Optimus temperatus.

Ja, ja – jetzt kommt er mit Temperaturgefasel zur kalten Jahreszeit. Allgemeinplätze von gekühlten oder heißen Getränken erwartet sich die geneigte Leserin, der geneigte Leser. Aber mitnichten. Der Dude ist auf der Suche nach den leisen Zwischentönen, den feinen Graden: Der sanftwohligen, anschmiegenden Wärme oder der aufregenden, angenehmen Kühle. Gefroren, gefrostet, gebraten, flambiert – das sind in Zeiten der Extreme die wohl naheliegendsten kulinarischen Temperaturzuschreibungen. Aber wie so oft in den lukullischen Sphären, machen die kleinen Entdeckungen das große Bild! Dass Wein erst in unterschiedlichsten Kühle- oder Wärmestufen seine gesamten Geschmacksklaviatur spielt, ist bekannt, und dieses Wissen wird in der Praxis von Profis als auch von Laien so praktiziert. Dass aber fast alle Nahrungsmittel eine Idealtemperatur zur Zubereitung oder Zusichnahme haben, ist wohl weniger bekannt bzw. wird in den seltensten Fällen angewandt.

Und da man im neuerlichen Lockdown vermeintlich wieder mehr Zeit für sich hat, gönnt sich der Dude Warm- und Coolfood in allen Varianten und gesteht seinen zum Verzehr gedachten Zubereitungen die Zeit und Temperatur zu, die sie sich wünschen.

So wird der gute Ziegenkäse nach Brie-Methode durch einen sogenannten Käse-Spaziergang in Fahrt gebracht. Nein, der Dude wird nicht als exaltierter Käseliebhaber mit dem Brie-Laib in den Taschen durch seine geliebte Linzer Stadt wandern. Vielmehr bekommt der Brie sein Bett neben dem Kühlschrank und durch die Dauer des Spaziergangs die genaue Zeit, sich vollends zu entspannen und die richtige Viskosität anzunehmen. Genauso verhält es sich beim Fisch, der gebraten wird. Einfach auf Raumtemperatur kommen lassen, dann wird das fröhliche Bratgut wesentlich geschmeidiger und schmackhafter in der Zubereitung. Bei rotem Fleisch ist es sogar ratsam, ein bis zwei Stunden vergehen zu lassen. Einfach probieren!

Fermentierte Köstlichkeiten, die ja Reife bei Raumtemperatur erlangen und dann gekühlt gelagert werden, sollten vor dem Genuss auch wieder auf ihre Reife-„Grade“ gebracht werden. Die Milchsäurebakterien, die dieses Wunder vollbracht haben, werden es danken. Auch sauer eingelegte Gemüse und alles in Richtung Pickles sowie Würzsaucen entfalten ihren ursprünglichen Geschmack bei Raumtemperatur.

Die Kultur des „Sandwich-Wrap-Sushi“-Runterschlingens – direkt aus der Kühltheke – verlernt es uns, echte Geschmäcker zu schätzen oder überhaupt zu erkennen. Außerdem, so die feste und richtige Meinung des Dudes, ist dieser Conveniencefraß soundso an viel mehr Schuld als vermutet wird. Denn die durchweichten Wraps und Karikaturen von Sushi und Maki im „praktischen“ Plastikpack sollten strafbesteuert werden. Wirklich! Probiert es mal aus, solche Fastfoodteile auf Raumtemperatur zu bringen und dann zu verkosten. Übrig bleiben säuerliche, fasrige Einzelteile, die kaum genießbar sind und vor neuerlichem Erwerb abschrecken werden.

Darum: Liebkost euren Käse, Fisch, Schinken und die guten Essiggurken mit der Temperatur, die sie verdienen und genießt wohltemperiert!

When Sun Comes Out

Es glitzerte und knisterte in Tom Bogaerts Klanginstallation Sun Ra Ra – gezeigt im bb15 im Oktober. Die Arbeit erinnerte daran, wie ernst es einst um die Avantgarde stand. Denn während Sun Ra 1986 in einem Interview mit dem Musicians Magazine befand: „Sie sehen nicht so aus, als hätten sie Spaß“, wird das Publikum bis heute auf hypnotische-vergnügliche Weise mit auf eine Reise Richtung Saturn genommen. Bettina Landl schreibt über Sun Ra Ra von Tom Bogaert – und beginnt mit dem Outer Space und Sun Ra.

Sun Ra Ra im Oktober 2021 im bb15. Foto Tom Bogaert

„What I’m dealing with is so vast and great that it can’t be called the truth. It’s above the truth.“
Sun Ra

„Wie nunmehr, von der neuerlichen Flut noch schlammig, die Erde / Von dem ätherischen Strahl und den Gluten der Sonne gewärmt war, / Brachte sie Arten hervor …“, heißt es in Ovids Metamorphosen. Die Kernfusionen im Innersten dieses heißen, beständigen, hell brennenden Sterns Sonne verwandelt in jeder Sekunde vier Millionen Tonnen Materie in Energie. Sun ist eine Jägerin, aktive Substanz. Wer ihr zu nahe kommt, verliert alle Bodenhaftung. Im Sommer 1969, als die Welt gespannt auf den Flug von Apollo 11 wartete, fragte die Zeitschrift Esquire populäre Persönlichkeiten nach ihren Vorschlägen, hinsichtlich erster Worte nach der Mondlandung, und Sun Ra, damals auf dem Höhepunkt seines Ruhms, antwortete: „Reality has touched against myth / Humanity can move to achieve the impossible / Because when you’ve achieved one impossible the others / Come together to be with their brother, the first impossible / Borrowed from the rim of the myth / Happy Space Age To You …“

„The Vodou Man“ Sun Ra (1914–1993) revolutionierte den Jazz und übt bis heute Einfluss auf eine Vielzahl von Künstlerkolleg*innen aus. 1952 legte er seinen Geburtsnamen Herman Poole Blount ab, nahm den Namen Sun Ra an, der auf den antiken ägyptischen Sonnengott verweist und war Teil einer Band mit ständig wechselnder Besetzung. Diese wurde als „Arkestra“ bekannt – eine Verbindung von Arché und Orchester – und wird seit 1995 von Marshall Allen geleitet. Seit 1969 beschäftigte sich Sun Ra intensiv mit den Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung, die Synthesizer boten. Er lieh sich von Robert Moog einen Minimoog, der erstmals auf den Alben „My Brother the Wind“ (1970) und „Space Probe“ (1974) eingesetzt wurde. Er war einer der produktivsten Musiker des Jazz. Im Laufe seiner Karriere nahm er hunderte Alben auf, von denen viele von winzigen Plattenfirmen veröffentlicht und daher nur in kleinen Auflagen vertrieben wurden. Er veröffentlichte seine Musik zeitweilig (für die damalige Zeit außergewöhnlich) auf seinem eigenen Plattenlabel Saturn und vertrieb sie über den Versandhandel. So blieb Sun Ras Musik dem großen Publikum, das ihn nicht auf Konzerten erleben konnte, unbekannt. In den 1990er-Jahren wurden viele seiner Aufnahmen zum ersten Mal postum auf CDs beim Plattenlabel Evidence veröffentlicht. „Strange Strings“ (1966), eines seiner frühen Alben, wurde 1998 in die Liste „100 Records That Set the World on Fire (While No One Was Listening)” der Zeitschrift The Wire aufgenommen.

Tom Bogaert (1966 in Brügge, Belgien, geboren), eine Hälfte des haitianisch-belgischen Künstlerduos Lafleur & Bogaert, arbeitet seit geraumer Zeit an und mit dem Phänomen Sun Ra. Bogaerts Werke gründen oftmals auf einer aktivistischen Geisteshaltung, was die beiden Künstler zu verbinden scheint. Er praktiziert Kunst mit einem Bewusstsein für den politischen Rahmen, dem sie entspringt. Seit 2016 vergibt das afo architekturforum oberösterreich Residencies an Architekt*innen und Künstler*innen, die sich mit den Themen Raum, Architektur und Stadt auseinandersetzen und lud 2021 Bogaert nach Linz ein. Mit „Ruining the City“ installierte er im Zuge dessen eine Arbeit aus Agar-Agar über dem Bronzemodell am Schlossberg, das Linz um 1800 zeigt. Die Masse war sowohl Nahrung als auch Habitat für eine Ameisenkolonie, die nach und nach ihren gesamten Lebenszyklus um die Skulptur organisierte und sie in einem natürlichen Verfallsprozess wieder zum Verschwinden brachte. Inspiriert von Überlegungen des Architekten und Theoretikers Eyal Weizman zu Analogien zwischen tierischen Befallsformationen und urbanen Kampfstrategien, beschränkte sich Bogaert nicht auf die physisch sichtbare Stadtrealität, sondern thematisierte eine zweite, „archäofuturistische“ Stadt, wie sie sich aus der Vorstellung ihrer Bewohner*innen materialisiert.

Im Anschluss an seinen Aufenthalt installierte Bogaert sein laufendes Forschungsprojekt „Sun Ra Ra“ im bb15, zu Leben und Werk des Afrofuturisten Sun Ra. Bogaert war und ist inspiriert von der apokryphen Geschichte des legendären afroamerikanischen Jazzpioniers und Mystikers Sun Ra, der behauptete, nicht von der Erde, sondern vom Planeten Saturn zu stammen. Darin fanden die Besucher*innen die Ästhetik Sun Ras auf den Raum und dessen Exzentrik auf die Musik – der vor dem Lichte existierenden – angewandt. Es glitzerte und knisterte in Bogaerts nicht sequentieller interkonnektiven Klangarbeit in drei Teilen, die aus bisher unveröffentlichten Aufnahmen des traditionellen haitianischen Rara-Songs „Fize Nimewo Nèf“, Sun Ras „Rocket Number Nine“ und „Rakete Nummer Neun“, einem neuen Track der in Wien lebenden Klangkünstlerin Masha Dabelka, besteht. Ebenfalls zu sehen war „The Sun Ra in Haiti Library“ – eine Sammlung von Musik, Videos und gedruckten Bildern, die der Untersuchung des Erbes von Sun Ra in Haiti dient, mit der Bogaert bereits 2015 anlässlich der 4. Ghetto Biennale begann.

Bei der Erzählung von Sun Ra in Haiti, auf die sich seine Library stützt, dürfte es sich (auch) um einen Mythos handeln, der einen weiteren interessanten Aspekt zwischen realer oder imaginierter Präsenz von Sun Ra darstellt. So heißt es in einer alten Ausgabe des Lonely Planet, auf die Bogaert stieß, als er sich gerade mit dem Besuch Sun Ras in Ägypten in den frühen 1970er-Jahren beschäftigte: „There are a few stories that you might hear in Port-au-Prince: that Sun Ra lived here on and off for a few years in the 1960s. That he owned a Gingerbread house that you now can stay in, or maybe it’s a restaurant you can eat at. He stayed in quite a few other places. He stayed in a campervan, or perhaps, a tent. He tried to buy Hôtel Oloffson. He composed ‘Rocket Number Nine Take off for the Planet Venus’ in Port-au-Prince. He signed a photo of himself that now graces the walls of a local restaurant. He wanted to adopt a Haitian boy. He sired various children. He shared a room with Graham Greene.“ Was Bogaert dann auf den Straßen hörte, ließ ihn glauben, dass dies wahr sein könnte. Zudem fand er heraus, dass die Wurzeln dieses legendären Stücks Musikgeschichte in dem traditionellen Rara-Song „Fize Nimewo Nèf“ zu finden sind. Ra-Ra ist eine Art von Festivalmusik aus Haiti, die hauptsächlich während der österlichen Karwoche bei Straßenumzügen gespielt wird. Dabei kommen zylindrische Bambus- oder Me­talltrompeten (vaccine) zum Einsatz, die oft aus Kaffeedosen recycelt werden. Zudem werden Trommeln, Maracas, Güiras, Güiros und Metallglocken verwendet. Mit den vaccines werden wiederholende Rhythmen gespielt, die dazu auch mit einem Stock gestrichen werden, während in sie hinein geblasen wird. Bei aktuelleren Umzügen werden auch konventionelle Trompeten und Saxophone verwendet. Der Musikstil basiert zu einem großen Teil auf der Kultur der afrikanischen Einwanderer, beinhaltet aber euch Elemente der Taíno-In­dia­ne­r*innen, wie die Verwendung der Güiros und Maracas. Rara-Lieder werden ausschließlich in Haitianisch aufgeführt und zelebrieren die afrikanischen Wurzeln der Afro-Haitia­ne­r*innen. Während der Prozession wird häufig Voodoo praktiziert. Die Texte behandeln oft soziale Themen wie politische Unterdrückung und Armut.

Bogaert lud die Band Kod Kreyòl ein, Sun Ras „Rocket Number Nine Take off for the Planet Venus“, das 1966 auf Sun Ras eigenem Plattenlabel veröffentlicht wurde, (neu) zu interpretieren. Auf einem Konzert, das 2015 in der Innenstadt von Port-au-Prince stattfand, performte die Band „Fize Nimewo Nèf“ gemeinsam mit Masha Dabelkas „Rakete Nummer Neun“. „Here comes the sun do, do, do / Here comes the sun“ und erhält alles Leben auf der Erde, leuchtet uns, erwärmt den Boden, die Meere, die Atmosphäre, steuert das Klima, bringt Trockenperioden und Eiszeiten, treibt den Wind, der über die Erde weht und unser Wetter bestimmt. Ihre Stürme stören Radioverbindungen, verursachen elektrische Entladungen und markieren sogar die Baumringe mit Radioaktivität. „Here comes the sun do, do, do / Here comes the sun / And I say it’s all right.“

 

Referenzen: „When Sun Comes Out“ war die erste Platte auf Sun Ras Label Saturn, die in New York aufgenommen und 1963 veröffentlicht wurde; „Here Comes The Sun“ vom Album „Abbey Road“ (1969) der Beatles.

Die Ausstellung Sun Ra Ra war vom 10.–20. Oktober 2021 im bb15 – Raum für Gegenwartskunst zu sehen. Aktuelle Ausstellung im bb15: www.bb15.at

Buchneuerscheinung

Lisa Bolyos, Carolina Frank Mich hat nicht gewundert, dass sie auf Mädchen steht. Gespräche mit Eltern queerer Kinder

In 18 Porträts widmen sich die Autorin Lisa Bolyos und die Fotografin Carolina Frank der Elternperspektive aufs Coming-out von schwulen, lesbischen, bi, trans, inter und nonbinären Kindern.
Eine Chirurgin, eine Kindergärtnerin, ein pensionierter Psychiater, eine migrantische Aktivistin und ein Installateur: Auf beeindruckende Weise gewähren Eltern, Großeltern und Tanten einen Einblick die Beziehung zu ihren Kindern, in die Konflikte, die es auszutragen galt, die Wünsche und Hoffnungen, die sie für das Leben ihrer Kinder hegen, aber auch die Sorgen, die ihnen politische Entwicklungen machen. Sie erzählen von Tabus und Überraschungen, vom Schweigen und vom Streiten, von der ersten Barbiepuppe und der ersten Regenbogenparade. Das Buch will al­le Beteiligten ermutigen, sich auf die anstrengende, aber immer lohnende Reise zu machen, Tabus zu überwinden und miteinander zu reden.
Mit einem Geleitwort des Psychotherapeuten Udo Rauchfleisch.

Voraussichtliche Präsentation am 10. Februar auf Einladung von gfk und maiz in Linz.

Achse Verlag 2021, 280 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-9504831-9-2 www.achseverlag.com/produkt/mich-hat-nicht-gewundert-dass-sie-auf-maedchen-steht/

Termine Buchpräsentationen: gespraechemitelternqueererkinder.weebly.com

Bei mir ist alles bis zum Schluss verhandelbar

Zwei ästhetisch sicher gratwandernde Ausstellungen des vergangenen Herbstes: Matthias Tremmel zeigte sug zansibar fried war im EFES 42 in Linz, Edgar Lessig stellte I thought I wanted to be there, but I wasn’t sure in der Stiege 13 in Wien aus. Die Referentin hat Edgar Lessig und Matthias Tremmel eingeladen, sich über ihren Zugang zu Kunst, zu Material und den Dingen zu unterhalten.

M: Und jetzt sitzen wir in einem Café in St. Pölten und unterhalten uns für die Referentin.

E: Ja, weil St. Pölten genau in der Mitte liegt, wenn man von Tür zu Tür rechnet. Ich habe extra auf Google Maps nachgeschaut. Hast du dir was für unser Gespräch überlegt?

M: Hör zu, was hältst du davon: Ich finde, dass unsere künstlerische Herangehensweise an die Projekte, die wir machen, sehr ähnlich ist. Nur diametral anders. Im Prinzip sind wir beide Trichter. Nur die Orientierung ist anders. Meine Arbeiten sind ein eher breit gefasster Trichter, damit Leute hineinrutschen können. Fast wie Lupen, die irgendwo hindeuten – möglicherweise auf etwas Diffuses, schwer zu sagen. Bei deinen Arbeiten ist es umgekehrt. Die sind konzentriert, klar und konkret, aber schwer zum Einklinken. Die kleine Öffnung des Trichters eben. Aber wenn man sich dafür einmal eingeklinkt hat, kommt man in die Weite.

E: Das ist eine spannende Überlegung.

M: Zum Beispiel deine Ausstellung in der Stiege 13, da muss man dich und das Ganze schon kennen, damit man zur Arbeit hinkommt, oder?

E: Ich wüsste es nicht, weil ich mich selbst zu gut kenne. Ich kann nur das wiedergeben, was mir manche Besucher:innen gesagt, und ich recht schön gefunden habe. Die kannten meine Arbeiten nicht wirklich, sind in die Ausstellung gegangen und haben mit dem Ausstellungstitel schon einen Zugang zu der Sessel-Arbeit gehabt. Sie haben sich gefragt, ob tatsächlich irgendwas stattgefunden hat, ob sie zu früh oder zu spät sind und haben dann angefangen zu philosophieren: Ab wann wird aus dem zu spät ein zu früh? Weil, wenn du nach einem Treffen die benutzen Sessel wieder zurückstellst, kreierst du ja quasi das Potenzial des erneuten Herunternehmens. Und das von Leuten zu hören, die den Ausstellungstext von Jasmin Mersmann vorher nicht gelesen haben, fand ich total schön! Aber ich bin mir auch bei deiner Ausstellung im EFES 42 nicht sicher, wie viele Leute deine eigene Interpretation der Arbeit herauslesen konnten.

M: Das ist ja generell nicht möglich, meine Arbeiten können ja nur für mich vollkommen funktionieren. Für alle anderen funktionieren sie als Show. Mein Ansatz bei jeder Arbeit ist immer: Wenn eine Person zufällig so daherkommt, muss sie irgendwie Spaß am Raum finden können. Aber natürlich haben andere keine Chance, sich in mein Verständnis einzuklinken. Meine Arbeit ist für alle offen, aber die Chance, die Interpretation so wie ich zu entschlüsseln hat niemand.

E: Wenn man sich reinfuchst, kommt man aber vielleicht nah ran. Du hattest einen Begleittext aufliegen, der nur aus einem Satz besteht: „What is a knockout like you doing in a computer-generated gin-joint like this?“. Ich hab den Satz einfach gegoogelt und dann erkannt, dass er aus ‚Star Trek: The Next Generation‘ ist. Es geht um dieses Holodeck, konkret um eine Episode, in der eine Bar darin generiert wird. Damit hatte ich dann für mich einen Zugang gefunden. In der Ausstellung sehe ich dann grün angemalte Pommes, und habe sofort eine Verbindung zu eben diesem Holodeck hergestellt. Der Begleittext funktioniert ein wenig wie ein Easteregg in Computerspielen. Er ist nicht notwendig, um deine Arbeit zu erfassen und um Spaß daran zu haben. Aber wenn man ein wenig Arbeit reinsteckt, fühlt man sich wie ein König, weil man hinter die Kulissen schauen konnte.

M: Wie bei deiner Foto-Plakatarbeit eigentlich. Da sitzen 5 Leute dichtgedrängt auf einem Sofa, hinter ihnen der Titel der Ausstellung „I thought I wanted to be there, but I wasn’t sure“ auf einem riesigen Plakat und schauen dich an. Und im zweiten Raum die leeren Stühle.

E: Genau! Das habe ich ja auch gemacht, damit man hinter die Kulissen schauen kann. Um einen kurzen Blick auf meine Interpretation der Ausstellung zu bekommen.

M: Diese ganze interne Kohärenz, die man als Künstler:in ins eigene Werk steckt, ist dir schon wichtig, oder?

E: Ich brauche diese Struktur einfach, damit Arbeiten überhaupt entstehen können. Es gibt so unglaublich viele Möglichkeiten und Entscheidungen zu treffen, da brauche ich eine gewisse Kohärenz, um zu einer Entscheidung zu kommen.

M: Aber hat man wirklich eine Auswahl an Möglichkeiten? Also sicher stehen theoretisch unendlich viele Möglichkeiten zur Auswahl, aber tatsächlich gibt es nur eine: die Möglichkeit, die zum Kunstwerk passt und die es zu finden gilt, oder?

E: Stimmt schon, aber ich muss mir zuerst einen Rahmen schaffen, damit ich darin überhaupt erst die eine richtige Möglichkeit finden kann.

M: Sicher, Strukturen und Grenzen muss es geben, aber das sind für mich oft nur die Räumlichkeit und die Zeitlichkeit. Weiter traue ich mich gar nicht zu begrenzen. Davor schrecke ich zurück, habe sogar Angst davor.

E: Ich auch.

M: Aber machst du es nicht?

E: Ja, mittlerweile. Aber es ist gruselig, weil ich Angst habe etwas zu verpassen. Aber irgendwo gibt‘s mir sogar Sicherheit. Irgendwo muss ich anfangen, Entscheidungen zu treffen, damit ich weiterkomme, um sie nachher wieder revidieren zu können.

M: Bei mir ist alles bis zum bitteren Schluss verhandelbar. Alles ist möglich und das Ding ist erst fertig, wenn die Ausstellung steht. Davor kann sich alles jederzeit ändern.

E: Ich glaube aber schon, dass auch du schon davor Entscheidungen triffst. Die Materialien standen zum Beispiel schon am Anfang der Ausstellung fest: Holz, Pommes und dieses Wolkenmaterial. Dein Rahmen sozusagen, und wie sich das Material dann zu einer Arbeit manifestiert, das ist dann die zu suchende einzige Möglichkeit.

M: Sie standen nicht wirklich fest, sie haben sich eher ergeben, aber auf alle Fälle bewege ich mich auch in Rahmen, wenn auch nur, um sie wieder zu brechen. Mir kommt oft vor, ich stolpere durch Rahmen wie ein Clown in der Manege.

E: Es hat bei deiner Ausstellung übrigens erstaunlich wenig nach Frittierfett gerochen.

M: Naja, beim Aufbau hab ich ja jeden Tag drinnen frittiert. Da war der Geruch wirklich omnipräsent. Ich hab’s aber schon gar nicht mehr gerochen.

E: Aber dir war der Geruch dann zu viel?

M: Ich hab ja schon mehrere Arbeiten mit Fritteusen gemacht und Frittiergeruch ist halt ein extrem potentes ästhetisches Mittel, das übertüncht viele andere Sachen. Ich wollte es nicht nur auf diesen Fritteusen-Geruch reduzieren. Darum hab ich davor auch radikal gelüftet. Und dabei halt eine Spur zu viel. Ich hätte gern gehabt, dass der Geruch erst auftritt, wenn man schon eine Weile drinnen ist.

E: Ist aber auch schwierig, sowas in so einem offenen Raum zu kontrollieren.

M: Ja, aber es ist auch egal. Er war nicht so notwendig, weil das Visuelle ja eh so aufregend war. Das orange Licht plus dem Frittiergeruch wären als sinnlicher Eindruck zu viel gewesen.

E: Es ist spannend, wie gewisse Elemente bei dir immer wieder kommen, aber sich anders präsentieren. Du hast gemeint, diesmal war es weniger chaotisch, oder wie hast du das gesagt, konzentrierter?

M: Sicherer, ich war mir diesmal sicherer. Ich glaube meine Arbeiten der letzten sechs Jahre waren teils sehr überladen aufgrund einer Unsicherheit meinerseits. Eben weil ich will, dass alle was von der Arbeit haben und dafür muss man eben eine große Bandbreite von Wahrnehmungen abdecken. Das Visuelle, das Haptische, das Rezeptionelle. Auch diese gewisse Unschärfe, ob es nun ein Kunstwerk ist oder nicht, ist notwendig, damit man die Kunstleute ein bisschen davon abhält, eine Arbeit zu schnell zu kategorisieren.

E: Was ja immer ein bisschen schwierig ist, wenn man in einem Kunstraum ausstellt.

M: Sowieso, aber möglich!

E: Das habe ich auch mit den Arbeiten in der Stiege 13 versucht. Ich hab herumphantasiert, was diese zwei übereinanderliegenden Räume mal gewesen sein könnten und dann das Narrativ geschaffen, dass es ein Versammlungsort war. Das war Basis dieser Arbeit und dann stehen einfach Stühle drinnen und ein Foto-Plakat hängt an der Wand. Und dann waren eben Leute verwirrt. Es ist ja witzig, wenn man Leute aus der bildenden Kunst verunsichert, aber wenn man ehrlich ist, checken alle, dass es eine künstlerische Arbeit ist, weil es in einem Kunstraum stattfindet.

M: Nach zwei Sekunden checken sie es vielleicht, aber in den ersten Sekunden ist ein Zweifel da, und den sollte man anvisieren. Aber man darf eine Arbeit nicht nur auf diesen Zweifel reduzieren. Trotzdem braucht jede Arbeit eine gewisse Unsicherheit in der Wahrnehmung, damit offener und freier wahrgenommen werden kann. Aber diesen Moment zu erzeugen, in dem man sich unsicher ist, was es nun ist, ist ein Balanceakt, wo man leicht zu viel oder zu wenig machen kann. Bei meiner Arbeit „gebühnt tranchiertes narrationsimulativ_guerilla-ontologische machination“ bei der Ausstellung „eben“ im Salzamt, hats ja zum Beispiel Bretter, Teppich, Gelatine, Video, Eier, Keramik, Sesam, Plastikbesteck und Neonlicht gegeben. Und das ist schon eine krasse Überladung, die abstoßend werden kann. Bei dieser Überforderung kann man sich dann eher schwer einklinken.

E: Naja, aber alle deine Arbeiten sind eine Überforderung.

M: Findest du die EFES 42-Ausstellung war auch eine Überforderung?

E: Auf jeden Fall. Aber nicht in der Fülle des Materials, sondern eher wie du es benutzt hast. Du gehst da rein und siehst irgendwelche Holzstangerl emporstehen in denen grüne Dinger drinstecken. Dann erkennt man, dass es angesprayte Pommes sind, oben hängen irgendwelche Plüscherl, die das Licht färben und unten schweben Holzbretter knapp über dem Boden. Und man selbst steht mittendrin. Genau diese kurze Überforderung macht Tabula rasa mit deiner Erfahrung und dadurch lernt man die Arbeit neu kennen.

M: Lustig, weil ich war so stolz darauf, dass es so eine ruhige Arbeit ist.

E: Sie ist eh ruhig, aber sie kann ja trotzdem überfordern. Mein Lieblingsvergleich ist die Ausstellung in der Secession von Daniel Dewar & Grégory Gicquel, die Kommoden, Reliefs und eine Bank geschnitzt haben. Diese Bank stand dort, wo normalerweise eine Museumsbank stehen würde. Und dort stand nicht „Bitte hinsetzen“, es stand auch nicht „Bitte nicht hinsetzen“. Es stand nämlich gar nichts da, das ist total überfordernd, weil dir nicht gesagt wird, was zu tun ist. Aber es ist halt nur im ersten Moment überfordernd. Und wenn man diese Überforderung überwinden kann, gewinnt man Entscheidungsfreiheit.

M: Voll, eine Art Handlungsraum, der eine eigene Wahrnehmung ermöglicht. Es ist damit fast schon emanzipierend. Ich finde, Kunst sollte ja eigentlich immer subversiv sein.

E: Darum denke ich, dass Überforderung prinzipiell nichts Schlechtes ist. Es ändert auf radikale Weise deinen Anspruch und deine Sehgewohnheit auf dieses Ding.

M: Wahrscheinlich kommt es drauf an, wie man sich einer Überforderung stellt. Es gibt ja ganz tief in uns diese acute-stress-response, zu Deutsch Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Dabei reagiert man auf eine Überforderung, also auf einen momentanen Kontrollverlust, entweder konfrontativ oder fliehend. Also man macht einen Schritt nach vor hin zum Unbekannten, oder halt ganz viele zurück ins Bekannte.

E: Das ist eine super Schluss-Analogie, oder?

M: Eigentlich schon irgendwie.

 

Edgar Lessig ist in der Kunst zuhause, geht aber ab und zu auch mal vor die Türe. Er hat Bildende Kunst an der Kunstuniversität Linz studiert und macht dort gerade seinen Abschluss in Angewandte Kultur- und Kunstwissenschaften. Zuletzt hat er in der Stiege 13 in Wien ausgestellt. www.edgarlessig.com

Matthias Tremmel bevorzugt seine narrativ-simulierten Kunstwerke gerne auch punktgenau frittiert. Nach einem Zwischenspiel als Keramik-Werkstättenleiter an der Kunstuniversität Linz widmet er sich nun wieder vermehrt der Bildenden Kunst. Zuletzt stellte er im EFES 42 in Linz aus.

14 haltepunkte zu airbag/14 holes

Das bb15 ist ein zeitgenössischer Artspace, der sich auf experimentelle Zugänge zwischen Ausstellungen, Performances, Sound und anderem fokussiert. Zuletzt entstand die Idee, externe Artists der Residency-Schienen mit lokalen Künstler:innen zusammenzubringen, die sich auf Text spezialisiert haben. So traf Lukas de Clerks Residency-Arbeit Airbag/14Holes vom Mai dieses Jahres auf Sarah Rinderer: 14 haltepunkte zu airbag/14 holes besteht als eigenständiger Text von Sarah Rinderer und gibt einen Eindruck des Aufeinandertreffens.

Airbag/14Holes by Lukas de Clerck im bb15 im Mai 2021. Videostill/Video Sara Piñeros

[1]
polyestergewebe, das langsam beginnt, sich vom boden zu heben. ein kinderspiel, in dem zwei spieler jeweils einen ball im luftstrom über sieben kegel grün gelb blau rot grün gelb blau in den korb schweben lassen. jetzt ohrenstöpsel darin.
schläuche – glass clear – führen von den kegeln nach oben, verknoten sich, verästeln sich weiter zu clustern, münden – mit klebeband befestigt – in den kopfstücken gesammelter blockflöten.
das luftkissen wächst nach und nach diagonal in den ausstellungsraum des bb15 hinein, in einem winkel von etwa 45°– derselbe, in dem man die blockflöte zum eigenen körper geneigt hält.

[2]
wir setzen uns an den donaustrand, um über seine arbeit zu sprechen. schattenverästelungen am boden, immer kleiner werdend. behutsam, leicht setzt er die englischen worte an die lippen an. bevor er mit der kunst begann, hat er das selbst-nicht-sichtbar-sein studiert: hiding away into sound. intuitively, non-chalant, child-like almost.

[3]
just listen
flatterzunge flimmerkammer
windkanal instrument
mundstück makroimprovisation
maschinenraum modulieren
schwimmen schief
gewöhnlich gleichschweben gigant
surround sound orgel
dudelsack dysfunktional
dauerspiel dröhnen
druck auf der brust

[4]

 

 

[5]
nicht alle kegel sind mit schläuchen und blockflöten verbunden.
der luftstrom kühl und überraschend stark, wenn man die hand über das loch an der spitze hält.

(grün gelb blau rot gelb blau)

[6]
hast du irgendwo noch eine blockflöte zuhause? wann wie was hast du auf ihr gespielt? hast du es gemocht? wie wurde dir beigebracht, dass musik klingen soll? und wie lange ist deine blockflöte schon still? seit wie vielen jahren hast du nicht mehr auf ihr gespielt?
(fragen für ein persönlich-warmes gespräch)

[7] donaurauschen. die zwei haltepunkte der blockflöte: an der unterlippe und beim hinterständig positionierten rechten daumen. er streckt die beine aus, erzählt von seinen musikalischen haltepunkten. synthesizersounds von éliane radigue, von daphne oram, von delia derbyshire.
vom umgang mit einem noch nie dagewesenen instrument.

[8]
not in a musical way
pleura parasit
sauerstoff pfeifen
ventile beatmungs-
maschine atemkreislauf
luft röhrensystem
oberton bronchiolen
außergewöhnlich anhaltend
vibrieren des bodens
unter den schuhsohlen

[9]
(sein international recorder flute asylum)
alt sopran holz plastik
mit maserung matt glänzend abgeschlagen fehlende lacksplitter
nicht mehr ganz weiß
blau die oberen beiden löcher mit schwarzem gaffaband zugeklebt
bei einer anderen die großbuchstaben der früheren besitzerin eckig ins holz geritzt
LORE

[10]
dü le re te re te che
diri tiri did’ll

(verstimmen verlernen vergessen spielen)

[11]

 

 

[12]
sein schnelles daumen-auf-und-ab
zittriges vibrato
der roten plane
über dem gebläse

[13]
kaum wind am donaustrand. traditional folklore music is inspired by nature, imitates the sounds of nature, sagt er. today – schaut einem motorboot nach, das einen wasserschifahrer durch unser sichtfeld zieht – we need to imitate the sounds of machines, become machines.

[14]
now i’ve talked a lot.
das luftkissen, das langsam beginnt, in sich zusammenzufallen.
hellhohes seufzen knistern knittern wogenfalten wie wasser.
ertrinkend in luft.
my mouth feels really dry.
er sinkt nach hinten auf den rücken ins gras,
das polyestergewebe,
grüngelbblaurot,
zurück auf den boden des ausstellungsraums des bb15.

 

14 haltepunkte zu airbag/14 holes von Sarah Rinderer ist ein eigenständiger Text, der gelesen werden kann, ohne direkt auf die Ausstellung hinzuweisen. Wer trotzdem einen Eindruck der Arbeit Airbag/14Holes von Lukas de Clerck haben möchte: oscillations.eu/airbag-14-holes

Airbag/14Holes ist eine hybride Klangskulptur von Lukas de Clerck, die irgendwo zwischen Dudelsack, Orgel und Kinderspielzeug liegt. Zur Klangerzeugung werden Blockflöten verwendet, die nach kurzer Erkundung in der Jugendzeit nie wieder gespielt wurden. Eine nomadisierende Gruppe von Blockflöten wurden zu einem Blockflöten-Asyl im bb15 zusammengesammelt. Airbag/14Holes versorgte diese Flöten mit Luft. Eine schwere, kontinuierliche Interaktion zwischen den Flöten erzeugte den entstehenden Klang, gleich einer dysfunktionalen Orgel, die nach einer langen Zeit der Stille endlich ihre Stimme findet. Während seines Aufenthalts im bb15 hat Lukas De Clerck Airbag/ 14Holes als sein Instrument verwendet.

Lukas De Clerck lebt und arbeitet in Brüssel. Er arbeitet mit wiedererkennbaren, fast alltäglichen Klangproduktionen. Damit schafft er zugängliche Spielwiesen. Er ist Teil des Collectief Publiek Geluid – einem Kollektiv, das sich auf die Klanggestal­tung im öffentlichen Raum konzentriert, und mehrerer Musikprojekte wie 2GIRLSNAMEDSERGIO, Ï Î und Bloedneus & de Snuitkever. www.lukasdeclerck.com

Ankündigungsplakat

King Poet Flati

Ende Oktober hat der King Poet Flati im Kulturverein Strandgut 40 Jahre Amerikanische Underground Ghetto Blaster Hardcore Poesie gegeben – Florian Klabacher hat die Lesung besucht und Flati zum Gespräch getroffen.

Ankündigungsplakat

Ankündigungsplakat

„Flati heute 21 uhr strandgut …“ – „I know, seh ma uns leicht dann? :D“ – „Klaro bin schon da, aber derzeit samma zu zweit und er droht quasi mit absagen … Bitte nimm so viele mit wie mögl“: Seine Lesungen in Linz besuchen wollen ist ein bisschen wie Guns’n’Roses-Konzertkarten haben. Erst wenn’s losgeht, bist du ganz sicher, dass es stattfindet. Der König der Undergroundpoeten tritt in diesem „bäuerlichen Provinzkaff“ nämlich nicht vor einem halb leeren Raum auf, „des intressiert mi ned, in Wien san de Hütten voll“. Aber als am 28. Oktober die letzten Raucher*innen ihren Tschick ausdämpfen und den Kulturverein Strandgut betreten, finden auch hier wie gewohnt nicht mehr alle einen Sitzplatz. „Ich befinde mich am frühen Vormittag in einen heruntergekommenen Stundenhotel am Stadtrand von Las Vegas …“ beginnt Gerald Wilhelm a.k.a. King Poet Flati die Premiere seines neuen Textprogramms „Meine Hitze-Erlebnisse von Nevada“.

In den nächsten siebzig Minuten nimmt uns Flati unter anderem mit in eine Barackensiedlung in Sacramento, zum Koksschmuggeln nach Tijuana, zur Sauftour in einen Großmarkt in Inglewood, zur mörderischen Höllen-Geisterbahn in Los Angeles, auf einen illegalen Flohmarkt und zur Auseinandersetzung mit einem Gerichtsvollzieher. Die Rahmenelemente und handelnden Personen in den Texten sind recht konstant die gleichen wie schon über Jahre hinweg: Tiefe Bars, heruntergekommene Stundenhotels, stinkende In­nen­höfe, verfallene Altbauwohnungen, ein alter Ford Mustang, brutale Bullen, Drogendealer, Highways, Gangster, ungute Typen, alte Kumpel, Tresenkellner und mitten drin Flati, der handelnde Erzähler: Interne Fokalisierung, szenisches Präsens, eine protokollartige Wiedergabe der Geschehnisse. Als hätte er eine Allergie auf Satzschlusszeichen rast er von Beistrich zu Und, von Sodass zu Indem, und solange nicht ein, zwei abrundende Grasjoints „zu meinem Wohlbefinden“ geraucht werden, lässt er die Erzählung höchstens beim Umblättern kurz zur Ruhe kommen. Die Form der Texte widerspiegelt ihren Inhalt: In der Grammatik die ruinöse Umgebung, in der Aussprache von Fremdwörtern die Outlaws, die sie bevölkern. Es ist ein eigener Reiz, das Gehörte in Echtzeit zu entschlüsseln. Die Intensität, mit der er die Texte in den Raum schmettert, hat kurz vor Flatis vierzigjährigem Bühnenjubiläum etwas nachgelassen, aber er nimmt dich immer noch mit auf einen ganz eigenen Trip, wenn du dich darauf einlässt. Es ist ein unglaublich unterhaltsamer Abend.

Ein großer Teil des Publikums ist wohl noch nicht geboren, als Flati im November 1981 zum ersten Mal die Bühne der Stadtwerkstatt betritt. Dort bringt er als Autor und Schauspieler vier Theaterstücke auf die Bühne. Der gebürtige Linzer und deutsche Staatsbürger wird kurz darauf nach Deutschland abgeschoben, kann jahrelang nicht zurückkehren, schnuppert in Berlin zum ersten Mal Großstadtluft und fokussiert auf das Schreiben seiner Underground Poesie. Bewusst geht er in Bars, von denen ihm Leute abraten, weil sie zu gefährlich seien. Er fühlt sich dort wohl, kommt mit den Leuten gut zurecht, freundet sich unter anderem mit Mitgliedern der Hells Angels an, lernt die Hausbesetzer*innenszenen deutscher Großstädte kennen und reist per Autostopp mit LKW-Fahrern. Er hat immer Stift und Block dabei und schreibt drauf los, wenn ihm die Umgebung Inspiration für neue Texte liefert, zu Hause tippt er das Geschriebene mit der Schreibmaschine ab. Er knüpft viele Kontakte, über die er immer wieder erfolgreiche Lesungen organisiert. Es folgen über die Jahrzehnte Auftritte in Grieskirchen, Wels, Wien, Bochum, Hamburg, Berlin und vielen anderen österreichischen und deutschen Städten, in der Vergangenheit oft mit musikalischer Begleitung, kombiniert mit Trommel- oder Tanzeinlagen oder indianischem Gesang, mittlerweile aber bewusst reduziert auf den Vortrag der Texte, auf deren Inhalt der Fokus liegen soll.

Bemerkenswert ist, dass Frauen darin keine selbständige Rolle spielen (zumindest nicht in den mir bekannten Programmen). Kommen Frauen vor, dann in vergangenen Programmen fast ausschließlich, wenn er mit ihnen flirtet oder darüber hinaus sexuell in Beziehung steht; ihre Charakterisierung geht dabei nicht über ihr äußeres Erscheinungsbild hinaus. Bei der Premiere im Strandgut kommt als einzige Frau eine Sexarbeiterin, die er an einer Bar trifft, an der er „kein Interesse“ hat und der er einen Drink zahlt, vor.

Obwohl Flati bisher noch nicht in die USA gekommen ist, spielt sich sein Werk hauptsächlich dort ab. „Weil die Untergrund-Szene dort viel härter und gefährlicher ist“ als hierzulande und ein passenderes Umfeld für die Ereignisse in seinen Texten bietet. Sein Bild dieser Szene ist geprägt von Sonny Bargers Büchern über die Geschichte der Hells Angels und den Texten der für ihn wichtigsten Underground Poeten: Charles Bukowski, William S. Burroughs, Jack Kerouac, Allen Ginsberg, Neal Cassady und Jack London. Er kennt ihr Werk, ihre Wurzeln und ihre Biografien und erzählt leidenschaftlich davon.
Obwohl sich die Umgebung in seinen Texten nicht maßgeblich verändert, sind Flatis Lesungen auch nach vier Jahrzehnten erfrischend kreativ, er achtet auf Qualität statt Quantität „Es wird schwieriger, neue Texte zu schreiben. Weil ich habe schon so viele Texte, ich muss aufpassen: Habe ich das schon einmal geschrieben? Ich kann ja nicht dieselbe Geschichte zwei Mal erzählen“. Außerdem ist Flati in seinen Texten genauso wenig eine statische Figur wie im echten Leben. „In meinen wilden Jahren hab ich Gas gegeben und mir nix angeschissen, aber ich bin jetzt keine 35 mehr sondern 67“. Das spiegeln auch die neuen Texte wider: In vorangegangenen Programmen sucht Flati ständig die Konfrontation, ist in Schläger- oder Schießereien verwickelt und hat diverse Substanzen im Blut. Jetzt schmuggelt er das Zeug zwar in die USA, weil er von seiner Poesie alleine nicht leben kann, zieht aber im ganzen Programm keine einzige Prise Koks. Statt sich im Ford Mustang Verfolgungsjagden mit der Polizei zu liefern, fährt er meist im Schritttempo oder stellt den Wagen auch mal ab und geht zu Fuß durch Inglewood, weil das sehr gesund sein soll. Und beim Tresenkellner bestellt er schon mal Apfelsaft oder Limonade statt Whisky. Flati ist authentisch und dabei weit davon entfernt, langweilig zu werden.

Damit zieht er neben treuen Fans auch immer neues, junges Publikum an. Einerseits wohl über die immer wieder auffälligen Plakate – ein alter Bekannter druckt sie kostenlos mit dem Farbkopierer, um ihm Kosten zu sparen, andere kutschieren ihn mit dem Auto durch Linz und Wien, um das Plakatieren zu erleichtern, die Lesungen und Bewerbung organisiert Flati nämlich selbst – andererseits weckt Flatis Auftreten mit Stars-And-Stripes-Bandana, King-Poet-T-Shirt und Totenkopf-Schmuck auch bei persönlichem Kontakt Interesse. Eine Krankenpflegerin, die die Lesung im Strandgut mit einer Hand voll Freund*innen besucht, erzählt, dass ein Patient auf ihrer Station davon geredet hat, dass er für seine Lesung plakatieren gehen muss. Den Auftritt von dem schrägen Typen wollte sie sich nicht entgehen lassen.

Das Café Strom in der Stadtwerkstatt sieht Flati inzwischen in der Hand von „Ferngesteuerten, die die ganze Zeit am Bildschirm hängen“, eine Generation, die nur Techno hört statt „richtiger“ (nämlich am besten Rock-, Hardrock- oder Heavy-Metal-) Musik. Seine Stammlokale in der Linzer Altstadt, Asfalt und Corretto sind der aggressiven Verdrängungspolitik von Initiativen wie dem „Verein Altstadt neu“ zum Opfer gefallen und seit Jahren geschlossen. Das bisschen Underground in Linz, das Flatis Vorstellungen nahe kommen könnte, scheint vom Aussterben bedroht zu sein. Mit seinen Lesungen hält er dessen Fahne aber weiterhin hoch – hoffentlich noch viele Jahre!

Gira Zapatista

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie über frühe kämpferisch-soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. In dieser Ausgabe geht es um die aktuellen Autonomieprozesse des Zapatismus. Über die ‚Reise für das Leben‘, die die Zapatistas heuer bis nach Tirol geführt hat, berichtet uva obstinada.

Die Reise für das Leben. Foto zapatirol

Menschen, die bereits in den 90ern politisch aktiv waren, werden sich noch gut an den Beginn des Jahres 1994 erinnern. In der Silvesternacht 1993 besetzte der Ejercito Zapatista de Liberación Nacional/EZLN mehrere Städte des im Süden von Mexiko gelegenen Chiapas und erklärte dem mexikanischen Staat den Krieg. Das Datum war sehr genau gewählt. Am 1. Jänner 1994 trat das Freihandelsabkommen NAFTA in Kraft, das für viele Kleinbäuer*innen, die bereits zu diesem Zeitpunkt in elenden Verhältnissen leben mussten, existenzbedrohende Folgen hatte. Mit zivilen Protestformen versuchten die indigenen Bewohner*innen der Selva Lacandona zuvor immer wieder auf ihre miserablen Lebensumstände aufmerksam zu machen, ohne Gehör zu finden 1. Nach 12 Tagen zog sich die bewaffnete Guerilla wieder in die Berge zurück. Die zapatistische Bewegung begann daraufhin mit dem Aufbau autonomer, auf Solidarität basierender und selbstverwalteter Gesellschaftsstrukturen. Als antiautoritäre Bewegung stellten sie sich dem Versuch, eine neue Welt zu erschaffen, ohne die Macht zu ergreifen. Dies geschieht über ein basisdemokratisches Rätesystem und dem Prinzip des gehorchenden Regierens: Entscheidungen werden an der Basis getroffen und durch jederzeit abwählbare Delegierte über mehrere Instanzen bis zum Rat der guten Regierung wei­tergetragen, der für die Umsetzung verantwortlich ist.
Die Zapatistas setzten von Beginn an auf Internationalismus und globale Vernetzung. Gleichzeitig bot der Autonomieprozess und die gelebte Revolution der Zapatistas emanzipatorischen Bewegungen Inspiration und neue Perspektiven. Damit stieß der Zapatismus große, weltweite Proteste wie die Antiglobalisierungsbewegung mit an.
In Folge der Wirtschaftskrise 2008 begann der weltweite Aufstieg rechtsextremer Demagog*innen und die globale Marginalisierung linker Bewegungen. Die Aufbruchstimmung der 00er Jahre verflog zunehmend und die Kämpfe der Zapatistas bekamen immer weniger Aufmerksamkeit.

Im Oktober 2020 informierte das Geheime Revolutionäre Indigene Komitee (CCRI) in einem Kommuniqué über den Plan, dass verschiedene zapatistische Delegationen die Welt bereisen werden, um sich mit linken Basisgruppen auszutauschen und Kämpfe gegen Kapitalismus, Patriarchat, Rassismen oder Umweltzerstörung zu vernetzen.
In den Kommuniqués erklären die Zapatistas ihre Beweggründe für die Reise für das Leben: Die weltweiten Zerstörungen des kapitalistischen Systems werden zunehmend zu einer Bedrohung für die gesamte Menschheit. Als wollten die Zapatistas mit ihren Texten in Erinnerung rufen, dass all die Herrschaftsstrukturen, die so viel Leid verursachen, von Menschen gemacht sind und damit auch durch Menschen zu Fall gebracht werden können. Deshalb suchen die Compañeroas den Austausch mit Gleichgesinnten, um Gemeinsamkeiten zu finden, Unterschiede anzuerkennen, voneinander zu lernen und Organisierungsprozesse zu stärken.
Die Delegation besteht mehrheitlich aus Frauen*, umfasst 450 Personen, und setzt sich auch aus Menschen anderer indigener Organisationen zusammen. 180 machten sich trotz enormer staatlicher Schikanen auf den Weg nach Europa.
Eine erste Vorhut aus sechs Personen erreichte bereits im Juni 2021 per Schiff europäisches Land. Als umgekehrte Eroberung und anti-koloniale Antwort auf die Conquista und die Gräueltaten der einstigen Kolonialmacht ging die Delegation „500 Jahre nach der angeblichen Eroberung dessen, was heute Mexiko ist“ in Spanien an Land und benannte den neuen Kontinent in Slumil K‘axemk‘op (widerständiges Land) um. „Wir werden dem spanischen Pueblo (…) sagen: Erstens: Dass sie uns nicht erobert haben. Dass wir weiterhin da sind und Widerstand und Rebellion fortsetzen. (…).“ 2
Die Neubenennung Europas legt nahe, dass es der zapatistischen Bewegung nicht nur um die Sichtbarmachung der eigenen Widerstandsgeschichte geht. „Existimos, porque resistimos“ (wir existieren, weil wir Widerstand leisten) richtet sich auch an alle linken Aktivist*innen, die für eine gerechtere Welt kämpfen und vielleicht auch an all jene, denen die Kraft ausgegangen ist oder die den Kampf für eine gleichberechtigte Welt bereits verloren gegeben haben.
Obwohl die Reise mehrmals durch staatliche Schikanen gefährdet schien, war es Mitte September dann doch so weit: 180 Delegierte landeten in Wien und wurden dort mit einer Kundgebung und Willkommensveranstaltungen begrüßt. Nach Erarbeitung eines Reiseplanes wurden Kleindelegationen in verschiedene Länder und Städte entsandt.
So kam am 24. September 2021 auch die freudigst erwartete Delegation aus 6 Frauen* und 6 Männern in Innsbruck an. Das Ankunftsdatum wurde wenige Tage zuvor bekanntgegeben und erforderte eine schnelle Fixierung aller Veranstaltungsideen.
Ungefähr 60 Menschen waren gekommen, um die Compañeroas am Hauptbahnhof willkommen zu heißen. Nach einem Anfangsapplaus wurde schnell klar, dass es keinen Ablaufplan gab. So standen sich für einen Moment alle verlegen gegenüber, bis ein Aktivist aus der ZapaTirol-Gruppe zu einer Willkommensrede ansetzte. An einem Haus wurde ein großes Banner mit der Aufschrift Hola Compas Zapatistas entrollt und die Delegation mit Transparenten und Willkommensschildern zu den wartenden Autos auf der anderen Straßenseite begleitet. Nach einem gemeinsamen Abendessen gab es ein erstes Plenum, um den Compas das Programm für die nächsten zwei Wochen vorzustellen. Sie entschieden sich nach gemeinsamer Rücksprache dazu, alle Einladungen anzunehmen und bedankten sich für die Möglichkeit hier zu sein.
Am nächsten Tag fand eine Kundgebung vor dem mexikanischen Honorarkonsulat in Wattens statt. Kurz vor Ankunft der Delegation rief die zapatistische Generalkommandantur wegen zunehmender paramilitärischer Angriffe und der Finanzierung von paramilitärischen Gruppen durch den mexikanischen Staat zu Protestaktionen auf. Diese Art der staatlichen Gewalt wird auch als Krieg niederer Intensität bezeichnet. Ein Drittel des gesamten Militärs ist im dünnbesiedelten Chiapas stationiert und umstellt die befreiten Gebiete. Es kommt immer wieder zu Angriffen von Bundespolizei, Militär und Paramilitärs, neuerdings auch von Narcos, mafiaähnlichen Strukturen im Bereich des Drogenhandels. Viel deutet daraufhin, dass Gewalteskalationen drohen.
An den Folgetagen fanden verschiedene kleine, manchmal auch größere Gesprächsrunden statt. Der Austausch umfasste politische Kampffelder, Organisierungsprozesse, Strategien und Werkzeuge des Widerstands, aber auch den Umgang mit Konflikten. Die Compas teilten die Idee des Compañerismo mit uns, bei dem es um Vertrauensbildung, das Tragen von Verantwortung füreinander und das Zusammenwachsen als Gruppe geht. Gerade das Zusammenführen von verschiedenen Kämpfen war – so die Compas – in den ersten Jahren ein langer, schwieriger und konfliktreicher Prozess. Die Notwendigkeit der Aushandlung eines konfliktreichen WIRs wird von den Compas heute durch die Überzeugung getragen, dass jede*r das Recht hat zu kämpfen und für ihre*seine Rechte einzutreten. Als konkretes Beispiel erzählten die Compas, dass ihre Bewegung zu Beginn sehr patriarchal strukturiert war. Frauen* mussten sich ihren Platz darin erst erkämpfen und führten in Folge die revolutionären Frauen* ge­setze ein, die für alle FLINTAs* ein gewaltfreies, selbstbestimmtes Leben bei voller politischer Partizipation ermöglichen sollen. Bei einem feministischen Austauschtreffen erzählten die Compañeras* von den Veränderungen in ihren Pueblos: Die Haltung und Verantwortungsübernahme des ganzen Dorfes führten dazu, dass Frauen* nur mehr sehr selten von Gewalt betroffen sind.
Die Bereitschaft zur Suche nach selbstreflexiven, lösungsorientierten und transformativen Wegen der Konfliktbearbeitung beschrieben die Compas als wichtigen Teil ihrer Organisierung, um zu einem Kollektiv zusammenzuwachsen und Spaltungen zu verhindern.
Die Delegation traf auch zu einem Erfahrungsaustausch mit Menschen zusammen, die besonders stark von Entrechtung, staatlicher Gewalt und polizeilichen Repressionen betroffen sind: mit Menschen aus Afghanistan, Armutsreisenden und Geflüchteten, die im Abschiebelager Bürgelkopf isoliert und festgesetzt werden.
Ein Kinoabend, an dem Der Aufstand der Würde gezeigt wurde, bot den Rahmen für eine große und offene Veranstaltung. Das Interesse war riesig, der Kinosaal ausverkauft. Die Dokumentation informiert über die zapatistische Bewegung und die selbstorganisierten Gesellschaftsstrukturen und wurde den Compas per Flüsterübersetzung gedolmetscht. Nach dem Film gab es Raum für Gespräche, Ergänzungen und Fragen.
Die Zapatistas organisieren sich u. a. in landwirtschaftlichen Genossenschaften, in Frauen*kooperativen, mit solidarischen Vertriebsstrukturen und leben von Subsistenzwirtschaft. Deshalb gab es beim Besuch einer SoLawi und einer Kräuterwanderung die Möglichkeit, agrarökologisches und naturmedizinisches Wissen auszutauschen.
Beim feministischen Kampftag und einer FLINTA*-Platzbesetzung konnten die Compañeras* leider nicht mehr dabei sein, weil sie bereits am Vortag weiterreisten. Wie bei den encuentros feministas, den feministischen Treffen in Chiapas, übernahmen solidarische Männer die Carearbeit. Abends fand eine Demonstration statt, die für alle offen war und von einem FLINTA*-Block angeführt wurde. Dem Aufruf Eine andere Welt ist möglich! Kämpfen im Herzen der Bestie folgten neben zahlreichen Menschen auch die verbliebenen Compas. Am Ende der kämpferischen Demo wurde der Platz ohne Namen vor dem Landestheater, der in Zeiten des faschistischen Terrors erst Dollfuß- und später Adolf-Hitler-Platz hieß, zum Ni Una Menos Platz benannt.
Nach 14 intensiven Tagen gab es eine Abschlussreflexionsrunde, die ein Aktivist mit der Feststellung schloss, dass es längst nicht mehr nur darum geht, ob eine andere Welt möglich ist. Stattdessen haben wir schon lange den Punkt erreicht, an dem eine andere Welt notwendig ist. Gehen wir’s an!

1 Christian Schwaiger: Reise der Zapatistas nach Europa. In: Kreidekreis 4/2021, S. 18
2 Sechster Teil: EIN BERG AUF HOHER SEE. In: Tierra y Libertad-Nr. 82, S. 6

zapatirol.noblogs.org
zapalotta.org

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

Es fehlt an Mut. Es gibt Lichtblicke. Alles wird gut.

Wenn man Linz als Fahrradmikrokosmos sehen möchte, wartet man entweder auf den Urknall oder man sehnt den Weltuntergang und die damit verbundene Katharsis herbei. Meint Magnus Hofmüller.

So ist politisch zwar einiges in Bewegung geraten, bloß, ob die Richtung stimmt und der nötige Mut zugegen ist, wird sich zeigen. Der glücklose ehemalige Verkehrsstadtrat hinterlässt ein trauriges Erbe. Für sämtliche VerkehrsteilnehmerInnen. Der Neue, der sich im Wahlkampf ja zumindest als fahrradfreundlicher Politiker präsentiert hat, muss sich erst beweisen. Und die Zeit von Warten-wir-auf-dies-und-warten-wir-auf-das sind vorbei. Große Metropolen (z. B. Paris), aber auch vergleichbare Mittelstädte (z. B. Freiburg) schaffen es, in kürzester Zeit Maßnahmen zu setzen, die das mobile Leben angenehmer, sicherer und ökologischer machen. Und keine Angst vor Verboten – manchmal müssen diese sein. Das einzige Projekt aus der Ära Hein, das zumindest teilweise nachhaltig wirkt, ist das Parkverbot am Urfahraner Jahrmarktgelände. Zeter und Mordio wurde von Verbänden und Pendler-IGs geschrien – und genauso schnell war das Schreien auch wieder vorbei. Positive Fakten schaffen und nicht nur Entscheidungen zu Ungunsten von Fuß- und Radverkehr, darum geht es. So ist auch das Prozessdesign entscheidend. Geht man in Linz von einem guten Status Quo und einem „bloßen“ Verbesserungspotential aus, war man in Paris ehrlicher zu sich selbst und letztendlich auch zur Bevölkerung. Die Planung in Paris ging von einem desaströsen Ist-Zustand aus. So sollte man in Linz wohl auch starten. Und den Rufern „Die frechen Radler wollen alles“, sollte man das Programm von Freiburg näherbringen, denn dieses setzt auf einen moderaten und gut moderierten Umgang miteinander.
Aber auch einfach couragiertes Herangehen würde schon viel helfen. Wo sind zum Beispiel die Fahrradvorrangrouten, die Linz von Nord nach Süd und von West nach Ost an den Hauptverkehrswegen verbinden? Wo sind die fahrradfreundlichen Auf- und Abfahrten, und Spuren auf den Brücken? Wo sind die ernstgemeinten Konzepte für sanfte Mobilität? Politisch wären das doch wohl mehrheitsfähige Absichten. Grüne, KPÖ und Linz+ sind ja ausgewiesene Fahrradfreunde. Und die ÖVP ja, wie es scheint, auch. Und selbst die verkehrsmäßig oft etwas verpeilte SPÖ könnte dazulernen – sie betreibt ja zumindest schon den Radverleih der Stadt. Man hat in Linz einfach an entscheidenden Positionen noch nicht begriffen, dass das Fahrrad und seine FürsprecherInnen keine lästigen Randerscheinungen sind, sondern ein zentrales Instrumentarium für moderne zukunftsgewandte Stadtentwicklung.

Als Lichtblick kann man die private Initiative der gelben Firma aus dem Linzer Hafen nennen. Aktuell wird der schon vor Jahren eingerichtete und öffentlich zugängliche Pumptrack um ein sogenanntes Velodrom erweitert. Eine abgeschlossene Rundstrecke für Trainings- und Wettfahrten. So wird ein Hotspot für Fahrradfreunde geschaffen, der der sportlichen Seite des Radsports im Zentralraum hoffentlich neuen Antrieb gibt. Der Verein Velodrom Linz, der sich seit Jahren für eine derartige Anlage eingesetzt hat, ist fürs nötige Einführungstraining verantwortlich und wird sicher das eine oder andere Event vor Ort gestalten. So gesehen blicken wir radsportlich in ein gutes 2022 und verkehrspolitisch in ein unsicheres Ge­meinderatsjahr. Hoffen wir das Beste.

Ein kleiner Tipp für die LeserInnen, die noch ein Präsent suchen und Fahrrad mit Kunst verbinden möchten, ist der feminist machines–Fahrrad-Kalender 2022 von Silke Müller. Quelle und Kontakt: silkemueller.net/fahrradkalender-2022

Das Professionelle Publikum

Wirklich professionell: Kunst- und Kultur-Produktion in Zeiten von Corona und unser Professionelles Publikum. Katharina Acht, Christoph Ebner, Ulrike Hager, Sarah Jonas, Ursula M. Lücke, Lisa Viktoria Niederberger, Karin Schmid und Georg Wilbertz mit vielen Empfehlungen für die kalte Jahreszeit.

Katharina Acht
ist freischaffende Künstlerin mit dem Schwerpunkt Fotografie. Sie studierte an der Kunstuniversität Linz Experimentelle Gestaltung und lebt und arbeitet in Linz. Bis Anfang des Jahres war sie die Präsidentin des Kunstvereins „Die Kunstschaffenden“ mit der Galerie im OÖ Kulturquartier. Seit 2018 kuratiert sie das nextcomic-Festival in Linz. Mit ihren Werken ist sie national und international in Ausstellungen vertreten.  www.katharinaacht.at

MAP II – NEW FORMULA
DISPOSSESSION

Christoph Karl Ebner
alias Eblie alias APE LEE kommt aus der Subkultur, Stahlfabrik und Kunstuni und ist in diversen Vereinen/Kollektiven in Linz umtriebig tätig (Bikekitchen/BK, Kapu, STWST, Rostiger Esel etc. …). Künstlerisch aktiv unter anderem mit Punk- & Musicperformances, sozialen Skulpturen und Interventionen.

LaborAnalog
Critical Mass

© Sabine Köstler

Ulrike Hager
ist Tänzerin, Aktionskünstlerin, Choreographin, Tanzforscherin, Festivalleitung tanzhafenfestival, Geschäftsführung RedSapata TANZFABRIK, Tanzpädagogin, Montessoripädagogin und vieles mehr, immer mit Leidenschaft etwas bewegen zu wollen.

Jung in Lee Creation: As Above, So Below
Gerlinde Roidinger „tanztalk“

© RLB OÖ

Sarah Jonas
ist Kunstwissenschafterin in Linz mit besonderem Interesse an zeitgenössischer Kunst und dem Medium Fotografie. Sie arbeitet im Lentos Kunstmuseum Linz und der Kunstsammlung des Landes Oberösterreich.

Ausstellung „INGE DICK. Farben des Lichts“
Galerie Dumas

 

© Ursula M. Lücke (Passbildautomat)

Dr.* Ursula M. Lücke
ist Künstlerin und Kultur/Bildwissenschaftlerin. Sie ist ausgebildete Goldschmiedin und studierte Kunst und Ökologie. Ihre Fine Queer Art umfasst Miniaturen, Schmuck, Meerjungfrauen*, Schiffe etc. und ist in aquatischen und terrestrischen Räumen zu finden.  www.ursulaluecke.com

MARIA’s WELTFAHRT
Evgenia Tsanana

 

© Jasmin Walter

Lisa-Viktoria Niederberger
lebt als freischaffende Autorin und kulturpolitische Aktivistin in Linz.  Derzeit arbeitet sie an ihrem Romandebüt und engagiert sich besonders für feministische Belange im Literatur- und Kulturbetrieb.

Wer deutet die Welt?
Die Totenärztin: Goldene Rache von René Anour

 

© Reinhard Winkler

Karin Schmid
ist eine Linzer Theatermacherin und Yoga-Coach. Sie belebt die freie Szene mit selbst geschriebenen oder übersetzten Theaterstücken mit femininen Themen.

VERWANDLUNG
DIE ZEBRAS

 

© privat

Georg Wilbertz
lebt in Linz und ist als Kurator und Autor in den Bereichen Architekturgeschichte und bildender Kunst tätig. Seit heuer hat er gemeinsam mit Elke Punkt Fleisch die Präsidentschaft der KUNSTSCHAFFENDEN inne. Als improvisierender Schlagzeuger arbeitet er mit verschiedenen Ensembles.

Gebaut für alle.
Das grüne Märchenbuch aus Linz: Ilse Aichinger (1921–2016)

Tipps von Die Referentin

 

 

Einreichung Programmsektion Local Artists
artacts ’22

Editorial

2021 ist das Jahr, in dem der Klimawandel alias Klimakrise so richtig im allgemeinen Bewusstsein angekommen ist: Wetterkapriolen, die Tote fordern und de facto geologische Verwerfungen auslösen, und das mitten in Europa, vor den Haustüren. Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber es geht ums Überleben? Marina Wetzlmaier hat in Oberösterreich bei den jungen Klima-Initiativen und der Klima-Allianz recherchiert. Sie stellt fest, dass im Land OÖ keine Klimaziele formuliert sind? Aber was nicht ist, kann ja noch werden? Dauert’s 10 Jahre, 20 Jahre? Es sind ja nur irreversible globale Prozesse im Gang. Und wenn plötzlich lokal bis global Banken und Versicherungen vom Klimawandel als ernstzunehmende Bedrohung zu reden beginnen, dann sollte man sich auskennen. Das IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), das Gremium der Vereinten Nationen zur Bewertung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Klimawandel, hat übrigens gerade seinen 6. Bericht veröffentlicht. Er bildet wichtige Grundlage, führt die neuesten Studien der Klimawissenschaft zusammen. Der Bericht ist im Netz unter www.ipcc.ch/report/ar6/wg1 zu finden. Es wird ungemütlich. Und dazu passend ebenso drastisch wie verloren: Am Cover ein Bild aus einer Aktion von Extinction Rebellion OÖ.

Was haben wir noch in diesem Heft? An mehreren Stellen geht’s ums Fahrrad, darum kümmert sich Magnus Hofmüller. Er hat für uns den Linzer Godfather of Fahrradi besucht – ja, Hannes Langeder. Ein kleiner Velocipedisten-Hinweis findet sich auch in Mariusz Latas Text. Fix ist Leseprobe für die neueste Ausgabe der Idiome. Dieses 14. Heft für neue Prosa hat Florian Huber für uns umrissen. In einem zweiten Text in dieser Referentin widmet sich Florian Huber außerdem der Erinnerungskultur – und er stellt diverse NS-Verwicklungen von Emmy Haesele und Rudolf Bayr gegenüber. Ersterer ist aktuell eine Ausstellung im Lentos gewidmet, zweiterer kommt in der Stifterhaus-Ausstellung zum Residenz-Verlag vor.

Wir zitieren aus einem weiteren Text: „Ende Mai wurde innerhalb eines Straßenfests die Umbenennung der Glaubackerstraße in Agathe-Doposcheg-Schwabenau-Straße gefordert: Glaubacker hat Hitler am Balkon gemalt und sich dem Nationalsozialismus angedient, Doposcheg-Schwabenau war eine engagierte Malerin, die Bedeutendes für die Linzer Kunstszene geleistet hat. Bewilligen muss diese Umbenennung allerdings erst eine HistorikerInnenkommission. Von den rund 560 Straßennamen in Linz, die nach Persönlichkeiten benannt sind, entfällt nicht einmal ein Zehntel auf Frauen.“ Damit sind wir im Text von Silvana Steinbacher gelandet. Sie berichtet über die Straßenfest-Aktion von Elisa Andessner, aber vor allem über den Walk of Fem, der von den Künstlerinnen Betty Wimmer und Margit Greinöcker auf der Donaupromenade umgesetzt wurde. Vom Street Style dieses Walk of Fem, den Betty Wimmer im Gespräch einmal als „mehr Street Art als Glamour“ benannt hat, kommen wir zu einer, sagen wir, Death Positive Street Art, sprich zu Graffitis am Linzer Barbara-Friedhof. Dort hat Christian Wellmann den Verein sagbar besucht. Der Verein wurde von Nicole Honeck und Verena Brunnbauer gegründet, um dem Tabuthema Tod „leichtfüßiges“ Leben einzuhauchen … Und in der kulturell gültigen Klammer Tod und Sex wollen wir außerdem auf den Text der Sexarbeiterin Pauli Dares hinweisen – sie nennt einige Widersprüche der „Selbstbestimmung“ in unser aller Leben, um vor allem gegen Diskriminierung von Sexarbeiterinnen und für Respekt zu plädieren.

In dieser Referentin gibt es natürlich einiges mehr. Ein Lieblingsstück der Redaktion ist etwa der Textauszug aus Robert Stährs Buch Plan. Dessen Protagonist bringt da anscheinend mal so richtig Akkuratesse in den Aktivismus seiner kleinen Welt. Und damit noch ein letzter Sprung zurück zur großen Welt: Wir verweisen auf die ökosexuelle Bewegung der guten alten Annie (Sprinkle). Sie schlägt vor, in ein Liebesverhältnis zum Planeten zu gehen. Und wem das spinnert und lächerlich vorkommt: Die größeren Spinner sind die, die im Namen von Macht und Geld fortlaufend Elend auf der Welt verbreiten. Wir vermuten ja, dass es neben dem Müllberg und dem Gift, das ökologisch existiert, auch einen psychischen Müllberg am vorläufigen Ende der Geschichte gibt. Und da spricht nicht der Weltgeist, sondern: Wie viel Leid Menschen anderen Menschen angetan haben und antun, das ist unaussprechlich. Wie wir in den Medien gesehen haben: In Afghanistan hängen sich Menschen an Flugzeuge, die starten.

Damit, die Referentinnen

Tanja Brandmayr und Olivia Schütz