WORKB***H on summer vacation.

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John Tylo: Trainrides and Walks

Karl Katzinger alias John Tylo alias Drago Torpedowicz starb am 2. April. Richard Wall über einen solitären Menschen und einen Geist, dessen Zuhause das Unterwegs-Sein war.

Von frühester Zeit an gab es welche, die auf den Straßen verschwanden.
Basho, Auf schmalen Pfaden durch das Hinterland

Karl Katzinger, der sich in seinen Aussendungen, Büchern und Manifestationen nie so genannt hat, ist nicht mehr: John Tylo alias Drago Torpedowicz starb am 2. April nach schwerer Krankheit, wie es in der Aussendung seiner zweitältesten Tochter, der Künstlerin Nana Tylo heißt, im Alter von 67 Jahren.
Unter Backwoodsmen Association veranstaltete er Auftritte von Künstlerinnen und Künstlern aus Europa, Afrika, Asien und den USA, zudem organisierte er Lesungen, Vorträge und Filmabende, zumeist in der Garage Drushba (Freundschaft) auf seinem Bauernhof in Harrachstal.
Karl und ich haben uns Anfang der 1970er Jahre als sogenannte Fahrschüler in der damals noch dampfbetriebenen Sum­merauer-Bahn kennengelernt. Er kam aus Lasberg, ich stieg in Katsdorf zu. Wir mussten täglich nach Linz pendeln, um nach der Hauptschule auf dem Land ein Oberstufengymnasium in der Landeshauptstadt besuchen zu können. Will damit auch sagen: Wie wir unser Leben angelegt haben, war uns keinesfalls in die Wie­ge gelegt, und das, was uns verband, war eine reflexartige Ablehnung von diktatorisch auftretenden Autoritäten und faschistoiden Strukturen; der damalige Ungeist an vielen Schulen bot genügend Anlässe, um sich an Lehrkräften, deren Menschen- und Gesellschaftsbild im Nationalsozialismus geformt worden war, zu reiben. Ich kann mich noch erinnern, dass er mir, auf mein Drängen hin, den Inhalt seiner Mappe gezeigt hat, mit der er in Bildnerische Erziehung maturierte. Ich war beeindruckt: Studien, griechische Tempelanlagen, Aquarelle. Nach der Matura verschwand er nach Wien, mit der Absicht, Geographie zu studieren, inskribierte dann doch Pharmazie. Damals liefen wir uns nur noch selten über den Weg. Erinnern kann ich mich noch an ein Gespräch übers Trampen. Er meinte, man müsse sich mit wenig Gepäck den Autofahrern anbieten; ergo habe er oft nur einen Schlafsack und sein Zahnbürstl bei sich. Aus einem Berufsleben im weißen Mantel wurde nichts; gesichert hingegen ist, dass er als Handverkäufer der Wiener Stadtzeitung Falter reüssierte.
Jahre später: Handgeschriebene Einladungen auf der Rückseite von Fotografien zu Veranstaltungen in die Garage Drushba. Gelegentliche Zusammentreffen in Freistadt und Linz. In Prag begegneten wir uns Anfang der 1990er Jahre zufällig im Wohnatelier unseres gemeinsamen Freundes, des Malers Zdenek Macku. In St. Petersburg haben wir uns im Jahr 1999 knapp verpasst. Kam er einem auf der Straße entgegen, war er mit seiner Körpergröße von nahezu zwei Metern schon von weitem auszumachen. Zudem lag ihm nicht viel an konventioneller Kleidung; ihn mit einer roten Hose oder einem gelben Sakko bekleidet zu sehen war nichts Außergewöhnliches. Er rauchte Zigarillos oder kubanische Zigarren, die er von seinen Reisen hinter den Eisernen Vorhang, nach 1990 aus dem nördlichen Nachbarland, wo er aus ökonomischen Gründen eine Zeitlang seine Post aufzugeben pflegte, mitgebracht hatte.
Unterwegs war er immer, in Gedanken und auch physisch, mit minimalem materiellem Einsatz. Er bereiste Europa, Teile Asiens und Afrikas mit der Bahn, per Schiff, Boot, Fahrrad und per Anhalter. Seine erste außergewöhnliche Reise, die nahezu ein Dreivierteljahr dauerte, unternahm er im Jahr 1987 mit seiner damaligen Lebensgefährtin Heide und der gemeinsamen, erst zwei Jahre alten Tochter Franziska. Der Trip begann in Griechenland und setzte sich fort im südlich gelegenen Kontinent. Von Nairobi (Kenia) reisten sie durch Steppen und kleinere Städte nach Mogadishu, der Küste entlang nach Kismaayo, auf einer Dau, einem traditionellen Segelboot, zu den Bajuni, einer Kette von Koralleninseln, und wieder retour nach Mogadishu. Weiter ging es durch Wüste und Steppe über Beled Weyne, einer Stadt in Zentral-Somalia, zum Golf von Aden, über den und dessen angrenzende Regionen auch schon Arthur Rimbaud, Blaise Cendrars und Annemarie Schwarzenbach berichtet haben. Weitere Stationen: Auf einem indischen Schiff nach Djibouti, per Flugzeug nach Sanaa in den Jemen, über Ibb und Taizz nach Mokha (nach dieser Stadt ist die spezielle Kaffeezubereitung benannt) und an den schwül-heißen Küstenstreifen Tihama …
Tylo führte, wie auf allen seine Reisen, Tagebuch. Ein Fotoapparat und eine Super-8-Kamera erweiterten sein Konzept des Notierens und Dokumentierens. Während man beim Schreiben mit sich, einem Bleistift und einem Notizbuch alleine ist, ermöglicht die Fotografie eine Form der Kommunikation mit Menschen, denen man begegnet. Es gibt nur wenige Fotos von Tylo, die ausschließlich eine Landschaft oder Bauten zeigen. Zumindest menschliche Spuren, auch wenn es nur Ruinen sind oder Telefonmasten, die durch eine kahle Steppenlandschaft stelzen, sind stets vorhanden. Beim Lesen seiner Bücher, in denen die Fotos mit seinen Notizen korrespondieren, erkennt man dann auch, dass er den Kontakt suchte, ihm das Handeln (auf Märkten) und Verhandeln (um Fahrpreise, Visagebühren, die Miete eines Zimmers) nicht immer ungelegen kam.
Viele dieser Aufnahmen und Filme sind meines Erachtens Kostbarkeiten, zumal einige der von ihm aufgesuchten Regionen und Staaten – wie Jemen, Somalia, die Ostukraine – aufgrund von militärischen Auseinandersetzungen oder der islamistischen Terrorgefahr derzeit nur unter Lebensgefahr bereist werden können. Es handelt sich um Dokumente, die er hin und wieder – vor allem seine Filme – gezeigt hat, die aber noch einer seriösen Würdigung und Darstellung im Kontext seiner Lebensführung und Kunst des Reisens harren.
Jahre später, 2010, erschien dann der Reisebericht unter Ausschluss der Wochen in Griechenland mit dem Titel Familienausflug nach Somalia und Jemen: Ein Titel, der an die Beschriftung eines biederen Fotoalbums von anno dazumal erinnert, der jedoch in Verbindung mit dem Coverfoto – die Reisenden gegen die Hitze vermummt in einer Steinwüste zeigend – dessen ironische Semantik offenbart. Ein Understatement, das auch seine Eintragungen kennzeichnet: Lakonie und Ironie, manchmal auch Sarkasmus, versus Pathos. Reisen dieser Art bringen auch, wie sollte es anders sein, ernüchternde Erfahrungen mit sich, weitab einer Idylle à la Tausendundeine Nacht. Sie erlebten beglückende Begegnungen, Hilfsbereitschaft sowie die Besonderheiten der Landschaften und Städte, aber auch Hitze und Krankheit, Schmutz und Korruption.
Die zweite, ebenfalls etwas längere Reise im Jahr 1995, konzeptuell angelegt, durch ehemalige Länder der Sowjetunion, hatte immer wieder folgende Ziele: Druckereien und Postämter, um tausende(!) Postkarten als MAIL ART verschicken zu können. Das Motiv der Karten bestimmte als Fotograf er selber: Nach dem Entwickeln des Films wurde eine Ansicht ausgewählt und in einer Druckerei, mit einem meist längeren, von Tylo verfassten Text auf der Rück­seite, vervielfältigt – in Moskau, Sotschi, Alma-Ata, Taschkent u. s. f. Pro Sendung kaufte er 500 Briefmarken, nicht immer problemlos wie man sich vorstellen kann, die dann auch geklebt werden mussten.
Im Verlauf der Reise geriet er u. a. in Kasachstan in eine internationale Kundgebung gegen Atomtests; kontrastierend zu einer Schwanensee-Darbietung in der Oper von Almaty, die er mit der Kritik „dämliches Herumgetrippel, extrem gefällig“ bedachte, um sich mit der Selbstaufforderung „nichts wie weg!“ für einen Tapetenwechsel zu entscheiden, er begab sich auf eine 5-tägige Trekking Tour. An diesem Abenteuer in den Nordkirgisischen Berge nahmen auch sein Neffe Daniel und sein jüngerer Bruder Werner teil. Stundenlange Anstiege auf Pässe bis zu einer Höhe von 4000 m, Querungen von Gletscherbächen im Einzugsgebiet der Flüsse Chon Kemin und Aksuu sowie die dünne Luft brachten ihn an den Rand des physischen Zusammenbruchs. Jeder europäische Trekking-Veranstalter hätte ihm aufgrund seiner unzulänglichen Kleidung und Ausrüstung die Teilnahme an der Tour untersagt. In Talas ließ er sich auf das mit Fahnen, Jurten, Lanzenreitern, Salutschüssen und uniformierten Ordnungskräften martialisch gestaltete Folklorefestival der Kirgisen beim Mana-Mausoleum ein (die Volksdichtung Manas ist ein turksprachiges Epos, das nicht weniger als 500 000 Verse umfasst).
Neben Begegnungen mit großartigen und gastfreundlichen Menschen, die mehr oder weniger mit Kunst und/oder mit der Kunst des Überlebens zu tun hatten, begleitete ihn ständig der Schrott „der alten heroischen Epoche“, verlassene Produktionsstätten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowie der Verpackungsmüll der neuen, aus dem Westen importierten Konsumgüter.
Kunst war für Tylo nicht Zeitvertreib oder nur Vergnügen, nicht das Sträußerl am Hut nach Feierabend. Er suchte nach Entsprechungen zwischen Leben und Kunst – Kunst im Sinne einer schöpferischen Manifestation, die aus dem Leben kam und wieder auf das Leben zurückwirken sollte, wobei naturgemäß eine stringente Kausalität nicht ablesbar oder erkennbar sein kann. Er verstand Kunst nicht als Ware, sondern als ein das Leben befeuerndes Überlebensmittel. Er lebte ein anarchisch-einfaches Leben auf dem Lande, abseits geschwätziger Kulturgüter, philosophisch, politisch und ökologisch reflektiert, eine scheinbar idyllische Existenz, der er mit seinen Reisen einen Kontrapunkt verlieh.
Künstler sein ist ein Geistes- und Seelenzustand. Tylo war dem Exzess und der Ekstase nicht abgeneigt, war aber der geistigen und körperlichen Kasteiung ebenso fähig, wenn er es für nötig hielt oder ihm nichts anderes übrig blieb. Er hatte etwas von einem Zen-Meister an sich, vom Gestus Han Shans. Ich sehe ihn als eine solitäre Erscheinung, dessen Geist weit über den Tellerrand konventioneller Kleinkrämer sprühte und an den Konventionen zündelte. Die von ihm gewählten Formen des Ausdrucks entsprachen seinen Entdeckungen und Erfahrungen – einer zeitlosen Vitalität. Er lebte eine halbnomadische Alternative, die auf andere offensichtlich irritierend oder gar bedrohlich gewirkt hat.
John Tylo, dieser allzubunte Vogel hat den sich zunehmend verdunkelnden Planeten für immer verlassen. Sein Geist, der sich für so vieles begeistern konnte, schwebt über der Aist und fragt sich wohin. Das Unterwegs-Sein war sein Zuhause.

 

Literatur: GUSMAIL (1997), Familienausflug nach Somalia und Jemen (2010), beide Backwood Press.

Backwood Association: Karl Katzinger alias John Tylo betrieb in Harrachstal 8 bei Weitersfelden einen Kulturverein, der sich je nachdem Backwood/Backwood Associate/Backwood Association (Culturelle) nannte. www.backwood.at

Re: In Trauer um Karl Katzinger

Ein vielstimmiger Nachruf auf den Künstler, Kulturarbeiter und Umweltaktivisten Karl Katzinger, John Tylo.

„Nach dem Tod unseres Vaters haben uns zahlreiche Mails mit Worten der Anteilnahme, Erinnerungen und Fotos erreicht. Speziell für die Referentin ist nun aus den Zusendungen eine Collage aus Textfragmenten entstanden.“ Zusammengestellt von Franziska, Nana, Leon und Kurt

Fadi Dorninger „Ich habe Karl als John 1999/2000 im OK kennengelernt. Mit schrillem Outfit und gewagten Aktionen, was ihn mir gleich sympathisch gemacht hat. Ich bin damals nach Vilnius geflogen, John ist ewig lang und abenteuerlich mit dem Zug gefahren. Ich habe abgekürzt, er wollte aus dem Vollen schöpfen, wenn es schon um den DIALOG Vilnius – Linz ging. Das habe ich an ihm bewundert. Den eigenen Weg gehen, sich nicht anpassen oder sich kaufen lassen, kostet sehr viel Kraft, weil dafür im System Kunst nichts vorgesehen ist. Seine für mich ‚verwegenen‘ Veranstaltungen im eigenen Haus haben ihm sicher jene Energie gegeben, sich immer wieder der Kunst zu stellen, sich immer wieder einzubringen, meist kompromisslos. […]“

Fritz Diesenreiter „[…] Karl war ein extrem wichtiger Mensch für mich, der mich als Jugendlicher alleine schon durch sein Auftreten neugierig auf seine Person gemacht und beeindruckt hat. […] Karls Veranstaltungen in der Garage waren immer ein Garant, liebe, spannende und neue Leute zu treffen, besondere Musik zu hören, oder andere aufregende Projekte zu sehen. Unglaublich wie er das geschafft hat, sowas in einem Nest wie Harrachstal aus dem Boden zu stampfen und so lange Zeit am Leben zu halten. […] Ohne Karl und seine backwoodsman association würde es backlab nicht geben. Und ohne backlab würde es ganz viele Freundschaften nicht geben. […]“

Lorenz Posch „[…] Ich war 2012 als damals 12-Jähriger bei dem „verbotenen“ Landlertanzkurs dabei und habe später Karl immer wieder auf diversen Festen (sunnseitn etc) getroffen und immer wieder sehr anregende Gespräche mit ihm führen dürfen. Karl war menschlich ein großes Vorbild für mich, seine Art, das Leben zu leben hat tiefe Spuren in mir hinterlassen und in mir einige Gedanken ausgelöst, wie ich denn mein Leben leben möchte.“

Antonella Pulicicchio „Ich war seine Italienischlehrerin in der VHS Freistadt, die Gruppe war für mich wie eine Familie, deshalb bin ich von Linz jeden Dienstag dorthin gefahren, zwei Jahre lang. Karl war immer dabei, mit seiner Ironie, Intelligenz, Sympathie, Sensibilität, Eleganz – er war geliebt von uns allen, […]“

Mischa Jäger & Elisabeth Loibl „[…] Er passte gut in unsere etwas kopflastige Gründermannschaft, weil er offen war, zupackend, witzig und widerständig – a ‚wüda Hund‘, wie wir damals zu sagen pflegten. Was im Übrigen nicht nur dem sprachlichen Eigensinn seiner gelegentlichen redaktionellen Beiträge zugutekam, sondern auch seiner Einsatzbereitschaft im damals angesagten Kampf gegen das polizeiliche Unverständnis für allerlei Besetzungs- und Befreiungsaktionen im öffentlichen Raum. Unvergesslich: Katzingers Siegerlächeln bei einem Auftritt in der Redaktion mit angeknackstem Nackenwirbel und Halskrause, die er nach einer spätsommerlichen Schlacht um Rasenfreiheit im Wiener Burggarten wie eine Trophäe trug. Und dann war da noch diese Schrift an der Wand, die uns jeden Morgen auf dem Weg in die Redaktion von der Gartenmauer eines Innenstadt-Palais entgegenlachte, und sich rasch in der ganzen Stadt verbreitete. […] ‚Ölt die Frösche!‘. […]“

Peter und Hedi Kuthan & ARGE Zimbabwe Freundschaft „[…] Wieder daheim in Österreich war Karl mit seiner Backwood Association und der Garage Drushba wiederholt Partner und Anlaufpunkt im Kulturaustausch, den insbesondere unsere afrikanischen Gäste geschätzt haben, weil damit ein ganz anderes Bild von Europa als das so oft verklärte vermittelt wurde. Mit Karl ist ein widerständiger und rastloser Geist von uns gegangen, der zwar meist ‚im Hinterwald‘ gelebt, aber doch weltoffen und weltläufig war, nicht zuletzt aufgrund seiner Reisen in Afrika und auf dem Balkan.“

Günther Rabl „Es gibt Menschen, die alleine durch ihre Existenz Ruhe und Frieden verbreiten. Auch wenn es in unmittelbarer Nähe nicht immer so ausgesehen haben mag – Karl war für mich so jemand! Wir haben uns oft Monate nicht gesehen oder gesprochen. Ich konnte mich darauf verlassen: es gibt ihn! Und das soll jetzt nicht mehr sein!!! Mir fehlt ein Ästhet, ein Philosoph, ein begnadeter Fotograf und vielfach (sogar von ihm selber) unterschätzter Schriftsteller – ein Mensch!“

Anatol Bogendorfer „[…] Im Winter 2018 sind meine Freundin und ich spontan einer Einladung gefolgt, […], man möge doch die wunderbaren Apfelsorten, die aus einem nahegelegenen Obsthain stammen und nun in seinem Obstkeller lagerten, zu einem günstigen Kilopreis bei ihm kaufen. In seiner Oldschool-Küche hat er uns dann die alten Sorten verkosten lassen. Wir haben wieder Kaffee getrunken, haben Äpfel en masse mitgenommen und sind aufgrund eines heftigen Schneesturms nur beschwerlich zurück in die Stadt gekommen. […]“

Josef Gaffl „[…] und das mit nur einer Hand am Lenker, denn mit der anderen winkte er mir freundlich zu, ganz so als würden wir uns jeden Morgen an dieser Stelle begegnen. Noch immer sehe ich seine langen Haare und sein offenes Hemd um die Wette im Wind flattern, noch immer sehe ich sein freundliches Lächeln, und noch immer erinnere ich mich an die unbändige Leidenschaft, die ihn in diesem Moment vorwärtstrieb. Später hab ich erfahren, dass sich Karl an diesem sonnigen Morgen auf den Weg nach Albanien gemacht hatte. So war er eben. Unglaublich. […]“

Titus Feuerzwang „Der Karl und ich haben uns über die Sensenmähkurse, die er im Schaugarten der Arche Noah in Schiltern gehalten hat, kennengelernt und sofort wunderbar verstanden. […] Er war ein unverwechselbarer Mensch mit großem inneren Reichtum und einer starken Ausstrahlung, der es geschafft hat, sein Leben nach seinen Überzeugungen zu leben.“

Claudia Ascher-Cuscoleca „[…] Gestern fiel mir durch Zufall oder eben doch nicht Karls Buch ‚Ein Familienausflug nach Somalia und Jemen‘ in die Hände und ich habe begonnen es zu lesen!“

Uli Böker „Durch das Festival der Regionen lernte ich Karl Katzinger kennen. Ob als Backwoodsman oder als John Tylo, beim emissionslosen Sensenmählehrgang gemeinsam mit seinem Vater, oder in der Garage in Harrachstal, ein zutiefst Suchender und Finder, ein Mensch, der mich in seiner Kompromisslosigkeit, in seiner Art zu leben fasziniert hat, oftmals ausbrechend aus dem doch oft sehr engen Mühlviertel, ein sich gegen den vorgeschriebenen, gesetzlichen Kanal-Anschlusszwang Kämpfender, ein besonderer, ein faszinierender Mensch, der sich davon gemacht hat … ich danke dafür, dass ich ihn zumindest ein bisschen kennen lernen durfte – ich drücke mit diesen Zeilen mein Beileid aus, ich wusste nichts von seiner Krankheit … das Mühlviertel, die Welt braucht viel mehr Karl Katzingers […]“

Thomas Pflügl, Alpenverein Freistadt „Ich hatte ab und zu die Gelegenheit mit ihm zu diskutieren, meistens auf der Braunberghütte. Er war ein interessierter und interessanter Mann, der nicht nur klassische Wege beschritten hat.“

Peter Arlt „[…] hab immer wieder mit ihm zu tun gehabt, privat wie ‚beruflich‘. fürs festival der regionen habe ich ein hör­feature zu karls kanalanschlußzwang (‚karl k. und der behördenapparat‘) angefertigt – personen und orte leicht anonymisiert, aber ausschließlich aktenverkehr verwendet, mit schauspieler (u. a. mit ferry öllinger) und eigener musik aufgenommen. […] oder mein ‚vortrag‘ am 19. 10. 14 in der garage drushba, auf meiner webseite hab ich dazu festgehalten: ‚wenn man leute einlädt, die alle etwas machen – kochen, musizieren, bauen – dazu ein paar sachen (materialien) zur verfügung stellt sowie fürs leibliche und seelische wohl sorgt, dann entsteht etwas, wovon die alten fluxus-künstler immer geträumt haben, aber mit ihrem kunststress kaum hinbekommen haben: REAL FLUXUS ! … Und für alle, die es noch nicht mitbekommen haben: im gar nicht so stillen harrachstal lebt seit ewigen zeiten OÖ größter fluxus-meister ever. ämter aller abteilungen: gebt ihm endlich das goldene verdienstkreuz und eine professur gleich noch dazu. aber schnell! das ist natürlich nicht passiert.“

Volodja Vorontsov „Ich bin tiefst mit dieser Nachricht geschlagen. Karl ist mein näherster Freund zu wem ich absolute Vertrauen habe. Er ist Mensch und eine der beste Teil der Menschheit. Meine Frau hat immer über ihn gesagt, dass mit ihm war immer einfach zu unterhalten wie mit niemanden von Österreicher. Ich stimme es auch zu. Er war wirklich ein großer Mensch in unserem Erdevolk. Mein Beileid zu euch. Ich bin momentan in Moskau. […]“

Gottfried Gusenbauer „[…] Karl, bzw John, war so ein toller Typ, und er war mir in Sachen Kunst + Kulturarbeit ein großes Vorbild. Schade, dass ich ihm das nie gesagt habe. Vielleicht auch deshalb, weil er für mich ohnedies immer war und sein wird. Auch jetzt.“

Herbert Zellhofer „[…] eine Bereicherung für die Welt, die nun um einen Karl ärmer ist und sehen muß, wo sie sowas wieder herkriegt. Denn er wird fehlen. Euch, die ich so gut wie nicht kenne, vermutlich, und mir bestimmt. Er verdient einen Preis für sein Lebenswerk (aber dafür ist es jetzt zu spät) und ein Museum. […] Behaltet ihn in euren Herzen.“

Andi Wahl „Karl war wirklich ein wunderbar widerborstiger Mensch wie er einem nur selten unterkommt. Mit seiner Widerborstigkeit und seiner Originalität hinterlässt er euch ein reiches ideelles Erbe.“

Online-Kochsendungen.

Der Dude ist online. Von seinen Prophezeiungen aus den frühen 2000er-Jahren, dass sich das Internet im Sand verlaufen wird, musste er leider zähneknirschend abschwören. Alles findet mittlerweile online statt. Der Lebensmitteleinkauf, die Essensbestellung, die Bewertung von gastronomischen Stätten, aber natürlich auch die Aus- und Weiterbildung. Und natürlich, auch das unterhaltende Element hat Platz. Gänzlich selbstlos und dem investigativen Handwerk verpflichtet, stürzte sich der Slow Dude in die wohl bisher zeitaufwändigste Recherche seiner Karriere. Nämlich der, die kulinarische Landschaft auf den Rechner- und auch Fernsehbildschirmen ein wenig zu kartieren und der geneigten Leserin, dem geneigten Leser ein wenig Navigator in dem schier endlosen Strom an Food & Beverages im Inter- und Kabelnetz zu sein. Es geht um Kochsendungen.

Beginnend im quasi lokalen Suchradius fällt in den letzten Jahren immer wieder die etwas seltsame Erscheinung einer Art 50er-Jahre-Hausfrau namens Silvia Schneider auf. Sie engagiert sich seit einiger Zeit kulinarisch im Lokal-TV und zusehend „nationwide“. Womit das Kochformat „Silvia kocht“ erwähnt sei. Warum dies überhaupt stattfindet, erschließt sich dem Dude gar nicht. Weder interessieren die Dame scheinbar das Kochen oder Lebensmittel an sich, noch hat sie große Empathie oder echtes Interesse an ihren Mitkochenden. Das Handling mit den Zutaten ist mindestens genauso ungeschickt, knöchern und uninteressiert wie die Kommunikation mit den Gästen. Es bleiben eigentlich nur zweideutige schludrige Bemerkungen, die es in keinster Weise verdienen, weiter beachtet zu werden. Als österreichischer Vorfall noch erwähnt: Andy und Alex. Holy Moly – der eine sieht aus wie der Elmer Fudd (aus Bugs Bunny) und der andere wie eine missglückte Falco-Parodie. Gemeinsam erreichen sie ein Humor- bzw. Gesprächsniveau wie eine Villacher-Faschingssitzung in den frühen Morgenstunden.

Den Kreis etwas größer gezogen, gelangt der Dude relativ schnell an TV-Formate aus dem deutschsprachigen Nachbarland. Man stolpert hie und da zwar auch über Österreicher, man wird aber meist nur von bundesdeutschen Männern in weißen, grauen und schwarzen Kochoutfits belästigt. Diese kochen, unterhalten, vermarkten als Fullservice-Unternehmen und verdienen viel Geld. Gern wird das Kochen als Wettbewerb zwischen Hobbyisten gezeigt. So der Langläufer im ARD, die „Küchenschlacht“. Die KandidatInnen werden entweder angebaggert, verarscht oder wie Kleinkinder gegängelt. Doch die meisten haben es ja verdient. Am besten gefallen dem Dude die Kandidaten, die nach dem Muster ehrgeiziger Hobbysportler daherkommen. Hochkonzentiert, verbissen und humorbefreit machen sie aus einem sinnlichen Akt ein Rennen um Garpunkt, Deko und Kochtechniken. Positiv möchte der Dude da „Koch-Kunst mit Vincent Klink“ erwähnen. Ein urgemütlicher Sternekoch, der dahinnuschelt, manchmal besserwisserisch ist (aber charmant) und „Küche für Alle“ im besten Sinne propagiert.

So, nun genug mit dem linearen Strom aus dem TV-Kabel. Rein in die wunderbare Welt von Youtube und Konsorten. Und ja, es gibt auch dort die reaktionären Formate. Aber es gibt auch die angenehme, unaufgeregte und witzige Seite. In allen Abstufungen. So ist zum Beispiel der Youtube-Kanal der New York Times (YT: nyt cooking) erwähnt. Eine Recherche-Ent­deckung des Dudes. Hier stellen Köchinnen, Köche, Schreiberlinge und Hobbyisten Rezepte, Techniken und internationale Küchen vor. Ein Kanal zum Bingen. Besonders erwähnt sei hier Alison Roman, die „Easy-goin“ in der Küche zur Perfektion führt. Etwas brachialer, ohne echten Bildungsauftrag fuhrwerkt der Kanadier Matty Matheson (YT: mattymatheson) herum. Er schreit, performt, scheitert und kocht – nebenbei ohne großen Anspruch – unterschiedlichste Rezepte. Die aber am Schluss einen Essreflex auslösen und zum Nachkochen animieren. „Just a dash“ heißt seine letzte Format­reihe, die er gemeinsam mit einem kleinen Team produziert – und jede Episode ist es wert, angesehen zu werden. Wenn man es aushält. Als didaktisches Genie kommt Andong (YT: My Name Is Andong) rüber. Der junge Deutsche lehrt internationale Küche und Kochbasics auf glatte und inszenierte Art. Aber mit Witz und guter Verve. Seine Suppenreihe vom Winter 20/21 sei jeder Suppenliebhaberin und jedem Suppenliebhaber ans genießerische Herz gelegt. Hier kann man echt was lernen – auch wie man Kochvideos machen kann.

Den Großmeister – der leider nicht mehr unter uns weilt – Anthony Bourdain kann der Dude hier nicht unerwähnt lassen. Ein Typ, der Gesprächsführung beherrscht, zum Entdecken ermutigt, kulinarisch wissend ist und dabei ein Ramones-T-Shirt trägt, geht einfach fürchterlich ab. Diverse Streamingdienste und auch Youtube machen das Erbe von Anthony Bourdain zugänglich. Unbedingt ansehen.

Und apropos Lokal-TV: Wieso hat das in Linz basierte DorfTV eigentlich keine Kochsendung? Eine Formatidee des Dudes: Alle kochen (nur) mit Wassermair.

Eine solidarische Union der Räte

Die Referentin bringt seit mehreren Ausgaben eine Serie über frühe Anarchist_innen und frühe soziale und politische Bewegungen, die im Zeichen von kämpferischer Befreiung standen. Eva Schörkhuber in dieser Ausgabe über die Kronstädter Rebell*innen und wie sie vor 100 Jahren versuchten, die Russische Revolution vor dem Scheitern an sich selbst zu bewahren.

„Revolutionen sind Öffnungen der Geschichte“, schreibt Bini Adamczak zu Beginn des Kapitels Eventualgeschichte in ihrem Buch Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Sie untersucht darin, angesichts welcher konkreten Bedingungen sich aus einer Vielzahl an historischen Möglichkeiten einige durchsetzen konnten und andere nicht. Im Fall der Russischen Revolution stellt sie auf mehreren Ebenen die Frage, welchen anderen Ausgang diese hätte nehmen können, wenn sich ihr Verlauf an bestimmten Momenten verändert hätte. Sie sucht nach „Auswegen“, nach unterschiedlichen Blickwinkeln, die es erlauben, im Scheitern der Russischen Revolution, das sich spätestens im stalinistischen Terror offenbarte, „die Möglichkeit eines Gelingens aufscheinen“ zu sehen. Dabei geht es nicht darum, die Vergangenheit umzuschreiben, neu zu erfinden und in eine utopische Luftspiegelung zu verwandeln. Das, was Bini Adamczak als „Eventualgeschichte“ bezeichnet, „muss vielmehr fest in der Realgeschichte verankert werden“. Erst auf diese Weise lassen sich jene Wendepunkte ausmachen, an denen andere soziale und politische Bewegungen, die vom historischen Verlauf verdeckt, verdrängt und mitunter auch vernichtet wurden, wieder sichtbar werden.
Es sind drei „Auswege“, die Adamczak perspektiviert und sorgfältig entlang historischer Fakten, sozialer und politischer Gegebenheiten aufrollt: Sie befragt die Umstände des „prekären Friedens“, den die Sowjetunion nach dem Ersten Weltkrieg und am Ende des Bürgerkrieges ausverhandelt hat; sie setzt jene Möglichkeiten auseinander, mit denen das Verhältnis von Stadt und Land, der Umgang mit den Bäuer*innen und somit auch die Verteilung von Grund und Bodenerträgen anderes hätten gelöst werden können, als vom bolschewistischen Regime realisiert; und sie verhandelt angesichts des Kronstädter Aufstandes von 1921 das System der Räte, der Sowjets, das in seiner ursprünglichen, allerdings bereits kurz nach 1917 von einer zentralistischen Machtlogik usurpierten Form ebenfalls ein Gelingen der Russischen Revolution hätte „aufscheinen“ lassen können.

Perspektivenwechsel
Der titelgebende schönste Tag im Leben des Alexander Berkman bezieht sich auf einen Tagebucheintrag, in dem der Anarchist Alexander Berkman, der gemeinsam mit 249 anderen politischen Gefangenen, darunter auch die Anarchistin Emma Goldman, im Jänner 1920 von den USA nach Russland abgeschoben wurde, seine Ankunft in der Sowjetunion schildert:
„Ein Gefühl von Erhabenheit, von Ehrfurcht überkam mich. So mussten sich meine frommen Vorfahren gefühlt haben, als sie zum ersten Mal das Allerheiligste betraten. […] Mir war danach, die ganze Menschheit zu umarmen, ihr mein Herz zu Füßen zu legen, mein Leben tausendfach im Dienst der sozialen Revolution hinzugeben. Es war der schönste Tag meines Lebens.“
Die beinahe ekstatisch-religiöse Verzückung, die Berkman bei seiner Ankunft in der Sowjetunion, die im Übrigen auch eine Art Rückkehr darstellte – er war wie Emma Goldman in Russland geboren und aufgewachsen – empfand, wich einer gewissen Skepsis gegenüber der bolschewistischen Realpolitik. In seiner 1922 im Exil in Berlin verfassten Broschüre dokumentiert er Die Kronstadt Rebellion, ihren Verlauf und ihre brutale Niederschlagung. Darin schildert er auch, wie wohlwollend er trotz einiger Vorbehalte den Bolschewiki noch im März 1921 gegenüberstand: Zu diesem Zeitpunkt hatten Arbeiter*innen in Petrograd in Form von Streiks und Versammlungen, die allesamt unterdrückt, verboten und mit Polizei- und Militärgewalt aufgelöst wurden, gegen die autokratische Regierung protestiert; die Matros*innen in Kronstadt hatten sich mit den städtischen Arbeiter*innen solidarisiert und ihrerseits eine Resolution verfasst, die sich gegen die Zensur und gegen die Politbüros wandte und für eine freie, geheime Wahl der Sowjet-Delegierten sowie für Versammlungsfreiheit und eine gleiche Aufteilung der Lebensmittelrationen für alle eintrat. Als am 4.3.1921 der Petrograder Sowjet zusammentrat, um eine rigorose Vorgehensweise gegen die offiziell als konterrevolutionär denunzierte Kronstädter Rebellion zu beschließen, kam Alexander Berkman, wie er rückblickend „gesteht“, „eher zugunsten von Zinowjews [Vorsitzender des Petrograder Sowjets] Gesichtspunkt gestimmt zu dieser Sitzung: ich war auf meiner Hut vor der leisesten Möglichkeit gegenrevolutionären Einflusses in Kronstadt. Aber Zinowjews Rede selbst überzeugte mich, daß die kommunistischen Anklagen gegen die Matrosen reine Mache waren ohne einen Funken von Wahrheit.“
Der Eindruck, dass es sich bei der Kronstädter Bewegung um gegenrevolutionäre Tendenzen handle, wurde von der offiziellen sowjetischen Presse massiv geschürt. Von einem Komplott der alliierten Siegermächte war dabei die Rede, von ausländischen Spionen und einem korrupten General, der diese Konterrevolution anführen solle.

Die Kronstädter Bewegung für freie Sowjets
Die mediale Propaganda, die den Kronstädter Aufstand diffamierte, konzentrierte sich darauf, die Bedrohung als eine äußere, vom kapitalistischen Ausland gelenkte zu beschreiben. Tatsächlich handelte es sich vielmehr um eine innere Bewegung – die Matros*innen, die federführend an der Resolution beteiligt waren, wollten die Sowjetunion, für die sie jahrelang gekämpft hatten, keineswegs unterwandern oder durch eine andere Staatsform ersetzen, im Gegenteil: Ihre Forderungen reichten zurück zu den Grundsätzen der Russischen Revolution, die von den Bolschewiki selbst sukzessive außer Kraft gesetzt worden waren. Darin bestand die eigentliche Bedrohung aus Sicht der regierenden Partei.
Die Aufstände sowohl der streikenden Arbeiter*innen in Petrograd als auch jener in Kronstadt richteten sich gegen die zusehends autoritäre Regierungspolitik der Bolschewiki. Die zentrale Forderung der Kronstädter Matros*innen, Soldat*innen und Arbeiter*innen bestand darin, die Geschicke der Revolution wieder zurück in die Hände der Bevölkerung zu legen, indem die Räte frei gewählt werden konnten, um dadurch die Regierungsmacht zu dezentralisieren. In der am 1. 3. 1921 verabschiedeten Resolution lautete die erste Forderung:
„Angesichts der Tatsache, daß die gegenwärtigen Sowjets den Willen der Arbeiter und Bauern nicht ausdrücken, sofort neue Wahlen mit geheimer Abstimmung abzuhalten, wobei die vorherige Wahlkampagne volle Agitationsfreiheit unter den Arbeitern und Bauern haben muß.“
Von diesen Wahlen sollten Parteifunktionär*innen keineswegs ausgeschlossen werden, gefordert wurde lediglich, dass sich alle unter denselben Voraussetzungen zur Wahl stellen konnten. Insofern handelte es sich bei der Dritten Revolution, wie der Kronstädter Aufstand von seinen Akteur*innen bezeichnet wurde, um eine Demokratiebewegung, der sich Menschen mit unterschiedlicher politischer Haltung anschlossen. Es gab Solidaritätsbekundungen der Linken Sozialrevolutionär*innen ebenso wie der Anarchist*innen. Und als die Regierung mit ihren Repressionen gegen die Kronstädter Bewegung begann – es wurden etwa Familienmitglieder von Rebell*innen in Geiselhaft genommen –, bekundeten auch viele Bolschewiki ihr Missfallen, indem sie aus der Partei austraten und ihren Austritt in der Zeitung Izvestia, dem Organ der Dritten Revolution, begründeten. Die Lehrerin Maria Nikolajewna Schatel schreibt am 8. 3. 1921, als die militärische Offensive der Bolschewiki gegen die Kron­städ­ter*innen bereits begonnen hatte: „Das kommunistische Schlagwort ‚Alles für das Volk‘ begeisterte mich mit seiner Würde und Schönheit, und im Februar 1920 trat ich in die Russische Kommunistische Partei als Kandidatin ein. Aber der ‚erste Schuß‘, abgefeuert gegen die friedliche Bevölkerung […] erfüllt mich mit […] Schrecken […]. Ich fühle, daß ich nicht länger an das, das sich selbst durch eine teuflische Tat geschändet hat, glauben und es propagieren kann.“

K/Ein Ausweg aus der binären Kriegslogik
Die „teuflische Tat“ bestand in der brutalen Niederschlagung des Kronstädter Aufstands. Beim Ablauf des Ultimatums, das die Regierungspartei den Kronstädter*innen gestellt hatte, verlautbarte der Vorsitzende des Revolutionären Militärsowjets Leo Trotkzi: „Ich werde euch wie Fasanen niederschießen.“ Alexander Berkman erläutert in seiner Broschüre, wie die blutige Niederlage der Dritten Revolution hätte verhindert werden können: Eine militärische Offensive seitens der Aufständischen hätte, wie im Falle der Pariser Commune, die Regierung überraschen und in die Defensive zwingen können. Doch wie die Kommunard*innen wollten die Kronstädter Rebell*innen kein Blutvergießen, sie wollten keinen weiteren Bürger*innenkrieg, sondern eine breite aktive Beteiligung der Bevölkerung an der Revolution – über die immer engeren Grenzen der Partei hinweg. Dadurch hätten sie die Geschichte der Russischen Revolution öffnen, einen „Ausweg“ aus der „binären Logik des Krieges“, wie sie Bini Adamczak beschreibt, finden können. „Eine binäre Dialektik von Revolution und Konterrevolution […] homogenisiert die Pole und verschweigt deren innere Differenzen.“ Die Verdrängung, Verleugnung und schließlich Vernichtung der inneren Widersprüche zeigte sich sowohl in der bolschewistischen Anti-Kronstadt-Propaganda als auch in der äußersten Polizei- und Militärgewalt, die aufgewandt wurde, um die Macht der Sowjets nicht umverteilen zu müssen. Dieser Weg führte die Russische Revolution in jene Paranoia, die im stalinistischen Terror gipfelte.
Hätte die Kronstädter Bewegung für freie Sowjets einen anderen Ausgang genommen, dann wäre die Einreise in die Sowjetunion nicht der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman gewesen: „In einer solidarischen Union der Räte hätte er noch schönere Tage erlebt.“

 

Bini Adamczak: Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution. Münster: edition assemblage 2017.

Alexander Berkman: Die Kronstadt Rebellion. Berlin: Verlag Der Syndikalist 1923.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden. Siehe auch: anarchismusforschung.org

Das Professionelle Publikum

Es geht wieder los! Vanessa Graf, Verena Leitner, Edgar Lessig, Yvonne Metnitzer, Thomas Philipp, Ivana Pilic, Stefan Tiefengrabner und Reinhard Winkler stellen für unsere Leserinnen und Leser wieder persönliche Kunst- und Kulturtipps vor. Entdecken Sie!

© Niko Zuparic

Vanessa Graf
ist Schriftstellerin und Doktorandin der Medienwissenschaften in Linz und Basel.

BestOFF 2020
Maria Hofstätter liest Marie Jahoda und George Orwell

 

© Violetta Wakolbinger

Verena Leitner
studiert Geschichte, Kunstgeschichte und Kulturmanagement in Salzburg. Arbeitet im Kunstverein DIE KUNSTSCHAFFENDEN sowie als Kuratorin.

Der junge Hitler Prägende Jahre eines Diktators 1889–1914
Ulrike Asamer Die vier apokalyptischen landwirtschaftlichen Nutztiere

 

 

Edgar Lessig
lebt und arbeitet in Wien und Linz. Studiert bildende Kunst sowie Kunst- und Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz.

Eine Ewigkeit lang Ozeanblau / An Eternity of Ocean Blue
Skulpturengarten

 

Yvonne Metnitzer
lebt und arbeitet in Linz im Kunst- und Kulturbereich, Studium der Kulturwissenschaften und Management, derzeit bei PANGEA in der Geschäftsführung & Programmgestaltung und als Vorstandsmitglied der Initiative Raumschiff tätig, konzipiert und realisiert verschiedene Projekte und Ausstellungen im Kontext von Gesellschaft, Öffentlichkeit und Identität.

Living Room Cinema: Seeing Voices
FMR 21 – biennales Festival für Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen

© Fips

Thomas Philipp
arbeitet zwischen Kunst und Wissenschaft in Linz/AT und Znojmo/CZ. Er ist u. a. im Künst­ler*innenkollektiv qujOchÖ, am Forschungsinstitut LIquA und in der gfk | Gesellschaft für Kulturpolitik OÖ aktiv.

FMR 21 – Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen
Heart of Noise 2021

 

© Igor Ripak

Ivana Pilic
ist freie Kuratorin und Kulturwissenschaftlerin. Im März 2021 hat sie gemeinsam mit Anne Wiederhold-Daryanavard die zweite Auflage des Buchs „Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft“ herausgegeben.

Projektbüro für Diversität und urbanen Dialog
Festival der Regionen 2021 – Unter Tag / Underground

 

© Elisa Unger

Stefan Tiefengraber
lebt und arbeitet in Linz, seine künstlerische Arbeiten reichen von Audio-Video Noise Performances über kinetische Installationen bis hin zu Experimental-Videos. Seit 2016 organisiert er Klangkunstkonzerte und ist Mitbegründer des Tresor Linz.

canceled but not canceled – Wolfgang Fuchs und Cordula Bösze
Der blöde dritte Mittwoch – die Reihe zur Kunstvermischung

Reinhard Winkler
Fotograf.

Internationales Welser Figurentheaterfestival
OÖ Gesellschaft für Kultur­politik gfk Der Garten für DANACH

 

Tipps von Die Referentin

 

 

Die KAPU macht wieder live!
Felix Nöbauer

Die kleine Referentin

Terri Frühling

Editorial

Denn eine wichtige Feststellung für dieses ganze Projekt ist, dass unsere Gegenwart die beste Zeit für Manifeste ist!

Der Satz stammt aus dem Interview, das Anna Maria Loffredo mit Andreas Zeising für diese Referentin #23 geführt hat. Unter dem Titel Es wird keine Bilder mehr geben! geht es im angesprochenen Text, bzw. im angesprochenen Projekt um KünstlerInnen-Manifeste der Avantgarde und Neoavantgarde, bzw. um ein Ausstellungsprojekt mit Studierenden, das ab Ende April im Atelierhaus Salzamt gezeigt wird.

Abgesehen davon, dass die „Salzamt-Manifeste“ recht reizvoll zwischen radikalem Statement und Vermittlungskonzept changieren (studentisch, gesellschaftlich), wundert es einen nicht sehr, dass Andreas Zeising, darauf angesprochen, ob er denn Anknüpfungspunkte der behandelten Manifeste und ihrem appellativen, kämpferischen Ton zur jetzigen Zeit sehe, die Frage recht eindeutig mit Ja beantwortet: „Was Künstler:innenmanifeste immer wieder konstatieren, ist ja eine tiefgreifende Krisis des ‚Systems‘ und ein Lähmungszustand der Politik“. Diesen Dingen lasse sich „nur durch eigene Aktion und kreatives Handeln beikommen“. Und dass aktuell die Straße nun bester Ort, und unsere Gegenwart beste Zeit für diverse Manifestationen ist, das spiegelt sich in Grass-Root-Bewegungen aller Art – „von Greta Thunberg und linken Aktivisten bis hin zu Corona-Demos, auf denen Wutbürger, rechte Ideologen und alternative Spinner zueinander finden“.

Ist das nun tatsächlich die Folie dessen, was wir gerade erleben? Zumindest erkennen wir derlei Aspekte auch in der aktuellen „Kleinen Referentin“ von Terri Frühling, die wir dieses Mal aufs Cover platziert haben. Ebenso erkennen wir den kämpferischen Appell in Wiltrud Hackls Kolumne „Work Bitch“, diesmal zum Weltfrauentag am 8. März. Da und dort lassen sich weitere Bezüge im Heft finden, auch zu Themen wie Digitalisierung, einer Ästhetisierung des Künstlichen oder zu einer Wiederkehr radikaler Nationalismen. Wir ersuchen die Leserinnen und Leser sich hier selbst zu orientieren. Unsererseits also auch absolute Zustimmung: Wir erkennen ebenfalls eine tiefgehende Krise des Systems. Sagen wir ja nicht zum ersten Mal. Und wer nicht. Und wahrscheinlich ist nicht unbedingt der berühmte Riss durch die Gesellschaft das valide Bild, sondern der Riss (oder die Dummheit) des Systems zieht sich vermutlich – noch schlimmer – durch die einzelnen Individuen selbst, die in sich die Widersprüche nicht mehr zu überbrücken imstande scheinen. Abgesehen davon, dass der Riss, oder die gefährliche Dummheit selbst zum Ort zu werden scheinen, an dem wir mehr und mehr bald leben werden müssen. Und wer’s immer noch nicht wahrhaben will, die passenden drastischen Stichworte hierzu sind: Ein Anti-Modernismus, der lieber in erkenntnisferne oder despotische Gefilde flüchtet, statt Fakten zur Kenntnis zu nehmen und solidarisch zu handeln. Befürchtete weitere Gesundheitskrisen. Die Klimakatastrophe. Das Wiedererstarken radikaler Kräfte. Die zunehmenden Ungleichheiten. Eine diffuse Melange all dessen.

Am Ende ein kurzer Themenschwenk: Wir bemerken in den letzten Monaten neben der allseitigen Ermüdung über die Zustände auch zarte, andere Arten von Kontaktaufnahmen, alte, neue Arten von Distribution, visionär gedachte Arbeitsweisen und ein tastendes Connecting, das Neues versucht. Mal sehen was da rauskommt. Einstweilen fühlen wir:

How it is like to be a BAT VIRUS.

Diesen Frühling im Fledermaus-Ultraschall-Modus,
die Referentinnen Tanja Brandmayr und Olivia Schütz www.diereferentin.at

Darwins Polyethylen

Mehrere Orchideen, sowie „der sichtbare oder verborgene Antagonismus von Natürlichkeit und Künstlichkeit“ sind noch bis 9. April 2021 in der Galerie Maerz zu sehen. Georg Wilbertz hat die Ausstellung von Rainer Noebauer-Kammerer besucht.

„Was immer sonst die Schönheit abbilden mag, zuallererst bildet sie die Sterblichkeit ab.“ (Robert Harrison)

Am Beginn seines wunderbaren Buches „Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen“ beschreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Harrison den Garten Eden als langweiligen Ort des dauerhaften Genusses und des puren Konsums. Das Paradies sagt vor allem Adam zu, während Eva sich langweilt und letztendlich erkennt, dass dies nicht alles sein kann. Dass Hingabe, Emotion und wirkliche Beziehungen in diesem Zustand, den wir irrtümlicherweise als paradiesisch bezeichnen, unmöglich sind. Eva will mehr; da kommen Sündenfall und Vertreibung aus der paradiesischen Öde gerade recht. Wir kennen die Geschichte. Aus ihr resultieren für Harrison wesentliche und im Vergleich zur christlichen Deutung ausschließlich positive Aspekte menschlichen Seins. So stellt die Vertreibung aus dem Garten Eden den Beginn der Wahrnehmung von Zeit dar. Das Erkennen zeitlicher Abläufe ist die unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung von Ratio und Emotion. Was menschliches Sein ausmacht, ist in Zeit und dem Bewusstsein für ihr Vergehen gebettet. Gleiches gilt für die Zyklen der Natur und deren Bedeutung für den Menschen. Für Adam hat dies laut Harrison massive Konsequenzen: „Aus dieser Ausweitung des Ichs in die Welt [durch die Vertreibung] wurde die Liebe zu etwas anderem als ihm [Adam] selbst und damit die menschliche Kultur als solche geboren.“ Geboren wurde auch das Prinzip der Cura, der Sorge, des Sich-Kümmerns, das den Menschen – richtig verstanden – in ein verantwortungsvolles Verhältnis zu den Dingen und Phänomenen außerhalb seiner selbst setzt.

Rainer Noebauers Ausstellung „Darwins Polyethylen“ handelt von vielem: der Frage nach „Original“ und Fälschung, den Potentialen von Imitation und Kopie und vor allem dem sichtbaren oder verborgenen Antagonismus von Natürlichkeit und Künstlichkeit. Und nicht nur, weil sie coronabedingt die bisher am längsten (nicht-) gezeigte Ausstellung in der Maerz ist (gehängt wurde sie am 3. November 2020), handelt sie vor allem von der Zeit, ihrem Verlauf, ihrem Vergehen und ihrer Wirkung auf Existenz. Mit dem Rauswurf aus dem Paradies wurde der Mensch in den endlosen Zyklus aus Befruchtung, Wachsen, Blüte, Reifung und Vergehen gestellt. Wollte er aktiver Teil dieses Zyklus werden und sich in das einpassen, was wir Natur nennen, musste er handhabbare kulturelle Techniken und Mechanismen entwickeln. Am Beginn dieser Entwicklung steht eben jene Cura, mit der sich der Mensch seiner Umwelt und seinesgleichen widmet. Fasst man Harrisons Thesen etwas brachial zusammen, so ist die Cura bzw. die Notwendigkeit, sie zu pflegen, die unmittelbare Folge der Vertreibung und die existentielle Voraussetzung für alles, was dann kommt. Die Fähigkeit zur Sorge bestimmt, dem Titel seines Buches folgend, das „Wesen des Menschen“. Rainer Noebauers Ausstellung „Darwins Polyethylen“ zeigt mit logischer Konsequenz (und entsprechend eindrücklich), was passiert, wenn wir die Cura auslassen oder versuchen, sie uns durch die „Kultivierung“ synthetischer Kopien des Lebendigen zu ersparen. Denn natürlich: sich sorgen macht Arbeit. Das fängt bei der kleinsten Blume an.

Kunst als Dokumentation
Noebauer wählt für seine Darstellung eine in den Naturwissenschaften längst etablierte Methode: die fotografisch dokumentierte Langzeitbeobachtung. An Tag 1 stehen sich zwei nahezu ident aussehende Orchideen gegenüber. Die Linke lebt und bedarf außerhalb der „freien Wildbahn“ der Sorge, die rechte ist aus Polyethylen. Nach 533 Tagen ohne Wasser und Düngung ist von der linken Orchidee nichts mehr übrig. Sie hat sich nach einem langen Prozess des Absterbens ins Nichts verflüchtigt, während sich ihr Plastikpendant einer ungebrochenen artifiziellen Frische erfreut. Nur Hausstaub könnte ihre visuelle Wirkung beeinträchtigen (dagegen gibt es allerdings -kein Scherz- Pflegemittel). Noebauers Polyethylen-Orchidee hat sich optisch dem Faktor Zeit (und damit Leben) entzogen. Sie ist damit nichts anderes als ein kleines Paradies in Plastik.

Und genauso skeptisch wie Eva dem Dauergenuss der immer gleichen Paradiesesfrüchte gegenüberstand, stehen wir der Plastikorchidee gegenüber. Möge sie noch so täuschend „echt“ wirken, dass man sie durch bloße Anschauung kaum als unnatürlich entlarven kann: es fehlt jedweder an den Faktor Zeit gebundene Prozess.

Darwin wörtlich genommen
Nähme man den Darwin aus Rainer Noebauers Ausstellungstitel ernst und reduzierte ihn auf die rein äußerliche Erscheinung beider Orchideen, hätte jene aus Polyethylen den „struggle for life“ für sich entschieden. Dies würde aber eine erneute, haarsträubende Vulgarisierung der Thesen Darwins bedeuten. Die Geschichte des Darwinismus ist voll davon. Womit eine der vielen möglichen politisch-gesellschaftlichen Konnotationen der Ausstellung angesprochen wäre.

Darwin entwickelt sein Konzept der Auslese und des Überlebens durch Anpassung und Zuchtwahl während der Ära der explodierenden Industrialisierung. Also genau zu der Zeit, als es dem Menschen durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt vermeintlich gelingt, sich mehr und mehr aus der Abhängigkeit natürlicher Faktoren und Rahmenbedingungen zu lösen bzw. diese mitzugestalten (nicht umsonst sprechen wir rund 200 Jahre später vom Anthropozän). Die Industrialisierung entwickelt nicht nur die synthetischen Stoffe (Polyethylen ist seit 1898 bekannt) aus denen schließlich eine Plastikblume wird, sie schafft auch die Produktionsbedingungen, die ihre massenweise Herstellung und Verbreitung ermöglichen. Der Aspekt der Quantität ist neben der Imitationsqualität nicht zu vernachlässigen. Erst die Möglichkeit, massenweise künstliche Natur zu produzieren, erlaubt es uns, sie als Surrogat für die „echte“ Natur, die ja genau durch diese Produktions- und Konsumprozesse gefährdet wird, ernstlich als „Ersatz“ in Erwägung zu ziehen. Dies schließt durchaus die digitalen und medialen Surrogate der jüngeren Zeit ein.

Ginge es also ausschließlich um das bloße „Überleben“ der visuell erfahrbaren Form, hätte die Plastikorchidee aus Noebauers Versuch in einem vulgärdarwinistischen Sinne „gewonnen“. (Darwinistisches) Leben definiert sich jedoch durch ein extrem komplexes Zusammenspiel aus Anpassungs-, Integrations- und Destruktionsprozessen. „Synthetische“ (künstlich oder mit Gewalt hergestellte) Gleichförmigkeit (Uniformität), Rassenreinheit, Volkszugehörigkeit etc. scheinen diese, für viele beängstigende Dynamik zwar auszuschließen oder zumindest zu mindern. Daraus erwächst aber die schon beschriebene Langeweile und „Reinheit“. Beziehungsweise: Für manche politisch-gesellschaftliche Kreise erfüllen sich die Utopien der Reinheit beispielsweise in Gebilden wie Österreich, Deutschland oder wie auch immer die nationalen „Paradiese“ auch heißen mögen.

Ästhetik des Vergänglichen
Am Ende des dokumentierten Sterbeprozesses der echten Orchidee bleibt von ihr ein leerer Blumentopf. Und trotz der Leere (oder gerade wegen ihr) strahlt diese „Fehlstelle“ mehr Würde aus, als es die lächerliche Starre der künstlichen Blume je vermöchte. Um sie zum Verschwinden zu bringen, bedarf es eines deutlich größeren, aggressiveren Aufwandes, als es die „nur“ natürlichen Zersetzungsprozesse je bieten könnten. Genauso artifiziell, wie die Polyethylenorchidee geschaffen wurde, muss man ihr zu Leibe rücken, will man sie wieder loswerden (in der Natur dauert dies eine kleine Ewigkeit). Noebauer wählt das Mittel der „thermoplastischen Verrottung“ bei 120, 500 und 1200 Grad. In beiden letzteren Fällen kommt es zwar zu teilweise heftigen, fast karikaturhaften Verformungen, die grundsätzliche Materialität bleibt jedoch – erkennbar – erhalten. Da hilft dann nur noch schreddern.

All diese Phänomene und Prozesse unterzieht Rainer Noebauer in seiner Ausstellung einer Ästhetisierung, die mit den fast klassischen Mitteln von Rahmung, Hängung und Präsentation im Raum der Maerz die Versuchsanordnung und das künstlerische Ergebnis auf nahezu ideale Weise erfahrbar macht. Ergänzt wird die fotografische Dokumentation des Orchideen-Verfalls durch aus der Wissenschaft bekannte Formen der Systematisierung und Katalogisierung. Wenn Noebauer aus den Resten der echten und der künstlichen Orchidee jeweils farblich sortierte Substrate gewinnt, diese in Reagenzgläser füllt und in der Ausstellung zeigt, wird der ironische Unterton des gesamten Unternehmens deutlich.

Bis zur Erfindung fotografischer, synthetischer oder digitaler Surrogate von Natur war es in vormodernen Zeiten der Kunst und dem Handwerk vorbehalten, „Momentaufnahmen“ des Natürlichen in Form von zwei- oder dreidimensionalen Abbildern zu konservieren und mit künstlerischer Bedeutung aufzuladen. Zwischen der Natur und ihrem Abbild bestand eine klar definierte Grenze, auch wenn das Ideal der perfekten, mimetischen Naturnachahmung bis zu den Frühphasen der Moderne zumindest als wirksamer Hintergrund künstlerischer Produktion eine bedeutende Rolle hatte. Auch mit diesem Aspekt spielt Rainer Noebauer in seiner Ausstellung, die aufgrund tiefgreifender natürlich-viraler Effekte das Schicksal anderer „Geisterausstellungen“ teilen muss. Aber vielleicht steckt ja sogar darin ein tieferer Sinn.

 

Darwins Polyethylen
Rainer Noebauer-Kammerer
Galerie MAERZ
Ausstellung noch bis 9. April 2021
Aktuelle Bestimmungen bez. Corona-Maßnahmen: Ein Besuch der Ausstellung ist mit FFP-2-Maske während der Öffnungszeiten möglich.

Weitere Infos: www.maerz.at/event/darwins-polyethylen-rainer-noebauer-kammerer

Stadtblick

Foto Die Referentin