FEMALE * UPGRADE

Umbenennung der Glaubackerstraße in die Agathe-Doposcheg-Schwabenau-Straße.

Illustration Sarah Braid

Das Projekt von Elisa Andessner fordert die Umbenennung der Linzer „Glaubackerstraße“ in „Agathe-Doposcheg-Schwabenau-Straße“: Mit dem künstlerisch-symbolischen Akt eines feierlichen Upgradings wird in Folge eine reale Umbenennung der Straße angestrebt. Mit der Umbenennung wird der bekennende Nationalsozialist und Künstler Franz Glaubacker aus dem Stadtbild entfernt, um die öffentliche Ehrerbietung an Agathe Doposcheg-Schwabenau zu übertragen.

 

Informationen und Texte über Agathe Doposcheg-Schwabenau und ihr künstlerisches Schaffen sowie kulturelles Wirken in Linz („Es war eben die Zeit, wo man aus Langeweile in Linz sterben konnte“) auf www.agathe-doposcheg-schwabenau-strasse.net

Eine erste Aktion erfolgte mit zahl­reicher Beteiligung von Initiativen, Repräsentantinnen und Artists am 29. Mai in der Glaubackerstraße 1 in Urfahr. Female*Upgrade geht weiter.

Versuch einer Visuali­sierung des Unfassbaren

Es ist schwer, sich diesen Film anzuschauen. Surviving Gusen von Gerald Harringer und Johannes Pröll läuft dieses Jahr bei Crossing Europe als einer der Eröffnungsfilme. Eindrücke von Melanie Letschnig.

Noch bevor eine Aufblende die gewaltig schäumende Gischt des Meeres aus Vogelperspektive zeigt, hören wir das Rauschen. Überlagert von sphärischer Musik, spricht ein Überlebender im Voice-over zu uns: „My name is Karl Littner. I was born in Auschwitz in Poland at January 15, 1924. I tell you something …“. Und er erzählt, dass ihm Ruth 1998 einen Computer gekauft hat, er aber keinen braucht, wofür braucht er einen Computer, fragt Karl Littner. Zu diesem Zeitpunkt befinden wir uns bereits in seiner Wohnstraße in Los Angeles, eine Kamerafahrt führt zu seinem Haus und da sitzt er und berichtet, dass er im Alter angefangen hat zu schreiben. Worüber, wird sich im Laufe des Films herausstellen.

Karl Littner ist einer von drei im Film porträtierten Menschen, die Gusen überlebt haben. Er, Stanislaw Leszczynski und Dušan Stefancic sind die Zeitzeugen, mit denen die Filmemacher Gerald Harringer und Johannes Pröll in Surviving Gusen sprechen. Der Ort, der heute um die 800 Einwohner_innen zählt, liegt in der Nähe von Linz, im Mühlviertel. 1939 wurde der Bau des Konzentrationslagers in die Wege geleitet. Gusen I und II und Gusen III in der Ortschaft Lungitz – nur wenige Kilometer entfernt – galten als sogenannte Nebenlager des KZ Mauthausen. Von 1939 bis 1945 wurden mindestens 71.000 Menschen nach Gusen deportiert. Wo früher die Lager I und II standen, wurde nach dem 2. Weltkrieg eine Einfamilienhaussiedlung errichtet. Die Regisseure veranschaulichen dies durch das Einblenden eines historischen Schwarz-Weiß-Fotos, dessen Areal mit den Häusern in Farbe überlagert wird. Die ehemalige Stätte der Menschenvernichtung wurde auf ein kleines Areal des Gedenkens zusammengeschmolzen, der Rest Opfer der Ortsgestaltung.

Todeswege, Lebenszeit
Ein Phantom Ride in der Nacht, der den Hintergrund für den Vorspann bildet, schält sich in einen trüben Tag, der eine Schneelandschaft freilegt. Ein Zug gleitet durch sie hindurch und die Stimmen von Peter Simonischek und Maria Hofstätter sprechen den ersten Augenzeug_innenbericht – unprätentiös ist der Ton der beiden Schauspieler_innen den gesamten Film über, kein betroffenes Outrieren, kein Dramatisieren. Was die beiden vortragen, ist von sich aus gewichtig. Die Rede ist von Zügen, die in Bahnhöfen stehen bleiben, weil das Lager Mauthausen überfüllt ist. Dazu erneut eine Vogelperspektive, die mehrere Schienenstränge ins Blickfeld rückt – ein abstrahierender Verweis darauf, dass das ab nun Gesagte mit Bildern eigentlich nicht zu fassen ist. Berichtet wird über die Kälte und das Zusammengepferchtsein im Waggon, über das Töten der Schwächeren, um Platz zu schaffen, während die Kamera ruhig, langsam und bestimmt über die Winterlandschaft zieht. Das Textmaterial, das mit den Bildern arbeitet, entnehmen die Regisseure biographischen Aufzeichnungen wie jener von Karl Littner, Büchern über die Geschichte der Zeit des Nationalsozialismus im Mühlviertel, Briefen, Interviews, einem Polizeibericht vom Jänner 1945 über die Maurerwirtin in Rainbach im Mühlkreis, die einen bei ihr durch die SS inhaftierten Häftling verbotener Weise mit Essen versorgte.

Die Visualisierungen und Klänge, mit denen Gerald Harringer, Johannes Pröll und Fadi Dorninger (verantwortlich für Musik und Sounds) die Unmenschlichkeit von Gusen vermitteln, sind vielschichtig. Sie evozieren Stimmungen und appellieren an ein wachsames Geschichtsbewusstsein. Beispielsweise, wenn historische Fotografien des Lagers Gusen mit Bildern der jüngsten Vergangenheit aus demselben Blickwinkel überblendet werden. Dort, wo früher das Jourhaus – der Haupteingang – von Gusen I stand, befindet sich nun ein herrschaftlich anmutendes Wohnhaus.1 Es ist nicht die Banalität des Bösen, die hier gezeigt wird, sondern die Architektur eines Staates, der Wiederaufbaucamouflage als Bewältigungsstrategie kultiviert. Durch die langsame Annäherung der Kamera und die wechselnden Perspektiven – aus der Luft, auf Augenhöhe, durch Fahrten – wird der Eindruck vom Ortsbild Gusens immer dichter.

Eindringlich und erschütternd sind die Schilderungen der Überlebenden vor der Kamera. Dušan Stefancic, der auf einer Parkbank sitzend erzählt, wie er im sogenannten Bergkristall-Stollen, zu dessen Errichtung die KZ-Häftlinge gezwungen wurden, für die Nazis in der Messerschmitt-Flugzeugproduktion zwangsarbeiten musste, als eine Sirene losgeht. Der Überlebende macht eine wissende Geste, schaut auf die Armbanduhr, sagt „Mittag“, und blickt in die Kamera. Es ist spürbar, in welcher Form sich dieses Geräusch in Dušan Stefancics Gedächtnis eingeschrieben hat und wie unbedeutend, höchstens nervig es für uns ist, die wir den Krieg nicht erlebt haben.
Stanislaw Leszczynski, der erzählt, wie er entkräftet während des Tragens von Schienensträngen zusammenbrach und auf einen Haufen Toter geworfen wurde, und wie ein Hilfskapo gesehen hat, dass er noch lebt, ihn vom Haufen runterzog und gemeinsam mit einem Anderen in die Donau tauchte, damit er sein Bewusstsein wiedererlangt.
Karl Littner, wie er in die Kamera sagt, sein Widerstand bestand im Überleben. Für alles andere fehlte die Kraft.

Immer wieder klingt diese schwerwiegende Erschöpfung durch, die die Menschen auf den Märschen und in den Lagern erfasst. Ein Augenzeug_innenbericht beschreibt den Wunsch, sich am Wegesrand niederzulassen und erschossen zu werden, weil Körper und Geist das qualvolle Sterben nicht mehr ertragen können. Kälte ist allgegenwärtig. Leben oder Tod entscheidet sich in den letzten Tagen des Krieges innerhalb nur eines Tages, als die SS-Leute das Lager schon verlassen, die Alliierten noch unterwegs sind.
Der Film endet dort, wo er begonnen hat – in Santa Monica, Los Angeles. Wir sehen das ruhige Meer und den wunderschönen Himmel, den weitläufigen Strand und hören, wie Peter Simonischek jene Passage aus Karl Littners Memoiren ‟Life Hanging on a Spider Web – From Auschwitz-Zasole to Gusen II“2 vorliest, in der der Autor seiner Liebe und Begeisterung für seine neue Heimat Ausdruck verleiht. Eine Überlebensgeschichte, die uns als Zuschauer_innen teilhaben lässt an dieser Freiheit.

Wir müssen
Es ist schwer, sich diesen Film anzuschauen. Aber wichtig ist es auch. Sehr wichtig. Weil die Zeug_innenschaft der Menschen, die sprechen und gesprochen werden, mit dem Fortschreiten der Zeit an Gewicht zu verlieren droht. Leugnung und Relativierung durch rechte Gruppen, auch durch die sogenannte Mitte wirkt seit Jahrzehnten an einer Aushöhlung von Substanz mit, die die systematisch Ermordeten und die Überlebenden Zeit ihres Lebens tragen müssen. Die derzeit allerorts um sich greifende Formierung demokratiefeindlicher Gruppen, die sich selbst über einen kruden Hyperindividualismus als Entrechtete definieren und damit die Geschichte derer in den Dreck ziehen, die getötet wurden, ist nur ein hinzugekommener Baustein in dieser Verdrehung der Sicht auf historische Ereignisse. Es ist zu begrüßen, dass sich von ziviler Seite Protest dagegen formiert. Die staatlichen Instanzen sind im Setzen von Maßnahmen gegen diese brandgefährlichen Tendenzen bekanntlich eher zögerlich.
Ignoranz, egal von wem, ist unangebracht. „Die Wahrheit muss gesagt werden“, so Stanislaw Leszczynski in einer der letzten Szenen des Films. Er sagt auch, es braucht Versöhnung, und für Versöhnung braucht es Vertrauen. Dieses Vertrauen setzt Dušan Stefancic in junge Generation, wie er Alexander van der Bellen in einem Gespräch mitteilt, das 2017 am Rande eines Gedenktreffens in Gusen stattfand.
Wir müssen diese versöhnliche Großzügigkeit der Überlebenden annehmen. Sie ist ein übermenschliches Geschenk.

 

1 An dieser Stelle sei auf die Webseite zum Film verwiesen, die neben den Produktionsdaten Hintergrundmaterial zur Verfügung stellt, das den_die User_in in den Komplex Gusen einführt www.surviving-gusen.com, aufgerufen am 1. Mai 2021.
2 Das Buch wurde herausgegeben von Rudolf A. Haunschmied und ist 2011 bei BoD – Books on Demand erschienen.

Das Filmfestival Crossing Europe wurde am 1. Juni in Linz eröffnet. Mehr zu allen Eröffnungsfilmen, zur diesjährigen Programmierung, zu Programmschienen und Schwerpunkten, zum Bewerb und zum Festival selbst unter: www.crossingeurope.at

18 Jahre Crossing Europe

Mit Crossing reist sie mit uns durch Europa: Christine Dollhofer kennt den europäischen Film wie kaum jemand sonst. 18 Jahre hat die gebürtige Welserin und Kosmopolitin das Festival Crossing Europe in Linz geleitet, ab Anfang November wird sie den Filmfonds Wien übernehmen. Silvana Steinbacher hat Christine Dollhofer getroffen.

Countdown und diesjähriger Festivaltrailer: GRÜN IN von Laurien Bachmann.
Foto Laurien Bachmann, Still Crossing Europe

Heuer werden Sie Crossing Europe zum letzten Mal leiten. In diesem Jahr startet das Festival pandemiebedingt erst am 1. Juni. Wie sehr müssen und mussten Sie denn inhaltlich gesehen das Festival reduzieren?
Das ganze Team und auch ich sind schon in Vorfreude ein physisches Festival abhalten zu können, und aus heutiger Perspektive schaut es ja gut aus. Wir haben diesmal „nur“ 123 Filme, etwas weniger als vergangenes Jahr. Konzeptuell hat sich wenig verändert. Wir haben die Highlights aus Europa, die Jugendschiene, die Local Artists also Filme mit Oberösterreich-Bezug, Filme zum Thema Arbeitswelten, Architektur und Gesellschaft. In allen Sektionen wurde etwas gekürzt, aber das Programmschema ist nach wie vor gleichgeblieben, so wie in den vergangenen Jahren.

Vom Ablauf können Sie nur eingeschränkt agieren, aber Sie haben sich Alternativen einfallen lassen.
Wir haben ein ausgeklügeltes Präventionskonzept, dass sich natürlich nach den gesetzlichen Vorgaben richtet: 50 Prozent Auslastung in den Spielstätten, Maske, Abstand, „Schachbrett-Platzvergabe“, aller Wahrscheinlichkeit Eintrittstests etc. Zum Glück können wir heuer das Central Linz als zusätzlichen Saal anbieten. Die Sperrstunde um 22 Uhr wird natürlich unsere Programmierung einschränken, die Spätvorstellungen müssen aus diesem Grund entfallen, aber stattdessen gibt es Frühstücksfestival ab 9:30 Uhr. Wir werden Talks, Preisverleihung auch auf DORFTV streamen: Für all jene, die noch nicht den Drang haben, ein Festival zu besuchen, stellen wir von 6. Juni bis 6. Juli auch ein Online-Angebot auf der österreichischen Streamingplattform KINO VOD CLUB zur Verfügung, das war mir sehr wichtig.
Bei den Einladungen der Filmgäste müssen wir natürlich auch Vorsicht walten lassen, und konzentrieren uns eher auf die Nachbarländer. Wir freuen uns aber, dass sich unter den gegebenen Umständen bereits zahlreiche Film- und Branchengäste akkreditiert haben.

Welche Bilanz dieser vielen Jahre, die Sie Crossing Europe geleitet haben, würden Sie ziehen?
Es war ein Pionierprojekt auf Initiative von Wolfgang Steininger, der mich nach meiner Leitung der Diagonale gefragt hat, ob ich nicht ein Festival in Linz aufbauen möchte. 2003 haben wir dann das Festival aus dem Boden gestampft. Wichtig war mir der Blick über die Grenzen hinaus, der Europaschwerpunkt, das innovative Kino aus Europa, vorwiegend Filme zu zeigen, die im regulären Kino nicht zu sehen sind; schließlich werden pro Jahr in Europa 1600 Kinofilme produziert. Es war die kuratorische Aufgabe, neue Blickwinkel auf Europa zu werfen, und wir wollten lokale Player mit an Bord haben. Innerhalb dieser 18 Jahre sind schöne Beziehungen entstanden. Rückblickend gesehen hatten wir viele Erstlingsfilme von Regisseur*innen im Programm, die mittlerweile eine internationale Karriere gemacht haben, beispielsweise Alice Rohrwacher, Maren Ade oder Ruben Östlund. Natürlich haben wir nicht deren Karrieren beeinflusst, aber doch ein gutes Gespür bewiesen.

Ist die Frage Ihrer Nachfolge schon entschieden?
Es wird noch einige Wochen dauern, bis wir eine Entscheidung über die Nachfolge getroffen haben. Das Moviemento als Hauptgesellschafter und Crossing Europe werden das über den Sommer gemeinsam erarbeiten. Jetzt gilt es zuerst einmal diese schwierige Festivalausgabe erfolgreich zu meistern.

Haben Sie eigentlich innerhalb dieser 18 Jahre, die Sie das Festival geleitet haben, einen ästhetischen Wandel, eine neue Herangehensweise an Filme beobachtet?
Es werden mehr Dokumentarfilme fürs Kino produziert, das liegt hauptsächlich an ökonomischen Bedingungen, denn die Produktionsmittel sind geringer und besser verfügbar, für Spielfilme benötigt es größere Budgets, und auch einen größeren MitarbeiterInnenstab. Dokumentarfilmkonzepte sind wendiger und können rascher auf aktuelle Ereignisse reagieren. Aber generell verschwimmen auch die Kategorien Dokumentarfilm und Spielfilm, der hybride Film ist stark im Trend, also das Arbeiten mit Laiendarsteller*innen, reale Settings werden fiktionalisiert.
Es wird auch viel mehr koproduziert, weniger Europudding, sondern mehr Augenmerk auf die Zusammenarbeit von Kreativen auf allen Ebenen, hier haben sicherlich auch die Creative Europe Programme der EU Vorschub geleistet.

Vergangenes Jahr musste Crossing Europe – wie auch andere Kulturfestivals – im Netz stattfinden. Wie würden Sie dahingehend Ihre Erfahrungen beschreiben?
Wir mussten kurzfristig alles absagen. Daraufhin haben wir zwei Angebote geliefert. Zuerst eine kleine Online-Edition, ein Querschnitt aus dem geplanten Programm. Im Herbst haben wir die Crossing Europe Extracts Reihe gestartet, und konnten dadurch noch zwei Drittel unseres Programms vor Publikum im Kino präsentieren.
Vergangenes Jahr waren alle froh, dass es Alternativangebote gab, jetzt freuen wir uns, wenn das Festival mit Publikum stattfinden kann.

Ein Schwerpunkt ist bei Crossing Europe den Arbeitswelten gewidmet. Welche Themen sind denn derzeit im Film virulent?
Auch schon in den Anfangsjahren stand der Strukturwandel – ein Dauerthema – im Zentrum. Weiters haben RegisseurInnen unter anderem den organisierten Kampf der ArbeiterInnen auf die Leinwand gebracht, Industrieregionen, die sich neu organisieren müssen. Hinzu kommen Dokus über Bewerbungsgespräche, Weiterbildung, die Ich-AGs, das „Sich-besser-verkaufen-Müssen“, die Abgehängten, die bei diesem rasanten Wandel nicht mehr mitkommen, Digitalisierung, Jugendarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit. Doch es sind nicht nur problembehaftete systemrelevante Themen: Viele Filme stellen in verschiedenen Ausformungen ein Empowerment in den Mittelpunkt, Entwicklungen, die MutmacherInnen und „Best practice“-Modelle in den Vordergrund rücken.

Kommen wir zu Ihrer neuen Funktion, die Sie mit Anfang November beginnen werden und zu der ich Sie hier beglückwünschen will. Der Start in eine Leitungsposition, welcher Art auch immer, ist meist mit neuen Ideen und Konzepten der neuen Leitung verbunden. Welche sind Ihre Schwerpunkte in Wien?
Derzeit leitet Gerlinde Seitner noch den Filmfonds Wien, insofern möchte ich nicht mit Konzepten und Ideen reingrätschen. Eine Förderinstitution arbeitet gemäß den gesetzlichen Richtlinien, und somit sind Änderungen auch nur in Abstimmung mit der Politik und dem Kuratorium möglich.
Wir wissen, die gesamte Branche verändert sich rasant. Ich denke an die Streaming-Plattformen, die einen enormen Marktzuwachs verzeichnen. Auch bei den Fernsehkanälen beobachten wir einen Übergang vom vorgegebenen Sendeschema zur individuellen Auswahl durch deren Mediatheken. Nischenprodukte und Nischenanbieter sind wichtig geworden, die Herausforderung bleibt dabei sein Publikum zu finden. Auch für das Publikum ist es unübersichtlich geworden, sich zurechtzufinden. Die Kernfrage, die sich stellt, lautet daher: Wie findet das Publikum mich und ich mein Publikum?
Aufgrund dieses vielgestaltigen und rasanten Wandels ist der Blick in die Zukunft unvermeidlich. Modelle müssen entwickelt werden, wie man auf diese Veränderung reagieren kann.

Ich habe manchmal den Eindruck, manche TV-Filme könnten bezüglich des Drehbuchs und der Regie mutiger agieren. Ist der Ansatz, einen TV-Film auf ein Durchschnittspublikum „zuzuschneiden“, nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt?
Es hat jede und jeder andere Bedürfnisse. Manche wollen beim Einstieg schon wissen, was sie bekommen, andere lassen sich lieber überraschen. Daher hat der Unterhaltungsfilm genauso seine Berechtigung wie der innovative oder eher exzentrischere Film. Global gesehen ist mehr Diversität, Gendergerechtigkeit und Inklusion vor und hinter der Kamera, also auch inhaltlich ein Bestreben der Film- und Medienbranche.

Der Filmfonds Wien bezeichnet sich selbst mit 11,5 Millionen Euro Fördersumme pro Jahr als eine der höchstdotierten regionalen Filmförderstellen Europas. Dennoch sind immer wieder Klagen seitens der Filmschaffenden zu hören, es sei schwierig, in Österreich einen Film, welcher Art auch immer zu realisieren. Worauf führen Sie das zurück?
Ein klassischer Kinospielfilm braucht verschiedene Finanzierungssäulen, und das macht die Herstellung eines Films so komplex und langwierig. Es werden auch viel mehr Projekte eingereicht als noch vor einigen Jahren. Im Schnitt werden 50 Prozent der eingereichten Projekte gefördert. Der Wettbewerb ist generell überall sehr groß.

Das Kino wird seit Jahrzehnten totgesagt, jetzt durch die Pandemie und die monatelangen Schließungen haben sich diese Diskussionen noch einmal zugespitzt, wie stehen Sie dazu?
Ich denke es ist ein Zusammenspiel von zwei Komponenten. Ein Kinobesuch, so wie wir ihn kennen, bedeutet sich gemeinsam etwas anzuschauen, man besucht einen Ort, den man schätzt, wo man weiß, ich bekomme ein Programm geboten, das mir entspricht, ich treffe Gleichgesinnte. Kino ist niederschwellig, man muss sich nicht schön anziehen, kann sich spontan entscheiden. Das Kino der Zukunft muss sich immer wieder überlegen, wie kann ich mein Publikum erweitern, welche Angebote inhaltlicher und struktureller Natur – zum Beispiel auch gastronomische – soll ich schaffen.
Trotzdem, und das muss uns bewusst sein, wird sich einiges ins Netz verlagern, es wird eine Filmauswertung auch parallel stattfinden und sich die Rezeption von Filmen verändern. Aber auch die Theater, die Oper wurden schon totgesagt und genauso wie diese Orte der Kultur nach wie vor Bestand haben, wird auch das Kino überleben. Es wird das Eventkino mit seinen Special Effects, der tollen Tonqualität und Riesenleinwand genauso geben wie das „personalisierte“ Programmkino, das diverse Zielgruppen im Auge hat und stark kuratorisch arbeitet. Das muss jedoch auch entsprechend finanziell unterstützt werden.

Gibt es eigentlich Filme, die Sie nachhaltig geprägt oder fasziniert haben?
Meine Lieblingsfilme verändern sich immer wieder, dadurch fällt es schwer einzelne herauszugreifen. In jungen Jahren war das Fernsehen mit seinen vier Kanälen zentrale Bildungsanstalt. Hinzu kam das reale Kinoerlebnis, welches während meiner Studienzeit in Wien durch das große Angebot an Bedeutung gewonnen hat. Schließlich wurde die Liebe zum Film zum Beruf, beginnend mit der Leitung des Programmkinos Filmcasino in Wien.
Ich kann prinzipiell sagen, dass ich alle filmischen Formen und Genres schätze, in der Vielgestaltigkeit dieses Mediums liegt die Anziehungskraft. Mir ist ein handwerklich gesehen unvollkommener Film, der etwas wagt, im Zweifelsfall lieber als ein „perfekter“, bei dem ich nach ein bis zwei Szenen sofort weiß, welches „Strickmuster“ vorliegt und was in weiterer Folge passiert.

 

www.crossingeurope.at

CROSSING EUROPE Filmfestival Linz: 1. – 6. Juni 2021

CROSSING EUROPE VOD-Premieren auf KINO VOD CLUB: 6. Juni – 6. Juli 2021

Ab 20. Mai: Programm online & Start des Online-Ticketverkaufs

Nach dem Stillstand

Im Rahmen des Festivals FMR 21 wurde in den ersten Junitagen ein Symposium an einem ephemeren Ort des Donauufers eingerichtet: ein Büro für nützliche Fiktionen, ein Bahnhof und Flugplatz für neue Er­zählungen. Gloria Meynen und Gaby Hartel geben einen Vorgeschmack auf das Symposium mit dem Titel Dass die Welt auf ON springt. Utopien nach dem Stillstand. Und beleuchten hier Utopien, die es bereits vor dem Stillstand gab.

Das Festival FMR bietet digitale Kontexte. Bild Giacomo Piazzi / LINZ FMR

Utopien sind Orte, die man nur im Gedanken bereisen kann. Sie sind häufig durch das Meer vom Festland getrennt. Die Pandemie ist indes der Pazifik – das stille Meer, das Magellan in sechs Monaten und zwanzig Tagen durchquerte „mit nichts als Himmel und Salzwasser vor Augen“. Kein Ort, ein Zustand. Sie lässt uns müde und ratlos zurück, ganz so als blickten wir auf ein Meer ohne Inseln. Eine wüste, salzige Welt, soweit das Auge reicht. Der Schriftsteller Samuel Beckett hat in seinen Stücken, den späteren Prosatexten und Fernsehgedichten immer wieder den erzwungenen Rückzug in eine verwüstete Landschaft, in ein Zimmer, in einen Kopf oder Mund durchgespielt. Die Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre lasen die kargen Weiten als atomare Trümmerfelder. Ab den Siebzigerjahren erinnerten die Gesichter der wüsten Landschaften und starren Figuren zunehmend an die Seelenzustände Traumatisierter. So verstörend wie Becketts Figuren zunächst wirken mögen, in den späteren Werken blitzt in Momenten der Lähmung und des Stillstands häufig die Möglichkeit einer Erzählung auf, einer Erinnerung und Reise im Kopf – starr und erschöpft beginnen sie zu träumen. Sie reisen in ein Land, das man nur im Gedanken erreichen kann. Also eine Utopie? Beckett würde es gewiss anders nennen. Ein Fenster in eine andere Welt? Eher ein erinnertes Bild, ein Ausblick, entstanden im Kopf seiner Figuren, in der Stille, die sie umgibt, der Starre, die sie befallen hat. Jede Generation liest Beckett anders, jede Zeit entwirft mit Becketts Texten eigene Bilder und Räume im Kopf. Von heute aus gesehen scheint es fast, als habe Beckett uns mit diesen Situationen Erzählexperimente und Übungsräume hinterlassen wollen. Können wir aufbrechen, die eigenen Innenwelten verlassen, um die Welt in zahlreichen Alternativen aus der Gegenwart, dem Meer der Erinnerung auftauchen zu lassen?

Die Gesichter verpixelt, die Bewegungen eingefroren. Ein Zimmer, ein Fenster. Und noch ein Fenster. Kein Ausblick, sondern ein Einblick in Fenster und fremde Zimmer. Die Gegenwart ist ein Warteraum zu noch mehr Zimmern und Fenstern, ein Leben in der Warteschleife. „Nichts … nichts … und wieder nichts“. So lautet auch Clovs Fazit in Samuel Becketts zweitem Theaterstück Endspiel, als er durchs Fernrohr den Ozean vor seiner Bleibe betrachtet. Und auch das Land auf der anderen Seite seines Beobachtungsfensters gibt nichts anderes her als einen gesichtslosen Nicht-Ort, irgendwo in einem grenzenlos sich ausdehnenden Nirgendwo. Nichts geschieht, außer, dass die Figuren Sprachfloskeln wiederholen, den Alltag in leeren Ritualen einrichten. Keine Frage: Clov und drei weitere Bewohner*innen eines nicht näher beschriebenen Schutzraums sitzen fest, auf einer Insel, die Zeit fließt zäh vorbei. Zwar spüren sie vage, dass „etwas seinen Lauf nimmt“, doch sie haben keinen Einfluss auf diese minimal kleine Entwicklung, sondern verharren im Warten darauf, dass ihre Situation einfach aufhören möge. Ihre Vorläufer in Becketts erstem Stück Warten auf Godot hängen auf einem kargen Plateau herum, müde und entmutigt, in der Hoffnung, dass ein Herr Godot sie abholt und in die alte Zeit wie den gewohnten alten Raum zurückbringt.

Wo liegt die alte Zeit? Wo ist der alte Raum begraben? Auf Godot warten wir immer noch. Und das schon ziemlich lang. Als Watts Erfindung das Reisen um 1840 unter Dampf setzte, sahen wir Godots Schatten, wenn auch nur einen Rockzipfel lang. Je engmaschiger die Linien der Eisenbahnen, Dampfschiffe und Flugzeuge die Welt umrundeten, desto mehr schwand seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert die Überzeugung, dass Reisen ein Ziel, ein Stachel, ein Duft, ein Versprechen, eine einmalige und überraschende Erfahrung sei. Wartete man früher ungeduldig, dass die Reise begann, so glich von den ersten Eisenbahnnetzen bis zu Ryan Air das Reisen bald mehr dem Warten. Und das nicht nur an der Bushaltestelle, dem Security Check, in der Abfertigungshalle – sondern, Knie an Sitz, im Flugzeug, ohne jedes Gespür für Raum und Zeit. Jules Vernes Roman In 80 Tagen um die Welt hat das Warten sogar auf das Titelblatt gehoben. Wir warten 80 Tage, bis Phileas Fogg um den Erdball einen exakten Kreis gezogen hat – nach 37 Kapiteln den Zirkelschlag in der Savil Row, London, vollendet hat. Fogg, mehr Uhrwerk als Mensch, hat stets die kürzeste Verbindung gesucht. Ihn quälen weder Fernweh noch Neugier. Die Weltkarte kannte er auswendig, alle Wege waren ihm bekannt, die Ferne vertraut. „… und war ein Ort auch noch so weit entfernt, Phileas Fogg schien detaillierte Kenntnisse über ihn zu besitzen“. Der Blick in den Fahrplan nimmt die Ankunft schon vorweg. Jules Vernes Manuskript enthält die Abschrift eines Fahrplans. Mit Bradshaws Continental Railway Guide hat er die Reiserouten seiner Figuren in einem fiktiven Reisebüro geplant und gebucht. Seine Figuren reisen nicht, sie kommen an. Pauschalreisen, Postkarten, Fahrpläne und selbst der Lonely Planet, die Reiseführer für Individualreisende haben alle möglichen Routen, auf denen man den Erdball umrunden kann, schon durchgespielt. Soweit wir auch reisen – am fernsten Ort der Erde wurden wir vor der Pandemie schon erwartet, ehe wir einen Gedanken in die Ferne setzen können.

Der britische Schriftsteller Herbert George Wells, Essayist, Zukunftsforscher und auflagenstarker Vertreter der beschleunigten Fortbewegung, bezeichnet schon um 1900 die dampfbetriebenen Schwellen der Eisenbahnen und Schiffe Greater Britains als „transistory empires“. Ephemere Königreiche halten die Fremde auf Abstand. Eisenbahnabteile und Schiffskabinen sind Transiträume, provisorische Königreiche auf Zeit. Sie schicken das Empire auf Reisen, die die Inselbewohner*innen bis an die Enden der Welt transportieren. Die Folgen der Kolonialisierung haben sie nie am eigenen Leib erfahren müssen. Reiseabteile sind häufig Rückzugsorte – Schutzräume, die jene gegen die vermeintlichen Gefahren der Fremde isolieren soll, die die gleiche Sprache sprechen, dieselbe Hautfarbe besitzen, die Geld und Herkunft verbindet. Michel de Certeau findet in den reisenden Zimmern der transistory empires Spuren von Dürers Melancolia: „Im Innern die Unbeweglichkeit einer Ordnung. Hier herrscht Ruhe und wird geträumt. […] Draußen, eine andere Unbeweglichkeit, die der Dinge: aufragende Gebirge, weitläufige Grünflächen, stillstehende Dörfer, Gebäudereihen, schwarze Silhouetten im Gegenlicht der Sonne, das Glitzern von nächtlichen Lichtern auf dem Meer, das vor oder nach unseren Geschichten liegt“. Die Innenwelten der Fortbewegung sind Zeitkapseln, in denen die Geschwindigkeit gegen Null tendiert. Vor dem Stillstand reisten wir in Zeitkapseln, unsere Komfortinseln mussten wir nur selten verlassen.

Die Königreiche des Transits hat der Anthropologe Marc Augé „Nicht-Orte“ genannt und damit die ephemeren Schwellen und Zonen des Übertrags mit einer Negation bezeichnet. Die Nicht-Orte erschaffen eine Welt, „in der die Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäftigungen unter luxuriösen oder widerwärtigen Bedingungen unablässig wächst (die Hotelketten und Durchgangswohnheime, die Feriendörfer, die Flüchtlingslager, die Slums, die zum Abbruch oder zum Verfall bestimmt sind), … eine Welt, die … der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist“. Die Welt als Durchreise ist ein Nicht-Ort. Eine gesichtslose Schwelle, die selbst kein Ort ist, aber Orte verbindet, Beziehungen zu neuen Orten herstellt und verwaltet. Nichtorte sind Flughäfen, Bahnhöfe, Raumstationen, Drive-Ins, Freizeitparks und Einkaufszentren, so Augé, Orte, die jetzt seit über einem Jahr verwaist und leer sind.

Die ersten Autoren der Science-Fiction, Jules Verne und H. G. Wells, haben sich in den Warteräumen der Beschleunigung eingerichtet, die Vestibüle der Dampfmaschine mit Fauteuils, Aquarien und Kristalllüster möbliert. In Von der Erde zum Mond werden Vernes Figuren in einem Kanonenrohr zum Mond geschossen, in 20.000 Meilen unter den Meeren reisen die Passagiere der Nautilus auf einer dampfbetriebenen Schwelle. Draußen fliegende Landschaften, drinnen erstarrt die Zeit. Der Stillstand war schon vor dem Stillstand da, ein Effekt einer zunehmenden Beschleunigung, der mit den modernen Reisen aufkam. Doch jetzt ist alles anders. „Zusammenfahren ist lange her, wir fahren allein“, singen im Mai 2021 zahllose Busfahrer*innen der Berliner Verkehrsbetriebe in einem Werbespot. Seitdem die Pandemie die Innenwelten der transistory empires nach außen gekehrt hat, ist der Stillstand weder Ruhe noch Rückzugsort, sondern rasende Vernetzung: Kein Tag ohne blassblau erleuchtete Gesichter. Ein Zimmer, ein Fenster. Und noch ein Fenster. Die Fortbewegung in den rasenden Zimmern, den transistory empires, ist ein Reisen in und um die Zimmer gewichen. Die Träume der Innenwelten sind zerschlissen. Die Mythen der Beschleunigung können uns nicht mehr erreichen. Die Vermutung, dass seine Nicht-Orte mit den Utopien verwandt seien, die seit der Antike einsame Inseln bewohnen, hat Marc Augé 2019 auf einer Wiener Bühne fahrig zurückgewiesen. Seine Nicht-Orte kann man nicht nur im Gedanken, sondern mit Ticket und Koffer bereisen. Augé hat im Weichbild des Mauerfalls, jenem Augenblick, in dem die letzten Inseln des Reiseverbots vom Erdboden verschwanden, die Metamorphose der Orte und Nicht-Orte, das Provisorische und das Ephemere, die „verworrenen“ Spiele der Identität und Relation, als Gegenstand für eine Ethnologie der Nähe beschworen. Die Nähe ist eine wunderbare Insel, die wir seit wenigen Tagen wieder erreichen können.

 

Biennales Kunst-Festival FMR 21 – Kunst in digitalen Kontexten
1.–6. Juni, Mühlkreisbahnhof Linz-Urfahr
Heuer findet die zweite Ausgabe von FMR, dem biennalen Festival für Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen, statt. Mit FMR 21 wird das Areal rund um den Linzer Mühlkreisbahnhof von internationalen und lokalen Künstler:innen in einen Festivalraum verwandelt. Der Hauptteil des Programms besteht aus einer Ausstellung im öffentlichen Raum. Zu sehen sind Arbeiten aus den Bereichen Bildende Kunst, Medienkunst, Internet Art und Performance. Das Festivalprogramm umfasst außerdem eine Reihe von Künstler:innengesprächen, eine Aufführung von aufgezeichneten und live gestreamten Konzerten – und ein hochkarätig besetztes Symposium.

Symposium
Dass die Welt auf ON springt. Utopien nach dem Stillstand.
4.–6. Juni 2021, FLUT – Freiluft­universität am Urfahraner Marktgelände
Die Abteilung Medientheorien an der Kunstuniversität Linz ergänzt FMR 21 um ein Symposium, u. a. besetzt mit Richard Sennett, Gloria Meynen, Thomas Macho, A K Dolven, Adam Merki und weitere Expert:innen. Sie werden über Utopien nach dem Still­stand sprechen. Das Symposium findet von 4. bis 6. Juni 2021 in Verschränkung mit der „Open University“ der Kunstuniversität Linz statt, am Urfahraner Marktgelände.

linzfmr.at/de

Dick Pic

Foto Die Referentin

Die kleine Referentin

Bild Juri & Terri Frühling

Gläserne Museumsdecken

Zwischen investigativer Recherche und feministischem Manifest – seit dem 1. Mai ist Die Quote online und zeigt: In den Kulturinstitutionen des Landes OÖ und der Stadt Linz mangelt es Frauen an beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten. Ebenso wird offengelegt, wie wenige Menschen schlussendlich unser „Kulturland“ prägen. Lisa-Viktoria Niederberger berichtet und spoilert: Es sind Männer.

Gläsern und hoch oben. Foto Die Referentin

„Auch wenn wir gerne alle lieber im Postpatriarchat Postfeministinnen sein wollen – die Quotenforderung ist immer noch notwendig” – sagt Oona Valarie Serbest, Künstlerin und Geschäftsführerin von Fiftitu%, einer Beratungsstelle für Frauen* in Kunst und Kultur. Warum es die Quotenregelung immer noch braucht, das zeigt das aktuelle Projekt Die Quote. Auf der gleichnamigen Homepage, dem Ergebnis ausführlicher Recherchearbeit, wird die Geschlechterverteilung in den großen kulturellen Einrichtungen des Landes Oberösterreich und der Stadt Linz mit intuitiven und leicht verständlichen Grafiken sichtbar gemacht. Die Landesmuseen, das Landestheater, der Posthof – Kulturstätten gestalten Gesellschaft, prägen und vermitteln Werte: Sie tragen zur Entstehung einer öffentlichen Meinung bei. Wollen wir eine offene, pluralistische Gesellschaft, in der Frauen, genauso wie marginalisierte Gruppen, eine hörbare Stimme haben und repräsentiert werden, muss dieser Leitgedanke einer offenen, pluralen Gesellschaft sich nicht nur in Sammlungen, Programmheften und Sonderausstellungen widerspiegeln, sondern auch in den Menschen, die diese Programme erstellen und Sammlungen kuratieren.

Die Quote zeigt, wie utopisch dieser Wunsch ist, wie realitätsfern. Beginnen wir bei Ergebnissen zu den Institutionen des Landes Oberösterreich. Seit der Umstrukturierung von der Landeskulturdirektion hin zur OÖ Landes Holding im Frühjahr 2020 wurden Tätigkeits- und Zuständigkeitsbereiche massiv verschoben. Das Ergebnis dieser Veränderung ist am deutlichsten bei der Landeskultur GmbH ersichtlich. Denn ihr alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer ist jetzt gleichzeitig auch wissenschaftlicher Direktor und Leiter von 22 Sammlungen, sowie aller 16 Standorte des Landesmuseums. „Ich sehe Die Quote primär als Materialsammlung, als Werkzeug um notwendige Fragen zu stellen”, erklärt Oona Valarie Serbest. Kritische Fragestellungen ergeben sich aus dieser neuen Struktur des Landesmuseums genug, beispielsweise: Kann das ein Mensch leisten? Fachlich? Zeitlich? Logistisch? Kann jemand tatsächlich Leiter von all diesen Sammlungen und Häusern sein? Was heißt das für die künstlerische Vielfalt? Wenn eine Person einzig und allein für alle Landesmuseen verantwortlich ist, ist sie gleichzeitig auch maßgeblich verantwortlich für die Kulturlandschaft des Landes. Diese Kulturlandschaft wird nun primär geprägt vom Kunstbegriff eines Individuums. Diese Riesenaufgabe trägt nicht nur eine große moralische Verantwortung, sondern ebenso eine finanzielle: Es stehen diesem Menschen dafür bis zu 36 Millionen Euro Steuergelder jährlich zur Verfügung. Und wer kontrolliert, was damit passiert? Im Gegensatz zur OÖ Theater und Orchester GmbH verfügt die Landeskultur GmbH über keinen Aufsichtsrat. Sie hat den alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführer als Zentralgestirn.
Oona Valarie Serbest resümiert: „Es ist der Landeskultur GmbH wirklich sehr daran gelegen, dass diese Struktur so nirgends aufscheint. Die Vermutung liegt nahe, dass man als Holding nicht zu offensichtlich zeigen möchte, dass es da um eine Person geht, die eben nicht nur so viele Posten, sondern auch viel Geld verwaltet!“ Alle Zahlen, auf die sich das Projekt bezieht, sind im Internet auffindbar, nichts davon ist per se geheim, aber die Aufbereitung durch den Verein Fiftitu% zeigt: Hier gibt es Erklärungs- und Änderungsbedarf. Dem Zentralgestirn eine co-künstlerische Leitung w/d an die Seite zu stellen, nicht als seine Untergebene, sondern ebenso fix verankert in der GmbH wie er, wäre ein wichtiger erster Schritt und ist eine ebenso dringende Forderung des feministischen Vereines, wie die ehestmögliche Einsetzung eines Aufsichtsrates.

Die leere Mitte
Auch kaum zu übersehen: die leere Mitte, die im Zuge von Umstrukturierungen weniger werdenden Jobs in der mittleren Führungsebene. Wo sind sie, die Sammlungsleiterinnen, Kuratorinnen, die künstlerische Leitung? Und ja, auch wenn diese Entwicklung Männer und Frauen betrifft, hier wird bewusst ein generisches Femininum verwendet, denn diese Berufe, die auch in der Landesholding weniger zu werden scheinen, werden zu einem sehr großen Teil von Frauen ausgeübt. Der Frauenanteil in den Geistes- und Kulturwissenschaften liegt derzeit in Österreich bei 71 %. Was heißt das konkret für Frauen in Linz, die im Kunst- und Kultursektor Karriere machen wollen, und zwar nicht in der freien Szene, sondern etwa als Landesangestellte? Es gibt kaum Jobs! Schlichtweg, weil etwa Jobs einer Sammlungsleitung zu einer Projektleitung „downgegraded“ scheinen. Schlecht in einer Stadt, die mit Studiengängen wie Kulturwissenschaften, Kunstwissenschaften oder Medienkultur und Kunsttheorien jährlich hochspezialisierte und qualifizierte Absolvent*innen in die Arbeitswelt entlässt. Es werden ergo in Linz nach wie vor Menschen ausgebildet für Berufe, die sie in den bestehenden Strukturen kaum oder nur massiv erschwert ausüben können, weil es schlichtweg immer weniger Posten für sie gibt. Alleine der Wegfall der mittleren Führungsebene in den Landesmuseen: über ein Dutzend Arbeitsplätze für Geisteswissenschaftler*innen, die jetzt nicht mehr da sind. Das sieht auch Oona Valerie Serbest höchst kritisch: „Es muss eine zentrale Forderung von uns Kunstschaffenden bzw. Kunststudierenden sein, dass diese Posten wieder frei gemacht werden. Wir haben auch ein Recht auf Karriere!“

Hier erlebt man das Scheitern der neoliberalen Erzählung: Es ist eben nicht so, dass du ganz nach oben kommst, wenn du gut bist, dich bemühst, auch als Frau. Die Faktenlage zeigt: in dieser Branche, in diesem Bundesland, hast du keine Chance. Und das ist ein Armutszeugnis für ein Land, erst recht dann, wenn die Landeshauptstadt darin sich noch immer mit dem schon etwas verjährten Titel „Kulturhauptstadt“ rühmt. Parallel dazu der vom Land OÖ ausgeschriebene und auf 2000€ dotierte Frauenförderpreis für Unternehmen: Ein Witz, der wehtut.

Hausarbeit ergo Verwaltung
„Moment mal!“, könnten Kritiker*innen jetzt empört aufrufen, „Die Quote zeigt doch auch, dass sich der Frauenanteil in der Landesholding im Vergleich zu 2007 um ganze 19,9 % erhöht hat, jetzt bei 61,8 % liegt“. Ja, aber: Hier wird klar ersichtlich, dieses tradierte Köpfe-Zählen, um zu zeigen, dass eine Geschlechterausgewogenheit in Unternehmen besteht, ist der falsche Weg. Natürlich gibt es Frauen auch in den hiesigen Kulturinstitutionen: ab der unteren Führungsebene und als Mitarbeiter*innen in den Shops, als Garderobieren und als Museumsaufsichten – den schlecht entlohnten Jobs primär, den körperlich anstrengenden mit Arbeitszeiten abends und/oder am Wochenende. Das alleinige Vorhandensein einer hohen Frauenquote ist kein Garant dafür, dass diese Frauen auch in allen Positionen vertreten sind, oder eine valide Karriereoption haben. Der Anteil von Frauen in Führungspositionen beträgt in der OÖ Landesholding 9 %. Man findet die Frauen stattdessen in Bürotätigkeiten, sie gehen ans Telefon und koordinieren die Besuche von Schulklassen – „In institutions, housework is called administration“, wird hierzu auf Die Quote die feministische Theoretikerin Sarah Achmed zitiert.

Alles Einzelfälle?
Ein Vergleich mit Institutionen der Stadt Linz zeigt: auch hier vorwiegend „Boyclubs“, mangelnde Transparenz und ein großer Rechercheaufwand, um Männerüberschuss in Führungspositionen sichtbar zu machen: „Das AEC verwendet beispielsweise in seinem eigenen Organigramm nur Nachnamen, sodass mensch nicht merkt, dass es hier kaum Frauen gibt!“, erklärt Oona Valarie Serbest dazu. Das Unternehmen Ars Electronica Linz GmbH setzt in der obersten Führungsebene ebenso auf zwei Männer, beide sind außerdem eingetragene Geschäftsführer der übergeordneten Kreativität, Kultur & Veranstaltungen der Stadt Linz Holding GmbH. Zusätzlich ist einer der beiden noch Co-Geschäftsführer sowie künstlerischer Direktor des Ars Electronica. Auch hier werden also insgesamt drei Führungspositionen von ein und derselben (männlichen) Person besetzt. Von zehn möglichen Führungspositionen ist ausschließlich die administrative Leitung weiblich im „Museum der Zukunft“.
Es ginge aber auch anders, wie das Stadtmuseum Nordico zeigt: Sobald es Frauen in den oberen Führungsebenen gibt, findet man sie auch im Mittelbau, gibt es plötzlich eine weibliche Museumsleitung. Wir brauchen diese Positivbeispiele ganz dringend. „We rise by lifting each other up“, wird häufig auf feministische T-Shirts und Demoschilder geschrieben. Und natürlich: Solidarität und Support unter Frauen ist wichtig, aber das nimmt uns nicht das Schleudertrauma, wenn wir regelmäßig mit dem Kopf gegen gläserne Decken krachen.

Dass diese gläsernen Decken existieren, Posten für Frauen frei gemacht werden müssen, hat die Quote schmerzhaft sichtbar gemacht. Sie zeigt aber auch, wie wichtig Fiftitu% und ähnliche Vereine sind. Nur unabhängige Strukturen wie sie können derlei Missstände aufzeigen. Sie sind eine demokratiepolitische Wichtigkeit, der es durch den permanenten Kampf um Existenzberechtigung und Niedrigst-Förderungen massiv erschwert wird, noch mehr von dieser essenziellen, aufklärerischen Arbeit zu leisten. Und falls Fiftitu% nächstes Jahr zufällig die Subventionen von Stadt oder Land gekürzt werden sollten, dann wissen wir jetzt, warum.

http://diequote.at

diequote.at

Ausstellung im KunstRaum Goethestrasse xtd

HÄUTUNGEN. EIN ARCHIV

Foto David Wittinghofer

In Anlehnung an das KunstRaum-Jahresthema „Im Innen bin ich, nicht im Außen“ wird im Juli und August im Schauraum des KunstRaum Goethestrasse xtd eine Installation von David Wittinghofer gezeigt.

Im Zentrum von „Häutungen. Ein Archiv“ stehen mehrere hundert Papierschnittmuster aus der Hinterlassenschaft der Freistädter Schneiderei Winkler, in der zwischen 1962 und 2003 Maßkleidung angefertigt wurde. Die Offenlegung, Re-Inszenierung und Ergänzung dieses Archivs lädt zum Nachdenken ein, etwa über vermessene Körper und individualisierte Bekleidung, abwesende Personen und hinterbliebene Artefakte, verschwindendes Handwerk und familiäres Erbe.

Mit „Häutungen. Ein Archiv“ setzt David Wittinghofer den Auftakt einer längerfristigen künstlerischen Auseinandersetzung, in deren Verlauf das Material später auch transformiert werden soll.

 

David Wittinghofer studierte an der Kunstuniversität Linz und beschäftigt sich vorwiegend mit der Frage, was es eigentlich heißt, Kunst zu machen bzw. KünstlerIn zu sein. Dabei widmet er der Rolle und der Präsenz des menschlichen Körpers besondere Aufmerksamkeit.
davidwittinghofer.wordpress.com

Häutungen. Ein Archiv, David Wittinghofer
Schauraum des KunstRaum Goethestrasse xtd
Freitag, 23. Juli bis Freitag 13. August 2021
Der Künstler ist jeweils Freitag, 13.00–18.00 Uhr vor Ort und lädt zum Austausch ein!
KunstRaum Goethestrasse xtd, Goethestr. 30, 4020 Linz,
www.kunstraum.at

Ein Mahnmal …

… des mobilisierten Individualverkehrs. Linz müsste sich eigentlich glücklich schätzen. Eine riesige – zwar zum Großteil versiegelte – meist unverbaute Freifläche inmitten des Stadtzentrums. Magnus Hofmüller kommentiert die aktuellen Umgestaltungspläne des Donauareals.

Bild Magnus Hofmüller

Gemeint ist das Areal zwischen Nibelungenbrücke und der Brücke formerly known as Eisenbahnbrücke. Ein Filetstück. Andere Städte beneiden Linz sicher um ein solches, voller Optionen strotzendes Stück Stadtraum. Als LinzerIn dürfte man sich moderne Lösungen erwarten, die die Möglichkeiten und Probleme der Gegenwart aufgreifen und in etwas Zukunftsorientiertes transformieren. Simple Stichwörter wie „neue Mobilität“, „lebenswerte Stadt“, „Naherholungsgebiete“ und „urbane Freiflächen“ kommen einem da in den Sinn. Aber leider. Nein. Linz.

Als problemschwangere Klammern dieses Areals fungieren die Brücken: Die alte Brücke ist Zeitzeugin völlig verpeilter und zusammengestückelter Verkehrsplanung – und das seit Jahrzehnten. Mit einem Fuß- und Fahrradweg, der einzig als Aggressionsbeschleuniger taugt. Die neue Brücke ist Beweis dafür, dass die Verantwortlichen wenig bis gar nichts dazugelernt haben. Die neu gestaltete Hinführung für FußgängerInnen und RadfahrerInnen auf der Urfahraner Seite lässt nichts Gutes erwarten. Und der Fahrrad- und Fußweg-Bypass – die sogenannte Himmelbauer-Brücke – zwischen den beiden Brücken wurde als I-Tüpfelchen erfolgreich verhindert. Kein Mensch weiß eigentlich wieso.

Aber das wirkliche und titelgebende Mahnmal ist die riesige Betonfläche zwischen AEC und „SV Urfahr 1912“-Fußballplatz. Diese wurde zwar von der Funktion als Parkplatz großteils befreit, aber das Vorhalten dieser Fläche für einen 2 x im Jahr stattfindenden Jahrmarkt ist schon sehr befremdlich. Und ist auch Sinnbild dafür, dass man „unangenehme“ und kurzfristig unpopuläre Maßnahmen in Linz nie umsetzen wird. Würde man die Fläche als Park umwidmen, vom Betonkorsett befreien und renaturieren, und den Jahrmarkt an einen anderen Ort verlegen, gäbe es zwar einen Aufschrei – der aber schnell vergessen wäre. Genauso schnell wie das eingeführte Parkverbot auf derselben Fläche. Hier fehlt es eindeutig an Mut und Gestaltungswillen.

Jetzt mühen sich seit Jahren Bürgerinitiativen und Projektgruppen mit guten Ideen für das Areal – wie eine Insel oder eine Badebucht. Aber, anstatt die Konzepte aufzugreifen und im Rahmen der räumlichen und budgetären Möglichkeiten umzusetzen, kommt in Linz wieder einmal alles ganz anders. Nämlich komplett anders. Und hier den Zuständigen Böswilligkeit zu unterstellen ist einfach unfair. Es fehlt nämlich an einer fachlich kompetenten, kreativen und mit Umsetzungsmacht ausgestatteten Stadt- und Verkehrsentwicklung. Die unabhängig und mit Expertise von außen in einem moderierten und transparenten Prozess die Stadt für die Zukunft fit macht. Ein frommer Wunsch. In Linz passiert leider im Moment das Gegenteil – und die Menschen, die initiativ werden, können nicht gestalten, sondern müssen ihre Kraft ins Verhindern des Schlimmsten stecken.

Über die Gegenfröhlichkeit …

… und die Gemeinschaft der Schreibenden: In diesem Frühjahr erschienen zwei inspirierende Bücher von Ilse Kilic und Eva Schörkhuber. Die Autorinnen erzählen über gerissene und verbindende Fäden, das Glück, darüber, was es mit Schelminnen auf sich hat und warum es neue Erzählungen braucht. Das Crypt-Pad-Gespräch führte Andreas Pavlic.

Liebe Ilse, in deinem neuen Buch „Fadenspannung. Eine Verbündung“ reflektierst du sehr persönlich dein Schreiben, Lesen und deine politischen Positionierungen. Gleich zu Beginn schreibst du: „Früher fürchtete ich mich, wenn jemand einen Text von mir las, dass er oder sie ihn beurteilen oder gar verurteilen könnte.“ Und in der Folge sich dieses Urteil auch auf deine Person erstreckt. Wie geht es dir heute mit dieser Furcht? Ist sie einer Lust gewichen?
IK: Also, es ist nicht ganz einfach, einen Text unter die Mitmenschen zu bringen und dabei ganz unabhängig von deren Urteil zu sein. Man dürfte sich ja dann „eigentlich“ auch nicht freuen, wenn der Text lobende Worte bekommt. Sobald ich mich über Lob freue, bin ich schon in Gefahr, den Tadel zu fürchten. Und, ja, es passiert mir beides. Ich freue mich über Lob und ich fürchte den Tadel. Immer noch. Aber vielleicht anders als früher, es stellt mich weniger infrage, als Person und als Schreibende. Und ich kann mir auch denken, naja, ist halt eine Meinung einer anderen Person, die kann ich einfach stehenlassen.

Und die Lust?
Ja die Lust. Also sicher ist es schön, wenn ich sehe, der Text spricht in anderen Menschen etwas an, das mir wichtig ist, sie verstehen es so ähnlich wie ich. Es ist die Lust des Teilens, die ich darin erlebe. Die Lust, sich zu begegnen auf dieser Lese- und Schreibebene.

Liebe Eva, dein neuer Roman „Die Gerissene“ ist ein Schelminnenroman mit Mira als Hauptfigur. Mit Geschick und Köpfchen schlägt sie sich durch, findet stets eine neue Geschäftsidee und reist von einem Land mit großer Revolutionsgeschichte zum nächsten. Die Enttäuschung folgt ihr auf dem Fuß. Es scheint, sie ist gleichsam auf der Suche nach individueller Befreiung und einem Eintauchen in eine revolutionäre kollektive Bewegung. Wie siehst du ihre Reise und wie geht sie weiter?
ES: Miras Reise führt genau an dieser Grenze entlang – sie befindet sich auf der Suche nach individuellem Glück und möchte dabei auch die Welt verändern. Ihre Vorstellungen davon, wie sie etwas Neues in Umlauf bringen, eine neue revolutionäre Bewegung in Gang setzen könnte, sind an historischen Überhöhungen beziehungsweise Verkürzungen ebenso geschult wie an dem neoliberalen Grundsatz, jede*r ist des eigenen Glückes Schmied*in. Diese Vorstellung, dass eine soziale Bewegung von Einzelpersonen ausgelöst oder „geführt“ werden könne, gerät auf ihrer Reise immer mehr ins Wanken. Schließlich bekommt sie eine Ahnung davon, wie kleinteilig und dezentral soziale Bewegungen organisiert sind, was wiederum mit den tradierten Helden- und viel seltener Heldinnen-Mythen kollidiert.

Eure Buchtitel – Fadenspannung und die Gerissene – scheinen miteinander zu kommunizieren und auf eine entgegengesetzte Richtung zu verweisen. Die verbindenden und gerissenen Fäden … hier das Anknüpfen an Erinnerung und Kolleg*innen und dort das Abbrechen von Beziehungen und der Aufbruch an neue Ufer. Was denkt ihr über diese beiden Bewegungen?
IK: Also ja, in meinem Buch – und das wäre ja eine Parallele – geht es auch darum, dass eben Verbindungen hergestellt werden zwischen Schreibenden, die die Kritik und Verbesserung der Welt zum Thema machen. Es geht einerseits um das Miteinander, die Anwesenheit der Anderen, die meinen Text erst vollständig machen. So wie alle Bemühungen letztlich ein Zusammenspiel ergeben, ein Zusammenspiel unserer Bemühungen, kleinteilig und doch – oder deswegen – sehr umfassend und, vielleicht – unendlich, weil es ja immer neue und weitere auffindbare Teile und Fäden gibt, an die ich anknüpfen könnte und die an mir und meinen Worten anknüpfen und ziehen, vielleicht auch zerren oder reißen.

ES: Mira knüpft ja auch buchstäblich Fäden, indem sie an den verschiedenen Orten, die sie bereist, mit Stoffen hantiert, die ihr wiederum erlauben, in Kontakt mit anderen Menschen zu treten – auf mitunter recht unterschiedliche Weisen. Das ist sozusagen die inhaltliche Ebene. Und dann gibt es auch in meinem Buch die Ebene, dass viele Texte von anderen miteingewoben wurden – allerdings stillschweigend und nur für diejenigen erkennbar, die die anderen Texte schon gelesen haben und deren Spuren im Roman finden können. Es ist einerseits schön zu wissen, dass ich beim Schreiben, obwohl es eine Tätigkeit ist, die ich alleine am Schreibtisch ausübe, nicht einsam bin: Ich bin in Begleitung vieler Texte und Autor*innen – Ilse, du nennst das in deinem Buch „die Gemeinschaft der Schreibenden“. Andererseits ist es im Falle so eines Romans auch eine Aneignung, die eben nicht das Gemeinsame mitverhandelt, sondern es stillschweigend voraussetzt.

IK: Ja und eine inhaltlich wichtige Frage, die sich in beiden Büchern auf verschiedene Weise stellt, ist jene nach dem erstrebten und imaginierten individuellen Glück. Wie kann es sich im Leben verwirklichen, wie sind die Vorstellungen davon. Und wie kann es zu einer positiven Kraft werden, die wiederum über das Glück des einzelnen Menschen hinausgeht, das es ja streng genommen nur gibt, wenn es eben nicht „individuelles Glück“ ist.

Dein Buch, Ilse, hat einen wunderbar sachlichen und lakonischen Tonfall. In einem Kapitel erzählst du eine Schlüsselszene, einen Wendepunkt in deinem Leben, und schreibst dann: „Oder auch nicht. Oder doch. Erinnerung ist das eine, Erzählung ist das andere.“ In mir stiegen sofort Erinnerungen hoch – Schlüsselszenen aus meinem Leben. Deine Verbindung von Tonfall und Gedanke ist sehr stimmig und lädt zum Mitdenken und Erinnern ein. Ist es die Melancholie oder die Schelmin, die dich im Schreiben führt?
IK: Ja, die Schelmin, die bin ich in gewisser Weise selber. Ich führe mich in die Irre und mache Kurven. Ein Labyrinth mit rotem Faden, ich weiß nicht genau, ob ich einen Ausgang suche oder einen Ausweg aus den Widersprüchen oder ob es vielmehr darum geht, sie aushalten zu können. Sich an einem Bier zu erfreuen im Bewusstsein der Widersprüche in den bitteren so genannten real existierenden Wirklichkeiten. Und mir darüber klar zu sein, dass ich diese Bitterkeit aushalten muss, die eigenen Problematiken und alle anderen, die ich nicht auflösen oder ad hoc verändern kann. Die Schelmin ist eine schillernde Person, die Heiterkeit, Zorn und Ironie vereinigt und auch manchmal sorglos tanzen oder springen möchte. Die Melancholie ist sozusagen eine Basis für die Fröhlichkeit, eine Art „Gegenfröhlichkeit“.

Dein Buch, Eva, beginnt mit einem melodischen Prolog, der uns und die Protagonistin vom Universum auf die Erde führt. Mira wächst in einem österreichischen Dorf auf, zieht als Jugendliche nach Marseille, dann nach Algerien, von dort in die Wüste und schließlich nach Kuba. Als Lesende reisen wir mit, im Kopf voller Bilder fremder Landschaften, Städte und Menschen. Wie gingst du beim Schreiben mit den kolonialen, post- und antikolonialen Bilderwelten um?
ES: Mira hat, wie sich im Verlauf ihrer Reisen herausstellt, ein Bild von der Welt im Gepäck, das Europa ganz selbstverständlich als den Nabel dieser Welt darstellt: Erst im Zuge unterschiedlicher Begegnungen fällt ihr auf, dass sie sich unter vorteilhafteren Umständen durch diese Welt bewegen kann als andere. Sie ist zunächst nicht einmal in der Lage, diese Unterschiede wahrzunehmen. Ich denke, das ist bezeichnend für ein europäisches Selbstverständnis, das in den Kolonialgeschichten begründet ist. Dieses Selbstverständnis gerät ins Wanken und das ist wiederum die Voraussetzung dafür, postkoloniale Verhältnisse und ihre Konsequenzen für Menschen, die im globalen Süden leben, zu begreifen.

Ilse, du schreibst in deinem Buch, dass wir neue Erzählungen brauchen. Was denkt ihr, brauchen wir auch ein neues Verlagswesen und neue Leser*innen?
IK: Also, ja neue Erzählungen, das heißt, wir tasten uns da mal vor. Es ist nichts Fertiges, wo ich jetzt sage, so geht das, das brauchen wir. Die Frage ist vielleicht auch, wer das „wir“ ist. Generell – aber das ist jetzt etwas verschwommen – könnte ich vielleicht sagen, wir brauchen einen anderen Begriff von Kunst, einen, der viel mehr Menschen miteinbezieht, also sowohl als Kunstschaffende als auch als Rezipierende, aber auch als jene, die in der Kunst vorkommen, also etwa in Büchern und auf Bildern, und deren Lebensrealitäten Thema werden dürfen. Es soll nicht so sein, dass ein Buch sich dann eben als Thema nimmt: „Jetzt spielt einmal eine behinderte Person mit“, und dann ist ihren Problemen der Text gewidmet, Thema „Behinderung“. Es müsste ganz normal sein, dass in Texten usw. eben ganz unterschiedliche Personen vorkommen, Menschen verschiedener Geschlechter, kranke und gesunde, alte und junge Menschen aus verschiedenen Weltgegenden.

ES: Insofern brauchen wir auch ein Verlags- und Vertriebswesen, das sich nicht an mehrheitlich durchgesetzten Repräsentationsformen orientiert – denn repräsentiert wird eben nicht „die Mehrheit“, die viel diverser ist als gängige Figurenrepertoirs, die sich immer noch häufig an einem ganz spezifischen sozialen Typus (weiß, männlich, globaler Norden) orientieren. Die Begründung, dass sich Geschichten mit diesem Figuren-Typus eben „gut verkauften“, basiert immer noch auf der Vorstellung, es handle sich dabei um ein „Universal“. Damit sollten wir gemeinsam aufräumen, in Verbindung von Künstler*innen, Institutionen, Leser*innen und eben auch Verlagen.

 

Die beiden Bücher:

Ilse Kilic, Fadenspannung. Eine Verbündung, Ritter Verlag, 2021

Eva Schörkhuber, Die Gerissene, Edition Atelier, 2021

Ilse Kilic ist Schriftstellerin, Zeichnerin, Film- und Radiomacherin, betreibt zusammen mit Fritz Widhalm das fröhliche Wohnzimmer („dfw.at) und ist Präsidentin der Grazer Autorinnen Autorenversammlung (GAV).
Eva Schörkhuber ist Schriftstellerin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Redakteurin von PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/Politisch Schreiben und Mitglied im Papiertheaterkollektiv Zunder.