Die Manuskripte des Ernst F. Brod
1901 geboren und im niederösterreichischen Erlauf lebend, verließ Ernst F. Brod bereits 1934 das Land. Die Künstlerin Heidi Schatzl hat aus einer Biographie, die noch vor dem ersten Weltkrieg in Erlauf beginnt und nach Stationen in Paris und der Türkei in die USA führt und weit bis in die Nachkriegsjahre des zweiten Weltkrieges reicht, ein Buch in Form einer Box gestaltet. Pamela Neuwirth hat sich die Geschichte angeschaut.
In den letzten zehn Jahren seines Lebens hat Ernst F. Brod in einer amerikanischen Universitätsbibliothek recherchiert und ein 2000-seitiges Manuskript als historisch-biographisches Zeitdokument hinterlassen. Brods Tochter Charlotte E. El-Shabrawy, die in Kairo lebt und dort einen Teil des Nachlasses ihres Vaters verwaltet, berichtet im Interview mit Heidi Schatzl über einen Schreibprozess, der eigentlich bereits nach dem Krieg begonnen hatte und zwar genau am zweiten Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Doch erst nachdem Ernst F. Brod pensioniert war, setzte sich im Exil sein disziplinierter und umfassender Recherche- und Schreibprozess in Gang: “He would get up in the morning; his schedule was: breakfast prepared from my mother, then up to the library – the University of California Library, fabulous – he researched all morning. Then he returned home, had lunch, took a little rest and was on the typewriter, writing one thing after another from the book to correspondence to journals. There were letters and inquiries of what happend there; he was in contact with numerous people, from Erlauf, from Vienna, and other locations (…) Next day the same thing.”
Das Original-Manuskript ist heute nicht mehr vorhanden. Die Kopien befinden sich jedoch bei Brods Kindern in den USA, in Australien und in Kairo. Für das unter anderem vom Zukunftsfonds der Republik Österreich geförderte Projekt „The Examined Life / Das geprüfte Leben“ nahm sich Heidi Schatzl, die ihre Arbeitsweise als an der Schnittstelle Raum, Kunst, Forschung beschreibt, des biographischen Materials an. Entstanden sind 15 Hefte sowie ein Band mit Essays zum Leben des Ernst F. Brod, die als Box im Wiener Mandelbaum Verlag publiziert worden sind. Der Fundus aus Kopien, die den Nachlass ausmachen, wurde von Schatzl unverstellt zu einem Kompendium aus den Erinnerungen des Ernst F. Brod, den zeitgeschichtlichen Tatbeständen und dem zahlreichen Fotomaterial zusammengefügt. Der Brod’sche Text blieb komplett ohne jeden redaktionellen Eingriff, nur die inhaltlichen Zusammenhänge wurden von Schatzl neu geordnet. Das gibt der ursprünglichen Fassung eine Metaebene, die den Zugang zu komplexen historischen Ereignissen und Zusammenhängen erleichtert. Dass dabei eine neue Chronologie entstanden ist, verraten die einst von Brod bezifferten Blätter, die nun, geordnet als Kapitel, in den Seitenzahlen „springen“. Schließt ein Kapitel, so passiert das unvermittelt. Manches Kapitel endet so mitunter mitten im Satz, einer im Laufe der 1960er und 70er Jahre von Brod an der Schreibmaschine verfassten Manuskript-Seite. Das hat den dramaturgischen Effekt, dass sich die Biografie von Brod, nun zwar aufgeteilt in Hefte, wie ein Gedankenstrom liest, der sich ja erfahrungsgemäß nur bedingt chronologisch verhält, sondern eigenen Sinn- und Bedeutungszusammenhängen folgt. Das von Heidi Schatzl verwendete Recherchematerial taucht jetzt also als Faksimile vor der LeserInnenschaft auf – als gedruckte Form der digitalen Kopien der Kopien: Spuren der Reprotechnik sind gelungen in die Publikation überführt worden und bleiben ersichtlich; die vorliegende Form klassifiziert Heidi Schatzl als dirty layout.
Sterben in Erlauf …
… wo man glauben sollte die Leute leben ewig, weil es dort so schön ist.
Ernst F. Brod (1901–1978) erzählt Geschichten von „Liebe“, „Deportation“ und „Wiedergutmachung“ (Kapitel 10, 11 und 12), von „Raubmord“, „Emigration“ und „Ursache“ (Kapitel 13, 14 und 15). In seinen Erinnerungen tritt seine Kindheit und Jugend vor den politischen Umbrüchen und vor zwei Weltkriegen in den Hintergrund. Retrospektiv betrachtet hat Ernst F. Brod wohl seine fortwährende Skepsis vor dem Schlimmsten gerettet. Die Skepsis scheint vital und in ihm verwurzelt gewesen zu sein und war ganz sicher ein unangenehmes Lebensgefühl, das ihm auch die Familie nicht nehmen konnte, die angesichts der staatlichen Gewalt, als Rechtsstaatlichkeit und überhaupt jedweder Staatsvertrag längst abhandengekommen waren, realistisch betrachtet keinen Schutz aufbieten konnte. Auch nicht die Abgeschiedenheit von Erlauf und auch nicht die Versprechungen von Demagogen haben Brod jemals annehmen lassen, der Frieden wäre sicher. Vielmehr nahm Brod die Zerrüttungen im vertrauten Erlauf wie im nahen Wien seismographisch wahr. Die Studenten wurden in Wien bereits in der Zwischenkriegszeit nach politischer wie ethnischer Zugehörigkeit separiert. Bei Brod klingen solche Aufzeichnungen keineswegs nach einer absurden Anekdote, wenn er, obwohl er jüdischen Bekenntnisses war, den „Studenten-Baracken für Kommunisten“ zugeteilt wurde. Er konnte an den Ereignissen die Vorzeichen erkennen. Umwege, Fluchtrouten und Arbeitsreisen führten ihn schließlich an die unterschiedlichsten Orte. In ein Moskauer Mausoleum zu Lenins Leichnam. An die Baustelle des Parlaments in Ankara, wo Arbeiter und Ingenieure wie auch Brod selbst unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen die Pläne des Architekten Clemens Holzmeisters ausführten. Brod lebte eine Weile in der Kommune der pazifistischen Quäker in Paris, wo er 1937 bei der Weltausstellung als Übersetzer tätig war und seine spätere Frau kennenlernte. Kafkaesk liest es sich, dass ein einzelner Buchstabe auf die Bürokratie zwischen den zerkriegten Nationalstaaten und deren Bündnispolitik verweist: erst durch ein helfendes Scharmützel des Vikars Roncalli, der später zum Papst Johannes XXIII ernannt wurde, konnte mit dem beigefügten „F.“ in Brods Namen, die Heirat im türkischen Exil ermöglicht werden. Dass sich Ernst F. Brod bereits als junger Mensch nirgends sicher fühlte, sollte ihm zwar letztlich das Leben retten – als der Nazi-Terror ohne Verspätung längst auch über Erlauf hereingebrochen war. Doch das dominante Gefühl der Unsicherheit hatte ihn schon viel früher von seiner Familie getrennt, von seinem Bruder und der Mutter, die allgemeine destruktive Kräfte nicht erfassen und an die Zerstörung ihres Lebens in Erlauf nicht glauben konnten und seinen Warnungen misstrauten. Auch als das Textilgeschäft der Brods mit „Jude“ beschmiert wird, reagiert die Mutter zwar perplex, doch letztlich mit Unglauben. Bedauerlicherweise gelang es Ernst F. Brod nicht, seine Familie zu alarmieren und seinen Bruder und die Mutter zur Flucht vor der nationalsozialistischen Bedrohung zu bewegen. Ihre Spuren verlieren sich in einem Konzentrationslager bei Riga.
Lady Liberty in Dismaland
Kein politisches Zeitdokument steht je für sich allein, selbst wenn ihm ein offensichtlicher Kontext oder ein zeitgenössischer Anknüpfungspunkt fehlt, sondern es verweist als Zeugnis inhärent auf jene Ursachen und weiteren Zusammenhänge, die es erst notwendig gemacht haben. Was in Brods Biografie deutlich hervortritt, ist der appellative Charakter seiner Schrift. Dieser Appell geht auf zwei Bedingungen zurück: dem Benennen von Ungerechtigkeit und die Frage des Humanismus. Diese Bedingungen sind zeitlos, weil sie niemals als gesichert angesehen und sozusagen als ad acta behandelt werden, sondern es sind zivilisatorische Grundbedingungen, die in der Gemeinschaft bzw. fortlaufend durch gesellschaftliche Bestrebungen, erst Relevanz erhalten können. Was das Thema der Ungerechtigkeit betrifft, wie sie Brod anführt, ist es interessant, da Ungerechtigkeit nicht aus einer persönlichen Perspektive aufgezeigt wird, sondern in rechtlichen Rahmenbedingungen. Er zeigt auf, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die versuchte, gesellschaftliche Wiedergutmachung misslingt, da per staatlicher Entscheidung, diese juristisch und sozusagen im Kern, verunmöglicht worden ist: Nationalsozialistische Richter waren nach dem Krieg selbstverständlich nicht imstande, gerechte Verhandlungen über Reparationszahlungen zu führen. Am Beispiel des arisierten Hauses seines Bruders wird deutlich, wie Gerechtigkeit durch diese Richter über Jahrzehnte hinweg vereitelt wurde. Neben dem fundamentalen Problem der Wiedergutmachung unter Nazi-Richtern stellt Ernst F. Brod den Humanismus grundsätzlich zur Disposition: Unterlassende Hilfeleistung wäre im Gesetzbuch ein Straftatbestand. Doch hatte und hat die Genfer Flüchtlingskonvention, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde, im Verbund mit den einzelnen Nationalstaaten leider nie den Rechtsschutz aufbieten können, auf den die Menschen auch vertrauen könnten. Auch die später von Brod erinnerten Bilder an die Freiheitsstatue auf Liberty Island bei New York zeigen sich brüchig, sind mehr ein Abgesang auf den einmal gutgemeinten Koloss an der Küste: „Und an die Stelle von Prinzipien, wozu auch gehörte den Bedrängten und Verfolgten zu helfen, und für das Recht der Unterdrückten einzustehen, ist eine grosse Zweckmässigkeit getreten, damit nicht die Menschen in das Land kommen.“
Heidi Schatzl hat das Buch „Die Manuskripte des Ernst F. Brod“ in Form einer Box gestaltet. Diese enthält in einer Serie von 15 Heften eine Auswahl der getippten Manuskripte und gibt Einblick in private Fotoalben und Archive. Die bisher unveröffentlichten insgesamt 2.000 Seiten seiner Autobiographie erzählen vom Zusammenleben im Dorf, von Antisemitismus, Flucht, Ermordung und Restitution, im Besonderen aber von seiner Verbundenheit zu jenem Dorf Erlauf, in dem Brods Familie keinen Schutz fand. Beigelegt ist ein weiteres Heft mit wissenschaftlichen Beiträgen, darunter ein Gespräch mit Ernst F. Brods Tochter, sowie die musikalische Interpretation von Brods Lebensgeschichte durch das Roman Britschgi Quartett auf CD. (Auszug Verlagstext)
Heidi Schatzl – Die Manuskripte des Ernst F. Brod
368 Seiten, Box mit 16 Heften und 1 CD
Mandelbaum Verlag, 2018
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!