Jungs, hier kommt der Masterplan!

Ihr eigenes Engagement verortet sie nahe der „mutigen Architektin und kommunistischen Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky“, deren Freundin sie lange war: „Ihre Rolle als politische Architektin ist Vorbild“. Als praktizierende, lehrende, publizierende und aktivistisch eingebundene Architektin ist es Gabu Heindl am öffentlichen wie auch bewohnten Stadt-Raum gelegen. Mit „Stadtkonflikte“ erschien kürzlich ein Buch, das an ihrer radikalen Position keinen Zweifel lässt, am Funktionieren demokratischer Konzepte aber schon.

Gabu Heindl, Can Gülcü, Installation zum öffentlichen Grünraum „Freie Mitte“ am Nordbahnhof, Wien 2017. Foto Michael Krebs

Das mit knapp 500 Fußnoten gespickte Kompendium liest sich als philosophisch-wissenschaftliche Abhandlung und Manifest zugleich, dabei muss Demokratie nicht – und kann auch nicht – radikal gegründet werden: „Wir können uns einer demokratischen Gesellschaft nur durch eine Pluralität von Demokratisierungsakten nähern.“ (Ernesto Laclau)

Kritiker*innen auf den Plan gerufen
Ganz allgemein ist Stadtplanung mit der kapitalistischen Ökonomisierung von Gesellschaft konfrontiert: Planung wird geprägt, bestärkt, auch begrenzt, gar durchkreuzt von dogmatischen Imperativen des Wirtschaftswachstums. Stadtkonflikte sind Teil der vielfältigen aktuellen politischen und sozialen Konflikte weltweit. Zu den Brennpunkten urbaner Kämpfe zählen die Privatisierung von öffentlichem Raum, städtischem Boden und Allgemeingütern, die Kapitalisierung von Wohnraum bis hin zu ganzen Stadtteilen. „Dabei wird in großem Maßstab enteignet: Menschen verlieren – und zwar durch gezielte herrschaftspolitische Maßnahmen – Rechte, Freiheiten und Sicherheit (etwa Wohnsicherheit), sie verlieren Möglichkeiten zur Teilhabe an der Stadt“ kritisiert die Autorin. „Die Politiken, die der Kapitalakkumulation zuarbeiten, werden weiter daran gehen, städtischen Raum in ihrem Sinn umzuwandeln, solange keine politische Kraft dagegenhält.“

Gabu Heindl sorgt die Tatsache eines (zeitweiligen, ambivalenten) Erstarkens des Staates, angesichts der bis vor Corona unvorstellbaren „Koste es, was es wolle“-Politik, und betont, dass es nun umso mehr um kritische Reflexion der Zuschreibung „staatlich“ bzw. „kommunal“ gehe, sowie um einen Einspruch dagegen, dass eine kollektivistische, am öffentlichen Gemeinwohl orientierte Politik auf den Protektionismus eines nationalen Wirtschaftsraums reduziert wird. Gut erschlossener Stadtraum sei zum Investitionsstandort für jenes Kapital geworden, das durch fehlende Besteuerung von Krise zu Krise wächst und sich in Form jenes Eigentums an urbanem Raum manifestiert, das nicht für dessen Nutzung gedacht ist, sondern als gebaute Form gestapelter Aktien und Sparbücher.

Politik, Planung und Popular Agency
Ihre Kritik gilt der Politik, die derartige neoliberale Instrumente ermöglicht. Die Autorin attestiert eine massive Demokratiekrise, so werde diese bedrängt und abgebaut durch Machtübernahmen, die sich mit Begriffen wie rechtspopulistisch oder nationalautoritär – „womöglich auch mit dem drastischen Wort Faschisierung“ – bezeichnen lassen. Für den Aufbau des Buchs wird von der gängigen und für neoliberale Stadtplanung synonym gewordenen Abkürzung PPP für Public Private Partnerships ausgegangen. Dem setzt Gabu Heindl andere, oppositionelle „P“s entgegen: Anstelle eines Public, das hier Öffentlichkeit als top-down planend oder aber Planungsverantwortung abgebend meint – als eine Form von Öffentlichkeit, die sich unternehmerisch missversteht und somit selbst abschafft –, nämlich an Private, genauer: an Kapitalmacht-Akteur*innen mit Profit-Interessen, eine Partnerschaft bildend, die aus demokratiepolitischer Perspektive ungleich und vorgetäuscht ist. Anstelle dieses PPP macht Gabu Heindl nun dasjenige von Politik, Planung und Popular Agency stark: „Wenn hier von Politik im Kontext von Architektur und der Verteilung von Raum die Rede ist, geht es dabei nicht um eine Politik der Autonomie von Form oder Kunst, und auch nicht um Politik, die ein Wissen über ein richtiges Gesamt-Modell oder einen ultimativen Verteilungsschlüssel propagieren würde. Sondern es ist ein Politik-Verständnis, das wesentlich postfundamentalistisch, auf Hegemonie-Konflikt hin orientiert und radikaldemokratisch ist.“ Sie verweist darauf, wie sehr kommunikative und partizipative Planungspraktiken heute durch ihre Rolle als Zuarbeiter*innen für neoliberale PPP-Projekte kompromittiert sind.

TINA
Radikale Demokratie betrifft die Demokratisierung von Demokratie in Zeiten ihrer Krise. Dabei lässt sich eine Forderung aus dem Kontext radikaler Demokratietheorie besonders hervorheben, nämlich, dass sie praktisch werden muss. „Demokratie ist ein Prozess politischen Handelns, und das Radikale daran betont die Wichtigkeit seiner hartnäckigen Vertiefung. Konzeptuell gesagt, wird Politik in diesem Buch in einem radikalen Sinn befragt, als ein die Gesellschaft gründendes Machtverhältnis, als der Bereich instituierender Konflikte.“ Das Buch wende sich mit Entschiedenheit radikaldemokratisch dem Alltäglichen und seinen politischen Machtverhältnissen zu. Gebetsmühlenartig ertönt darin die Behauptung, dass sich Stadtplanungspolitik mit dem Siegeszug des Marktliberalismus als politisch-institutionellem Rahmen für maximal unternehmerische Freiheit in den letzten Jahrzehnten scheinbar alternativlos in Richtung Wettbewerb, Konsens und Technokratie entwickelt hat. Das notorische ‚TINA‘-Akronym (TINA für There Is No Alternative – keine Alternative zur Dominanz von Markt und Wettbewerb) präge den neoliberalen Stadtplanungsdiskurs und dazu die vermeintlich ideologiefreie Planung.

Dem entgegen setzt die Autorin ihr radikaldemokratisches Konzept, dem sie u. a. folgende Phänomene zuzählt: Fearless Cities, Sanctuary Cities, Rebel Cities. „Fearless als Kraft in einem Netzwerk gegen rassistische Politik, sanctuary als Raum-Form des Willkommen-Heißens von Neuankömmlingen, rebels als Akteur*innen: Derartige (Selbst-)Zuschreibungen betreffen Städte als Subjekte wie auch Schauplätze eines Neuen Munizipalismus.“ Weil ein Blick auf die Stadt als in diesem Sinn neue (macht)politische Akteurin für Fragen einer radikaldemokratischen Stadtplanung aufschlussreich ist, führt ein Exkurs zu den spanischen Gemeinderatswahlen 2015, im Zuge dessen Ver­tre­te­r*in­nen feministischer und basisdemokratischer Politik-Bewegungen in mehrere Stadtparlamente einzogen. Aus Selbsthilfe-Organisationen und sozialen Bewegungen in der spanischen Humanitätskrise entstanden, wurden sie Teil der Stadtregierungen, u. a. von Madrid, Barcelona, Valencia – als Plattform sozialer (sozialistischer) und vor allem kommunaler Bewegungen. Bei diesen unter dem Begriff Neuen Munizipalismus zusammengefassten Bewegungen handelt es sich um Bottom-up-Initiativen, die sich auf den „Anarcho-Syndikalismus“ der spanischen Revolution der 1930er Jahre beziehen und zugleich „aber ganz bewusst in die Institutionen gehen, also hegemoniepolitisch und dabei experimentierfreudig auf lokaler Ebene an konkreten, auch institutionellen Alternativen zum globalen Neoliberalismus arbeiten“.

The road to hell is paved with good intentions (Karl Marx, Madonna, Pink)
Heutige Anforderungen und Konfliktlagen der Stadtplanung – Wohnbau für die Vielen, Bodenpolitik und Ressourcenschonung, Migration und Teilhabe – erfordern demnach proaktive radikaldemokratische Stadtplanung, um die Privatisierung städtischer Räume zu stoppen und Zukunftsperspektiven einer sozial und ökologisch gerechten Stadt zu entwickeln. „Im Rahmen radikaldemokratischer Planungspraxis könnten wir Planung als eine unvermeidliche Setzung konzipieren, die aber strittig ist.“ Mit einem solchen Setzungsbegriff werden zwei diffizile Bereiche betreten: „Der eine ist das immer schon stratifizierte Feld eines Stellungskriegs, auf dem jene Hegemoniepolitik stattfindet, wie sie Antonio Gramsci theoretisiert hat. Der andere diffizile Bereich ist jener der Operationen, die sich selbst nachhaltig problematisieren.“ Gabu Heindl meint damit Folgendes: In einer postfundamentalistischen Konzeption des Wortes Setzung kommen zwei Bedeutungen des Begriffes, die auf den ersten Blick konträr erscheinen, in sehr nahen Kontakt miteinander. Zum einen macht die Setzung etwas „wirklich“, macht es existent; zum anderen ist Setzung eine „Annahme“, etwas, das nicht unveränderbar für immer gilt, sondern unter Bedingungen:

„Obwohl Gesellschaft nicht ultimativ zu gründen ist, so die postfundamentalistische Theorie, muss sie dennoch provisorisch gegründet werden.“ Und gerade die Unmöglichkeit einer Voll-Gründung ermöglicht Teil-Gründungen. Gesellschaften und gesellschaftliche Räume sind nie gänzlich ohne Ordnung und Fundament. Das heißt: Eine vollständige Abwesenheit von Fundamenten gibt es ebenso wenig wie eine vollständige Präsenz von Fundamenten. Gründungen seien deshalb kontingent und unverzichtbar. „Foundations matter – es kommt auf sie an. Sie sind zugleich unsicher, prekär und von höchster Wichtigkeit für Leute und für gesellschaftliche Gruppen.“

Strittige Konsequenzen
Sobald ein Plan gezeichnet und zur Diskussion gestellt ist, also in diesem Sinn eine Setzung ist, hat er folgende politisch wesentliche Eigenschaften: Er ist allgemein; er ist öffentlich; er ist ausformuliert; und er ist bestreitbar. Und damit könne und müsse der Plan an demokratische Öffentlichkeit gebunden werden und der Streit an demokratische Spielregeln seiner Austragung. Worauf die Autorin hier abzielt, ist die gegenwärtige politische Situation, in der neoliberale Hegemonie durch ganz andere Macht-Formen realisiert wird: nicht allgemein, sondern von Fall zu Fall und dem jeweiligen Investitionsobjekt optimal angepasst; nicht öffentlich, sondern durch Schutz von Privatrecht und mittels interner Vorabsprachen; nicht ausformuliert, sondern möglichst informell, möglichst „geschmeidig und flexibel“ – und insofern entziehen sich neoliberale Vereinbarungen der Strittigkeit und sind daher gerade nicht Setzungen im Sinn öffentlicher Konfliktaustragung und Legitimierung.

Freie Mitte
Was aber die Agency von Architektur betrifft, so biete gegenwärtig ein an Bruno Latour orientierter ANT (Actor Network Theory)-Ansatz einiges an Auseinandersetzung mit ihr. „Im Unterschied zu Ansätzen, die einer Sorge um Identität von Architektur als Disziplin breiten Raum geben, hebt ein radikaldemokratischer Zugang Verhältnisse hervor, in denen Architektur entschieden auf kritische Distanz zu ihrer ‚Identität‘ und zum vorherrschenden Habitus ihrer Handlungsobjekte geht.“ Gabu Heindl fordert alle, also auch Architekt*innen und Planer*innen dazu auf, in Allianzen zu treten, als Expert*innen – bei gleichzeitiger Selbstkritik und Distanzierung von Aspekten jener Machtposition, die mit der Zuschreibung von Expertise einhergeht.
Es geht ihr um die Ausweitung der Rechte auf Stadt. Dazu führt sie auch eines ihrer eigenen Planungsprojekte ins Feld, das sie 2011 gemeinsam mit der Architektin Susan Kraupp für den Wiener Donaukanal entwickelt hat. Zum Zweck der „Einrichtung und Offenhaltung von öffentlichem Raum als Möglichkeitsraum mit niederschwelliger Teilhabe“ – nicht an Kaufkraft gebunden oder daran, wer zur bevorzugten Zielgruppe von raumgreifenden Gastronomien zählt (und wer dort zunehmend weniger geduldet ist) – griffen sie auf „ein Instrument starker planerischer Setzung“ zurück, nämlich auf das Instrument des Bebauungsplans, indem sie für ihren spezifischen Kontext einen „Nichtbebauungsplan“ ausarbeiteten. Dieser ist abgefasst wie ein Bebauungsplan, nur dass er eben reziprok verfährt, indem er dezidiert „nicht zu verbauende Zonen“ als Projektziele ausweist. (Die Kurzfassung der Donaukanal-Partitur-Leitlinien findet sich online unter: https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/e000012.pdf.) Im Sinn einer von Gabu Heindl propagierten Radikalisierung und Vertiefung demokratischer Verhältnisse zielt eine solcherart orientierte Planung, entgegen tradierter paternalistischer Methoden, auf ein Einrichten und Verteidigen von Infrastruktur, von Spiel- und Möglichkeitsräumen „und das beinhaltet auch den Kampf um Sicherungen, nämlich vor den Zugriffen deregulierter Kapital-Aggression auf Wohn- und Stadtraum“. Sie schlägt dafür ein von queeren Theorien und Theorien zur Care Revolution geprägtes Gegenmodell vor, indem es um lustvolle, auch spielerische Besetzungen im Sinn von Aufladung geht – Besetzungen, auch im affektiven Sinn, von Häusern, Plätzen, öffentlichem Raum. „Dabei geht es mir um konfrontative, kritische Arbeit in solidarischen Öffentlichkeiten: Die Bildung von Bündnissen und Äquivalenzketten soll ein handlungsmächtiges Wir hervorbringen.“

 

Titelzitat: Tocotronic, „Der Masterplan“, 1995

Gabu Heindl „STADTKONFLIKTE. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung“,
Mandelbaum Verlag, Wien 2020

Ergänzung zum Bild: Gabu Heindl, Can Gülcü, Installation zum öffentlichen Grünraum „Freie Mitte“ am Nordbahnhof, Wien 2017, Foto: Michael Krebs, Dorothea Trappel (Hg.), „Der Abgestellte Bahnhof. Das Wiener Nordbahnhofgelände und die Freiheit des Raumes“, 2018

Lesestoff auf zwei Rädern

Wahre Liebhaber, Freaks oder die Professionellen unter uns sind zwar saisonunabhängig auf dem Fahrrad unterwegs. Aber für viele andere gilt: Der Frühling kommt und damit die Fahrradsaison. Der Verkehr verlagert sich wieder etwas mehr auf zwei Räder, die wärmere Luft motiviert zu sportiven Langstreckenfahrten. Magnus Hofmüller hat Lesetipps rund ums Thema.

Das Fahrrad ist nicht nur Verkehrsmittel oder Sportgerät – mit seiner Geschichte und all seinen unterschiedlichen Ausprägungen ist es Kulturgut, Fetischobjekt und Projektionsfläche für Wünsche und Träume zugleich. Natürlich kann man das auch von Auto, Eisenbahn oder anderen Objekten sagen, die als technisches Hilfsmittel der Fortbewegung dienen. Jedoch ist das Fahrrad demokratischer, diverser, zugänglicher, verständlicher und natürlich auch leistbarer. Fahrräder bieten ein breites Feld zur Auseinandersetzung und daraus wiederum ergibt sich eine Vielzahl an Publikationen unterschiedlichster Art. Und da Mensch nicht nur nie genug Fahrräder haben kann, sondern dies genauso für Bücher und Hefte zum Thema gilt, ein paar Tipps zum geschriebenen Wort rund ums Fahrrad.

A Cycling Lexicon: Bicycle Headbadges from a Bygone Era (englisch)
Phil Carter, Jeff Conner
Gleich als Einstieg ein Werk für wahre Nerds: Auf knapp 400 Seiten werden Fahrradplaketten oder auch Steuerkopfschilder historischer Räder gelistet. Ein wahrer Augenschmaus und Wissensschatz – ein Lexikon der Fahrradheraldik. Es kommen natürlich Markenklassiker wie Schwinn, Peugeot oder Hercules vor. Aber auch Schätze aus asiatischer oder russischer Produktion aus den 1920er Jahren werden gezeigt. Ein ideales Geschenk für passionierte Fans von Retrofahrrädern.

Everyday Bicycling – How to Ride a Bike for Transportation (englisch)
Elly Blue
Ein kleines, feines Büchlein für den Alltag auf zwei Rädern. Der Satz auf der Rückseite „Rediscover the joy of getting around on two wheels“ trifft den Grundtenor des Buches perfekt. Es geht nicht um die sportliche Variante des Radfahrens, sondern ums Pendeln, Einkaufen und Transportieren mittels Fahrrad. Fahrradfahren als integraler Bestandteil des Alltags. Mit Tipps und Tricks von der Kleidung bis zum Bike.

Die Regeln (Orig.: The Rules) (deutsch)
Velominati
Hier kommen die sportiven FahrerInnen voll auf ihre Kosten. Quasi ein Muss in jedem Bücherregal. Fünfundneunzig Regeln, die ernst und humorig an das Thema heranführen sowie nützliches und unnützes Wissen bereitstellen, weisen den Weg in den Geheimbund der echten RennradfahrerInnen. Themenfelder wie rasierte Beine, Bräunungskanten und Espressoarten sind ebenso enthalten wie Material- und Trainingstipps. Also, wie Regel #90 sagt: „Bleib auf dem großen Blatt“.

Lob des Fahrrads (deutsch)
Marc Augé
Das zweite kleine Büchlein der Auswahl. Dieses ist weniger praktisch orientiert, sondern feiert die Fahrradrevolution von Kopenhagen bis Paris. Als LinzerIn liest man das natürlich mit einer gewissen Wehmut … aber Hoffnung ist wichtig! Allein Kapitelüberschriften wie „Vélo Liberté“ machen gute Laune – eine schnelle Lektüre für FahrradutopistInnen.

 

How to survive als RADFAHRER (deutsch)
Juliane Schuhmacher
Die Stadt und das Fahrrad – eine ewige Kampfzone? Ja und nein, wenn man der Lektüre von Juliane Schuhmacher folgt. Diese gibt Tipps, wie man möglichst konfliktfrei durch den RadlerInnenalltag in der Stadt kommt und Spaß dabei hat, Motivation gewinnt und sich sicher durch den Verkehr bewegt.

 

Strassenkampf (deutsch)
Kerstin E. Finkelstein
Die Autorin diagnostiziert eine ständige Zunahme des Autoverkehrs und eine immer gereiztere Stimmung unter den VerkehrsteilnehmerInnen. Und damit liegt sie natürlich richtig. Und deshalb fordert sie auf 200 Seiten eine eindeutigere und mutigere Verkehrspolitik und den Abschied von der autozentrierten Verkehrsplanung. Positiv argumentiert und konsequent in der Formulierung. So geht sie etwa in Bezug auf Fahrrad und Verkehr dem Gegensatz von Wirklichkeit und veröffentlichter Wahrnehmung in der medialen Berichterstattung auf den Grund. Fast eine Pflichtlektüre für alle verkehrspolitisch interessierten RadlerInnen.

Fausto Coppi (deutsch)
Walter Lemke
Eine umfassende Dokumentation des Lebens der italienischen Radsportlegende Fausto Coppi. Die von einem Bewunderer verfasste und akribisch aufgezeichnete Lebensgeschichte ist ein Zeitdokument des Radsports. Der unkonventionelle Sportler Coppi machte nicht nur durch seinen ungewöhnlichen Fahrstil auf sich aufmerksam, sondern auch durch sein durchaus bewegtes Privatleben. Dieses wird im Buch aber nie voyeuristisch betrachtet, sondern setzt es aus der Distanz betrachtet mit dem des Sportlers in Verbindung und erklärt Zusammenhänge.

Domestik (deutsch)
Charly Wegelius
Ein Bericht aus der Mitte des Rennradsports – ein Insiderreport. Der Autor fuhr jahrelang als Profi in internationalen Rennen mit: und zwar als sogenannter Domestik, das sind Helfer für Etappen-, Sprint- oder Gesamtsieger. Egal, ob als Versorger für Getränke und Nahrung oder als Windschattenspender – immer am Limit und immer im Dienst für andere Fahrer. Ein ungeschönter und direkter Blick in den Profisport.

Fahrradi Model MD (Marcel Duchamp)

Foto Hannes Langeder

Hannes Langeder hat ein neues Fahrradi- Modell entwickelt – das Fahrradi Model MD nach Marcel Duchamp. Mehr über das Hybridfahrzeug – Auto – Fahrrad – Kunst und über Duchamps Readymade „Fahrrad Rad“, mehr über Zigarrenform und die „unbemannten“ 0 km/h bei trotzdem „vollständig gegebener Funktion“ unter fahrradi-md.han-lan.com.

Die Presse berichtet, das Objekt ist aktuell in der Ausstellung „Posterwachsen“ der Galerie Knoll in Wien bis 20. April 2021 zu sehen: www.knollgalerie.at

Maja Osojnik oder „Was ist schön?“

Zum Beispiel kaputte Klänge, akustische Unfälle und hörbare Fehler, die dann keine mehr sind: Maja Osojnik greift in die Schatzkisten aller Arten von Musik – und wildert darüber hinaus im Bereich von Literatur und bildender Kunst. Lisa Spalt mit einem Porträt über eine Generalistin, die mit allen Mitteln kommuniziert.

Nach einem Lauf durch die Wohnungen, weil bei uns beiden das Netz so schlecht ist, treffen wir zweidimensional aufeinander. Maja Osojnik, freischaffende Komponistin, Klangkünstlerin, Sängerin und frei improvisierende Musikerin, hat Kopfhörer auf. Ihre Audioausgabe funktioniert nicht, und ich habe aufgrund des Bildes auf dem Schirm den Eindruck, sie höre mich nicht. Tatsächlich bildet die Situation ab, was Osojnik über ihre Erfahrungen in den letzten Monaten erzählt. Plötzlich ging man im Pyjama näher ans Leben heran und entdeckte, wie die Venen der Arbeit das ganze Dasein komplett durchwachsen hatten. Die daraus entstandene Lähmung, das Gefühl, dass es immer schwieriger wird, neue Musik aus dem Ärmel zu schütteln, verschwand im ersten Lockdown. Euphorie. Endlich konnte frau die gewonnene Zeit wieder spielerischer mit Musik gestalten. Die Kreativität kam zurück. Dann die ersehnte Öffnung, die ersten Konzerte. Aber obwohl das Publikum da ist, sich auch begeistert, entsteht bei der Musikerin das Gefühl, dass sie für niemanden spielt. Die Zuschauendenzahlen sind quasi elitär begrenzt. Und es gibt keine Outro nach dem Konzert, keine Feiern – nur die schwer zu lesenden Mienen hinter dem Mund- und Nasenschutz.
Dabei ist Osojnik eine Person, die gewöhnlich mit allen Mitteln kommuniziert. Sie ist Generalistin, wie sie selbst sagt, wildert im Bereich von Literatur und bildender Kunst, greift in die Schatzkisten aller Arten von Musik. Lange hatte sie deswegen Angst, niemals was auch immer auf den Punkt zu bringen. Dann kam sie endlich drauf, dass alles zu tun sie einfach ausmacht. Es mussten daher neue Bezeichnungen her für das, was sie produziert. Osojnik macht zum Beispiel „Cinema vor Ears“. Aber fangen wir am Anfang an.
Die Allrounderin erlernt im slowenischen Dorf Kranj das Spiel der Blockflöte, musiziert im Barockensemble. Als Jugendliche merkt sie zwar, dass sie, wenn ihr die Holzflöte aus dem Mund hängt, nicht gerade schick rüberkommt. Aber was solls? Als Mitglied einer Band ist sie andererseits die Coolste, und so betrachtet sie die Blockflöte, die zumindest zu Beginn des Lernens ein billiges Instrument ist, mit den Augen des Punk und Punkt. Als Osojnik neunzehn ist, kommt sie, die vor allem Grunge und Hardcore hört, auf die extravagante Idee, in Wien Blockflöte zu studieren. Mit dem Instrument in der Hand reist sie kurzerhand ins Ausland, geht, ohne je mit dem Professor Kontakt aufgenommen zu haben, zur Aufnahmeprüfung, wundert sich, dass sie am Montag drauf in die erste Unterrichtsstunde kommen soll. Ja, und irgendwie verschafft sie sich eine Übergangswohnung für einen Monat, etwas Kleidung, und dann ist sie Studentin und lebt im Ausland, hat von der Landessprache keine Ahnung. Da muss ihre Entwicklung etwas schneller gehen.
Osojnik definiert ihren Erfolg heute so: Sie macht, was sie will. Schon mit neun Jahren wollte sie „irgendwas mit Musik“, wenn auch nicht klar war, was für eine das sein sollte. Sicher war damals nur: Es macht ihr Freude, kreativ zu sein, kooperativ zu arbeiten, mit anderen gemeinsam Klang zu produzieren. Alles andere hat sich dann später durch den ihr eingebauten Zufallsgenerator gefügt, der ihr gewisse Menschen und Situationen bescherte. So legte sie die Blockflöte deswegen nicht früher weg, weil ihre erste Lehrerin begeisterte Barockmusikerin war. Ja, Osojnik kam irgendwann drauf, dass das nicht ihr Instrument ist. Sie sieht sich als eher laute Person, vielleicht als Tuba. Aber immerhin hat das leise Instrument sie gelehrt, sich zurückzunehmen.
Osojniks heutige Musik ist eklektizistisch. Cut and Paste, das ist wichtig. Sie verwendet aber auch viele selbst aufgenommene Samples. Was sie sammelt? Vor allem kaputte Klänge, akustische Unfälle wie Distortions oder ungewollte Phasenverschiebungen, alle Arten hörbarer Fehler, die dann keine mehr sind. 2009 ist ihr Computer kaputt. Bandkollege Matija Schellander versucht, ein paar Aufnahmen zu retten. Dass die sich als digital zerstört herausstellen, kommt Osojnik gerade recht. Glitches sind kostbar, und immer steht hinter der Arbeit die Frage, was das eigentlich ist, das Schöne. Geraten die Hörenden da nicht manchmal an ihre Grenzen?
Es sei schade, dass so oft gedacht werde, man müsse alles sofort verstehen, findet Osojnik. Die Geschwindigkeit sei das Problem. Es gehe beim Hören aber doch darum, sich Zeit zu lassen, sich einzulassen. Musik kann, meint sie, außerdem unterschiedliche Funktionen haben, bei jeder Art von Kunst sei das doch so. Romane sind vielleicht zum Mitgerissenwerden da, experimentelle Literatur spricht einen anderen Teil der Person an, der sich auch körperlich hingeben muss, der nicht sofort alles einordnen kann. Sich einzulassen ist eine physische Erfahrung, meint sie, eine sinnliche. Und die bietet Osojnik auf der Basis von drei Herangehensweisen: Erstens collagiert sie, bildet die Collage ab, die die Welt in ihrem Kopf hinterlässt. Das erzeugt Ironie, Humor, Sarkasmus. Zweitens spielt sie mit Distanzen, stretcht Noises, die aus der Entfernung wie Blöcke wirken, sodass man sie als komprimierte Melodien erkennen kann. Drittens wird der Sound „durchleuchtet“. Was kann alles weggelassen werden, damit nur noch eine Art Skelett der Musik übrigbleibt? Was ist die Essenz?
Bei allem Experiment arbeitet Osojnik aber dann auch wieder ganz traditionell. Sie notiert. Mit Bleistift auf Papier. Schreibt allerdings – vor allem grafische – Partituren. Da kann sie die Verantwortung über die Musik mit den Musizierenden teilen. Manche Parameter führt sie genau aus, bei anderen überlässt sie die Ausgestaltung den Leuten mit den Instrumenten.
Die visuelle Erscheinung ihrer Partituren hat schließlich auch zum Grenzübertritt ins Reich des Visuellen geführt, zur Zeichnung, zu Objekten. Als Osojnik von Claudia Märzendorfer eingeladen wird, ein Vogelhaus zu entwerfen, erinnert sie sich an einen Brief, den sie seit Jahren bei jedem Umzug wieder einpackt. Er stammt von einer Freundin, die ihn an einen Mann geschrieben hat, aber nicht abschicken wollte. Osojnik sollte ihn aufbewahren. Dann starb die Freundin. Was tun? Osojnik lädt schließlich Menschen ein, ihr ebenfalls einen geheimen Brief zu überlassen. Sie mischt den ersten unter die, die sie zugeschickt bekommt, schneidet alle in Streifen und flicht daraus ein Vogelhaus. Das Schriftstück hat nun die Chance, in Gesellschaft – und irgendwie an die Öffentlichkeit adressiert – von Wind und Wetter beerdigt zu werden.
Die bei diesem Projekt erstmals eingesetzte Technik des Flechtens setzt sie heute auch beim neuesten Produkt ein, der Single „Superandome – Super Random Me“. Zwei Jahre lang hat sie in einem Copy Shop Papierstreifen gesammelt. Nun erhält jedes Exemplar ein individuelles, geflochtenes Cover. Auf dem Tonträger festgehalten ist eine gemeinsam mit Matija Schellander erzeugte Collage aus dem in Zusammenarbeit mit Natascha Gangl entwickelten Klangcomic zu deren Buch „Wendy fährt nach Mexico“. Ja, meint Osojnik, das Projekt hat wohl zur Gründung des langsamsten Labels der Welt geführt. Immerhin musste Natascha Gangl erst einmal ein Buch schreiben, die Band mit ihr dann drei Performance-Programme ausarbeiten, daraus entstand dann eben kein Hörstück, sondern das Produkt „WENDY PFERD TOD MEXICO“ fürs Kunstradio, das 2018 den ersten Preis beim 9. Berliner Hörspielfestival gewann. Schließlich kam die Idee auf, den Klangcomic, in dem Laute zu Ausdrücken wurden und umgekehrt, in ein handfestes Objekt zu verwandeln. Das Label „MAMKA Records“ (Mamka = slowenisch für Oma) wurde gegründet.
Mit Matija Schellander arbeitet Osojnik übrigens bereits seit 2002. Zunächst im „Low Frequency Orchestra“, bei dem auch noch Angélica Castelló, Thomas Grill, kurz Herwig Neugebauer und Mathias Koch mitwirkten. Dann wurde die Rote Rakete – Rdeca Raketa – gegründet. Die Formation – ein elektroakustisches Duo, das sich ständig weiterentwickelt, – besteht jetzt seit 2008. Mit Schellander zu spielen, sagt Osojnik, ist inzwischen, als hätte man einen gemeinsamen Körper. Und dieser Körper ist ein politischer. Aber politisch ist Osojnik auch von allein. Da gibt es die Blaskapelle, die, anstatt öffentlich zu protzen, erst einmal unsichtbar auftritt und dann erratisch choreografiert wird. Das Stück „Die Wende“ wiederum nimmt Bezug auf die Ratschen, die im I. Weltkrieg verwendet wurden, um vor Gasangriffen zu warnen. Die Holzteile der Instrumente werden bei Osojnik durch Gummi ersetzt. Die Dystopie ist wahr geworden, wenn kein Warnen mehr möglich ist. In ihrem ersten Solo-Album „LET THEM GROW“ von 2016 geht es daher folgerichtig einfach um alles: um die seltsamen Verirrungen des Zwischenmenschlichen in unserer Zeit, die Entfremdung zwischen Individuum und Welt, um die Frage nach einer zeitgemäßen Definition von Emanzipation … Es geht um die Scherben innen und außen. Können sie im ultimativen Song zu einem klingenden Mosaik verbunden werden? Der Pressetext beschreibt das Album als „dreckig, sanft, lustvoll, verstört, komplex, kalt, sphärisch, schneidend und feminin“. Da ist alles drin. Hören! 

Maja Osojnik
maja.klingt.org

Neue Single SUPERANDOME – SUPER RANDOM ME
maja.klingt.org/news
mamka.klingt.org
mamka.bandcamp.com

 

Die Commune wird ihre Aufgaben erfüllen.

Die Referentin bringt seit mehreren Ausgaben eine Serie über frühe Anarchist_innen und frühe soziale und politische Bewegungen, die im Zeichen von kämpferischer Befreiung standen. Zur Communardin und Anarchistin Louise Michel und die Pariser Commune von 1871 ist ein Roman von Eva Geber erschienen. Darüber berichtet Andreas Gautsch.

„Im Namen des Volkes: Die Commune ist proklamiert.“ Es gab keinen Diskurs, kein Gegenwort, nur der Ruf: „Es lebe die Commune“ schallte über den Platz. Die Feier schloss mit den Worten: „Die Commune wird ihre Aufgaben erfüllen.“
So schildert Eva Geber in ihrem Roman den historischen 28. März 1871. Zehn Tage zuvor hatte sich die Bevölkerung von Paris erhoben, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Eine der berühmtesten Communard*innen war die Revolutionärin Louise Michel. Heute noch gibt es in Frankreich dutzende Plätze und Straßen, die ihren Namen tragen. Hierzulande ist sie weniger bekannt, vielleicht unter politisch und historisch Interessierten oder im überschaubaren Kreis von Anarchist*innen. 2018 erschien nicht nur Eva Gebers Roman über eine der wohl außergewöhnlichsten Persönlichkeiten der Geschichte, sondern sie hat in einem kleinen Begleitband Artikel und Reden von Louise Michel übersetzt und diese somit, nach mehr als 100 Jahren, erstmals einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Beide Bücher sind im libertären Wiener Verlag bahoe books erschienen.

Der Werdegang einer Revolutionärin
Der Roman erzählt Michels Geschichte detailreich. Geschickt eingewoben sind Verweise sowie Zitate aus ihren Tagebüchern, Artikeln und Gedichten. Er ist wie ein langer Monolog, in dem die Protagonistin als alte Frau, im Lehnstuhl sitzend, umgeben von ihren Katzen, die Ereignisse Revue passieren lässt. Ganz nah an der Erzählfigur wird man mitten ins Geschehen geführt und eine andere Welt eröffnet sich.
Am 18. Mai 1830, im kleinen Ort Vroncourt, in der heutigen Region Grand Est, wurde Louise Michel geboren. Sie war das uneheliche Kind von der Dienstmagd Marie-Anne Michel und dem Sohn des Schlossherrn. Zur Mutter hatte sie Zeit ihres Lebens ein inniges Verhältnis. Der Vater erkannte das Kind zwar nicht an, dessen Eltern jedoch nahmen sich ihrer an und erzogen die Enkelin im Geiste der Aufklärung. „Voltaire, Rousseau und katholischer Mystizismus – was für eine verwirrende, reiche und die Phantasie bestürmende Welt, aus der sich mein Wunsch nach Gestaltung, Veränderung, Revolution entwickelte, der ebenso zu fanatischem Eifer führte, wie es bei der Avantgarde nicht anders sein kann.“
So wurde aus dem aufgeweckten Mädchen, das als Jugendliche in Briefkontakt zu Victor Hugo trat (woraus sich eine lebenslange Freundschaft entwickelte), schließlich eine ausgebildete Lehrerin, die nach Paris ging und 1853 ihre erste Freie Schule eröffnete. Da sie das Schulgeld sehr niedrig ansetzte, konnte sie selbst kaum davon leben. Daneben gab sie mit Kolleginnen Kurse für Frauen, Mütter und junge Menschen im Sinne eines kritischen Geistes sowie einer grundlegenden Rechtskunde und engagierte sich gegen das autoritäre Regime von Napoleon III. Für Michel bedeutete dies auch eine erste nähere Bekanntschaft mit Polizei und Gericht. Aber die Samen proletarischer und republikanischer Bewegungen waren schon gekeimt.

Aufstieg und Fall der Pariser Commune
1870 zettelte Napoleon III. einen Krieg mit Deutschland an, verlor diesen und musste abdanken. Die 3. Republik wurde ausgerufen und es kam zu Wahlen. Die Armee von Kaiser Wilhelm I. stand aber nun vor Paris, und während die neue monarchistisch-konservative Regierung die Kapitulation ausverhandelte, erhob sich die republikanisch gesinnte Bevölkerung von Paris und rief die Commune aus. Die Regierung floh mit regierungstreuen Generälen und ihren Truppen nach Versailles. „Die radikalsten Kräfte forderten den sofortigen Marsch auf Versailles, er wurde dann aber nicht unternommen. Das Streben nach vollständiger Autonomie der Stadt überwog den Wunsch nach einer politischen Revolution in ganz Frankreich. Da die Versailler ja besiegt waren, folgten wir ihnen nicht. Das war der große Fehler.“
Eva Geber lässt die Ereignisse und Stimmung in der Stadt einprägsam wieder auferstehen und die Leser*innen an der in die Commune gesetzten Hoffnung teilhaben. „Wir sprachen über das Ende des Privateigentums ebenso wie über die Notwendigkeit, Heizmaterial aufzutreiben. Es ging um eine neue Form der Frauenarbeit und das Ende der ökonomischen Kluft. Dazu kam der Kampf auf den Barrikaden, Sandsäcke füllen, Organisation der Ambulanzen und der Suppenküchen.“ So viel gab es zu tun. Es ging auch um eine Veränderung des Schulwesens, es sollte öffentlich, obligatorisch und kostenlos sein und frei von religiösen Symbolen. Selbst 150 Jahre später ist in dieser Hinsicht die Pariser Commune unserem gegenwärtigen Bildungssystem voraus. In einem Appell im Pariser „Journal officiel“ vom 11. April forderten die Communard*innen grundlegend andere Produktionsverhältnisse:
„‚Wir wollen die Arbeit, aber das Produkt muss uns gehören, Schluss mit Ausbeutern und Herrn. Arbeit und gutes Leben für alle‘.“

Am 3. April zogen Louise Michel und andere Frauen mit dem 61. Bataillon schließlich nach Versailles, um die Regierung zu bezwingen. Der Versuch scheiterte. Ein Monat später fielen die Regierungstruppen mit Hilfe preußischer Artillerie in Paris ein. Barrikade für Barrikade wurde eingenommen. Louise Michel verteidigte mit ihrem Frauenbataillon eine der letzten in Place Blanche. Das Massaker der Regierungstruppen, bei dem 35.000 Menschen getötet wurden, ging als „blutige Maiwoche“ in die Geschichtsbücher ein. Anschließend kam es laufend zu Verhaftungen und Hinrichtungen. „Im diesem blutigen Mai und Juni starben die Schwalben von Paris, vergiftet von den Fliegen, die sich von den Leichen ernährten.“ In dieser Zeit der Kämpfe und Hinrichtungen dichtete Eugène Pottier den Text der Internationale „Völker hört die Signale!“

In der Verbannung in Neukaledonien
Louise Michel wurde ebenfalls verhaftet und mit anderen Communard*innen auf die Insel Neukaledonien verbannt. Auf dieser Überfahrt im September 1873, eingepfercht in einem Käfig, wurde Michel zur Anarchistin. Eva Geber lässt sie im Roman folgende Beobachtung über die korrumpierende Macht sprechen: „Jeder, der an die Macht gekommen war, wurde zum Verbrecher. Vor allem wenn er charakterschwach und gierig war. Das halte ich für die Regel.“ Diese Regel hat wohl immer noch ihre Gültigkeit, müsste jedoch damit ergänzt werden, dass vor allem ein opportunistisches Verhalten zur Macht führt.
Das Leben auf der Insel machte Michel wenig zu schaffen, sie fand viele neue Betätigungsfelder. Eines davon war die Niederschrift der Legenden, die ihr die Kanaken, so die Selbstbezeichnung der Einheimischen („Kanak“ bedeutet Mensch), erzählten. Einen Auszug davon hat Eva Geber übersetzt und in der von ihr herausgegebenen Textsammlung veröffentlicht.
Im Juli 1880 erfolgte die Amnestierung der Verbannten. „Aber später wollte ich zurückkehren, mein Versprechen einlösen, eine wunderbare Schule errichten, überdies selbst die Indigenen studieren, die Pflanzen, die Tierwelt und die wilde Landschaft genießen. Und die Zyklone. Eine Wilde unter Wilden. So antwortete ich aus voller Überzeugung: ‚Ich werde wiederkommen.‘“

Die Agitatorin
Wieder in Paris stürzte sich Louise Michel in politische Aktivitäten, die sich nun um eine antikoloniale Perspektive erweitert hatten. „Wie können wir für Gleichheit eintreten und diese Frage nicht mitdenken? Ich denke an die Kanak und an die Araber – gleichzeitig mit der Commune hatten die Algerier ihren Freiheitskampf begonnen. Ein großes Versäumnis der Commune war gewesen, dass wir keine Solidarität mit den Aufständischen geäußert hatten. Und wir waren auch nicht beschämt, dass Algerier uns ihre Solidarität mit der Commune versichert hatten.“
Am 9. März 1883 nahm sie an einer Demonstration von 15.000 Arbeitslosen teil, bei der es zu Polizeiübergriffen und Plünderungen kam. Michel kam vor Gericht und bewies dort ihre Schlagfertigkeit und Sympathie für Diplomatie. „Der Richter fragte mich, ob ich an allen Kundgebungen teilnähme? Ich antwortete: ‚An allen Demonstrationen der Elenden.‘ Dann wollte er wissen, welches Ereignis ich mir von besagter Demonstration erhofft hatte. Ich sagte, dass nie eine friedliche Demonstration zu einem Ergebnis führe, aber die Hoffnung bleibe.“

Das Ergebnis waren 6 Jahre Haft und 10 Jahre Polizeiaufsicht. Nach drei Jahren kam die Begnadigung und sie setzte ihre Agitationstätigkeit, zum Missfallen vieler, fort. Ein geistig verwirrter Mann verübte 1888 nach einem Vortrag ein Attentat auf sie. Eine Kugel traf sie an der Schläfe, eine blieb im Hutfutter stecken. Gegenüber dem Richter stellte sie anteilnehmend fest: „‚Der Mann braucht eher einen Arzt als einen Richter‘“. Der Attentäter wurde schließlich freigelassen. Zu den aufkommenden Attentaten, die in den 1890er Jahren von Anarchist*innen verübt wurden, nahm Michel in einem Interview Stellung. Ihr wären andere Methoden lieber, meinte sie, „zum Beispiel Tyrannenmorde, aber wir leben in dieser revolutionären Zeit.“
Michels Biographie ist vollgespickt mit Ereignissen, die ihrem unermüdlichen Eintreten für Gleichheit und Gerechtigkeit geschuldet sind. Diese Energie ist mitunter ansteckend. Doch auch das Herz einer Unermüdlichen verliert an Kraft. Trotz Erkrankungen und Erschöpfung reiste Louis Michel zwar von Vortrag zu Vortrag quer durch Frankreich. Aber sie war bereits gezeichnet. Ihre letzte Vortragsreise, auf die sie sich mit ihrer langjährigen Gefährtin Charlotte Vauvelle begab, führte sie 1904 durch Algerien. Am 9. Jänner 1905 starb sie auf ihrer Rückreise in Marseille. Auf ihrem letzten Weg auf den Pariser Friedhof Levallois-Perret wurde sie von 100.000 Menschen begleitet.
Eva Gebers biographischer Roman bietet eine gute Gelegenheit, sich mit Louise Michel, aber auch mit der Vergangenheit und der Gegenwart auseinanderzusetzen. Der Ruf, der vor 150 Jahren in Paris erschallte, klingt weiterhin nach. Denn die Aufgabe der Commune – die Befreiung von Herrschaft und der Macht des Kapitals – ist bis heute unerfüllt.

 

Literatur:
Eva Geber: Die Anarchistin und die Menschenfresser, bahoe books, 2019 (2. Auflage)
Eva Geber (Hg.): Louise Michel. Texte und Reden. bahoe books, 2019

 

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.

STWST 2021 Sounds Like Anti-Anthropozän STILL More vs Less Sound in der STWST Konzerte für Niemanden – Konzerte für Jemanden

Im März werden 2 Abende im STWST-Saal unter völligem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Wenn schon nicht anders möglich, dann wird die Essenz von Kultur und Kunst gleich radikal anders gedacht: Das Wichtigste ist, dass die Dinge passieren. Das heißt: Die STWST beschwört MusikerInnen, Bands, Soundartists, TechnikerInnen und den Sound, Haus, Mischpult und Lichtanlage, die On- und Off-Schalter, Stromkreise und die Discokugel an der Decke, das verschüttete Bier am Boden sowie den Putz an den Wänden, sprich: Es werden feierlich alle menschlichen und nicht-menschlichen Teile des Systems Sound angeworfen, um mit exqisiten Sound-Artists im Haus für NIEMANDEN und gleichzeitig fürs ganze Universum zu spielen.

Einen der beiden Abend werden Maja Osojnik und Peter Kutin gestalten: 17. März 2021 Be square, DON’T be there!

Vier Konzertabende im Mai sind aber dann doch für JEMANDEN und im Doppelmodus geplant: Die Konzerte werden als Live-Stream, bzw Concert-On-Demand zum Nachsehen bereitgestellt. UND: Falls möglich, auch mit Publikum!

Mehr unter: club.stwst.at

Das Professionelle Publikum

Diesmal stellen Renate Billensteiner, Fatima El Kosht, Andrea Ettinger, Rebekka Hochreiter, Anna Maria Loffredo, Renate Silberer, johannessteininger m.a. m a., ihre persönlichen Kunst- und Kulturtipps für die kommenden On/Off-Wochen vor. Watch out!

Renate Billensteiner
lebt und arbeitet in Linz. Fotografisch arbeitet sie an konkreten Darstellungen von Zuständen oder konstruierten Realitäten und an dem Versuch, diese der Sachlichkeit unterzuordnen.

PORTRAET
ÜberganG

Fatima El Kosht
(AR/EGY) studierte Bühnenbild in Buenos Aires, wo sie auch an zahlreichen musikalischen Projekten als Instrumentalistin und Sängerin teilnahm. 2005 emigrierte sie nach Linz. Nach ihrem Kompositions-Studium an der Bruckneruniversität Linz widmete sie sich verstärkt der Medienkunst und digitaler Dokumentation. Begleitend zum Studium der Zeitbasierten Medien an der Kunstuniversität Linz ist sie aktiv im Rahmen von Projekten im Bereich experimentelle Klanggestaltung, darstellende Kunst und elektroakustische Improvisation. Derzeit arbeitet sie an einer Video- und Klanginstallation zum Thema „Rekonstruktion von Welten“, eine Ausstellung, in der sie mit Foto-, Video- & Soundbeiträgen eine Zusammenfassung ihres bisherigen künstlerischen Werks schafft. In einem offenen Dialog zwischen auditiven und visuellen Elementen beleuchtet Fatima El Kosht mit Textfragmenten den entwurzelten Zustand im Niemandsland zwischen Kultur, Gesellschaft und Identität. Aktueller Beitrag zum Projekt „Travel Your Mind“ 2021: www.dorftv.at/video/35140

The Place of the Mind. Roger Ballen – Retrospektive
Next Comic Festival 2021

© honigkuchenpferd

Andrea Ettinger
ist Linzer Grafikdesignerin mit Mühlviertler Wurzeln. Als *honigkuchenpferd* gestaltet sie Gedrucktes wie Digitales in den Bereichen Kultur, Gemeinnütziges, Menschenrechte sowie Conscious Local Brands. Infos: www.honigkuchenpferd.net

The Trouble with Being Born
„My Ugly Clementine“

 

© Jakob Gsöllpointner

Rebekka Hochreiter
ist bildende Künstlerin, seit 2017 Co-Kuratorin der Kunsthalle Linz und Stv. Geschäftsführerin bei FIFTITU%.

Szene Panorama 2021
Tricky Woman/ Tricky Realities 2021

 

Anna Maria Loffredo
ist seit 2015 Professorin für Fachdidaktik Kunst im Lehramt an der Kunstuniversität Linz. Infos: www.blog.kunstdidaktik.com

Residency „Es wird keine Bilder mehr geben!“
Grenzen öffnen – Werte prüfen

Renate Silberer
lebt als freie Autorin in Linz. Sie schreibt Lyrik und Prosa.

Buchvorstellungen Silberer/Stähr
Ausstellung „Portraet“

 

johannes­steininger
m.a. m a ist ein aufstrebender oberösterreichischer Künstler, der seine einzigartigen räsonierenden Luft-Wand-Skulpturen im Inland sowie international ausgestellt hat. www.johannessteininger.at

PLASTICS-FABRICATION JOHANNES STEININGER | JELENA MICIC
BIRGIT ZINNER Lipsis und Limnis

Tipps von Die Referentin

 

Elisabeth Harnik „Earscratcher“
Bunte Steine – was bleibt