Das grüne Märchenbuch aus Linz
Die von Christine Ivanovic kuratierte und von Peter Karlhuber gestaltete Ausstellung Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger (1921–2016) im Adalbert-Stifter-Institut beleuchtet erstmals Ilse Aichingers Beziehung zu Linz. Diese Beziehung war vielschichtig. Von Claudia Lehner.
Ilse Aichinger verbrachte in Linz nicht nur ihre frühen Kindheitsjahre, an die sie sich in späten Texten erinnert, sie publizierte zwischen 1952 und 1981 auch in 19 Jahrgängen des Literarischen Jahrbuchs der Stadt Linz, und sie besuchte diese Stadt mehrfach, unter anderem im Rahmen von Lesungen.
Zum Wohnort wird Linz für Ilse Aichinger bereits in ihrem Geburtsjahr 1921. Sie, ihre Zwillingsschwester Helga, die Mutter Berta Aichinger, eine Ärztin, und der Vater Ludwig Aichinger leben hier unweit der Herz-Jesu-Kirche in der Dürrnbergerstraße, gegenüber der Waldeggschule, in der der Vater als Fachlehrer tätig ist. Daneben ist er Autor, Journalist und ein rühriger Literaturvermittler. Unter anderem gibt er 1919/20 die Theaterzeitschrift Die Maske heraus, hält zahlreiche Vorträge zu literarischen Themen und engagiert sich im 1919 gegründeten Verein „Eichendorff-Bund“, der etwa Lesungen und Kammerspielabende organisiert. Berta Aichinger wiederum, die ihren neun Jahre älteren Mann erst im Dezember 1920 geheiratet und kurz darauf in Linz eine Praxis eröffnet hat, kehrt nach der Geburt der Zwillingstöchter beinahe nahtlos wieder in ihren Beruf als Ärztin zurück. Auch sie hält neben ihrer ärztlichen Tätigkeit gut besuchte Vorträge, vor allem zur gesundheitlichen Aufklärung von Frauen. Im März 1923 wird sie zur Schulärztin für die höheren Mädchenschulen der Stadt bestellt, und mit Dezember 1925 zur ersten hauptberuflichen Jugendamtsärztin von Linz. Der vielbeschäftigten Mutter, die neben ihren zahlreichen Tätigkeiten auch Dienstreisen zur Weiterbildung, etwa bei dem von ihr geschätzten Individualpsychologen Dr. Alfred Adler in Wien, unternimmt, bleibt wenig Zeit für ihre beiden Töchter. Aus eben diesem Grund kommt sie wohl in den Erinnerungstexten Ilse Aichingers zu diesen Jahren nicht vor, wohingegen sich die Autorin in späten Texten (Film und Verhängnis, Unglaubwürdige Reisen) sehr deutlich an ein etwas unheimliches Kindermädchen namens Emma Schrack erinnert. Die „kurzfristig und auf Probe aus der Linzer Landesirrenanstalt“ entlassene Frau, die angeblich an Schizophrenie litt, flößte den Zwillingen Angst ein, wenn sie sie mit von den Wärtern der psychiatrischen Anstalt übernommenen Klammergriffen durch die Stadt führte und bei Ungehorsamkeit mit dem Wachmann drohte. Die täglichen Spazierwege enden nicht selten an den Toren der psychiatrischen Anstalt, wo Fräulein Schrack sich erschöpft im Gras niederlässt und einschläft, während die Mädchen durch die Lücken in den Mauern die „freundlichen Irren“ beobachten. Sie sind ein friedliches Gegenbild zu dem, was zeitgleich im ganzen Land heraufzieht, die für Ilse Aichinger und ihre mütterlicherseits jüdische Familie bald zur Bedrohung werdenden antisemitischen Angriffe und Einschränkungen.
Zuvor aber ereignet sich ein familiärer Riss. Ludwig Aichinger leidet an Bibliomanie, dem zwanghaften Horten von Büchern, für deren Erwerb alle verfügbaren monetären Mittel eingesetzt werden. Die, wie Ilse Aichinger schreibt, mehrfach gekauften Gesamtausgaben von Ibsen, Stifter oder Stelzhamer verschlingen bald das gesamte Familieneinkommen und werden vom Fachlehrer sogar aus unterschlagenen Beiträgen für Schulausflüge finanziert. Von mit Pfandzetteln beklebten Möbelstücken in der Linzer Wohnung und unbezahlten Christbäumen zu Weihnachten berichtet die Autorin. Schließlich bleibt der Mutter keine andere Wahl mehr – die Ehe wird am 4. August 1927 geschieden, Berta Aichinger und ihre Töchter ziehen nach Wien.
Die folgenden Jahre, die sich für den mütterlichen Zweig der Familie verheerend entwickeln, bedeuten eine Zäsur in Ilse Aichingers Leben und Schreiben. 1938, mit dem „Anschluss“ Österreichs, verliert Berta Aichinger in Wien Arbeits- und Wohnrecht und zieht mit ihren Töchtern zur Mutter. 1939 können Klara Kremer, eine Schwester Berta Aichingers, und einige Monate später Helga Aichinger nach London emigrieren, jedoch ist mit Kriegsausbruch ein Nachkommen der restlichen Familie unmöglich geworden. 1942 werden Großmutter, Tante und Onkel Ilse Aichingers nach Maly Trostinec (Weißrussland) verschleppt und ermordet. Wie durch ein Wunder überleben Ilse Aichinger und ihre Mutter den Krieg. Erst im Dezember 1947 können sich Helga und Ilse Aichinger sowie Berta Aichinger und Klara Kremer in London wiedersehen.
Die Kriegserfahrungen und die Trennung von der Zwillingsschwester sind der Anstoß für Ilse Aichinger, ihren ersten und einzigen Roman „Die größere Hoffnung“ (1948) zu schreiben, der den Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere markiert. Ab 1952 – sie wird mit dem Preis der Gruppe 47 für die „Spiegelgeschichte“ ausgezeichnet – werden der jungen Autorin mehrfach Preise und Auszeichnungen zugesprochen. Zum selben Zeitpunkt tritt auch der Redakteur der Stilleren Heimat, des Literarischen Jahrbuchs der Stadt Linz, Karl Kleinschmidt, an Ilse Aichinger heran und ersucht sie wiederholt um einen Text für das Jahrbuch. Sie sendet ihn schließlich und er wird mit Dank angenommen. Dieses Prozedere wiederholt sich nun Jahr für Jahr. Kleinschmidt bleibt hartnäckig und wirbt um Texte, und Aichinger beschickt ihn, soweit sie etwas Passendes zur Hand hat oder rechtzeitig fertigstellen kann.
Erstaunlich erscheint dieser Vorgang, wenn man die Entstehungsgeschichte der Publikation Stillere Heimat näher betrachtet. Sie war 1940 während des Krieges im Zeichen des Nationalsozialismus gegründet worden und sollte – der Name war Programm – statt auf lautstarke Propaganda auf die Idealisierung von Heimat, Natur und ursprünglicher menschlicher Gemeinschaft mit starkem regionalen Bezug setzen. Kriegsbedingt 1944 eingestellt, wurde Stillere Heimat 1952 unter Beibehaltung sowohl des Titels wie des ursprünglichen Konzepts wiederaufgenommen. Damit lag nicht nur die Redaktionsleitung bei Karl Kleinschmidt, der bereits in der Gründungsphase an der Redaktion mitgewirkt hatte und ab 1952 wiedereingestellt wurde, auch BeiträgerInnen der im Krieg erschienenen Vorgängerausgaben waren hier wie ehedem vertreten. Dieser Umstand kann Ilse Aichinger nicht verborgen geblieben sein. Dennoch setzt sie ihre kontinuierliche Mitwirkung am Literarischen Jahrbuch der Stadt Linz fort. Über die Jahre gesellen sich jüngere AutorInnen wie Doris Mühringer, Heimrad Bäcker, Marlen Haushofer, Thomas Bernhard, Elfriede Gerstl und andere zu den teils nationalsozialistisch belasteten BeiträgerInnen bzw. lösen diese ab.
Einige der zwischen 1952 und 1981 im Jahrbuch der Stadt Linz (Stillere Heimat bzw. ab 1970 Facetten) veröffentlichten Texte Aichingers wurden erstmals hier gedruckt, andere erschienen nur hier. In Summe bilden diese Texte paradigmatisch Aichingers literarische Entwicklung in ihren produktivsten Jahren ab. Mit einem jeweiligen Kommentar der Kuratorin versehen stehen sie daher in der Ausstellung (in Form der originalen Jahrbücher, die zum Lesen in die Hand genommen werden dürfen) im Mittelpunkt. Einige der Texte, u. a. ihre berühmte Erzählung „Wo ich wohne“ sind auszugsweise auch in Hörstationen (in Form von hängenden Sitzkokons) nachzuhören.
Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt Ilse Aichingers zu Linz ist der Autor Adalbert Stifter gewesen, in dessen ehemaligem Wohnhaus das 1950 gegründete Adalbert-Stifter-Institut seit Mitte der 50er Jahre untergebracht ist. Im Jahr 1955, anlässlich des 150. Geburtstages Stifters, verfasst Aichinger ein ausführliches Rundfunkfeuilleton zu dem berühmten Dichter, den sie ungewöhnlicherweise selbst einliest. Der Essay ist eine Handlungsanleitung zur genauen Lektüre der Werke Stifters und würdigt Adalbert Stifter als einen Autor, dem es wie keinem anderen gelingt, Trost zu spenden. Hintergrund ist Stifters eigene Erfahrung des Schmerzes, des Todes, der Grenzerfahrung, so glaubt Aichinger. Die Erzählung „Bergkristall“, in der die beiden Kinder Konrad und Sanna wie durch ein Wunder aus Schnee, Eis und Finsternis gerettet werden, spricht – wohl auch durch die Erfahrung der Trennung und des Überlebens der Zwillingsschwestern – Aichinger im Besonderen an. Sie kannte die Erzählung aus ihrer Kindheit, liest sie aber als junge Erwachsene, nach den Erfahrungen des Krieges und dem Erscheinen ihres ersten Romans „Die größere Hoffnung“, neu. In diesem präzisen und langsamen Lesen entdeckt sie plötzlich die Schreibweise Stifters, sein genaues vertiefendes Betrachten, welches auch für sie selbst zum Leitmotiv wird und eine Sprache zur Folge hat, die aus dem Schweigen kommt. Sie wird zu einer Grundprämisse für Aichingers künftiges Werk. Die Autorin wird sich bis an ihr Lebensende immer wieder mit Stifter auseinandersetzen, humoristisch in dem Dramolett „Das neue Lied“ (1957), in Essays („Weiterlesen. Zu Adalbert Stifter“, 1979; „Stifters Subtext“, 2005), sogar noch in der letzten von ihr selbst publizierten Zeitungsglosse (Die Presse, 22. 10. 2005).
Mit dem Adalbert-Stifter-Institut, das die Autorin bereits im Oktober 1957 erstmals besuchte, blieb Aichinger bis zuletzt verbunden. Nach Gründung des OÖ. Literaturhauses im StifterHaus liest sie dreimal hier, zuletzt 2005 aus ihrem Journal des Verschwindens.
Wie wenig verschwunden sie und ihre Literatur für Linz sind, beweisen die nun laufende Ausstellung und der parallel erscheinende Katalog.
Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger (1921–2016)
20.10.2021 – 21.6.2022 (coronabedingt verlängert) / täglich, außer Montag 10–15 Uhr
Adalbert-Stifter-Institut des Landes OÖ / StifterHaus
Adalbert-Stifter-Platz 1, 4020 Linz
www.stifterhaus.at
Di 8. März, zum Internationalen Frauentag:
Präsentation der Briefeditionen „Helga und Ilse Aichinger ‚Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe‘. Briefwechsel Wien – London 1939–1947“