neue texte, heute gelesen

1968 gründete der Linzer Schriftsteller Heimrad Bäcker (1925–2003) in seinem Heimatort die Literaturzeitschrift neue texte, die sich in den Folgejahren zu einem Leitmedium der experimentellen Dichtung entwickeln konnte. Florian Huber über Heimrad Bäcker, die Gegenwartsliteratur nach 1968, einen multimedialen Literaturbegriff und die guten, die fetten Texte.

Visuelle Arbeiten von Heimrad Bäcker sind derzeit auch in der Ausstellung „Wer war 68?“ im Lentos zu sehen: Heimrad Bäcker. Bearbeitungsspuren im Steinbruch Wienergraben des Konzentrationslagers Mauthausen, 1968–95 Bild © Landesmuseum Linz

Visuelle Arbeiten von Heimrad Bäcker sind derzeit auch in der Ausstellung „Wer war 68?“ im Lentos zu sehen: Heimrad Bäcker. Bearbeitungsspuren im Steinbruch Wienergraben des Konzentrationslagers Mauthausen, 1968–95 Bild © Landesmuseum Linz

Für die Einschätzung eines Leitmediums der experimentellen Dichtung spricht nicht nur das langjährige Bestehen der bis ins Jahr 1991 in insgesamt 45 Ausgaben erscheinenden Zeitschrift, sondern auch der gleichnamige, 1975 aus ihr hervorgegangene Verlag, dessen publizistische Aktivitäten 2005 endgültig eingestellt und bereits 1992 vom Grazer Droschl Verlag übernommen wurden.
Trotz ihrer literarhistorischen Bedeutung ist Bäckers verlegerische Arbeit heute aber weitgehend vergessen, obwohl seine Tätigkeit als Autor in den letzten Jahren auch international große Beachtung erfuhr. Neben einer wachsenden Zahl von Ausstellungen seiner Fotografien im In- und Ausland verdienen in diesem Zusammenhang etwa die Übersetzungen von Bäckers 1986 im eigenen Verlag publizierten literarischen Hauptwerk nachschrift ins Amerikanische (transcript; 2010) sowie Türkische (tutanak; 2004) besondere Erwähnung. Aber auch die Literatur- und Kulturwissenschaften widmeten nachschrift und dem 1992 erschienenen Folgeband nachschrift 2 als Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Shoah mithilfe dokumentarischer Dichtung ausführliche Analysen.
Mit dem Erwerb von Bäckers Verlagsarchiv durch das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek wurde freilich bereits im Jahr 2000 vom Autor selbst der Grundstein für Untersuchungen zur Programmatik und Genese der neuen texte gelegt. Mit dem Ankaufserlös wurde zudem ein Literaturpreis eingerichtet, der seit 2003 als Heimrad-Bäcker-Preis und als Förderpreis im Andenken an seinen Namensgeber verliehen wird. So werden jährlich Dichterinnen und Dichter prämiert, „deren Werk im Zusammenhang mit der Literatur zu sehen ist, wie sie Heimrad Bäcker in seiner edition neue texte verlegt hat“, wie das Linzer Stifterhaus auf seiner Homepage informiert. Zu den Ausgezeichneten zählen dabei auch in den 1970er- und 1980er-Jahren geborene Dichterinnen und Dichter wie Monika Rinck, Anja Utler, Steffen Popp, Mara Genschel, oder Kevin Vennemann. Das ist insofern konsequent, da Verlag und Zeitschrift seit Beginn ihren Schwerpunkt auf die Präsentation möglichst eigenständiger, aber wenig bekannter künstlerischer Positionen legten, wie auch die Übersetzungen und Erstdrucke fremdsprachiger Dichtung in den neuen texten bestätigen. Die besondere programmatische Ausrichtung trug dabei entscheidend zur Wiederentdeckung einer Avantgarde bei, deren künstlerische Errungenschaften im Nationalsozialismus verfolgt und nach 1945 weitgehend aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt worden waren. Neben Arbeiten des heute als Klassiker geltenden Dada-Pioniers Raoul Hausmann (1886–1971) publizierte Bäcker etwa den Briefwechsel zwischen Alfred Kubin und dem, unter dem Pseudonym Mynona bekannt gewordenen, Dichterphilosophen Salomo Friedlaender (1871–1946) in seinem Buchverlag. Hausmanns Fotocollagen unterlaufen wie die Bild-Dichtungen Kubins und die expressionistisch grundierten Grotesken von Mynona Genregrenzen und stehen somit für einen multimedialen Literaturbegriff, der auch die ästhetische Ausrichtung der neuen texte maßgeblich prägte. Zu den zentralen zeitgenössischen Figuren für Bäckers verlegerische Arbeit zählten neben Ernst Jandl (1925–2000) die Vertreter der so genannten Wiener Gruppe, die mit Gerhard Rühm (*1930) und Friedrich Achleitner (*1930) von Anfang an in der Zeitschrift präsent war. Darüber hinaus ist vor allem der schweizerisch-bolivianische Schriftsteller Eugen Gomringer (*1925) zu nennen, der mit seinem Konzept einer „Konkreten Poesie“ für eine Fokussierung der Dichtkunst auf die visuelle und lautliche Dimension der Sprache optierte. Dementsprechend erschienen in den neuen texten von Anfang an auch Hörspieltexte, Beispiele zeitgenössischer Lautpoesie sowie fotografische, an der Schriftbildlichkeit oder am Dokumentarischen orientierte Arbeiten, etwa von Fritz Lichtenauer (*1946), Josef Bauer (*1934) und Jochen Gerz (*1940). Die Drei Jahresportraits von Friedl vom Gröller (*1946) und der Band Körpersplitter von Valie Export (*1940) führten nachdrücklich die überragende Bedeutung von Künstlerinnen für das Gelingen der neuen texte vor Augen, deren intellektueller und ästhetischer Ertrag zu wesentlichen Teilen auch dem Engagement und der Sachkenntnis von Bäckers Ehefrau Margret zuzuschreiben ist. Mit ASCHENBAHN von Friederike Mayröcker (*1924) zeigt bereits das Cover der ersten Nummer der Zeitschrift die Arbeit einer Dichterin, die neben Liesl Ujvary (*1939), Ilse Garnier (*1927), Elfriede Czurda (*1946) und Waltraud Seidlhofer (*1939) und im Umfeld der neuen texte zu einer herausragenden Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1968 avancierte. Seidlhofers fassadentexte eröffneten 1976 auch das Prosaprogramm des 1975 aus der Zeitschrift hervorgegangenen Verlags edition neue texte, dem neben Friedrich Achleitner, Reinhard Priessnitz und Gerhard Rühm wiederum Elfriede Czurda als Lektorin verbunden war. In einem kurzen autobiografischen Text spricht Heimrad Bäcker von seinem damaligen Wunsch, „Bücher aufzulegen, die wegen der Eigenart ihres Stils sonst kaum eine Chance gehabt hätten.“ Insbesondere der vom Verleger besonders geschätzte Priessnitz (1945–1985) und seine 1978 publizierten vierundvierzig gedichte erwies sich in diesem Zusammenhang als beispielgebend für eine jüngere Generation von Schreibenden, zu der etwa Ferdinand Schmatz (*1953), Franz Josef Czernin (*1952) und Christian Steinbacher (*1960) zählen, der mit seinem von 1994 bis 2000 bestehenden Verlag Blattwerk auch editorisch auf den Spuren der neuen texte wandelte. In ihren Werken trifft die formale Strenge Konkreter Poesie auf eine von literarischer Tradition wie Gegenwart gleichermaßen inspirierte Neuerfindung poetischer Formen. Nicht zuletzt wird dabei deutlich, „wie sehr die Konkrete Poesie das Leben, die Erfahrungen des Lesers als Material verwendet. Zumindest die gute, die fette Art“, wie die Schriftstellerin Ann Cotten 2012 anlässlich von Liesl Ujvarys Dichtung der 1970er-Jahre bemerkte.
Dementsprechend verspricht auch das Verlagsprogramm der edition neue texte und der gleichnamigen Zeitschrift Einblick in ein historisches Lebensgefühl. Seine Lektüre macht auch für heutige Leserinnen und Leser einsichtig, wie unterschiedlich es um die ästhetischen Ansprüche, Arbeitsstile und Lebensverhältnisse der mit Bäckers publizistischem Tun Verbündeten bestellt gewesen sein muss. Wohl auch aus diesem Grund wurde der literaturkritischen Debatte und der Interpretation des eigenen Tuns innerhalb der neuen texte von Anfang an ein prominenter Platz zugewiesen. Bibliografien, Rezensionen und ausführliche Textanalysen bildeten einen integralen Bestandteil von Zeitschrift und Buchreihe, deren ästhetische Weiterentwicklung im Lauf der Jahre zudem bei eigens ausgerichteten Kolloquien und im Rahmen von Lesungen intensiv erörtert wurde. Mehr als ein Jahrzehnt sind seit dem Ableben von Heimrad und Margret Bäcker vergangen, viele Titel der Edition und Zeitschrift sind nicht mehr lieferbar. Dabei zeugt ihre Lektüre immer noch von einer im heutigen Kulturbetrieb selten gewordenen Konfliktkultur. Es wäre vielleicht an der Zeit, ihrem historischen Beispiel zu folgen und die gesellschaftliche Relevanz von Kunst einmal mehr zur Disposition zu stellen. Indem man das Gespräch mit ihren erklärten Feinden und Kritikerinnen sucht, stärkt man nicht nur der Kunst den Rücken.

 

Florian Huber hat am 3. Dezember die Stifterhaus-Veranstaltung „Was bleibt von 1968. Ein Abend zur Erinnerung an Heimrad Bäcker und seine edition neue texte“ moderiert.

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