solange er ihren Status als Erklärbär nicht in Frage stellt. Die vom „Feminisieren der Räume“ faseln, anstatt mal für eine Sekunde einfach ruhig zu sein. Die Erkenntnis, dass Solidarität, Loyalität und wertschätzende Formen der Zusammenarbeit nicht zwingend dort zu finden sind, wo sie als Schlagwörter auf Plakaten stehen oder auf Social Media gepostet werden, mag eine Binsenweisheit sein. Vielleicht sollte frau auch verstehen, dass Männer, jahrzehnte- achwas, jahrhundertelang so missverstanden, und eigentlich doch das schwache Geschlecht, nun auch Teil einer offenbar zeitgemäßen und in Förderanträgen sich gut machenden Bewegung sein wollen, Blumen posten und Körperteile ihrer Kinder, um die Welt wissen zu lassen, wie sensibel und wieviel Vater sie doch sind. Was sie allerdings nicht daran hindert, Frauen totzuschweigen, aus ihren Arbeitsplätzen und von ihren Plattformen zu drängen, ihre Jobs und Diskurse zu kapern. Ja, Feminismus meint eine menschliche Zukunft, deshalb muss man sich als Feministin aber nicht doof stellen und paternalistische Untergriffe nicht benennen. Und nein – hier schreibt keine, die Männer nicht mag, hier schreibt eine, die – um es mit Sibylle Berg zu schreiben, weil schöner geht ohnehin nicht – Männer nur dann nicht ganz so gern mag, wenn sie „in Horden auftreten und hupen“.

Die letzte Ausgabe aber soll sich den positiven Entwürfen widmen, die Exit-Strategien sein könnten aus dieser ohnehin verheerenden und aussichtslosen Situation, in der die Welt und damit auch Sie da draußen, Ihr und ich stecken (Dieser Hinweis scheint wichtig, weil manche sich so benehmen, als würden sie nicht mit allen anderen, Kleinen und Großen, Dummen und Gescheiten, Schönen und Hässlichen auf einem Planeten feststecken). Drum:

Als ich ein Kind war, stand ich häufig am Zaun zur Straße vor unserem Haus in der Kleinstadt und hab auf die Straße geschaut. Offenbar stundenlang, was zum Glück niemand eigenartig fand, sondern im Gegenteil meine Mutter, wenn man sie danach fragt, als ganz praktisch empfunden hat. Wenigstens eins von den Kindern, von dem man immer wusste, wo es war: „Ja, du warst so ein ruhiges Kind. Und am Gartenzaun bist du oft gestanden und hast auf die Straße geschaut.“ Was meine Mutter nicht wusste, war, dass ich immer dort stand, wenn ein Zirkus in der Gegend war und ich darauf wartete, dass jemand mich abholt. Zu wissen, da draußen gibt es eine Zirkusfamilie, die mich sucht und irgendwann findet und zu sich holt, war offenbar eine gute Exit-Strategie (und es ist tatsächlich weniger traurig als es sich hier jetzt liest).
Ein paar Jahre und einige Zirkusfilme im Sonntagsnachmittagsprogramm später war ich ganz froh, dass mich Joan Crawford, Hans Albers (naja) oder Freddy Quinn dann doch vergessen hatten, und ich habe bis heute den Verdacht, dass ich als 4jährige die Kasperlfamilie in Vera Ferra-Mikuras Lieber Freund Tulli einfach für eine Zirkusfamilie gehalten hab. Für mich waren damals jedenfalls alle in einer Zirkusfamilie irrsinnig lieb zueinander, sie waren großzügig und nachsichtig und vor allem lustig. Sie waren nicht zwingend verwandt, dafür umso loyaler, es war immer warm, sie haben gemeinsam gegessen und gearbeitet, und gegen Menschen gekämpft, die das Schöne nicht wertschätzen können. Die Melancholie unter und über dem Ganzen war wichtig, weil – sentimentale Musik – Unverbindlichkeit! Oberstes Gebot in Zirkusfamilien. In Zirkusfamilien lässt man sich ziehen, da setzt sich niemand auf dich drauf und schnürt dir die Luft ab, beißt sich niemand fest in Dir oder ein Stück von dir ab, bloß um es kurz darauf angewidert auszuspucken.

Hin und wieder treffe ich auf andere Familienmitglieder dieser Zirkusfamilie, die auch nie abgeholt wurden und man macht es sich für einen Wimpernschlag fein. Mit denen lässt es sich wunderbar diskutieren und zusammenarbeiten, weil sie weder eine Projektion über dich stülpen noch ein Stück von Dir abbeißen wollen. Die dich ganz lassen. Die großzügig und nachsichtig sind, so sehr, dass du selbst zur großzügigsten, nachsichtigsten Person wirst, sodass immer wieder neue und noch schönere und klügere Ideen und Zusammenarbeiten entstehen. Die nichts von Dir wollen, außer eben mit Dir zusammenarbeiten, die dir nicht die Welt erklären, dich nicht auf ein wackeliges, temporäres Podest heben aber eben auch nicht klein machen. Und denen ist diese letzte Arbeitskolumne in der Referentin gewidmet. Denn zum Glück gab und gibt es noch genug von ihnen, um nicht komplett zu verzweifeln. An den Erinnerungen an sie darf man sich aufbauen, wenn man dann doch wieder auf eine Joan Crawford oder deren Tochter in Zirkus des Todes trifft; da ist es dann ganz klug, der Show eine Zeitlang beizuwohnen, freundlich zu applaudieren, sich aber beizeiten aus dem Zelt zurückzuziehen.

Die Referentin-Zirkusfamilie lässt Wiltrud Hackl weinenden Auges ziehen und bedankt sich für die vielen wichtigen wie unterhaltsamen Kolumnen über die Jahre.

freundinnenderkunst in Female Sensibility

Die freundinnenderkunst, ein seit vielen Jahren in Linz arbeitendes Künstlerinnenkollektiv, wurde von der Referentin eingeladen, einen Beitrag über die Ausstellung Female Sensibility zu gestalten.

Bild freundinnenderkunst

Mit der Auf­forderung zur offenen Reflexion sind die freundinnenderkunst dann im Lentos in frühere und heutige feministische Fragestellungen eingetaucht. Sie haben sich in Ästhetiken der dort vertretenen Künstlerinnen sowie in die eigene Bildproduktion begeben. Im künstlerischen Wurf mögen die Freundinnen Bedeutung und Wellen des feministischen Kontinuums hervorheben. Im direkteren Kommentar könnte das aber auch so zusammengefasst werden: Wichtige Schau, klasse Arbeiten und fluid zirkulierende Fragen – über die eigene Position, die aktuellen Notwendigkeiten und den feministischen Bildstrom der 70er und 80er-Jahre.

www.freundinnenderkunst.at

Auf dem Weg zum lebendigen Archiv

Im November 2017 wurde das VALIE EXPORT Center Linz eröffnet. Anfang nächsten Jahres verlässt die bisherige Direktorin Sabine Folie das Forschungszentrum für Medien- und Performancekunst und wird dann die Kunstsammlungen der Akademie der Bildenden Künste Wien leiten. Silvana Steinbacher hat mit Sabine Folie eine Bilanz über ihre Arbeit gezogen.

Ein Blick ins Archiv. Foto Violetta Wakolbinger

Silvana Steinbacher: Vor rund vier Jahren, als das VALIE EXPORT Center eröffnet wurde, antworteten Sie auf meine Frage nach Ihren Anliegen unter anderem „Neben der historischen Einordnung suchen wir, ganz im Sinne von VALIE EXPORT, den Anschluss an die Medien- und Performancekunst der Gegenwart.“ Ist Ihnen das gelungen beziehungsweise hat es ansatzweise funktioniert?
Sabine Folie: Wir waren in den vergangenen Jahren mit vier Ausstellungen beschäftigt, ebenso mit zwei umfangreichen Publikationen und damit einhergehenden Forschungsarbeiten neben der Archivierung. Wir hatten durch die Teilnahme an Konferenzen intensiven Kontakt zu zeitgenössischen Performer_innen, die Konferenz, an der mehrere Performer_innen teilnehmen sollten, musste aufgrund der Pandemie aber leider abgesagt werden. Ich habe über die Betreuung von PhDs Kontakt zu jungen Performer_innen, die mit alten Vorbildern neue Wege gehen. Leider mussten auch hier einige der geplanten Projekte storniert werden, weil wir die Priorität Digitalisierung in dieser Anfangszeit nicht aus den Augen verlieren durften. Aber diese Schiene der Verbindung zur aktuellen Kunst wird wieder stärker aufgenommen, wenn die Einschränkungen durch Corona etwas zurückgenommen werden können.

Das VALIE EXPORT Center war seit seiner Eröffnung knapp budgetiert, wie hat es sich in den darauffolgenden Jahren entwickelt?
SF: Es hat sich so entwickelt, dass wir gut damit arbeiten können. Die Zahl der Mitarbeiter_innen konnte erhöht werden, Drittmittel für die Digitalisierung und Archivierung darüber hinaus eingeworben werden, sodass wir Mitte nächsten Jahres einen Meilenstein in unserer Zielvorstellung zum Thema Archivierung erreichen werden.

Wie ist denn bisher das Publikumsinteresse, zumindest bis zum Jahr 2020?
SF: Das Publikumsinteresse ist für ein Archiv groß, wir hatten 2019 rund 900 Personen zu Besuch, 2020 waren es coronabedingt immerhin noch an die 200, aber das wird sich wieder einpendeln.

Die international erfolgreiche Medien- und Performancekünstlerin und Filmemacherin VALIE EXPORT fasziniert als Ikone und vielseitige Künstlerin auch junge Menschen. Gab’s dahingehend Projekte beziehungsweise hat sich dieses Interesse hinsichtlich Anfragen beispielsweise nie­der­geschlagen?
SF: Wir hatten bislang neben den erwähnten Besucher_innen ca. 130 konkrete und umfassendere internationale Forschungsanfragen und es laufen diverse Forschungsprojekte, Dissertationen zum Thema VALIE EXPORT, inklusive der Fellowships, die sich mit EXPORT beschäftigen. Gerade gab es eine weitere Aus­schreibung für ein PhD und ein Postdoc Stipendium vonseiten des VALIE EXPORT Center. Damit sollen unsere Archivbestände, aber auch von diesen Beständen abgeleitete Forschungen zum Thema Performance und Medienkunst generell vorangetrieben werden. Einige der Interessent_innen sind Künstler_innen und beschäftigen sich mit verwandten Themen, so wie VALIE EXPORT in ihrer künstlerischen Praxis.

Sie werden ab Jänner 2022 Ihre Funktion als Direktorin des VALIE EXPORT Centers beenden und leiten ab dann die Kunstsammlungen der Akademie der Bildenden Künste Wien. Sind die Vorbereitungen zur Übergabe bereits im Gange?
SF: Wir sind noch inmitten des Geschehens und bereiten gerade die Buchpräsentation Archive Matters vor sowie unter anderem die Budgets fürs nächste Jahr. Die Übergabe erfolgt schrittweise, aber die Geschäftsführerin Dagmar Schink und die anderen Mitarbeiter_innen des Centers haben die anstehenden Agenden bestens im Griff.

Wann wird über die Nachfolge entschieden und von wem?
SF: Ich denke, die Nachfolge wird in den kommenden Monaten entschieden, aber ich bin in die Ausschreibung und das Auswahlprozedere nicht involviert.

Ihnen ist auch die Vernetzung ein Anliegen, konnte Sie so wie erhofft stattfinden?
SF: International hat viel Vernetzung stattgefunden, natürlich hat durch Corona einiges an direktem Austausch gefehlt, zum Beispiel musste eine für Mai 2020 bereits fix und fertig vorbereitete Konferenz mit Vorträgen und Performances abgesagt werden, aber die Fährten wurden gelegt, um mit unseren Partner_innen in Österreich, aber auch international Projekte anzugehen und auszubauen. Wir haben in unseren Tätigkeitsberichten eine lange Liste von Personen und Institutionen, mit denen wir uns ausgetauscht haben und wo Kooperationen in Vorbereitung waren und sind. Es liegt in der Hand der neuen Leitung und des Teams, wo sich die Schwerpunkte hinentwickeln werden.

Einer der ersten Schritte sollte die Digitalisierung des Vorlasses von VALIE EXPORT sein, wie sieht der Status quo dahingehend aus?
SF: Wir haben bislang, auch Dank der Bundesmittel, die wir erhalten haben, an die 60.000 Digitalisate fertig gestellt, parallel ist die Archivierung verlaufen und die langwierige Entwicklung der Datenbanken mit allen Kategorisierungen, Verschlagwortungen etc. sowie die Programmierung des Webinterface, um Teile des Archivs sukzessive einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das wird in den kommenden Monaten passieren.

Sie haben es bereits erwähnt, die Buchpräsentation zu VALIE EXPORT Archive Matters. Dokumente lesen und zeigen, dessen Herausgeberin Sie sind, steht bevor. Dabei thematisieren Sie auch Formen des experimentellen Umgangs mit dem Medium Ausstellung in Bezug auf das Format Archiv.
SF: Das Archiv ist grundsätzlich etwas, das sich hinter verschlossenen Türen in Boxen, Schachteln befindet und meine Vorstellung war es, in den Ausstellungen zum Archiv Formen auszuprobieren, die über das reine Ausstellen in Vitrinen hinausgehen, zum Beispiel gab es große Wanddiagramme über das Thema des Archivs, wo man sich das Archiv als Aufbewahrungsort, seinen Entstehungszusammenhang, die ganz spezielle Anlage von Künstler_innenarchiven quasi in der Ausstellung erarbeiten konnte. Objekte wie Bücher oder die Bibliothek als Wissensspeicher wurden nicht als solche gezeigt, sondern die Titel der Bücher, geordnet nach Themen und Alphabet, wurden als Schriftbänder an die Wand angebracht, Bücher digitalisiert und animiert, Vorträge auf iPad etc. Es geht darum, andere Mittel der Anschauung zu erkunden, die ein Archiv erschließen, interaktive und andere, damit das Archiv lebendig(er) erscheint.

Wie schätzen Sie die Zukunft des VALIE EXPORT Centers ein?
SF: Es war ja vorgesehen, dass das Center fünf Jahre vor der Öffnung für das Publikum die Exponate größtenteils digitalisiert, nun sind alle Projekte wie Ausstellungen, Publikationen, Konferenzen ja zeitgleich zur Gründung und Eröffnung passiert, das heißt wir hatten die Digitalisierung und Arbeit für die Öffentlichkeit parallel laufen. Ich denke und hoffe, es werden die geplanten und angedachten Forschungsprojekte zum Thema Performance/Dokumentation/Bewahrung/Aufführung ausgearbeitet und eingereicht werden, und parallel vermehrt. So hoffe ich, dass nach Corona der direkte Kontakt und die Auseinandersetzung mit aktuellen Formen der Performance passieren können. Es ist ja jetzt schon über meine Betreuung von PhDs im Rahmen meiner Professur zum Beispiel möglich zu sehen, wie heute Performer_innen arbeiten und wie sich der Begriff verändert hat.
Ideal wäre eine weitere internationale Vernetzung, die Fortsetzung der Schriftenreihe, Forschungsprojekte und Konferenzen sowie die aktive Arbeit mit Künst­le­r_innen, also die Idee eines lebendigen Archivs umzusetzen. 

VALIE EXPORT
Center Peter-Behrens-Platz 9, Bau 1, 1. Stock, 4020 Linz www.valieexportcenter.at

Gegen leere Clubs und gegen leere Kirchen

Holy Hydra versteht sich als zeitgenössisches Format in Sakralräumen, das unter anderem elektronische Musik und multimediale Rauminstallationen veranstaltet. Als einer der Köpfe der Hydra gibt Amanda Augustin einen Eindruck über die Debatte ‚Sakralräume vs Stadtraum‘ sowie über die geile Hydra selbst – des Geschöpfes, das Tag und Nacht für die Subkultur kämpft.

Die Holy Hydra in der Stadtpfarrkirche Urfahr. Foto Fabian Erblehner

Da steht sie vor mir, die ehemalige Kapuzinerkirche. Ich vor ihr, an einem verregneten Donnerstag im Oktober, links von mir die Kapu. Fünf Jahre ist es her, dass ich hier, im Gastgarten der Kapu, an einem lauen Sommerabend mit meinen Freund:innen vom Veranstaltungskollektiv „Die geile Hydra“ Spritzer trank und mein Blick Richtung Kapuzinerkirche wanderte. Ein Rave in einer Kirche? Wie geil wär’ das denn!?

Die Idee der „Holy Hydra“ war geboren. Das war im Spätsommer 2016, ein paar Monate nachdem die Kapuzinerkirche profaniert, also entweiht, worden war. Die Entweihung selbst ist eine Zeremonie, eine abschließende heilige Messe, bei der die kirchliche Nutzung des sakralen Gebäudes beendet wird. Danach ist die Kirche entwidmet und aus kirchlicher Sicht lediglich ein gewöhnliches Gebäude. Das sollte eine profane Zwischennutzung erleichtern, dachte ich und machte mich an ein Konzept für ein zweitägiges Format mit Kunst, Kultur und einem Symposium als theoretische Basis.

Der Kontakt mit der damals zuständigen Immobilienfirma, von der die Kirche und das anschließende Klosterareal verwaltet wurde, war rasch hergestellt. Ebenso schnell hatte ich eine mündliche Zusage der Immobilienfirma zur Umsetzung des Projektes in der Tasche, woraufhin ich mich kurzerhand mit meinem Kollektiv an die Planung machte. Zwei Monate und mehrere abgeschickte Förderansuchen später kam dann die unerwartete Absage. Sie, die Zuständige der Immobilienfirma, habe alles versucht, aber der Kapuzinerorden, der schlussendlich über diese Räumlichkeiten verfügt, sei doch nicht überzeugt von einer Zwischennutzung. „Ich bitte Sie, das Nein des Paters zu akzeptieren“.

Schnell war klar: eine andere Kirche muss gefunden werden. Statt die entweihte Kapuzinerkirche zu bespielen, bot sich die nach wie vor herkömmlich genutzte Stadtpfarrkirche Urfahr an. Darin beheimatet ist die Jugendkirche Grüner Anker, die sich die Kirchenräumlichkeiten mit der Pfarre teilt und regelmäßig kleine Konzerte, Theaterstücke und Chornachmittage veranstaltet. Auch die Pfarre selbst organisiert ein Kunstformat namens „Wasserzeichen“, bei dem Linzer Künstler:innen eingeladen werden, das Seitenschiff zu bespielen. Beste Voraussetzungen also.

„Holy Hydra“ heißt nun das Format, das seit dem ursprünglichen Wunsch, einen Rave in einer Kirche zu veranstalten, bereits viermal als Festival stattfand – sogar im Sommer 2020, als fast alle Clubs aufgrund von Corona geschlossen waren. Nichts machen war auch während Corona keine Lösung, weshalb ein Konzept entwickelt wurde, das es möglich machte, trotz einer Beschränkung auf max. 50 Personen im Kirchenraum zu veranstalten.

Folgend ein Zitat der Eröffnungsrede 2020.

„Ich, die geile Hydra, das Geschöpf, das Tag und Nacht für die Subkultur kämpft, sehe es als meinen Auftrag für Kunst und Kultur zu kämpfen, besonders in solch schwierigen Zeiten. … Mein Herz fühlt sich wohlig warm und gleichzeitig fängt es vor lauter Freude ganz schnell zu schlagen an, wenn ich daran denke, dass wir hier und jetzt gemeinsam ein Zeichen setzen: gegen leere Clubs und gegen leere Kirchen.“

„Holy Hydra“ versteht sich als interdisziplinäres Veranstaltungformat in Sakralräumen, das zeitgenössische Tanzperformances, elektronische Musik und multimediale Rauminstallationen beinhaltet. Inhaltlicher Fokus liegt dabei auf einer erweiterten Nutzung, einer möglichen Neudefinition von sakralen Räumen.

2018 wurde die erste „Holy Hydra“ mit einem Symposium eröffnet, bei dem der Sakralraum dem Stadtraum gegenübergestellt wurde. Sakralraum vs. Stadtraum. Es wurde debattiert, inwiefern Sakralräume über ihre eigentliche Funktion hinaus, im Kontext von öffentlichem Raum, genutzt werden können, ob dies überhaupt wünschenswert ist und zu welchen Bedingungen möglich.

Anna Minta, Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur an der Katholischen Privatuniversität Linz, hat dazu folgendes verfasst: „Stadtraum VERSUS Sakralraum – ein Wortspiel, das in der Ambivalenz der Formulierung auf ein Paradoxon räumlicher Nutzungsstrukturen und (institutioneller) Haltungen verweist. Stadtraum betrachten wir gewöhnlich als öffentlichen und offenen Raum, der allen zugänglich ist und für alle Nutzungsqualitäten anbietet. Betrachtet man städtebauliche Entwicklungen, so haben Interessen der Profit-Maximierung, exklusive Stadt-Verschönerungsambitionen und City-Marketing-Konzepte etc. zu einer im­mer stärkeren Begrenzung und kommerziellen Nutzung vieler öffentlicher Räume geführt, die damit einen exklusiven, diverse gesellschaftliche Gruppen ausgrenzenden Charakter angenommen haben. Sakralraum hingegen ist ein institutionell gebundener Ort, ein von den Kirchen organisierter und verwalteter Raum. Nicht zuletzt in Folge der fortschreitenden Säkularisierung bietet er sich vermehrt als offener Raum für alle an, der alle zum Verweilen einlädt, ohne auszugrenzen und ohne Konsumzwang auszuüben. Kirchenräume und Kirchplätze sind per Definition kein öffentlicher Raum, folgen aber häufig einer solchen Haltung.“

Oh ja, sollen sie aber dringend werden. Die Motivation der „Holy Hydra“ ist, ein Bewusstsein für Sakralbauten sowie deren weitere Nutzung und weiteren Erhalt zu schaffen, da diese unsere Kultur und Stadtbilder maßgeblich prägen. Es ist wichtig, diese architektonisch einzigartigen und kulturgeschichtlich wertvollen Räume zu öffnen, um sie neben ihrer religiösen Bedeutung für Menschen, unabhängig ihrer Glaubensrichtungen, als Orte der Begegnung erfahrbar zu machen.

Dazu schreibt Frau Prof. Minta weiter: „Hybrid Hydra – thematisiert die Hybridisierung von Räumen in ihrem Charakter und folglich auch in ihrer Nutzung. Hybridisierung kann dabei als Erweiterung von Möglichkeiten und Qualitäten gelesen werden, als Chance für eine neue Offenheit und mehr Vielfalt. In dem Verschleifen von Zuständigkeiten und dem Verständnis von Öffentlichkeit steckt auch die Hydra: Wenn der städtische Raum immer stärker privatisiert und exklusiver wird und offene Begegnungsräume vermehrt durch Kirchen und andere private Institutionen angeboten werden, so geht doch der öffentliche Raum als Ort vielfältiger Begegnungen und sozialer Aktionen verloren. Es ist gut, dass Kirchen aktuell intensiv über ihre gesellschaftliche Verantwortung und städtebauliche Qualität nachdenken. Auch die Stadt und die Gesellschaft müssen sich verstärkt für die Gestaltung und vielfältige Öffentlichkeit ihrer Räume engagieren.“

Ich frage mich, in welcher Zukunft wir leben möchten und sehe sie wieder vor mir, die Kapuzinerkirche, die leerstehende. Das Potential ist da, es muss nur noch genutzt werden. Kirchengebäude könnten, egal ob profanisiert oder nicht, Symbol für eine vielfältige, diverse und offene Gesellschaft werden.

Diesem Diskurs nahm sich bereits 2013 das Kunstreferat und Diözesankonservatorat der Diözese Linz gemeinsam mit dem Bundesdenkmalamt und dem afo architekturforum oö an. In einer zweitägigen Fachtagung „KirchenRÄUMEn – Zukunftsperspektiven für die Nutzung von Sakralbauten“ behandelten sie das Thema der Kirchenumnutzung, wenngleich dieses in Österreich noch nicht in diesem Maße spürbar ist, wie in anderen Ländern Europas. Seitdem ist wenig passiert, obwohl immer wieder spannende Tagungen und Vorträge auch in Österreich stattfanden und -finden, wie beispielsweise im September 2020 in der ehemaligen Synagoge St. Pölten die Impulsvorträge zum Thema „Sakrale Bauten profan genutzt?“, organisiert vom ORTE Architekturnetzwerk Niederösterreich.

Die erste internationale Veranstaltung gab es im Februar dieses Jahres, im Zuge eines dreitägigen digitalen Symposiums der VolkswagenStiftung Hannover, bei dem auch „Die geile Hydra“ eine:r von vielen Speaker:innen war. Unter dem Titel „Re-Using Churches. New Perspectives in a European Comparison“ diskutierten Expert:innen aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien, der Schweiz, Österreich und Großbritannien das Thema Kirchenumnutzungen erstmals im europäischen Vergleich.

Dabei wurde unter anderem ein sehr gelungenes Beispiel einer erweiterten Nutzung vorgestellt: die Kulturkirche Köln in Deutschland. In der 1889 erbauten Lutherkirche-Nippes finden seit 2002 neben Gottesdiensten für die evangelische Gemeinde regelmäßig Kulturveranstaltungen wie Konzerte, Lesungen und Kabaretts statt. Zusätzlich dazu kann das Kirchengebäude für Events gemietet werden und bietet dabei Platz für bis zu 600 Personen. Ein weiteres erwähnenswertes Beispiel ist das Kulturkloster Dornach in der Schweiz, aus dem 1990 die letzten Kapuziner auszogen und das nach einer Generalsanierung nun neben dem regulären Kirchenbetrieb ein Hotel und Restaurant sowie ein eigens kuratiertes Kulturprogramm beinhaltet. Zusätzlich zu Jazzkonzerten, Lesungen und Ausstellungen im Kirchenraum sowie dem umliegenden Klosterareal wird internationalen Künstler:innen die Möglichkeit geboten, an einem Artist-in-Residence-Programm teilzunehmen.

Österreich hat diesbezüglich Aufholbedarf. Trotzdem sollen ein paar wegweisende Beispiele nicht unerwähnt bleiben. Eine vorbildliche Umnutzung ist sicherlich die Minoritenkirche Krems, bekannt als Klangraum Krems, die das bekannte Donaufestival Krems beherbergt. Ein anderes Beispiel eines Festivals, das den Reiz entdeckt hat, in Sakralräumen zu veranstalten, ist das Elevate Festival in Graz, das zuletzt spektakuläre Orgelkonzerte im Grazer Dom veranstaltete oder – mein persönlicher Favorit – das Unsafe+ Sounds-Festival, das die Wotrubakirche in Wien besonders gelungen zwischengenutzt hat. Bitte mehr davon.

Neben dem Potential ist also auch die Hoffnung da.

Wieder sehe ich sie vor mir, die Kapuzinerkirche. Und grinse. Es hat aufgehört zu regnen. Zuletzt, im September und Oktober dieses Jahres spielte das Theater Stellwerk darin Theater und in der freien Szene wird bereits gemunkelt, dass …

Die nächste Party kommt bestimmt. Liebe Grüße aus dem Untergrund.

PS:
Das Datum der nächsten „Holy Hydra“ darf auch gleich in den Kalender eingetragen werden: 08. & 09. September 2022 // Stadtpfarrkirche Urfahr, Linz
www.holyhydra.at

25 und ein Jahr

Mit der Ausstellung „26 Jahre Atelier Diakoniewerk“ feiert das Atelier der Kunstwerkstatt in Gallneukirchen sein 26-Jahr-Jubiläum. Natalia Müller, Kuratorin der Ausstellung, über die Geschichte des Ateliers und die Ausstellung, die Mitte November im Ursulinenhof eröffnet wurde.

Die Feierlichkeiten zum 26-jährigen Bestehen des Ateliers des Diakoniewerks sollen vor allem der Hochachtung gegenüber dem Œuvre sowie dem Potential der Künstler:innen dienen, die durch ihr Schaffen und Können das Atelier zu dem gemacht haben, was es heute ist.

Das Datum der Entstehung war gar nicht so leicht ausfindig zu machen, so existierten im Entstehungsprozess unterschiedliche mögliche Datierungen, die den Start des Ateliers beschreiben könnten.

Tatsächlich gab es aber Veränderungen im Jahr 1995, an denen die Wende vom sogenannten Freizeit-Atelier zum künstlerisch geführten Atelier festzumachen war. 1993 legte Joy Hörwarter, eine engagierte Mitarbeiterin der Behindertenarbeit, ein Konzept für ein gestalterisches Angebot im Rahmen der Werkstattarbeit vor, das in den darauffolgenden beiden Jahren zur Umsetzung kam.

Rund um den Zeitraum 1995, der mit der Suche und Aufnahme von Menschen mit künstlerischem Potential wie auch einer Neuorientierung durch den ersten örtlichen Wechsel einherging, wurde das Atelier zu einem eigenständigen Bereich.

„Die Freiräume, die die Kunst braucht, sind stetig zu suchen und zu bewahren.“
Joy Hörwarter

In weiterer Folge übernahmen Helmut Pum und Erika Pabel das Atelier von Joy Hörwarter und es wurde eine organisatorische Trennung von der Werkstätte durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt fand in einem weiteren Schritt, mit dem Beginn von Ausstellungsarbeiten, eine Öffnung nach außen statt.

Die nächste Veränderung erfolgte im Jahr 2000, es wurden neue Räumlichkeiten im Haus Zoar in Gallneukirchen bezogen, in denen das Atelier lange beheimatet blieb. Die folgenden Jahre prägten engagierte Kolleg:innen und Wegbegleiter:innen die Entwicklung des Ateliers.

Zu den Künstler:innen der ersten Stunde zählten unter anderem Erika Staudinger (1995), Ursula Mitter (1996) und Rosemarie Heidler (1997). In den darauffolgenden Jahren kamen Jutta Steinbeiß (1998), Johanna Rohregger, Herbert Schlossern sowie Thomas Pühringer (1999) dazu. In den Anfängen der frühen 2000er folgten Josef Landl (2000), Heinz Frieder Adensamer (2002) und Gertraud Gruber.

Nach und nach bereicherten viele der heute noch aktiven Künstler:innen die geschaffenen Atelierräumlichkeiten mit ihren Werken. Es bestand vom Start weg eine bemerkenswerte Dichte an spannendem und kreativem Potential.

Die Klarheit in der Umsetzung als auch eine Kompromisslosigkeit in ihren künstlerischen Arbeiten beeindruckten mich seit dem Beginn meiner Arbeit im Atelier. Als Künstlerin faszinierte mich der direkte und auch sehr ehrliche Zugang zur Kunst. Sei es in der expressiven Farbwahl der Flächengestaltung von Johanna Rohregger, die fast akribische Verdichtung der ihr interessant erscheinenden Stellen in den Zeichnungen von Erika Staudinger oder auch die kleinen farbigen Flächen von Ursula Mitter, die sich aneinandergereiht zu ihren „Spuren“ verdichten. So unterschiedlich ihre Stile auch sind, so sehr ihre Zugänge zur Kunst auch variieren, die Qua­lität der Arbeiten wie das künstlerische Po­tential waren von Anbeginn an bemerkens­wert. Wichtig für uns, als künstlerische Mitarbeiter:innen des Ateliers, war es immer, durch gute Rahmenbedingungen für ein au­tonomes und kreatives Klima zu sorgen.

Ist es heute für mich und meine Kolleg:innen klar, dass es sich bei vielen der Arbeiten um Kunst handelt und diese Werke auch als solche zu betiteln sind, benötigte es in der Vergangenheit, gesellschaftlich und kunsthistorisch, doch eines Prozesses, der zur Erreichung dieser Akzeptanz führte.

Über die Veränderung der bis dahin etablierten Kunst seit dem Beginn der Fotografie, die erste Gemeinschafts-Ausstellung einiger Impressionisten im Hause des Fotografen Nadar, die eine Wende in der Kunstgeschichte einleitete, ebenso die Süd­seereisen von Paul Gaugin, dem Aufbruch der Künstler nach Ozeanien, ist in der klassischen Moderne schon viel referiert worden. Meiner Meinung nach ist aber dieser Wandel einer neuen Sichtweise in der Kunst, sprich der Akzeptanz von Menschen mit unterschiedlichsten psychischen Problemen und Beeinträchtigungen, erst durch die Publikation von Walter Mor­­genthaler über den Künstler Adolf Wölfli ermöglicht worden. Den Boden dafür bereitete die Moderne mit ihrer Abwendung von der akademischen Kunst sowie den formalen Prinzipien in der Malerei.

Bis heute hält noch eine Diskussion über etwaige Begrifflichkeiten von Art Brut bis Outsider Art an. Die Anerkennung ihrer Kunst sowie die Wertschätzung als Künstler:innen allgemein ist aber inzwischen eindeutig gegeben.

„Die Kunst ist -– entgegen allen ästhetischen und philosophischen Schul­meinungen – nicht ein Luxusmittel, in schönen Seelen die Gefühle der Schönheit, der Freude oder dergleichen auszulösen, sondern eine wichtige geschichtliche Form des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen untereinander, wie die Sprache.“
Rosa Luxemburg

Die Zusammenstellung der Werke war eine Herausforderung. Es war kein Leichtes, unter der Fülle der Arbeiten zu selektieren, um eine Entscheidung für die Ausstellung zu treffen. Die Auswahl konzentriert sich auf einige wenige Künstler:innen und deren Werk, vornehmlich jene, die schon seit Anbeginn im Atelier tätig sind und es so mitgeprägt haben. Eine umfassende Zusammenstellung des entstandenen Œuvres der Künstler:innen würde in jeder Hinsicht den Rahmen der Gegebenheiten sprengen.

Bei all der Vielfalt der Menschen sowie der Talente, die das Atelier in den letzten 26 Jahren geprägt haben, soll diese Jubiläumsausstellung dazu dienen die entstandene Kunst der Künstler:innen zu würdigen, aber auch die Wichtigkeit geeigneter Strukturen und Freiräume zu zeigen, durch die das Schaffen ermöglicht und erleichtert wird. In diesem Sinne freuen wir, das Atelier-Team, uns, eine Auswahl der entstandenen Kunstwerke in der Ausstellung zeigen zu können.

 

Dieser Text von Natalia Müller ist auch im Katalog zur Ausstellung erschienen.

Ausstellung: 26 Jahre Atelier Diakoniewerk
Das Atelier des Diakoniewerks feiert 26 Jahre Kunst. 26 Jahre Atelier des Diakoniewerks. 26 Jahre Kunst, die durch Künstler:innen des Diakoniewerks geprägt wurde und eine Zeit, die auch Künstler:innen in ihrer Entwicklung und Schaffenskraft geprägt hat. diakoniewerk.at/veranstaltung/26-jahre-atelier-vernissage-und-jubilaeums-ausstellung
Ursulinenhof im OÖ Kulturquartier
Noch bis 13. Jänner 2022

Die kleine Referentin

© Terri Frühling

Tollkühne Kisten, heiße Knarren

Eine Kartoffel kann ja vieles sein: Chips, Pommes, Gratin – Druckstempel, Rennauto oder Inspirationsquelle für ein KünstlerInnenkollektiv, für das der Dauerbrenner Erdapfel ein gutes Symbol ist, auch in Bezug auf Vernetzung. Mögen die Triebe sprießen. Christian Wellmann über Potato Publishing, das zwischen Comic, Illustration und Text produziert.

„Potato Publishing“ (POPU) betreibt eine nicht auf Gewinn orientierte Risographie-Druckwerstatt, eine Zine-Bibliothek sowie einen kleinen Shop für Druckwerke im ehemaligen Wirtshaus „Zur Schießhalle“, dazu setzen sie Independent-Publishing-Veranstaltungen in Linz um Ihre Produktionen, die in Handarbeit in kleinen Auflagen hergestellt werden, vertreiben sie selber. Alles dreht sich ums Selbermachen, der DIY-Gedanke ist in allen Prozessen zu finden. Die InitiatorInnen Sarah, Paul und Oskar verstehen sich als niederschwelliges Kollektiv, das Zusammenarbeit, Erfahrungs- und Ideenaustausch mit neuen Leuten sucht. Das dezidiert offene Kollektiv freut sich über alle, die sich einbringen wollen – so gibt es auch mehrere Mitglieder, die bei Projekten dabei sind.

POPU will Genregrenzen aufsprengen und ist nicht nur auf Comics festgelegt, Illustration und Text sind auf Augenhöhe. „Wir wirken oft so. Bei mir stimmt das schon, aber wir sind definitiv kein reines Comicprojekt“, erwähnt Paul im Referentin-Interview. Er zeichnet und macht Comics, hat Agrarwissenschaften studiert. „Zuerst war der Schritt, beim „Independent Publishing“ mitzumachen – und dann darüber eine eigene Produktionsstätte für Druck zu schaffen. Unter unserem Namen ist nur das Heft „Potato Press“ rausgekommen, für das es einen Open Call gegeben hat. Gedruckt von POPU, mit unterschiedlichsten Beiträgen von Kunst- und Kulturschaffenden.“ Stilsicher im Kartoffelnetz und noch erhältlich. „Es geht uns darum, diese Struktur anzubieten und Möglichkeiten zu schaffen, weil wir eine Gruppe sind, die Ressourcen anzapfen kann, die man sonst nicht hat.“
„Harasananas“ ist Sarahs Künstlerinnenname. Sie ist gerade mit weiteren POPUlern auf dem Sprung zum „Zine-Camp Rotterdam“, um Publikationen und Distributionen zu präsentieren – und sich kurzzuschließen: „Die Festivals oder Fairs, wo wir hinfahren, bieten sich für Kontakte natürlich an. So ergeben sich auch Zusammenarbeiten – dass wir ein Heft machen zum Beispiel. Seit es uns gibt, haben wir großen Wert darauf gelegt, dass wir uns vernetzen und austauschen“, so Sarah.
Oskar hat auf der Kunstuni Linz Lehramt studiert, Mediengestaltung und technisches Werken, über Auslandssemester ist er zum Zeichnen gekommen: „Kunst wird es erst, wenn man mit anderen Leuten in Kommunikation tritt.“ Zusammen mit Sarah schreibt er an einer Diplomarbeit über das Projekt, „man könnte ja stundenlang darüber reden …“

Will man zu ihrer offenen Werkstatt ins ehemalige „Schießhallen“-Gebäude, in dem über Jahrzehnte übeldampfend a zünftigs Schweinsbratl die Speisekarte gerockt hat, wird’s „abenteuerlich“. Irgendwie vegan. Zurzeit wird das ganze Haus rund um die Räumlichkeiten, in denen gedruckt, gezeichnet, gelesen wird, general­saniert. Es gibt weitläufigen Platz zum Arbeiten – vier Räume werden genutzt. Im Druckerraum sind neben drei Maschinen alle bisherigen Publikationen auf einem Display angebracht, dazu flashige Riso-Drucke, Poster. Wirkt wie in einem besetzten Haus im Berlin der 80er. Das Haus ist aber in Privateigentum, passende Zimmer sollen an KünstlerInnen vermietet werden. Das entstehende Atelierhaus ist gerade am Anlaufen. Eine zukünftige Zufluchtsoase für Kulturdürstende in der gemächlich vor sich dahin rostenden Stahlstadt? Es wird auch eine Lokali­tät/ ein Veranstaltungsraum angedacht, mit einer Amarenakirsche obendrauf: dem ehemaligen Gastgarten der Schießhalle. Schaumamoi.
Im ersten Stock gibt es trotzdem einmal im Monat den Riso-Mittwoch (jeden letzten Mittwoch im Monat, ab 18 Uhr). Drucken oder zum Zeichnen treffen – so wurde beispielsweise an ihrem letzten Riso-Mittwoch ein Faltzine gefertigt. Man kann auch einfach nur vorbeikommen, um sich das Ganze anzuschauen. POPU übernimmt aber keine Aufträge, bisher gibt es keine fixen Öffnungszeiten – am besten Kontakt via Instagram/E-Mail aufnehmen. „Die Werkstätte ist nicht nur auf Riso-Druck beschränkt, es gibt auch einen weiteren Digitaldrucker, mit einem anderen Druckverfahren, ähnlich zum üblichen Laserdruck“, veranschaulicht Paul. Vom Layout bis hin zu Schnitt und Bindung: Komplettes DIY mit voller Kontrolle. „Risographie ist ein niederschwelliges Druckverfahren, für das man verhältnismäßig wenig Zeit braucht. Abgesehen von der besonderen Optik gibt es einige Vorteile. Es ist natürlich nicht immer die einfachste Drucktechnik, aber relativ schnell und günstig“, beschreiben die Drei die zu Recht angesagte Kommunikationsästhetik.

Außerhalb ihres HQ setzen sie regelmäßig knollige Projekte um. Kollaborative Arbeitsprozesse, interdisziplinäre Vernetzung und eine kollektiv genutzte Infrastruktur bilden ebenso die Grundlage für die Aktivitäten des POPU-ZINE-CLUB. „Das ist ein zweimonatiges Programm im Salzamt. Dieses Jahr war das erste Mal. Es wird ihn auch nächstes Jahr geben, wir sind gerade in der Planungsphase. Das Projekt ist niederschwellig. Das Salzamt, das als temporäre Arbeitsstätte genutzt wird, liegt zentral. POPU ZINE CLUB besteht einerseits aus einem Residency-Programm, wo wir andere Kollektive eingeladen haben, wie: Matrijaršija (Belgrad), Evil Quartet of Death aka Never Brush My Teeth & Kati Akraio (Athen) und Doner Club (Bologna)“, informiert Sarah.
„Das war coronabedingt eine besondere Situation im Winter, wo Reisen nur eingeschränkt möglich, jedoch berufliches Reisen ganz normal erlaubt war. Mit Unterstützung vom Salzamt haben wir Einladungsbriefe geschrieben für einen Arbeitsaufenthalt. Künstlerische Arbeit“, konkretisiert Oskar. „Neben der Residency gibt es unsere Bibliothek, quasi eine begehbare Ausstellung, die man benutzen kann, also jedes Heft in die Hand nehmen. Der dritte Aspekt ist die offene Werkstatt, wo Leute sich anmelden und ihre Projekte umsetzen oder einfach nur ausprobieren können. Das zieht sehr unterschiedliche Leute an. Viertens im Shop Sachen kaufen können: Distribution ist ein wichtiger Aspekt, wir bringen die Druckwerke, auch von anderen befreundeten Kollektiven und KünstlerInnen auf verschiedene Festivals oder Zine-Fairs in Europa und verlangen dafür keine Kommission. Fünfter Pfeiler sind die Workshops – zum Teil spontan, wie kleine Figuren durch Abgüsse machen oder ein Workshop von Soybot aus Wien. Die Idee hinter dem POPU-ZINE-CLUB ist, einen Zine-Club temporär als künstlerisches Projekt zu machen.“ Sarah: „Es ist alles offen, nichts Elitäres. Keine Gruppe, die sich eh immer trifft und zusammenarbeitet. Sondern, dass es wirklich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, die Türen offen sind, alle können reinspazieren. Man kann dort arbeiten und wir erklären alles, soweit es geht.“ Dieses Jahr sind zwei Kollektive geplant, die sich anlässlich des NEXTCOMIC-Festivals 2022 im Salzamt austoben dürfen.

Eine weitere Aktion ist das „Potato Derby“, das dieses Jahr im Herbst zum zweiten Mal im fabulösen „Loft“ von DH5 (damenundherrenstraße5) Gummi gegeben hat. „Der Gedanke dahinter ist, dass wir eine Zine-Fair in Linz machen wollten, wo es nicht nur Verkaufsstände gibt. Comics sind eine Nische, selbstpublizierte Comics eine Nische in der Nische. Weiters sollte es auch Lesungen, Live-Auftritte, Workshops, Leute, die tätowieren, und als Rahmenprogramm das Rennen geben. Wo Leute direkt dort die Autos aus Kartoffeln basteln, man bleibt einfach länger dort. Das erste war sehr improvisiert – chaotisch, aber lustig“, fasst Paul das grellbunte Treiben bei einem „Potato Derby“ zusammen. Das war die erste Veranstaltung, die sie gemeinsam kurz vor Corona organisiert haben.
„Ich bin total froh darüber, in welcher Form das stattfindet. Dass es eben nicht nur eine Zine-Fair ist, sondern eine Veranstaltung, wo unterschiedliche Dinge passieren. Wo sich vermischt, wer KünstlerIn und wer Gast ist. Das erste war eintägig, das zweite zweitägig, das dritte wird dann dreitägig“, gibt Oskar augen­zwinkernd zu wissen. Er war vor vier Jahren in Kolumbien, Auslandssemester über die Kunstuni, bei einer Buchmesse und ist auf das Kollektiv „Tallercolmillo“, das sie nächstes Jahr nach Linz einladen, gestoßen: „Es gibt einfach mehrere Verbindungen zu Kolumbien, auch in Linz. Wir haben das von LinzIMpORT gefördert bekommen. Von Anfang an haben wir bei unserem ganzen Projekt von der Stadt Linz und dem Land OÖ viel Unterstützung bekommen, auch Sonderförderprogramme.“

Ein Knaller war in diesem Frühling das Taschenpistolenmuseum des POPU STORES am Hauptplatz mit Pistolenminiaturen: „Das ist eine Wanderausstellung. Aus Zipf, von dort kommt der Herr Hans Eisen, der das kuratiert hat. Es sind Exponate von Taschenpistolen mit ihrer Geschichte. Eigentlich steht die Geschichte im Vordergrund. Geschichten, die im Heft, dem „Taschenpistolen-Almanach“ vorkommen, dem Begleitheft zur Ausstellung“, erklärt Paul die mysteriösen Gegebenheiten.

„Wir wollen nachhaltig für Linz eine Struktur schaffen. Das ist mir persönlich auch sehr wichtig. Dass das nicht ein Projekt ist, das nur temporär umgesetzt wird, sondern es soll schon auch langfristig eine Struktur sein, die erhalten bleibt. Wo Leute kommen und wieder gehen. Prinzipiell sind wir von der Ausrichtung her so was wie ein Dienstleister für die Kunst- und Kulturszene in Linz. Funktionieren tut das Ganze im Sinne einer solidarischen Ökonomie, also man kommt zum Drucken und gibt zu den Materialkosten noch eine Spende darauf, so in die Richtung“, unterstreicht Oskar POPUs Anliegen.
Das alles ist eine äußerst üppige Kartoffelernte, bedenkt man, dass POPU ihre Saat erst ausgesät hat, knapp bevor der Virus mit der Krone die Erde, diese Kartoffel-Scheibe, völlig umwoben hat. Da vor allem polnischer Wodka von der Wunderknolle abhängig ist: Einen Doppelten auf ein langes POPU-Leben!

Riso-Mittwoch, sofern pandemiebedingt möglich, Kontakt via Instagram: www.instagram.com/potatopublishing oder: print@potatopublishing.at Waldeggstr. 116, 4020 Linz

POPU-ZINE-CLUB bei NEXTCOMIC: Mitte Februar bis April 2022 im Salzamt

Radio-Sendung „Potato Derby“ von Simone Boria: cba.fro.at/523855

Tallercolmillo, Kolumbien: tallercolmillo.com