Ein Netzwerk von Bedeutungen

Mit „Transformation und Wiederkehr“ zeigt das Lentos Kunstmuseum ab März verschiedene künstlerische Positionen zur Kontinuität und Re­präsentation radikaler Nationalismen. Marina Wetzlmaier über Ausstellung und Hintergründe.

Franz Kapfer, Tanz den Wolf, 2019. Foto Bildrecht, Wien 2021

Schicht für Schicht legen die abgerissenen Papierfetzen neue Motive frei. Schicht für Schicht hat der Künstler Markus Proschek Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hervorgeholt. Von einem Gemälde aus der Zeit des Nationalsozialismus zu den Symbolen der neuen Rechten. „Laminat“ lautet der Titel dieser Arbeit, eines der Kunstwerke der Ausstellung „Transformation und Wiederkehr – Radikale Nationalismen im Spiegel der zeitgenössischen Kunst“, die von 24. März bis 6. Juni 2021 im Kunstmuseum Lentos zu sehen ist. Gerade für Linz mit seiner Geschichte sei die Auseinandersetzung mit rechten Ideologien ein spannendes Thema, sagt die Lentos-Direktorin Hemma Schmutz. Gemeinsam mit Markus Proschek kuratiert sie die Ausstellung.

In einer Kombination aus Malerei und Installation beschäftigt sich Proschek in „Laminat“ mit der ideologischen Verwendung von Bildern und Kontexten. Zu sehen ist eine Plakatwand, die Wilhelm Dachauers Gemälde „Aus dem Opfer des Krieges entsteht das neue Europa“ reproduziert. Der oberösterreichische Künstler Dachauer machte zur Zeit des Nationalsozialismus Karriere – bis hin zur Professur an der heutigen Akademie der bildenden Künste in Wien. Auf Proscheks Plakatwand sind immer wieder Teile des Bildes abgerissen, und darunterliegende Motive kommen zum Vorschein, eine ständige Decollage und Decoupage. Schließlich tauchen auf einem Posterteil die Insignien der Identitären auf. „Die Identitären sind sehr bemüht sich von der Kontinuität eines Neonazitums abzugrenzen, aber wenn man genauer hinschaut und hinhört, ist die Camouflage sehr schlecht“, kommentiert Proschek. „Diese Arbeit ist ein Beispiel für die direkte Verklammerung von Vergangenheit und Gegenwart“, sagt Hemma Schmutz.

In der Psyche der Gesellschaft
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Stadt Linz und Oberösterreichs ist ein Jahresschwerpunkt, den das Lentos gemeinsam mit dem Stadtmuseum Nordico gesetzt hat. „Es war uns wichtig, dass wir direkt an die spezifische Region hier anschließen“, sagt Schmutz. Mit der Ausstellung „Der junge Hitler. Prägende Jahre eines Diktators 1889–1914“ fragt das Nordico nach den Anfängen von Militarismus, Rassenhass und Antisemitismus in der Gesellschaft und zeichnet die Biografie Adolf Hitlers nach. Währenddessen zeigt „Transformation und Wie­derkehr“ im Lentos, inwieweit rechtsextreme Ideen von zeitgenössischen Künstler*innen bearbeitet werden. In den vergangenen Jahren tat sich eine Reihe von österreichischen und internationalen Künst­ler*innen hervor, die in der Ausstellung vertreten sind: Monica Bonvicini, Keren Cytter, Martin Dammann, Ines Doujak, Riccardo Giacconi, Franz Kapfer, Erez Israeli, Laibach, Annika Larsson, Henrike Naumann, Markus Proschek, Roee Rosen, Dennis Rudolph und Christina Werner.

Aktuelle, gesellschaftliche Tendenzen zu verhandeln und zur Diskussion zu stellen gehöre laut Schmutz zu den Aufgaben öffentlicher Museen wie dem Lentos. Es ginge dabei nicht nur darum, diese Tendenzen bei anderen aufzudecken, sondern nachzudenken, inwieweit unsere Gesellschaft selbst darin verstrickt ist. Mit psychoanalytischen Methoden wird gefragt, welche Ansätze in uns selbst liegen. Wie treten rechte Positionen auf und erzeugen Faszination und Abstoßung zugleich?

Bedeutungen und Symbole im Wandel
Psychoanalytisch beginnt die Ausstellung gleich mit einer Vitrine, in der die Publikation „Massenpsychologie des Faschismus“ von Wilhelm Reich zu sehen ist. In einem Zitat daraus wurde die These herausgegriffen, dass die Attraktivität des Hakenkreuzes von einer verborgenen sexuellen Symbolik ausgehe. Reich interpretierte den Nationalsozialismus als Ersatzventil einer kollektiven, pathologisch unterdrückten Sexualität. Anhand dieser These ließe sich fragen, ob es sich um eine neutrale Beobachtung handle oder ob hier schon Fiktion über den Faschismus anfängt, erklärt Proschek. Das Verhältnis zwischen realen Phänomenen und der Fiktion darüber stellt einen Kernpunkt der Ausstellung dar. Die Aneignung traumatischer und bedrohlicher Sachverhalte in fiktiver Form schaffe Raum Themen neu zu verhandeln, heißt es im Konzept der Ausstellung. Auch kann sie ein Versuch sein, Kontrolle darüber zu erlangen und den Kontext selbst zu bestimmen. Geschichte wird damit zum formbaren Material.

So schreibt sich der israelische Künstler Erez Israeli selbst in Fotografien von Hans Surén ein. Nackt und eingeölt posierend ließ sich Surén, der „Fitnesspapst“ der NS-Zeit ablichten und verherrlichte den „arischen“, mittels Sport und Gymnastik fit gemachten Körper, u. a. in dem Buch „Mensch und Sonne“. Israeli ließ sich in denselben Posen fotografieren und gab seiner Arbeit den Titel „Showing my Jewish Body to the World“. Dieser Idealisierung gegenüber stehen Fotografien, die der Berliner Martin Dammann aus Archiven zusammengetragen hat. Es handelt sich um Privataufnahmen deutscher Wehr­machtsoldaten bei unterschiedlichen Anlässen, etwa beim Karneval, wo die Soldaten in Frauenkleidern zu sehen sind.

Zentrales Thema der Ausstellung ist auch das komplexe Verhältnis zwischen Symbolen und ihrer Verwendung. „Uns ist wichtig, dass man den Bedeutungswandel der Symbole zu begreifen versteht“, sagt Hemma Schmutz. Am deutlichsten wird dieser Wandel am Beispiel des Hakenkreuzes. So können wir ein Hakenkreuz nicht mehr betrachten und sagen, es sei eigentlich nur ein Sonnensymbol. Wie etwa jene Swastika, die auf einer Inkaschale dargestellt ist. Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte ist eine neutrale Betrachtung dieses Symbols unmöglich geworden. „Wir wollen damit auch eine Reflexion über dieses Zeichen anregen, über das Aufladen von Zeichen und den Wandel und Verlust von Bedeutung“, so Schmutz.

Bedrohliches Europa
Augenmerk liegt aber nicht nur auf historischen Materialien, sondern die Künstler*innen bearbeiten genauso aktuelle Symbole und Tendenzen. Ebenso bleibt der Blick nicht auf Linz oder Österreich beschränkt. Christina Werner geht in ihrer Arbeit auf das „Neue Europa“ ein und begann bereits im Jahr 2010 Material darüber zu sammeln. Das Ergebnis ist ein Heft, das Fotografien von Tatorten rechtsextremistisch motivierter Gewalt in Deutschland enthält. Die dazugehörigen Texte sind aufs Notwendigste reduziert: Datum, Ort, Name des Opfers und Todesursache. Die Fotos sind in nüchternem Schwarz-Weiß gehalten. Dazwischen die Bilder von Fernsehauftritten rechtspopulistischer Politiker*innen. Mimik und Gestik treten in den Vordergrund: der ehemalige Front National-Chef Jean-Marie Le Pen mit ausgebreiteten, nach oben gestreckten Armen, seine Tochter Marine Le Pen mit geballter Faust. H. C. Strache mit schwenkender Österreich-Flagge umgeben von seinen Anhänger*innen, Geert Wilders aus den Niederlanden im Konfetti-Regen. Ein bedrohliches „neues Europa“. Für „Transformation und Wiederkehr“ wurde Werners Heft neu aufgelegt und kann von den Besucher*innen mitgenommen werden.

Auch in anderen Arbeiten wie in der Videoinstallation „The Boys Are Back“ hat sich Werner mit der medialen Präsenz und Repräsentation rechtsextremer Netzwerke in Europa auseinandergesetzt. Eine mutige Arbeit, wie Schmutz sagt, denn es sei nicht selbstverständlich, sich mit diesem Thema so zu exponieren.

Als mutig kann auch die Arbeit von Franz Kapfer bezeichnet werden, der im Jahr 2018 mit viel Literatur im Gepäck nach Istanbul reiste. Zurück kam er mit einem Koffer voller Sturmhauben, Zierwaffen und Schmuckstücke, die alle die Symbole der „Grauen Wölfe“ tragen. Am Flughafen in Istanbul ließen ihn die Sicherheitsbeamten bei der Ausreisekontrolle mit einem Lachen durch, berichtet Kapfer. Selbst Macheten mit scharfen Klingen konnte er mühelos nach Österreich bringen.

Im Lentos lässt Kapfer diese Ausstellungsstücke an Fäden von der Decke hängen. Wie böse Geister schweben sie in einer eigens errichteten Holzhütte. Diese stellt ein sogenanntes „Idealistenheim“ dar, wie die Grauen Wölfe ihre Ausbildungsstätten nennen. Im türkischen Hinterland dienen sie als Rückzugsorte für ihr paramilitärisches Training, für den Drill an der Waffe. In Österreich findet in den „Idealistenheimen“ der Grauen Wölfe das Vereinsleben statt. In Linz ist „Avrasya“ einer von etwa zwanzig Vereinen in Österreich. Darüber hinaus gibt es einen weiteren Bezug zu Linz: Über eine hier ansässige Firma läuft der europaweite Vertrieb von Filmen, die in großen Kinos die Propaganda der türkischen Rechtsextremen verbreiten.

Teil der Alltagskultur
In der Türkei sind die Grauen Wölfe in der „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) organisiert und derzeit in einem Regierungsbündnis mit dem Erdogan-Regime. Während seiner Istanbul-Reise war Kapfer die Präsenz der Grauen Wölfe allgegenwärtig: Er sah Polizisten, die auf dem einen Ärmel das Stadtwappen trugen und auf dem anderen das Symbol der Grauen Wölfe. Männer mit dem typischen Graue-Wölfe-Bart in der U-Bahn und deutschsprachige Türken, die auf dem Markt Uniformen in Kindergröße kauften. Auf demselben Markt, wo Kapfer seine Sturmhauben und Waffen erwarb. Von da an sei ihm das Logo der Grauen Wölfe überall begegnet: nicht nur in Istanbul, auch in Wien, Leipzig oder Berlin. „Wenn man die Symbole kennt, sind sie sehr präsent“, sagt Kapfer.

Nationalistische Symbole sind laut Hemma Schmutz Teil unserer Alltagskultur: „Wir sehen sie und können sie vielleicht nicht immer richtig deuten. Je mehr Informationen wir dazu haben, desto besser können wir damit umgehen.“ Die Ausstellung „Transformation und Wiederkehr“ soll dem Publikum auch eine Art Hilfestellung bieten, Symbole zu erkennen und zuzuordnen. In einem Ausstellungsführer wird jede Arbeit der Künstler*innen detailliert beschrieben. Für Begleittexte zog man auch externe Expert*innen hinzu, wie den Autor Thomas Rammerstorfer, der die Hintergrundinfos zu den Grauen Wölfe verfasste. Durch Hintergrund- und Kontextwissen werden schließlich neue Schichten sichtbar.

Transformation und Wiederkehr – Radikale Nationalismen im Spiegel der zeitgenössischen Kunst,
24. 03. – 06. 06. 2021,
Kunstmuseum Lentos
lentos.at

You better work, bitch! (aber better not in Kunst, Kultur, Handel, Pflege oder Gastronomie)

Ob ich eh wisse, dass der Titel dieser Kolumne an einen Titel eines Songs der verehrenswerten Britney Spears erinnert, wurde ich kürzlich gefragt. Ein Song aus 2018, in dem die Sängerin fragt, ob wir auch gern einen Maserati haben, ein Fancy Life leben oder eine Party in France machen wollen und wenn so – ruft sie uns aus der Wüste Kaliforniens zu – na, dann: You better work, bitch!
Natürlich hat der Titel dieser Kolumne überhaupt nichts mit dem Songtitel zu tun und zwischen 2018 und 2021 liegt mittlerweile ein gefühltes Jahrhundert, und, ach – sooo dringend ist das jetzt gar nicht mit der Villa – Durchversicherung, fixe Aufträge, Fair Pay, Jobgarantie womöglich oder wenn ihr uns nach Boni fragt: Wertschätzung und eventuell kein Sexismus am Arbeitsplatz – dafür lässt frau jeden Maserati stehen, Bitch!
Zurzeit sieht es damit eher schlecht aus: um 27,7 % ist der Anteil der Arbeitslosigkeit unter oberösterreichischen Frauen im Jänner 2021 zum Vergleichsmonat im Vorjahr gestiegen (Männer: + 19 %, Quelle: www.ams.at). Und da liegt Oberösterreich noch ganz gut, denn österreichweit waren im Jänner 2021 um 42, 4 % mehr Frauen arbeitslos als im Jänner 2020 (Männer: + 25,2 %). Frauen sind, auch wenn ih­re schlecht bezahlten Jobs als noch so „systemrelevant“ eingestuft werden, diejenigen, deren Jobs offenbar als erste gefährdet sind. 30,4 % (Beherbergung und Gastronomie) bzw. 27 % (Kunst, Unterhaltung und Erholung) der Arbeitnehmer*innen (alle Geschlechter) waren zwischen März und November 2020 österreichweit in Kurzarbeit, das heißt, ihre Jobs konnten nur durch staatliche Beihilfen gesichert bzw. gerettet werden. Und hier sind natürlich nur jene erfasst, die bezugsberechtigt sind. Es fehlen also Selbstständige, EPU, geringfügig Beschäftigte und freie Dienstnehmer*innen – und genau die sind ja in der Sparte Kunst und Unterhaltung durchaus häufig vertreten.
Ein Claim wie „Nichts geht ohne uns!“, den sich das superne, neugegründete Bündnis 8. März für die diesjährige Kundgebung gegeben hat, erscheint angesichts dieser Zahlen auf den ersten Blick also widersprüchlich, denn kurzfristig zeigt sich: Da „geht“ doch sehr viel ohne „uns“. Auch ohne Kunst und Kultur läuft doch alles irgendwie und die Regierenden sprechen gar schon davon, wie man sich „aus der Krise herausinvestieren“ könne. Geld gibt es dafür offenbar. Man/n muss doch nur wollen! In die Krise investieren, aus der Krise profitieren! You better work, bitch!
Die einen arbeiten sich also bei schlechten Löhnen krumme Rücken und hamstern Applaus, die anderen verlieren Aufträge, und die kleinen, aber notwendigen und unterschiedlichen Anstellungsverträge, durch die sie wenigstens kran­kenversichert waren. Langfristig geht da gar nichts mehr, das muss jedem und jeder klar sein. Denn: Geht’s den Männern schlecht, gehen unsere Jobs als erste verloren, völlig egal, in welcher Branche. Da winkt sie schon, die Altersarmut – ob nun der Verkäuferin oder der Künstlerin. Formale Bildungsabschlüsse schützen übrigens nicht mehr zwingend vor Jobverlust, auch das zeigen die Zahlen, Menschen mit Lehrabschluss haben aktuell bessere Chancen, einen Job zu bekommen als Menschen mit Matura, Uni- oder Akademieabschluss (Quelle: www.ams.at). Das ist alles sehr trostlos, öffnet auf der anderen Seite die Sicht auf und die Notwendigkeit für Klassismus überwindende Kooperationen und Bündnisse. Es wird nicht anders gehen, als künftig genoss*innenschaftlich zu denken und Kompliz*innenschaften einzugehen – ob in der Kunst, der Kultur, im Pflegebereich oder im Handel. Viele gesundheitliche Krisen in Europa zogen sozialrechtliche Verbesserungen – vor allem für arbeitende Frauen – nach sich, weil sie sich ihrer Stärke bewusst wurden und Forderungen stellten. Mitte des 14. Jahrhunderts ging nach den verheerenden pestverseuchten Jahren in Europa tatsächlich nichts mehr ohne Frauen, die Folge waren wenigstens kurzfristige Verbesserungen, die sie selbst herbeiführten. „Wir“ sollten auch endlich damit beginnen, verstärkt für „uns“ selbst zu sorgen, Forderungen zu stellen und vor allem diesen „Wir“-Rahmen endlich erweitern. Der 8. März ist ein internationaler Tag und er ist und bleibt ein stolzer Kampftag. Mehrsprachigkeit und Solidarität mit mutig kämpfenden Frauen etwa in Belarus oder Polen sind somit obligat. Und dass er immer noch kein internationaler Feiertag ist, halte ich im Übrigen für eine Schande. Aber wer weiß, vielleicht wird er ja zum Streiktag? Auch daran kann frau ja arbeiten, Bitch!

Bez nas nic nie dziala! biz olmadan hiçbir sey yürümez! Senza noi, non si puo! Ingenting virker uten oss! Sin nosotros, nada va! لا شيء يعمل بدوننا Nimic nu merge fara noi! Nichts geht ohne uns!

„Es wird keine Bilder mehr geben!“

Zwischen radikalem Statement und Vermittlungskonzept: Das KünstlerInnenmanifest steht im Frühjahr im Atelierhaus Salzamt im Mittelpunkt. Anna Maria Loffredo von der Kunstuni Linz im Gespräch mit Andreas Zeising, der demnächst als Art-Researcher-in-Residence im Salzamt zum Manifest arbeiten wird. Gemeinsam mit Studierenden wird dann Ende April die Ausstellung zu KünstlerInnenmanifesten der Avantgarde und Neoavantgarde eröffnet. Ein Preview im Vorfeld der Ausstellung.

Manifest der Künstlergemeinschaft Brücke (1905). Bild Ernst Ludwig Kirchner

Loffredo | Lass uns mal ein bisschen spekulieren, was wohl das Ergebnis deines Aufenthalts in Linz sein könnte. Deine Residency kreist ja um das Thema Künstler:innenmanifeste. Was wird am Ende unserer gemeinsamen Arbeit mit den Studierenden stehen?

Zeising | Also, wenn ich mich jetzt frage, was letztlich als Ausstellung herauskommen könnte, ohne das schon genau zu wissen, würde ich denken, dass das junge Menschen sind, die einerseits Interesse an eigener künstlerischer Arbeit und an Fragen haben, die unsere Gegenwart beschäftigen, und andererseits – da sie an die Fachdidaktik angebunden sind – auch an Fragen der Vermittlung von künstlerischer Arbeit. Vielleicht ist es vorstellbar, dass sie versuchen, sich selbst schreibend mit dieser speziellen Materie auseinanderzusetzen? Denn eine wichtige Feststellung für dieses ganze Projekt ist, dass unsere Ge­genwart die beste Zeit für Manifeste ist!

Loffredo | Ich sehe das zweischneidig von der Möglichkeit, dass Studierende ihr eigenes Manifest schreiben. Wir könnten sie zu sehr herausfordern, sich einer Textart mit ihrem Namen öffentlich zu widmen, was nicht immer unproblematisch ist. Ich muss meine Studierende ja ein Stück weit schützen.

Zeising | Mir kam das in den Sinn, weil ich das Thema schon einmal in Bremen an der Hochschule für Künste als Seminar verfolgt habe. Das war damals interessant, weil es eine doppelte Spiegelung gab. Auf der einen Seite war da eine Herangehensweise aus der Distanz der Lektüre her­aus. Andererseits aber auch der Versuch, sich den eigenwilligen Duktus dieser Tex­te anzueignen, um sich selbst in künstlerischer Weise zu aktuellen Zeitfragen zu äußern. Denn die wenigsten dieser Manifeste haben ja den Charakter von Sachtexten. Viele sind politisch und fokussieren auf gesellschaftliche Zeitfragen, andere sind völ­lig ichbezogen und absurd narzisstisch.

Loffredo | Tja, und Lehrer sind für andere da, anders als beim Künstler. Wenn ich mir das Manifest von Jonathan Meese anschaue, dann fällt auf, dass es zu einem Instrument wird zu dieser schwierigen Ant­wort auf die Frage: Was ist Kunst? Ein Manifest hat demnach die Funktion, dass man seine Gedanken wie in einem Tagebuch ordnet … muss ich es aber direkt Ma­nifest nennen und damit öffentlich gehen?

Zeising | Meese lebt ja in einer Zeit, also unserer Gegenwart, in der solche hochfliegenden künstlerischen Entwürfe eigentlich nicht mehr möglich sind. Auf den Bedeutungsverlust der Kunst reagiert er mit einer Art kindlichem Trotz, indem er nicht nur pausenlos immer neue Manifeste produziert, sondern sie auch mit Bedeutung geradezu überfrachtet, von der Kunst als „totalster Lebensbejahung“ bis hin zur „Diktatur der Kunst“. Aber das alles besitzt im Grunde keinerlei Referenz, ist lediglich narzisstische Selbstbespiegelung. Ähnlich übrigens bei Marina Abramovic, die in ihrem Manifest ein Künstlerinnenselbstbild formuliert – „An artist should suffer“ oder „An artist should not repeat himself“ –, das klingt, als hätte es die Post­moderne nie gegeben. Aber wenn man sieht, wie sie das live vor Publikum vorträgt, dann ist es genauso ironisch wie bei Meese. Da muss sie selber lachen, wenn sie so etwas sagt. – Aber um noch einmal darauf zurückzukommen, was man mit den Studierenden ausstellen kann: Ich wür­de erst einmal sagen, wir arbeiten nicht auf ein bestimmtes Ziel hin, sondern schau­en, was im Prozess entsteht. Das kann eine historische Auseinandersetzung mit den Gegenständen sein. Es kann aber auch der Versuch sein, sie zu befragen und auf ihren aktuellen Gehalt hin zu überprüfen.

Loffredo | Was sind eigentlich die Gemeinsamkeiten von Manifesten?

Zeising | Die Texte selbst können sehr unterschiedlich von ihrer Form her sein: superkurz oder ewig lang, sachlich oder konfus, aus der Ich-Perspektive verfasst oder in einem imaginären „Wir“ formuliert. Es können Thesen und Schlagworte sein oder seitenlange theoretische Erörterungen. Meistens gibt es eine Verbindung als eine Kritik an der Zeit, an den „Verhältnissen“ und an der Kunst – und eine Antwort darauf, die oftmals radikal ausfällt und einen revolutionären Wandel anzustoßen versucht. Zeitlich kann man die Texte in drei Blöcke einteilen. Zunächst die Klassische Avantgarde, also die Zeit bis 1933 bzw. bis zum Zweiten Weltkrieg, mit Bewegungen wie Expressionismus und Futurismus. Dann die Nachkriegsepoche und die Neoavantgarde, die vieles wieder aufgreift, aber vor der Folie der Erfahrungen des Faschismus, der drohenden atomaren Zerstörung und des politischen Aufruhrs der ’68er deutet. Schließlich das, was man im weitesten Sinne als Postmoderne bezeichnen könnte, also die Zeit von den 1980er Jahren bis heute.

Loffredo | Siehst du denn bei den älteren Texten Anknüpfungspunkte an unsere Zeit?

Zeising | Absolut, und gerade das finde ich interessant! Was Künstler:innenmanifeste immer wieder konstatieren, ist ja eine tiefgreifende Krisis des „Systems“ und ein Lähmungszustand der Politik, dem sich nur durch eigene Aktion und kreatives Handeln beikommen lässt. Wir selbst leben in einer Zeit, die einerseits geprägt ist durch das, was Colin Crouch mit der Vokabel der Postdemokratie bezeichnet hat, also einer Bedeutungslosigkeit der politischen Institutionen, da Entscheidungen faktisch durch die kapitalistischen Interessen der globalisierten Wirtschaft bestimmt werden. Auf der anderen Seite erleben wir allerorten Prozesse politischer Partizipation und Graswurzelbewegungen, von Greta Thunberg und linken Aktivisten bis hin zu Corona-Demos, auf denen Wutbürger, rechte Ideologen und alternative Spinner zueinander finden. Alle möglichen Leute, die aus einer Form der Skepsis gegenüber den Verhältnissen heraus wieder die Straße für ihre Manifestationen benutzen. Ich stelle mir vor, dass wir nicht nur ein Seminar machen, das einen rein historischen Fokus hat, sondern uns immer auch kritisch fragen, was machen die da eigentlich vor der Folie dessen, was wir gerade erleben.

Loffredo | Beispielsweise welche Anknüpfungspunkte gibt es aus der Alltags- und Populärkultur? Ich bin von deinem Themenvorschlag Manifeste begeistert gewesen, weil ich zu dem Zeitpunkt auf Netflix die Geschichte vom „Unabomber“ geguckt habe. Da gibt es eine Anknüpfung vom Jetzt zum Früher.

Zeising | Ich habe das Seminar schon ein paar Mal gemacht und deswegen beobachtet, wie die Teilnehmer:innen überrascht sind, weil man denkt, das seien so eine Art Begleittexte zu künstlerischer Produktion. Aber eine der Grundthesen fast aller dieser Manifeste, zumindest der Avantgarde und der Neo-Avantgarde, ist, dass beklagt wird, dass die Kunst zu unpolitisch ist, dass sie in lebensferne Nischen einer rein ästhetischen Betrachtung isoliert worden ist. Die Grundforderung lautet deshalb, diese künstliche Trennung von Kunst und Leben aufzuheben: „Es wird keine Bilder mehr geben!“ Kunst soll politisch werden! Allerdings sind es natürlich nur Worte. Die Texte sind oftmals utopisch oder visionär und greifen zu den Sternen, die Kunst hinkt dann manchmal doch ziemlich hinterher. Das werden wir uns näher anschauen.

Loffredo | An einer Kunstuniversität – Aufschrei! Ai Wei Wei wäre auch eine Person, die wiederholt Manifeste herausgebracht hat, dass ich denke: Ja, lieber Ai Wei Wei, reicht denn eigentlich nicht deine Kunst als Statement?

Zeising | Ganz offensichtlich reicht sie nicht mehr – oder vielleicht ist sie auch einfach nicht mehr verständlich und bedarf der Vermittlung. Künsterler:innenmanifeste sind ganz klar ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Denn im 19. Jahrhundert, am Beginn der Moderne, hat es so etwas noch nicht gegeben. Zu dieser Zeit schreiben Künstler:innen zwar schon viel, sie kommentieren ihre eigenen Werke, produzieren Kunsttheorie oder sind so etwas wie Kunstkritiker:innen …

Loffredo | Oder verfassen Briefwechsel!

Zeising | Zum Beispiel! Es gab damals auch Künstler:innen, die bemerkenswerte Theoretiker:innen sind. Ein großer Unterschied ist allerdings, dass das Manifest eine literarische Form ist, die völlig unabhängig von dem zu rezipieren ist, was künstlerisch gemacht wird. Zum Beispiel am Anfang der Avantgarde das „Brücke“-Manifest von 1905: Ein ganz kurzer Text, der in drei Sätzen alles Mögliche fordert: kreative Erneuerung, Aufbruch der Jugend, schöpferischer Umsturz! Das Wort Kunst kommt dabei gar nicht vor. Man könnte das Manifest verteilen, und die Leute würden nie im Leben darauf kommen, dass es ein Künstler:innenmanifest ist. Kunst im bürgerlichen Verständnis, also im hübschen Goldrahmen und als folgenloser ästhetischer Genuss einer gebildeten Elite, ist immer wieder das Feindbild, um das es geht. Auch die Futuristen schreiben: Brennt die Museen ab – denn da stirbt das Leben! Es wird eine Revitalisierung gefordert, die Kunst und Leben zu einer Lebenskunst macht. Besonders deutlich zeigen das die ersten Manifeste nach dem Zweiten Weltkrieg von 1948, die unter dem Eindruck von Millionen Toten und der ganzen Trümmerwüste verfasst sind. Natürlich kann es in dieser Situation nicht mehr darum gehen, irgendwelche abstrakten Bilder zu malen, wie in den 1920er Jahren, weil das Projekt der Moderne mit dem politischen Zusammenbruch gescheitert ist. Stattdessen interessiert man sich plötzlich – und das ist ein Aspekt, der pädagogisch interessant ist – für Kinderzeichnungen, also vitale Impulse eines vermeintlich unverfälschten Menschseins. Die Künstlergruppe CoBrA bezieht sich darauf oder auch Jean Dubuffet. Die Nähe zur Kunstpädagogik liegt für mich auf der Hand. Künstler:innenmanifeste haben sehr oft pädagogischen Charakter. Sie sind keine Didaktik, mit der die eigene Kunst vermittelt werden soll, sondern eine Pädagogik, die beim Leser ein anderes Bewusstsein bewirken will. Daher lassen sich die Texte auch lesen, wenn man wenig über die Künster:innen weiß. Man kann in einem zweiten Schritt erst fragen: Was haben die jetzt eigentlich für Bilder gemacht? Oft ist man überrascht, weil man sieht, dass all die hochfliegenden Ideen mit den Mitteln von Leinwand und Farbe gar nicht mehr einzuholen sind. Das Manifest ist selbst das Kunstwerk!

 

28. April, 18 Uhr –12. Mai 2021
Es wird keine Bilder mehr geben!
KünstlerInnenmanifeste der Avantgarde und Neoavantgarde
Atelierhaus Salzamt
Ein Ausstellungsprojekt von Prof. Anna Maria Loffredo (Kunstuniversität Linz) und Prof. Andreas Zeising (Kunsthistoriker aus Siegen, Gast im Salzamt) mit Studierenden. Auf der Basis eines Close Readings ausgewählter KünstlerInnenmanifeste sollen Argumentation, Rhetorik und Gestaltung dieser oft eigenwilligen, kuriosen oder poetischen Programme untersucht, ihr gesellschaftlich-künstlerischer Anspruch überprüft und der entscheidenden Frage nachgegangen werden: Was soll und was kann Kunst aus KünstlerInnensicht leisten?
blog.salzamt-linz.at

Eine Reflexion über das Ausstellungsprojekt „Es wird keine Bilder mehr geben! KünstlerInnenmanifeste der Avantgarde und Neo­avantgarde“ gibt es in der Referentin #24 zu lesen.

Mjamerando!

Der Dude möchte das Haus nicht verlassen. Der Dude möchte beliefert werden. Darum eine schnelle und korrekte Suche auf Duckduckgo und schon werden ihm zwei Lieferdienste kredenzt: Lieferando und Mjam. Die kennt er eigentlich nur von der negativen Berichterstattung aus den Mainstreammedien und von beherzten Ausweichsprüngen auf der Straße, wenn lässige ZustellerInnen mit bizarren Rucksäcken etwas zu zügig an ihm vorbeirattern. Dass die Arbeitsbedingungen der FahrerInnen letztklassig sind, die Unternehmen aktiv eine gewerkschaftliche bzw. betriebsrätliche Organisation zu unterbinden versuchen und der Job hart und gefährlich ist, sollte ja hinlänglich bekannt sein.

Im letzten Jahr ist die Nachfrage nach Essen per Lieferdienst pandemiebedingt stark gestiegen – verständlicherweise – da besonders für Menschen, die ihren Haushalt nicht verlassen wollen (oder können) hier die Möglichkeit haben, zumindest teilweise etwas Abwechslung in ihren Speiseplan zu bringen. Zumindest auf dem Papier. An sich ist die Zustellung per Veloziped lobenswert. Hier sieht der Dude eindeutig die positive Seite. Anders hingegen stellt sich dann ein genauerer Blick auf das Angebot dar. Dies ist natürlich nur ein virtuelles Abbild des Angebots in der Stadt, wird aber dennoch auch durch werbliche Tricks, Bewertungsmatrixen und Datenanalyse verstärkt und sicher auch verfälscht. So wird dem Dude gleich beim ersten Ansurfen der Lieferando-Website der Laden mit dem gelben M vorgeschlagen. Mindestbestellwert 10 Euro. Der Slow-Dude überlegt die Anschaffung von 20 Apfeltaschen, verwirft die Idee aber wieder und schmökert weiter. Übrigens im Head-to-Head-Vergleich ist McDonalds bei Mjam fast gleichauf. Wird dem Dude dort auf Platz 2 angeboten. Bemerkenswert ist, dass Mjam die Hausnummer zur Suchabfrage benötigt. So wie Billa die Postleitzahl vom Dude will, wenn er einen Liter Milch benötigt. Mjam schafft es so, in beide Richtungen Produkte zu generieren. Dienstleistung und Datamining und natürlich die Quersumme daraus. Kompliment.

Der Dude hat aber jetzt schon Hunger. Bei den ganzen wunderbaren Abbildungen der feilgebotenen Schmankerln. Also, das Gustieren geht weiter und der Dude entdeckt lauter alte Bekannte aus der lokalen Gastroszene. Eigentlich das „Who is Who“ des „Worst-Off“. Nun möchte der Dude in diesen schweren Zeiten nicht einzelne kleine Anbieter nennen – die waren zwar schon vorher schlecht – aber das gehört sich trotzdem nicht. Genannt werden dürfen aber, ob ihrer Marktgröße, der schlechten Qualität und des horriblen Geschmacks wegen: Subway, Pizzamann und Vapiano. Eigentlich ist es eine Ansammlung von Küchen, die halbwegs bei sich seiende KonsumentInnen auch in „normalen Zeiten“ meiden sollten.

Darum wieder mal der Aufruf des Dudes, die Wirtin und den Wirt seines Vertrauens anzurufen, anzumailen oder virtuell zu besuchen und sich nach Click-and-Collect-Möglichkeiten erkundigen. Viele bieten dieses Service an, und die ganz Schlauen unter ihnen adaptieren ihr Angebot so, dass die Speisen auch die Abholzeit und Transporte gut überstehen oder sich gut aufwärmen lassen. Spannenderweise ist das Lieferangebot von Lieferando und Mjam ja meist mit Produkten ausgestattet, welche eigentlich nur frisch aus der Küche ihre beste Wirkung entfalten: Pizza, Burger oder Schnitzel. Wobei, wenn diese Gerichte von den oben genannten Unternehmen zubereitet werden, sind Temperatur und Alter meist egal.

Das Fazit: Wenn bei Mjam und Lieferando schon bestellt werden muss: Ein üppiges Trinkgeld für die Fahrerin oder den Fahrer. In bar. Noch besser: Kurze Recherche, welches Lokal eine Abholmöglichkeit bietet. So kommt man raus und sieht kurz seine liebsten Wirtsleut.

Nach den Lockdowns: Museumsbesuch per Klick?

Neue Studien ergeben, dass rund 20 Prozent der Menschen, die vor den Lockdowns Kulturveranstaltungen besucht haben, für zumindest einige Zeit auch für die Museen und Galerien verloren sein werden. Dieses Publikum hat offenbar die Angebote im Netz zu schätzen gelernt und will auch künftig Ausstellungen bequem von zu Hause besichtigen. Silvana Steinbacher hat bei den Verantwortlichen der Linzer Museen und Kunst­häuser allerdings zupackenden Optimismus bemerkt.

Situation im Winter 2021, z. B.: Memphis Light Box Extra, Barbara Juch & Lara Konrad. Foto Memphis

„Ich denke das Live-Erlebnis wird wieder an Bedeutung gewinnen.“ „Es funktioniert nicht, wenn Formate lediglich ins Internet verschoben werden.“ „Die Menschen warten bereits sehnsüchtig darauf endlich wieder ins Museum gehen zu können.“

Zukunftsängste sehen anders aus. Von einigen Linzer Museums- und Kunsthausleiterinnen und -leitern, (Lentos Kunstmuseum, Kunst- und Projektraum Memphis, Nordico Stadtmuseum und Atelierhaus Salzamt) mit denen ich zu diesem Thema Kontakt aufgenommen habe, ist jedenfalls niemand besorgt, dass das Publikum nur noch das Online-Angebot besucht. Die verordneten Schließungen strapazierten auch das Leben der Kunstanbieterinnen und Kunstanbieter und es ist noch kein Ende absehbar. Von Lockdown zu Lockdown mussten die Verantwortlichen mit geplanten Ausstellungskonzepten jonglieren und ihre Galerien oder großen Häuser in Geister-Stätten verwandeln, während zuletzt Schifahrende dicht an dicht auf ihre Gondeln warteten.

Als es noch möglich war, habe ich mir ganz und gar unbesorgt an einem Dienstagnachmittag eine Ausstellung in einem Linzer Museum angesehen. Ich begegnete zwei Besuchern in mehr als ausreichender Entfernung und konnte die Schau rundum entspannt auf mich wirken lassen.

Österreichs Bundesmuseen verzeichneten im vergangenen Jahr einen Publikumsrückgang von 71 Prozent. Einen Kollateralschaden für die Kulturanbieterinnen und Kulturanbieter erwartet Klaus Albrecht Schröder und sieht dunkle Wolken am Kunsthimmel aufziehen. Der Vorsitzende der Bundesmuseen-Konferenz und Direktor der Albertina in Wien befürchtet, dass die besagten Kollateralschäden in ihrem Ausmaß derzeit in keiner Weise absehbar seien und sich die Menschen den Besuch von Kultureinrichtungen ganz einfach abgewöhnen würden (Ö1-Mittagsjournal am 11. 1. 2021). Schröder erwähnt in diesem Zusammenhang die Online-Angebote, um die es uns hier geht, allerdings nicht.

Doch es gibt auch eindeutige Gewinnerinnen und Gewinner des Lockdowns auf diesem Gebiet. Die Geschäfte im Netz florieren, Kunstverkäufe haben sich bisher im Gegensatz zu „Normalzeiten“ verdreifacht.

Während der Lockdowns dürften die Besucherinnen und Besucher von Museen die intensivierten Präsentationen im Netz entdeckt, einzelne Werke von zu Hause aus und ohne Eintrittsticket genossen haben. Die Vermutung liegt also nahe, dass ein Gewöhnungseffekt eingetreten sein könnte und das betrifft nicht nur Museen, sondern den Kunst- und Kulturbereich insgesamt. So ist diese Perspektive seit den Lockdowns auch für die rund 15 Museen der Stadt Linz sowie die Galerien noch realistischer geworden als davor. Clemens Mairhofer, Mitarbeiter im Atelierhaus Salzamt, bringt es auf den Punkt:
„Ich denke, dass der Lockdown für sehr viele Menschen und auch Institutionen so etwas wie ein Online-Crashkurs war. Das Online-Angebot von Museen und Ausstellungsräumen hat sich erweitert und verbessert, netzbasierte Formate wurden entwickelt und das Streamen von Veranstaltungen wurde zum Standard. Die allgemeinen Computerkenntnisse haben sich verbessert.“

Dass die Vermittlung vor Ort durch diese Entwicklung möglicherweise obsolet sein könnte und somit auch ein Publikumsschwund einsetzen könnte, glaubt die Leiterin des Nordico Stadtmuseums Andrea Bina allerdings nicht.
„Die Vermittlung wird auf keinen Fall obsolet sein, aber das Angebot wird sich verändern, da die Anzahl der teilnehmenden Personen geringer sein wird. Wir haben bereits auch andere Angebote entwickelt wie etwa das Take-away Atelier.“ (Ein Take-away Atelier ist eine Box zum Mitnehmen, die Bezug auf die Ausstellung des jeweiligen Hauses nimmt, auch bietet sie die Möglichkeit selbst kreativ zu sein.)

Um ihr Stammpublikum fürchtet die künstlerische Direktorin des Linzer Kunstmuseums Lentos Hemma Schmutz auch nach den Schließungen nicht. Sie glaubt vielmehr, dass sich physisches Erleben von Kunst und Museen und digitale Vermittlung eher gegenseitig verstärken, wie sie konstatiert, doch gibt sie zu bedenken:
„Nicht zu vergessen ist natürlich auch der ökonomische Aspekt dieses Themas. Bis dato sind ja die meisten digitalen Angebote kostenfrei und die Museen finanzieren sich natürlich auch über Eintritte.“

Der Linzer Kunst- und Projektraum Memphis als Ort der offenen Kommunikation und Diskussion will als Kunstverein eine Schnittstelle zwischen Kunst- und Filmschaffenden, Theoretikerinnen und Theoretikern und Publikum sein und einen Raum zur kritischen Betrachtung bieten. Jakob Dietrich rechnet nach wie vor mit seinem Publikum. Das Memphis-Team an der Unteren Donaulände nutzte die Zeit ohne Publikum und Ausstellungen, um Konzepte zu überdenken, den Kontakt zu jungen Künstlerinnen und Künstlern aufrechtzuerhalten und im Rahmen des Möglichen nach Ausdrucksformen zu suchen, unter anderem durch einen Leuchtkasten an der Außenfassade des Kunstraums, der sich auf der stark befahrenen Straße mit einer künstlerischen Wortmeldung zur Pandemie äußert.

Bereits vor mehr als 20 Jahren prophezeite der Kunstkritiker und Philosoph Boris Groys, ein relevanter Theoretiker der Geistes- und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, dass die Kunst innerlich bereit sei, den Verlockungen des Medienzeitalters zu folgen, aus dem Museum auszuziehen und sich durch die neuen medialen Kanäle verbreiten zu lassen. (Boris Groys, Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters, 1997)
Diese Prophezeiung hat sich im Laufe der vergangenen Jahre zwar angebahnt, ist aber noch nicht ausschließlich realisiert worden. Es existieren unterschiedliche Thesen zu der Frage, ob das herkömmliche Museum jemals obsolet und zur Gänze durch „mediale Kanäle“ oder virtuelle Präsentationen ersetzt würde. Vor allem in den Vereinigten Staaten spricht einiges dafür, dass das Netz zumindest den ersten Kontakt zum Museum darstellt: Erst dem „virtuellen“ Besuch durch die Userinnen und User folgt der lokale durch die Besucherinnen und Besucher. Als Befund lässt sich feststellen, dass virtuelle Präsentationen vor allem die jüngere Generation anziehen.

Kehren wir nach Linz zurück: Das Atelierhaus Salzamt an der Oberen Donaulände zielt auch auf Begegnung und Vermittlung. Es bietet fünf Ateliers für internationale Kunstschaffende und vier für regionale, setzt auf Kunstvermittlung durch Gespräche und Atelierbesuche. Dieses Konzept ist durch Auftritte im Netz nur unzureichend zu ersetzen und somit wurde das Salzamt durch die Lockdowns besonders beschnitten, sagt Clemens Mairhofer.
„Einige internationale Künstlerinnen und Künstler konnten ihre Residencies auf Grund von Reisewarnungen nicht antreten. Grundsätzlich muss man aber festhalten, dass eine Residency zur Ausübung des Kunstberufs gehört, das heißt auch momentan ist eine Einreise aus beruflichen Zwecken möglich. Voraussetzung ist natürlich ein negativer PCR-Test und 10-tägige Quarantäne.“

Die künstlerische Direktorin des Lentos Hemma Schmutz stellt fest, dass digitale Angebote heute oft klassischere Vermittlungsstrategien ersetzen würden, so wie es früher Kataloge oder Texte in Ausstellungen geboten hätten. Perfekt, so Schmutz, seien sie für die Vor- bzw. die Nachbereitung eines realen Besuchs in einem Museum. Die Leiterin des Nordico Andrea Bina stimmt diesem Mix zu.
„Die Kombination von Ausstellungsbesuch und ‚Nacharbeiten‘ daheim zum Thema finde ich ideal. Gerade bei unseren kulturgeschichtlichen Präsentationen im Nordico Stadtmuseum Linz ist das relevant, da wir komplexe Stadterzählungen anbieten. Alle unsere Filmbeiträge und Interviews, die wir zu unseren Ausstellungen produzieren, sind auf unserer Homepage abzurufen. Gerade diese Form der Auseinandersetzung schätze ich sehr. (Man sollte grundsätzlich neugierig bleiben, das Museum ist nach wie vor die ideale Plattform für „lebenslanges Lernen“ und mehr.) Ich hatte gerade in den letzten Wochen sehr schöne Rückmeldungen von ‚Stamm‘-BesucherInnen, die schon gespannt auf unsere kommenden Ausstellungen, auf weitere vertiefende Auseinandersetzung mit unserer Stadt warten.“

Lassen wir hier beiseite, wie stiefmütterlich die Regierung die Kunst an sich behandelt hat, so als sei sie ihr herzlich egal. Versuchen wir vielmehr uns auch erfreuliche Perspektiven aus der Situation heraus vorzustellen, was zugegebenermaßen vermessen klingt. Könnte das Engagement, die Kompetenz und die Originalität, mit denen einige Verantwortliche der Museen und Galerien ihr Angebot vermehrt online präsentiert haben, möglicherweise dazu beitragen, dass das Publikum sich im Netz anregen lässt, um dann die Ausstellungen in den Hallen oder auch kleinen Galerien real zu erleben, die Hängung der Werke, die Architektur der Häuser auf sich wirken und dann im Café, sofern es eines gibt, den Nachmittag ausklingen zu lassen?

Wie geht es weiter? Die Vermutungen sind natürlich unterschiedlich. Ob für manche Häuser tatsächlich der besagte Kollateralschaden eintritt oder das Publikum seine Häuser vermisst hat, werden erst die nächsten Monate zeigen, und dies ist ebenso wenig abzuschätzen wie dieses Virus, das so gänzlich unvorhersehbar ist und hoffentlich bald gewesen sein wird.

www.memphismemph.is
lentos.at
blog.salzamt-linz.at
nordico.at

Aka Eric big Clit, aka Mushido

Bereits im vergangenen Herbst ritt Eric big Clit für die Ausstellung „Sattelt die Pferde, ihr HERRscher!“ in den Kunstraum Goethestraße ein. Anlass für ein Porträt der gendergefluiden Künst­ler*in dahinter: Theresa Gindlstrasser hat mit Alice Möschl gespro­chen.

Eric big Clit ist ehemaliger General. Früher toxisch maskulin, heute „Sohnin des Matriarchats“ inklusive all der zähen Widersprüche einer brüchigen Biografie. Im September 2020 reitet Eric für die Ausstellung „Sattelt die Pferde, ihr HERRscher!“ in den Kunst­raum Goethestraße ein. Trägt blaue Uniform mit glänzenden Knöpfen, einen opulenten Bart und deklamiert: „Du musst ein Mann sein, du musst stark sein“. Einen nackten Oberkörper, viel glänzendes Olivenöl und noch viel mehr bunte Federn später, heißt’s dann aber: „Wir müssen die Pferde absatteln“.

Alice Möschl, genderfluide Künstler*in hinter der Kunstfigur, beschäftigt sich mit und performt Eric (2020 in Graz übrigens als erster Mister Tuntenball geehrt) seit mittlerweile zwei Jahren. Keine Liebe auf den ersten, aber eine auf den soundsovielten, sei es für ihn*sie gewesen. „Mit Eric bringe ich Veränderung, die ich mir für die Gesellschaft wünsche, als Work in progress auf die Bühne“. Der kontroverse Charakter habe in der Drag-Community zu Diskussionen geführt: Trägt so jemand wie Eric zu viel Patriarchat in den Safe Space hinein? Aber Möschl sieht seine*ihre Aufgabe als Künstler*in genau darin – im Aufzeigen von Widersprüchen und Aushalten von Unangenehmen. Sich selbst als „Medium zur Verbreitung von Messages“ verstehend, erteilt Möschl schnellen Lösungen und glatten Biografien eine Absage, formuliert hemdsärmelig-zukunftsfroh: „Es wird immer Baustellen geben“.

Geboren 1989 in Salzburg Land, studierte Möschl zunächst Soziale Arbeit, dann Experimentelle Gestaltung an der Kunstuniversität Linz. Umtriebig im Spannungsfeld feministischer/queerer Kunst und Politik zeichnet er*sie verantwortlich für Performances am Donaufestival in Krems, im Posthof und Landesmuseum Linz genauso wie für die Mit-Organisation der ersten queeren Donnerstagsdemo in Wien oder eines Drag-King-Workshops mit dem Linzer Kunst- und Kulturraum Pangea. Ob als Vorstandsmitglied bei der KUPF Oberösterreich oder bei der HOSI Linz, als Community Managerin oder als Post-Pornografie Darsteller*in – Möschl nimmt Rollen, Klischees und soziale Normen auseinander und propagiert Selbstreflexion, Neugierde und Selfcare.

„Ich wünsche allen Cis-Männern Zärtlichkeit! Aber wir haben noch viel Detox vor uns bis vielleicht irgendwann sexuelle Orientierungen und Identitäten wurscht geworden sein werden. Bis vielleicht irgendwann Menschen, Tiere und Pflanzen zur Community werden. Community! Ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste, Begriff in meiner Arbeit. Es gilt, nicht nach unten oder zu Seite zu treten, sondern die herrschende Klasse nachhaltig zu verunsichern. Meine Auftritte in Mainstream-Medien wie der Barbara-Karlich-Show versuchen eine Aufmerksamkeit zu schaffen für nicht-binäre Personen. Es geht um Repräsentation. Damit wir irgendwann endlich vorkommen in der Welt“.

Ein anderer von Möschl entworfener und gelebter Charakter heißt Mush Room. Ist ein Zwischenwesen aus Mensch, Alien und Pilz, kommt jedenfalls aus der Zukunft und hat mit restriktiven Konstruktionen nichts mehr zu tun. Deutlich utopischer als Eric big Clit, feiert Möschl anhand von Mush Room das Ende heteropatriarchaler Phantasien, die den Menschen als Zentrum des Universums ansehen. Und dann wäre da noch Mushido, klar adressiert gegen den Rapper Bushido, ein Charakter, der per Drag Rap sexistische Songtexte über-appropriiert.

Auf seine*ihre Situation als Künstler*in in Corona-Zeiten hin befragt, antwortet Möschl mit Mushido-Schnauze: „Nehmt ihnen die Sudoku-Hefte weg, dreht ihnen das Radio ab – Kunstproduktion ist kein Hobby. Kunst ist lebensnotwendig. Und immer schon politisch“.

Eric big Clit alias Alice Moe im KunstRaum Goethestrasse xtd. www.kunstraum.at/index.php/sattelt-die-pferde-ihr-herrscher-alice-moe

Jungs, hier kommt der Masterplan!

Ihr eigenes Engagement verortet sie nahe der „mutigen Architektin und kommunistischen Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky“, deren Freundin sie lange war: „Ihre Rolle als politische Architektin ist Vorbild“. Als praktizierende, lehrende, publizierende und aktivistisch eingebundene Architektin ist es Gabu Heindl am öffentlichen wie auch bewohnten Stadt-Raum gelegen. Mit „Stadtkonflikte“ erschien kürzlich ein Buch, das an ihrer radikalen Position keinen Zweifel lässt, am Funktionieren demokratischer Konzepte aber schon.

Gabu Heindl, Can Gülcü, Installation zum öffentlichen Grünraum „Freie Mitte“ am Nordbahnhof, Wien 2017. Foto Michael Krebs

Das mit knapp 500 Fußnoten gespickte Kompendium liest sich als philosophisch-wissenschaftliche Abhandlung und Manifest zugleich, dabei muss Demokratie nicht – und kann auch nicht – radikal gegründet werden: „Wir können uns einer demokratischen Gesellschaft nur durch eine Pluralität von Demokratisierungsakten nähern.“ (Ernesto Laclau)

Kritiker*innen auf den Plan gerufen
Ganz allgemein ist Stadtplanung mit der kapitalistischen Ökonomisierung von Gesellschaft konfrontiert: Planung wird geprägt, bestärkt, auch begrenzt, gar durchkreuzt von dogmatischen Imperativen des Wirtschaftswachstums. Stadtkonflikte sind Teil der vielfältigen aktuellen politischen und sozialen Konflikte weltweit. Zu den Brennpunkten urbaner Kämpfe zählen die Privatisierung von öffentlichem Raum, städtischem Boden und Allgemeingütern, die Kapitalisierung von Wohnraum bis hin zu ganzen Stadtteilen. „Dabei wird in großem Maßstab enteignet: Menschen verlieren – und zwar durch gezielte herrschaftspolitische Maßnahmen – Rechte, Freiheiten und Sicherheit (etwa Wohnsicherheit), sie verlieren Möglichkeiten zur Teilhabe an der Stadt“ kritisiert die Autorin. „Die Politiken, die der Kapitalakkumulation zuarbeiten, werden weiter daran gehen, städtischen Raum in ihrem Sinn umzuwandeln, solange keine politische Kraft dagegenhält.“

Gabu Heindl sorgt die Tatsache eines (zeitweiligen, ambivalenten) Erstarkens des Staates, angesichts der bis vor Corona unvorstellbaren „Koste es, was es wolle“-Politik, und betont, dass es nun umso mehr um kritische Reflexion der Zuschreibung „staatlich“ bzw. „kommunal“ gehe, sowie um einen Einspruch dagegen, dass eine kollektivistische, am öffentlichen Gemeinwohl orientierte Politik auf den Protektionismus eines nationalen Wirtschaftsraums reduziert wird. Gut erschlossener Stadtraum sei zum Investitionsstandort für jenes Kapital geworden, das durch fehlende Besteuerung von Krise zu Krise wächst und sich in Form jenes Eigentums an urbanem Raum manifestiert, das nicht für dessen Nutzung gedacht ist, sondern als gebaute Form gestapelter Aktien und Sparbücher.

Politik, Planung und Popular Agency
Ihre Kritik gilt der Politik, die derartige neoliberale Instrumente ermöglicht. Die Autorin attestiert eine massive Demokratiekrise, so werde diese bedrängt und abgebaut durch Machtübernahmen, die sich mit Begriffen wie rechtspopulistisch oder nationalautoritär – „womöglich auch mit dem drastischen Wort Faschisierung“ – bezeichnen lassen. Für den Aufbau des Buchs wird von der gängigen und für neoliberale Stadtplanung synonym gewordenen Abkürzung PPP für Public Private Partnerships ausgegangen. Dem setzt Gabu Heindl andere, oppositionelle „P“s entgegen: Anstelle eines Public, das hier Öffentlichkeit als top-down planend oder aber Planungsverantwortung abgebend meint – als eine Form von Öffentlichkeit, die sich unternehmerisch missversteht und somit selbst abschafft –, nämlich an Private, genauer: an Kapitalmacht-Akteur*innen mit Profit-Interessen, eine Partnerschaft bildend, die aus demokratiepolitischer Perspektive ungleich und vorgetäuscht ist. Anstelle dieses PPP macht Gabu Heindl nun dasjenige von Politik, Planung und Popular Agency stark: „Wenn hier von Politik im Kontext von Architektur und der Verteilung von Raum die Rede ist, geht es dabei nicht um eine Politik der Autonomie von Form oder Kunst, und auch nicht um Politik, die ein Wissen über ein richtiges Gesamt-Modell oder einen ultimativen Verteilungsschlüssel propagieren würde. Sondern es ist ein Politik-Verständnis, das wesentlich postfundamentalistisch, auf Hegemonie-Konflikt hin orientiert und radikaldemokratisch ist.“ Sie verweist darauf, wie sehr kommunikative und partizipative Planungspraktiken heute durch ihre Rolle als Zuarbeiter*innen für neoliberale PPP-Projekte kompromittiert sind.

TINA
Radikale Demokratie betrifft die Demokratisierung von Demokratie in Zeiten ihrer Krise. Dabei lässt sich eine Forderung aus dem Kontext radikaler Demokratietheorie besonders hervorheben, nämlich, dass sie praktisch werden muss. „Demokratie ist ein Prozess politischen Handelns, und das Radikale daran betont die Wichtigkeit seiner hartnäckigen Vertiefung. Konzeptuell gesagt, wird Politik in diesem Buch in einem radikalen Sinn befragt, als ein die Gesellschaft gründendes Machtverhältnis, als der Bereich instituierender Konflikte.“ Das Buch wende sich mit Entschiedenheit radikaldemokratisch dem Alltäglichen und seinen politischen Machtverhältnissen zu. Gebetsmühlenartig ertönt darin die Behauptung, dass sich Stadtplanungspolitik mit dem Siegeszug des Marktliberalismus als politisch-institutionellem Rahmen für maximal unternehmerische Freiheit in den letzten Jahrzehnten scheinbar alternativlos in Richtung Wettbewerb, Konsens und Technokratie entwickelt hat. Das notorische ‚TINA‘-Akronym (TINA für There Is No Alternative – keine Alternative zur Dominanz von Markt und Wettbewerb) präge den neoliberalen Stadtplanungsdiskurs und dazu die vermeintlich ideologiefreie Planung.

Dem entgegen setzt die Autorin ihr radikaldemokratisches Konzept, dem sie u. a. folgende Phänomene zuzählt: Fearless Cities, Sanctuary Cities, Rebel Cities. „Fearless als Kraft in einem Netzwerk gegen rassistische Politik, sanctuary als Raum-Form des Willkommen-Heißens von Neuankömmlingen, rebels als Akteur*innen: Derartige (Selbst-)Zuschreibungen betreffen Städte als Subjekte wie auch Schauplätze eines Neuen Munizipalismus.“ Weil ein Blick auf die Stadt als in diesem Sinn neue (macht)politische Akteurin für Fragen einer radikaldemokratischen Stadtplanung aufschlussreich ist, führt ein Exkurs zu den spanischen Gemeinderatswahlen 2015, im Zuge dessen Ver­tre­te­r*in­nen feministischer und basisdemokratischer Politik-Bewegungen in mehrere Stadtparlamente einzogen. Aus Selbsthilfe-Organisationen und sozialen Bewegungen in der spanischen Humanitätskrise entstanden, wurden sie Teil der Stadtregierungen, u. a. von Madrid, Barcelona, Valencia – als Plattform sozialer (sozialistischer) und vor allem kommunaler Bewegungen. Bei diesen unter dem Begriff Neuen Munizipalismus zusammengefassten Bewegungen handelt es sich um Bottom-up-Initiativen, die sich auf den „Anarcho-Syndikalismus“ der spanischen Revolution der 1930er Jahre beziehen und zugleich „aber ganz bewusst in die Institutionen gehen, also hegemoniepolitisch und dabei experimentierfreudig auf lokaler Ebene an konkreten, auch institutionellen Alternativen zum globalen Neoliberalismus arbeiten“.

The road to hell is paved with good intentions (Karl Marx, Madonna, Pink)
Heutige Anforderungen und Konfliktlagen der Stadtplanung – Wohnbau für die Vielen, Bodenpolitik und Ressourcenschonung, Migration und Teilhabe – erfordern demnach proaktive radikaldemokratische Stadtplanung, um die Privatisierung städtischer Räume zu stoppen und Zukunftsperspektiven einer sozial und ökologisch gerechten Stadt zu entwickeln. „Im Rahmen radikaldemokratischer Planungspraxis könnten wir Planung als eine unvermeidliche Setzung konzipieren, die aber strittig ist.“ Mit einem solchen Setzungsbegriff werden zwei diffizile Bereiche betreten: „Der eine ist das immer schon stratifizierte Feld eines Stellungskriegs, auf dem jene Hegemoniepolitik stattfindet, wie sie Antonio Gramsci theoretisiert hat. Der andere diffizile Bereich ist jener der Operationen, die sich selbst nachhaltig problematisieren.“ Gabu Heindl meint damit Folgendes: In einer postfundamentalistischen Konzeption des Wortes Setzung kommen zwei Bedeutungen des Begriffes, die auf den ersten Blick konträr erscheinen, in sehr nahen Kontakt miteinander. Zum einen macht die Setzung etwas „wirklich“, macht es existent; zum anderen ist Setzung eine „Annahme“, etwas, das nicht unveränderbar für immer gilt, sondern unter Bedingungen:

„Obwohl Gesellschaft nicht ultimativ zu gründen ist, so die postfundamentalistische Theorie, muss sie dennoch provisorisch gegründet werden.“ Und gerade die Unmöglichkeit einer Voll-Gründung ermöglicht Teil-Gründungen. Gesellschaften und gesellschaftliche Räume sind nie gänzlich ohne Ordnung und Fundament. Das heißt: Eine vollständige Abwesenheit von Fundamenten gibt es ebenso wenig wie eine vollständige Präsenz von Fundamenten. Gründungen seien deshalb kontingent und unverzichtbar. „Foundations matter – es kommt auf sie an. Sie sind zugleich unsicher, prekär und von höchster Wichtigkeit für Leute und für gesellschaftliche Gruppen.“

Strittige Konsequenzen
Sobald ein Plan gezeichnet und zur Diskussion gestellt ist, also in diesem Sinn eine Setzung ist, hat er folgende politisch wesentliche Eigenschaften: Er ist allgemein; er ist öffentlich; er ist ausformuliert; und er ist bestreitbar. Und damit könne und müsse der Plan an demokratische Öffentlichkeit gebunden werden und der Streit an demokratische Spielregeln seiner Austragung. Worauf die Autorin hier abzielt, ist die gegenwärtige politische Situation, in der neoliberale Hegemonie durch ganz andere Macht-Formen realisiert wird: nicht allgemein, sondern von Fall zu Fall und dem jeweiligen Investitionsobjekt optimal angepasst; nicht öffentlich, sondern durch Schutz von Privatrecht und mittels interner Vorabsprachen; nicht ausformuliert, sondern möglichst informell, möglichst „geschmeidig und flexibel“ – und insofern entziehen sich neoliberale Vereinbarungen der Strittigkeit und sind daher gerade nicht Setzungen im Sinn öffentlicher Konfliktaustragung und Legitimierung.

Freie Mitte
Was aber die Agency von Architektur betrifft, so biete gegenwärtig ein an Bruno Latour orientierter ANT (Actor Network Theory)-Ansatz einiges an Auseinandersetzung mit ihr. „Im Unterschied zu Ansätzen, die einer Sorge um Identität von Architektur als Disziplin breiten Raum geben, hebt ein radikaldemokratischer Zugang Verhältnisse hervor, in denen Architektur entschieden auf kritische Distanz zu ihrer ‚Identität‘ und zum vorherrschenden Habitus ihrer Handlungsobjekte geht.“ Gabu Heindl fordert alle, also auch Architekt*innen und Planer*innen dazu auf, in Allianzen zu treten, als Expert*innen – bei gleichzeitiger Selbstkritik und Distanzierung von Aspekten jener Machtposition, die mit der Zuschreibung von Expertise einhergeht.
Es geht ihr um die Ausweitung der Rechte auf Stadt. Dazu führt sie auch eines ihrer eigenen Planungsprojekte ins Feld, das sie 2011 gemeinsam mit der Architektin Susan Kraupp für den Wiener Donaukanal entwickelt hat. Zum Zweck der „Einrichtung und Offenhaltung von öffentlichem Raum als Möglichkeitsraum mit niederschwelliger Teilhabe“ – nicht an Kaufkraft gebunden oder daran, wer zur bevorzugten Zielgruppe von raumgreifenden Gastronomien zählt (und wer dort zunehmend weniger geduldet ist) – griffen sie auf „ein Instrument starker planerischer Setzung“ zurück, nämlich auf das Instrument des Bebauungsplans, indem sie für ihren spezifischen Kontext einen „Nichtbebauungsplan“ ausarbeiteten. Dieser ist abgefasst wie ein Bebauungsplan, nur dass er eben reziprok verfährt, indem er dezidiert „nicht zu verbauende Zonen“ als Projektziele ausweist. (Die Kurzfassung der Donaukanal-Partitur-Leitlinien findet sich online unter: https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/e000012.pdf.) Im Sinn einer von Gabu Heindl propagierten Radikalisierung und Vertiefung demokratischer Verhältnisse zielt eine solcherart orientierte Planung, entgegen tradierter paternalistischer Methoden, auf ein Einrichten und Verteidigen von Infrastruktur, von Spiel- und Möglichkeitsräumen „und das beinhaltet auch den Kampf um Sicherungen, nämlich vor den Zugriffen deregulierter Kapital-Aggression auf Wohn- und Stadtraum“. Sie schlägt dafür ein von queeren Theorien und Theorien zur Care Revolution geprägtes Gegenmodell vor, indem es um lustvolle, auch spielerische Besetzungen im Sinn von Aufladung geht – Besetzungen, auch im affektiven Sinn, von Häusern, Plätzen, öffentlichem Raum. „Dabei geht es mir um konfrontative, kritische Arbeit in solidarischen Öffentlichkeiten: Die Bildung von Bündnissen und Äquivalenzketten soll ein handlungsmächtiges Wir hervorbringen.“

 

Titelzitat: Tocotronic, „Der Masterplan“, 1995

Gabu Heindl „STADTKONFLIKTE. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung“,
Mandelbaum Verlag, Wien 2020

Ergänzung zum Bild: Gabu Heindl, Can Gülcü, Installation zum öffentlichen Grünraum „Freie Mitte“ am Nordbahnhof, Wien 2017, Foto: Michael Krebs, Dorothea Trappel (Hg.), „Der Abgestellte Bahnhof. Das Wiener Nordbahnhofgelände und die Freiheit des Raumes“, 2018

Lesestoff auf zwei Rädern

Wahre Liebhaber, Freaks oder die Professionellen unter uns sind zwar saisonunabhängig auf dem Fahrrad unterwegs. Aber für viele andere gilt: Der Frühling kommt und damit die Fahrradsaison. Der Verkehr verlagert sich wieder etwas mehr auf zwei Räder, die wärmere Luft motiviert zu sportiven Langstreckenfahrten. Magnus Hofmüller hat Lesetipps rund ums Thema.

Das Fahrrad ist nicht nur Verkehrsmittel oder Sportgerät – mit seiner Geschichte und all seinen unterschiedlichen Ausprägungen ist es Kulturgut, Fetischobjekt und Projektionsfläche für Wünsche und Träume zugleich. Natürlich kann man das auch von Auto, Eisenbahn oder anderen Objekten sagen, die als technisches Hilfsmittel der Fortbewegung dienen. Jedoch ist das Fahrrad demokratischer, diverser, zugänglicher, verständlicher und natürlich auch leistbarer. Fahrräder bieten ein breites Feld zur Auseinandersetzung und daraus wiederum ergibt sich eine Vielzahl an Publikationen unterschiedlichster Art. Und da Mensch nicht nur nie genug Fahrräder haben kann, sondern dies genauso für Bücher und Hefte zum Thema gilt, ein paar Tipps zum geschriebenen Wort rund ums Fahrrad.

A Cycling Lexicon: Bicycle Headbadges from a Bygone Era (englisch)
Phil Carter, Jeff Conner
Gleich als Einstieg ein Werk für wahre Nerds: Auf knapp 400 Seiten werden Fahrradplaketten oder auch Steuerkopfschilder historischer Räder gelistet. Ein wahrer Augenschmaus und Wissensschatz – ein Lexikon der Fahrradheraldik. Es kommen natürlich Markenklassiker wie Schwinn, Peugeot oder Hercules vor. Aber auch Schätze aus asiatischer oder russischer Produktion aus den 1920er Jahren werden gezeigt. Ein ideales Geschenk für passionierte Fans von Retrofahrrädern.

Everyday Bicycling – How to Ride a Bike for Transportation (englisch)
Elly Blue
Ein kleines, feines Büchlein für den Alltag auf zwei Rädern. Der Satz auf der Rückseite „Rediscover the joy of getting around on two wheels“ trifft den Grundtenor des Buches perfekt. Es geht nicht um die sportliche Variante des Radfahrens, sondern ums Pendeln, Einkaufen und Transportieren mittels Fahrrad. Fahrradfahren als integraler Bestandteil des Alltags. Mit Tipps und Tricks von der Kleidung bis zum Bike.

Die Regeln (Orig.: The Rules) (deutsch)
Velominati
Hier kommen die sportiven FahrerInnen voll auf ihre Kosten. Quasi ein Muss in jedem Bücherregal. Fünfundneunzig Regeln, die ernst und humorig an das Thema heranführen sowie nützliches und unnützes Wissen bereitstellen, weisen den Weg in den Geheimbund der echten RennradfahrerInnen. Themenfelder wie rasierte Beine, Bräunungskanten und Espressoarten sind ebenso enthalten wie Material- und Trainingstipps. Also, wie Regel #90 sagt: „Bleib auf dem großen Blatt“.

Lob des Fahrrads (deutsch)
Marc Augé
Das zweite kleine Büchlein der Auswahl. Dieses ist weniger praktisch orientiert, sondern feiert die Fahrradrevolution von Kopenhagen bis Paris. Als LinzerIn liest man das natürlich mit einer gewissen Wehmut … aber Hoffnung ist wichtig! Allein Kapitelüberschriften wie „Vélo Liberté“ machen gute Laune – eine schnelle Lektüre für FahrradutopistInnen.

 

How to survive als RADFAHRER (deutsch)
Juliane Schuhmacher
Die Stadt und das Fahrrad – eine ewige Kampfzone? Ja und nein, wenn man der Lektüre von Juliane Schuhmacher folgt. Diese gibt Tipps, wie man möglichst konfliktfrei durch den RadlerInnenalltag in der Stadt kommt und Spaß dabei hat, Motivation gewinnt und sich sicher durch den Verkehr bewegt.

 

Strassenkampf (deutsch)
Kerstin E. Finkelstein
Die Autorin diagnostiziert eine ständige Zunahme des Autoverkehrs und eine immer gereiztere Stimmung unter den VerkehrsteilnehmerInnen. Und damit liegt sie natürlich richtig. Und deshalb fordert sie auf 200 Seiten eine eindeutigere und mutigere Verkehrspolitik und den Abschied von der autozentrierten Verkehrsplanung. Positiv argumentiert und konsequent in der Formulierung. So geht sie etwa in Bezug auf Fahrrad und Verkehr dem Gegensatz von Wirklichkeit und veröffentlichter Wahrnehmung in der medialen Berichterstattung auf den Grund. Fast eine Pflichtlektüre für alle verkehrspolitisch interessierten RadlerInnen.

Fausto Coppi (deutsch)
Walter Lemke
Eine umfassende Dokumentation des Lebens der italienischen Radsportlegende Fausto Coppi. Die von einem Bewunderer verfasste und akribisch aufgezeichnete Lebensgeschichte ist ein Zeitdokument des Radsports. Der unkonventionelle Sportler Coppi machte nicht nur durch seinen ungewöhnlichen Fahrstil auf sich aufmerksam, sondern auch durch sein durchaus bewegtes Privatleben. Dieses wird im Buch aber nie voyeuristisch betrachtet, sondern setzt es aus der Distanz betrachtet mit dem des Sportlers in Verbindung und erklärt Zusammenhänge.

Domestik (deutsch)
Charly Wegelius
Ein Bericht aus der Mitte des Rennradsports – ein Insiderreport. Der Autor fuhr jahrelang als Profi in internationalen Rennen mit: und zwar als sogenannter Domestik, das sind Helfer für Etappen-, Sprint- oder Gesamtsieger. Egal, ob als Versorger für Getränke und Nahrung oder als Windschattenspender – immer am Limit und immer im Dienst für andere Fahrer. Ein ungeschönter und direkter Blick in den Profisport.

Fahrradi Model MD (Marcel Duchamp)

Foto Hannes Langeder

Hannes Langeder hat ein neues Fahrradi- Modell entwickelt – das Fahrradi Model MD nach Marcel Duchamp. Mehr über das Hybridfahrzeug – Auto – Fahrrad – Kunst und über Duchamps Readymade „Fahrrad Rad“, mehr über Zigarrenform und die „unbemannten“ 0 km/h bei trotzdem „vollständig gegebener Funktion“ unter fahrradi-md.han-lan.com.

Die Presse berichtet, das Objekt ist aktuell in der Ausstellung „Posterwachsen“ der Galerie Knoll in Wien bis 20. April 2021 zu sehen: www.knollgalerie.at

Maja Osojnik oder „Was ist schön?“

Zum Beispiel kaputte Klänge, akustische Unfälle und hörbare Fehler, die dann keine mehr sind: Maja Osojnik greift in die Schatzkisten aller Arten von Musik – und wildert darüber hinaus im Bereich von Literatur und bildender Kunst. Lisa Spalt mit einem Porträt über eine Generalistin, die mit allen Mitteln kommuniziert.

Nach einem Lauf durch die Wohnungen, weil bei uns beiden das Netz so schlecht ist, treffen wir zweidimensional aufeinander. Maja Osojnik, freischaffende Komponistin, Klangkünstlerin, Sängerin und frei improvisierende Musikerin, hat Kopfhörer auf. Ihre Audioausgabe funktioniert nicht, und ich habe aufgrund des Bildes auf dem Schirm den Eindruck, sie höre mich nicht. Tatsächlich bildet die Situation ab, was Osojnik über ihre Erfahrungen in den letzten Monaten erzählt. Plötzlich ging man im Pyjama näher ans Leben heran und entdeckte, wie die Venen der Arbeit das ganze Dasein komplett durchwachsen hatten. Die daraus entstandene Lähmung, das Gefühl, dass es immer schwieriger wird, neue Musik aus dem Ärmel zu schütteln, verschwand im ersten Lockdown. Euphorie. Endlich konnte frau die gewonnene Zeit wieder spielerischer mit Musik gestalten. Die Kreativität kam zurück. Dann die ersehnte Öffnung, die ersten Konzerte. Aber obwohl das Publikum da ist, sich auch begeistert, entsteht bei der Musikerin das Gefühl, dass sie für niemanden spielt. Die Zuschauendenzahlen sind quasi elitär begrenzt. Und es gibt keine Outro nach dem Konzert, keine Feiern – nur die schwer zu lesenden Mienen hinter dem Mund- und Nasenschutz.
Dabei ist Osojnik eine Person, die gewöhnlich mit allen Mitteln kommuniziert. Sie ist Generalistin, wie sie selbst sagt, wildert im Bereich von Literatur und bildender Kunst, greift in die Schatzkisten aller Arten von Musik. Lange hatte sie deswegen Angst, niemals was auch immer auf den Punkt zu bringen. Dann kam sie endlich drauf, dass alles zu tun sie einfach ausmacht. Es mussten daher neue Bezeichnungen her für das, was sie produziert. Osojnik macht zum Beispiel „Cinema vor Ears“. Aber fangen wir am Anfang an.
Die Allrounderin erlernt im slowenischen Dorf Kranj das Spiel der Blockflöte, musiziert im Barockensemble. Als Jugendliche merkt sie zwar, dass sie, wenn ihr die Holzflöte aus dem Mund hängt, nicht gerade schick rüberkommt. Aber was solls? Als Mitglied einer Band ist sie andererseits die Coolste, und so betrachtet sie die Blockflöte, die zumindest zu Beginn des Lernens ein billiges Instrument ist, mit den Augen des Punk und Punkt. Als Osojnik neunzehn ist, kommt sie, die vor allem Grunge und Hardcore hört, auf die extravagante Idee, in Wien Blockflöte zu studieren. Mit dem Instrument in der Hand reist sie kurzerhand ins Ausland, geht, ohne je mit dem Professor Kontakt aufgenommen zu haben, zur Aufnahmeprüfung, wundert sich, dass sie am Montag drauf in die erste Unterrichtsstunde kommen soll. Ja, und irgendwie verschafft sie sich eine Übergangswohnung für einen Monat, etwas Kleidung, und dann ist sie Studentin und lebt im Ausland, hat von der Landessprache keine Ahnung. Da muss ihre Entwicklung etwas schneller gehen.
Osojnik definiert ihren Erfolg heute so: Sie macht, was sie will. Schon mit neun Jahren wollte sie „irgendwas mit Musik“, wenn auch nicht klar war, was für eine das sein sollte. Sicher war damals nur: Es macht ihr Freude, kreativ zu sein, kooperativ zu arbeiten, mit anderen gemeinsam Klang zu produzieren. Alles andere hat sich dann später durch den ihr eingebauten Zufallsgenerator gefügt, der ihr gewisse Menschen und Situationen bescherte. So legte sie die Blockflöte deswegen nicht früher weg, weil ihre erste Lehrerin begeisterte Barockmusikerin war. Ja, Osojnik kam irgendwann drauf, dass das nicht ihr Instrument ist. Sie sieht sich als eher laute Person, vielleicht als Tuba. Aber immerhin hat das leise Instrument sie gelehrt, sich zurückzunehmen.
Osojniks heutige Musik ist eklektizistisch. Cut and Paste, das ist wichtig. Sie verwendet aber auch viele selbst aufgenommene Samples. Was sie sammelt? Vor allem kaputte Klänge, akustische Unfälle wie Distortions oder ungewollte Phasenverschiebungen, alle Arten hörbarer Fehler, die dann keine mehr sind. 2009 ist ihr Computer kaputt. Bandkollege Matija Schellander versucht, ein paar Aufnahmen zu retten. Dass die sich als digital zerstört herausstellen, kommt Osojnik gerade recht. Glitches sind kostbar, und immer steht hinter der Arbeit die Frage, was das eigentlich ist, das Schöne. Geraten die Hörenden da nicht manchmal an ihre Grenzen?
Es sei schade, dass so oft gedacht werde, man müsse alles sofort verstehen, findet Osojnik. Die Geschwindigkeit sei das Problem. Es gehe beim Hören aber doch darum, sich Zeit zu lassen, sich einzulassen. Musik kann, meint sie, außerdem unterschiedliche Funktionen haben, bei jeder Art von Kunst sei das doch so. Romane sind vielleicht zum Mitgerissenwerden da, experimentelle Literatur spricht einen anderen Teil der Person an, der sich auch körperlich hingeben muss, der nicht sofort alles einordnen kann. Sich einzulassen ist eine physische Erfahrung, meint sie, eine sinnliche. Und die bietet Osojnik auf der Basis von drei Herangehensweisen: Erstens collagiert sie, bildet die Collage ab, die die Welt in ihrem Kopf hinterlässt. Das erzeugt Ironie, Humor, Sarkasmus. Zweitens spielt sie mit Distanzen, stretcht Noises, die aus der Entfernung wie Blöcke wirken, sodass man sie als komprimierte Melodien erkennen kann. Drittens wird der Sound „durchleuchtet“. Was kann alles weggelassen werden, damit nur noch eine Art Skelett der Musik übrigbleibt? Was ist die Essenz?
Bei allem Experiment arbeitet Osojnik aber dann auch wieder ganz traditionell. Sie notiert. Mit Bleistift auf Papier. Schreibt allerdings – vor allem grafische – Partituren. Da kann sie die Verantwortung über die Musik mit den Musizierenden teilen. Manche Parameter führt sie genau aus, bei anderen überlässt sie die Ausgestaltung den Leuten mit den Instrumenten.
Die visuelle Erscheinung ihrer Partituren hat schließlich auch zum Grenzübertritt ins Reich des Visuellen geführt, zur Zeichnung, zu Objekten. Als Osojnik von Claudia Märzendorfer eingeladen wird, ein Vogelhaus zu entwerfen, erinnert sie sich an einen Brief, den sie seit Jahren bei jedem Umzug wieder einpackt. Er stammt von einer Freundin, die ihn an einen Mann geschrieben hat, aber nicht abschicken wollte. Osojnik sollte ihn aufbewahren. Dann starb die Freundin. Was tun? Osojnik lädt schließlich Menschen ein, ihr ebenfalls einen geheimen Brief zu überlassen. Sie mischt den ersten unter die, die sie zugeschickt bekommt, schneidet alle in Streifen und flicht daraus ein Vogelhaus. Das Schriftstück hat nun die Chance, in Gesellschaft – und irgendwie an die Öffentlichkeit adressiert – von Wind und Wetter beerdigt zu werden.
Die bei diesem Projekt erstmals eingesetzte Technik des Flechtens setzt sie heute auch beim neuesten Produkt ein, der Single „Superandome – Super Random Me“. Zwei Jahre lang hat sie in einem Copy Shop Papierstreifen gesammelt. Nun erhält jedes Exemplar ein individuelles, geflochtenes Cover. Auf dem Tonträger festgehalten ist eine gemeinsam mit Matija Schellander erzeugte Collage aus dem in Zusammenarbeit mit Natascha Gangl entwickelten Klangcomic zu deren Buch „Wendy fährt nach Mexico“. Ja, meint Osojnik, das Projekt hat wohl zur Gründung des langsamsten Labels der Welt geführt. Immerhin musste Natascha Gangl erst einmal ein Buch schreiben, die Band mit ihr dann drei Performance-Programme ausarbeiten, daraus entstand dann eben kein Hörstück, sondern das Produkt „WENDY PFERD TOD MEXICO“ fürs Kunstradio, das 2018 den ersten Preis beim 9. Berliner Hörspielfestival gewann. Schließlich kam die Idee auf, den Klangcomic, in dem Laute zu Ausdrücken wurden und umgekehrt, in ein handfestes Objekt zu verwandeln. Das Label „MAMKA Records“ (Mamka = slowenisch für Oma) wurde gegründet.
Mit Matija Schellander arbeitet Osojnik übrigens bereits seit 2002. Zunächst im „Low Frequency Orchestra“, bei dem auch noch Angélica Castelló, Thomas Grill, kurz Herwig Neugebauer und Mathias Koch mitwirkten. Dann wurde die Rote Rakete – Rdeca Raketa – gegründet. Die Formation – ein elektroakustisches Duo, das sich ständig weiterentwickelt, – besteht jetzt seit 2008. Mit Schellander zu spielen, sagt Osojnik, ist inzwischen, als hätte man einen gemeinsamen Körper. Und dieser Körper ist ein politischer. Aber politisch ist Osojnik auch von allein. Da gibt es die Blaskapelle, die, anstatt öffentlich zu protzen, erst einmal unsichtbar auftritt und dann erratisch choreografiert wird. Das Stück „Die Wende“ wiederum nimmt Bezug auf die Ratschen, die im I. Weltkrieg verwendet wurden, um vor Gasangriffen zu warnen. Die Holzteile der Instrumente werden bei Osojnik durch Gummi ersetzt. Die Dystopie ist wahr geworden, wenn kein Warnen mehr möglich ist. In ihrem ersten Solo-Album „LET THEM GROW“ von 2016 geht es daher folgerichtig einfach um alles: um die seltsamen Verirrungen des Zwischenmenschlichen in unserer Zeit, die Entfremdung zwischen Individuum und Welt, um die Frage nach einer zeitgemäßen Definition von Emanzipation … Es geht um die Scherben innen und außen. Können sie im ultimativen Song zu einem klingenden Mosaik verbunden werden? Der Pressetext beschreibt das Album als „dreckig, sanft, lustvoll, verstört, komplex, kalt, sphärisch, schneidend und feminin“. Da ist alles drin. Hören! 

Maja Osojnik
maja.klingt.org

Neue Single SUPERANDOME – SUPER RANDOM ME
maja.klingt.org/news
mamka.klingt.org
mamka.bandcamp.com