Die wunderbare und widersprüchliche Madame D’Ora
Das aktuelle Buch von Eva Geber beschäftigt sich mit der Fotografin Madam D’Ora. Andreas Pavlic hat mit der Autorin darüber gesprochen.
Die Grafikerin und Autorin Eva Geber hat sich in den letzten Jahren dem Leben einer bemerkenswerten Frau gewidmet. Nach Louise Michel und Rosa Mayreder hat sie sich nun der Fotografin Madam D’Ora zugewandt. Dora Kallmus, so hieß Madam D’Ora mit bürgerlichem Namen, entstammt einer jüdischen Familie in Wien, studierte Fotografie und war im Paris der 20er Jahre eine berühmte Fotografin der Mode- und Kunstwelt. 1940 musste sie Paris verlassen und floh in den „freien“ Landesteil Frankreichs. Nach dem Krieg kehrte sie nach Österreich zurück. Dort konnte und wollte sie nicht mehr an ihr altes Leben anschließen. Ihre Tagebücher, Briefe und Prosa-Fragmente bilden die Ausgangsbasis des von Eva Geber zusammengestellten und kommentierten, im Mandelbaum Verlag erschienenen Bandes, der nicht nur einen guten Einblick in das Leben der Künstlerin bietet, sondern sich auch spannend und lustvoll wie ein Roman liest.
Wie bist du auf Madame D’Ora gestoßen?
2018 gab es eine wunderbare große Ausstellung im Leopoldmuseum: „Machen Sie mich schön, Madame d’Ora“, kuratiert von Monika Faber und Magdalena Vuković. Über die große Fotografin d’Ora – Dora Kallmus – hatte ich bereits vor etwa 20 Jahren zwei Essays geschrieben. So bin ich natürlich hin. Und entdeckte an den Wänden sehr interessante Sprüche oder Aphorismen. Es handelte sich um ihre Aufzeichnungen aus der Nazizeit. Sie musste in den Süden Frankreichs fliehen und schrieb ein Tagebuch, Essays und verfasste auch einen autobiographischen Roman. Sie plante, einiges davon zu publizieren, wenn sie diese Zeit überlebte. Aber nach 1945 hat sie keinen Verlag dafür gefunden.
Du hast dich buchstäblich auf ihre Spuren begeben, hast dir ihre Lebensstationen angesehen und in etlichen Archiven und Museen recherchiert. Wie hat sich die Arbeit in den letzten Jahren dazu gestaltet?
Ich mag es nicht, wenn Arbeit von Frauen beiseitegeschoben wird. Und ich hab geahnt, dass hier ein Schatz an unmittelbarer Zeitzeugenschaft zu bergen ist. Zunächst wollte ich wissen, wo ich den schriftlichen Nachlass finde. Es ist erstaunlich, er ist in drei Ländern verstreut. Ein wenig in Österreich (im Landesmuseum OÖ in Linz), viele Briefe und Dokumente im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Der Hauptteil, vor allem ihre Tagebücher im Exil, ihre Essays und der Roman befinden sich in Norwegen, im Fotomuseum Preus im kleinen Ort Horten südlich von Oslo.
Das erste Abenteuer war, an die Schriftstücke heranzukommen, das zweite die Transkription. Rund 2000 Seiten umfassten die Tagebücher, Briefe, Essays und Zettel, die den Zeitraum betreffen, um den es mir geht. Nämlich wie die Shoah das Leben eines Menschen verändert. Der Verlust ihres Ateliers, ihres vorigen Lebens ist es nicht, was Dora Kallmus erschüttert. Es ist die Sorge, die Angst um ihre Schwester Anna, die in Österreich lebt.
Ich hatte nun einen Teil der Schriften, aber ich wusste noch viel Material in Horten und in Hamburg. Ich plante die Reisen nach Norwegen, nach Deutschland und auch Frankreich. Ich musste in die Archive der Departements gehen, ich wollte ihre Adressen in Paris aufsuchen. Ich kaufte die Tickets – und dann kam Corona. Das ergab Zeit- und Geldverlust.
Wie hat sich die Aufbereitung des Materials gestaltet? Es wurde von dir sehr umsichtig aufbereitet und in Szene gesetzt. Das Buch liest sich unglaublich spannend, entwickelt einen wunderbaren Sog und man taucht durch die Schriftstücke in die verschiedensten Schichten ihres Lebens ein. Vor allem auch die Geschichte ihres Grenzübertritts vom besetzten Frankreich ins noch freie Gebiet des Vichy Regimes, die Madame D’Ora in eine Kurzgeschichte eingearbeitet hatte und von dir wieder entdeckt wurde.
Da hatte ich mich selbst blockiert, vor allem war ich durch eine Fußnote im Ausstellungskatalog beim Beitrag von Jean-Marc Dreyfus, einem renommierten Holocaustforscher, in die Irre gegangen. Es stellte sich heraus, dass sie die Flucht nicht im Tagebuch, sondern in einem eigenen Büchlein als „Geschichte der unglücklichen Teeblättchen“ verborgen hatte. Die war so wirr und so schwer zu entziffern, dass ich es zunächst beiseitegeschoben hatte. Und dann fand ich darin das Juwel der Fluchterzählung.
Das Besondere in allen ihren Aufzeichnungen ist das, was sie nicht schreibt. Sie schreibt kaum über Angst um sich, sie denkt an ihre Schwester Anna, wo sie ist, ob sie noch lebt.
Ich hatte dann den Einfall, zu jedem Abschnitt etwas über das Nichtgesagte zu schreiben. Sie hat ja auch aus Vorsicht vieles nicht geschrieben. Zum Beispiel, dass sie gewarnt wurde, wenn Verhaftungen drohten.
Die Tagebuchaufzeichnungen – wie jene in ihrem Zufluchtsort in Lalouvesc sind schonungslos, grotesk, manchmal von einer großen Lebensweisheit getragen und manchmal auch etwas borniert. Die Aufbereitung dieses sehr persönlichen Textmaterials ist auch eine sehr intime Arbeit.Wie erging es dir mit der Person Dora Kallmus?
Ich war von ihr beeindruckt, ergriffen und gerührt, irritiert und schockiert. Ich habe mit ihr geweint und gelacht, über sie den Kopf geschüttelt – und gerade zu den ärgerlichen Dingen am meisten recherchiert. Nein, Madame d’Ora war sicher kein einfacher Charakter. Sie war eine großbürgerliche Unternehmerin, sie war stolz darauf, unpolitisch zu sein! Und sie war misanthropisch. Wenn sie aber wütend war oder verachtend, so ging es ihr eher um Fairness, die sie vermisste. Sie hat ihren Ärger nicht geäußert, die „Haltung“ verbot so etwas. Umgekehrt war sie über jede noch so kleine Freundlichkeit über die Maßen dankbar. Die Schonungslosigkeit gilt auch ihr selber, sie ist absolut ehrlich. Nachdem sie ihr Atelier in Paris sofort nach der Okkupation durch die Deutschen verkauft, aber noch als Fotografin arbeiten darf, fühlt sie sich erleichtert, sie arbeitet mit einer Handkamera außer Haus und schreibt Essays. Text kommt näher an die Wahrheit, so denkt sie. Am ersten Ort ihrer Flucht nimmt sie das billigste Zimmer. Früher hätte sie zehn Zimmer gewollt, nun hat sie neun Quadratmeter, „das ist genug, der Rest ist nur für den Neid des Nachbarn“. Daran hält sie sich auch nach ihrer Rückkehr in Paris. Da hat sie eine winzige Dunkelkammer und wohnt in Untermiete.
Mich hat der Briefwechsel mit ihrer Schwester, den sie von 1937 bis 1941 führte, und den du an den Anfang des Buches stellst, zunächst irritiert. Er erscheint so banal, so alltäglich und gleichsam ist er sehr einfühlsam. Er zeigt sehr gut den sozialen Hintergrund der beiden Frauen und regte mich im Verlauf des Lesens, aufgrund der Lücken und des Unausgesprochenen, sehr zum Nachdenken an. Wie ist es dir bei der Sichtung der Briefe ergangen?
Ja, die Briefe! Die haben mich schon ordentlich durchgebeutelt. Wir sehen die Schwestern in innigem Austausch. Annas Haus in Frohnleiten wurde arisiert, ihr droht die Deportation. Sie hat keine Mittel mehr, und dennoch wird in der kleinen Wohngemeinschaft in Wien ein bürgerlicher Haushalt geführt. In guter „Haltung“, wie es die Schwestern von den Gouvernanten gelernt haben. Die Gefahr kommt immer näher, aber ihre Sorge gilt ihrer Schwester. Und die hat wiederum Angst um sie. Ihr Versuch, von Frankreich aus an Visa für beide heranzukommen ist vielleicht nicht energisch genug.
Eine Frage zu Madame D’Ora als Fotografin: Anhand der Briefe ist zu erkennen und du schreibst es auch in deinem Kommentar, dass Madame D’Ora nach dem Krieg wie besessen arbeitete. Sie machte Fotos von displaced Persons in Österreich, fotografierte Schlachthöfe in Frankreich, erstellte Porträtfotos in neuem Stil und arbeitete an Ausstellungen, autobiographischen Romanen und Aufsätzen zur Fotografie. Dennoch scheint sie nach dem Krieg aus der Zeit gefallen zu sein. Wie ist die Rezeptionsgeschichte von Madame D’Ora?
Sie will nicht mehr Gesellschaftsfotografin sein. Das scheint ihr jetzt schal und leer. Da sie drei Jahre kein Einkommen hatte, muss sie dennoch einige Prominenz fotografieren, aber sie tut es anders als früher. Ohne Weichzeichner und auch in Alter und Verfall. Ihr Anliegen ist, Verlust und Entwurzelung durch den Holocaust zu zeigen und so geht sie in die Flüchtlingslager, obwohl sie die Bilder nicht verkaufen kann. Sie entsprachen nicht den Interessen der Flüchtlingsorganisationen, die entweder Jammer und Not zeigen wollen, um Spenden zu lukrieren, oder Begeisterung für die neue Zukunft, die sie durch die Hilfe der Organisationen erwartet. D’Ora aber zeigt die Menschen in ihrer Resignation und in Würde. Sie, die Tiere liebt und kein Fleisch isst, geht danach in die Schlachthallen und fotografiert das industrielle Töten, denn „die Wirklichkeit ist nicht das Leben, die Wirklichkeit ist der Tod.“
Interessant ist, dass sie niemand fragt, warum sie über Jahre hinweg diese Bilder macht. Es war wohl die Angst, ein heißes Eisen anzugreifen.
Sammler bestürmten sie und bestellten Fotos aus den früheren Jahren bei ihr, und die wollte sie gut bezahlt sehen. Gegenüber ihrem Freund, dem Sammler Willem Grütter, war sie hingegen großzügig. Von ihm wollte sie keine Bezahlung.
Aus der Zeit gefallen? Nun, sie konnte mit Farbfotografie nicht viel anfangen. Porträts verlangen schwarz-weiß, sagt sie und bedauert das Ende dieser Kunst. Bei ihren letzten Aufnahmen war sie 77 Jahre alt. Ich habe inzwischen Fotografen kennengelernt, für die Madame d’Ora noch immer Vorbild ist.
Eva Geber ist eine mehrfach ausgezeichnete Publizistin, zuletzt mit dem Theodor Kramer Preis, die zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der Frauenbewegung(en) und Biographien über engagierte Frauen veröffentlicht hat. Sie selbst war viele Jahre Redakteurin der feministischen Zeitschrift AUF und gehört ebenfalls zu jenen engagierten Frauen.