Theater. Ein Fantasie-Raum mit realen Grenzen?

Gerlinde Roidinger hat im Juni das Schäxpir Festival in OÖ/Linz besucht. Ein (B)Logbuch über Darstellende Kunst für junges Publikum, Astro-Physik und blaue Pillen, die Beziehung zwischen Menschen und Objekten und sonstige raumgreifende Fragen.

Katharina Senk und Maartje Pasman in ihrer raumübergreifenden Schäxpir-Koproduktion [White Hole]. Foto Gerlinde Roidinger

Die austauschbare Vielfalt an trendigen Marketing-Strategien und knalligen Festivals ermüden mittlerweile etwas, umso wichtiger erschien es mir dieses Jahr, mir Raum und Zeit zu nehmen, um der so genannten „jungen Generation“ und den New Acts der Tanz- und Theaterszene in echter Aufmerksamkeit zu begegnen. Aufmerksamkeit, Zeit und Raum sind nach Georg Franck1 übrigens konstitutive Letztbestandteile der subjektiven Erlebnissphäre, wonach Zeit und Raum die Dimensionen und Aufmerksamkeit die Substanz mensch­lichen Erlebens sind.
Und so gab ich mich Ende Juni in der atmosphärischen Substanz meines persönlichen Lebens – also bei Höchsttemperaturen, Unwetterwarnungen und diverser anderer Krisen – dem oö Festivaltreiben hin und betrat die kontroversielle, äh, multiverselle Troposphäre des 10-jährigen Schäx­pir-Jubiläums.
Für die Tour-Notizen hatte ich mir ein reales Logbuch bereitgelegt, plus etwas Schreibmaterial, einen einfachen Bleistift: Die Gedanken meiner Aufmerksamkeit und die Erlebnisse dieser subjektiven Sphäre wollte ich in St_ICH_Worten darin festmachen …

Tag 1: Von auswärts kommend lande ich Montagmorgen am Linzer Hauptbahnhof, um via Bim rasch zur Kulturtankstelle zu gelangen, wo ich mich von zwei zeitgenössischen Tänzerinnen räumlich ins weiße Loch und durch die multisensorisch aufgeladenen Underg_rounds der dortigen Tiefgaragen-Räume führen lasse. Katharina Senk und Maartje Pasman (tanz.sucht.theater) reflektieren in dieser raumübergreifenden Schäxpir-Koproduktion [White Hole] die Grenzen von Körperlichkeit in der Zukunft und erforschen auf tänzerisch-performative Weise die physischen Möglichkeiten technologisch „überarbeiteter“ Menschen sowie deren neue Wirklichkeiten. Ich bin begeistert! Ein wahrlich feiner Ort, diese Tankstelle! Und umso spannender, weil ich höre, dass es hier schon einige kulturelle Impulse gegeben hat und immer wieder welche folgen sollen. Dass es Tanz an jenem besonderen Ort an diesem Tag offenbar aber zum ersten Mal zu sehen gibt, macht mich ir­gendwie traurig – Hallo ihr TänzerInnen da draußen, wo seid ihr!? Und warum bespielt ihr nicht diesen wundervollen Ort!?….
Kurz darauf habe ich in der STWST ein Meeting in eigener Sache, ich treffe mich mit einer Kollegin aus Wien, die im Festspielhaus St. Pölten arbeitet und wohl zum ersten Mal vom „Strom“ hört, wo wir ebenfalls über Tanz sprechen. Abends eile ich noch schnell in die Kammerspiele, um der Eröffnungsrede zum Thema „Multiversum“ und dem Schmusechor aus Wien zu lauschen. Bei vollem Haus widme ich mich dann dem Thema Mensch-Maschine, einer österreichisch-belgischen Produktion namens Homodeus Frankenstein von Johan De Smet und Sara Ostertag, einer der künstlerischen Leiterinnen des Festivals (!). Die Inszenierung erzählt mittels Videowall über das freundschaftliche Zusammentreffen einer älteren Damen mit einem Roboter, während im Bühnenraum davor zwei weibliche Protagonistinnen, die eine tanzend als Maschine, die andere in der Rolle des Menschen, auf der Suche nach der Spezies des vermeintlich anderen immer wieder aufeinandertreffen und zusammenprallen. Musikalisch begleitet von fünf Instrumentalisten und mit viel Feingefühl werden Fragen aufgeworfen, die mit Sorgen und Ängste über die Zukunft verwoben sind, wobei sich die Geschichte vorsichtig der Beziehung zwischen Mensch und Maschine anzunähern versucht…
Tag 2: Ich muss passen und das Festival auf mich warten. Ich verschanze mich in meinem „Home Office“ vor dem Computer, um voller Tatendrang den eigenen Tanz-Projekten zu frönen.
Tag 3: Um 8:29h nehme ich erneut den Regionalexpress zur „Main-Station Linz“ und check mir auf der Fahrt den Weg zur Bruckneruni, die ich seit dem Neubau vermutlich wegen der dezentralen Lage erst einmal von innen zu sehen bekam. Im Foyer dort angekommen, treffe ich einen Bekannten, der begeistert von der Vorstellung des Vorabends schwärmt und mir ausführlich von der versäumten Proletenpassion berichtet: Ein politisches und zeitkritisches Stück der Prolos (Österreich) über die Geschichte von Herrschenden und Beherrschten, eine Wiederaufnahme des Autors Heinz R. Unger und der Band Schmetterlinge aus dem Jahr 1976, das erstmals bei den Wiener Festwochen gezeigt wurde und in der aktuellen Fassung die neoliberale Realität der Gegenwart beleuchtet. Inhaltlich thematisiert die performativ-musikalische Darbietung revolutionäre Zeitfenster von Gestern und Damals, die offensichtlich deutlich vor meiner Zeit auf diesem Planeten stattgefunden haben, deren Brisanz rund um das Thema Klassenkampf und die Kritik an der Geschichtsschreibung wohl aber aktueller denn je sind …
Schwarz-weiß gestreift ist die Schleife schließlich, die mir kurz darauf ein junger Mann an den Oberarm bindet, während mir seine Kollegin „Frau Löfberg“ (Skript und Dramaturgie) eine Flüssigkeit auf die Augenlider tropft um mich zu einer erholsamen „Auszeit“ einzuladen. Die Vorstellung beginne etwas später, bedauert „Herr Finnland“ (Regie und Konzept) dann freundlich, da wir noch auf eine Schulklasse warten. Geduldig sitze ich also neben einer Ansammlung artiger HTL-Schüler und gönne mir in Frédérics Bistro ein frisches Croissant. Kurz darauf werden wir in Teams eingeteilt und die Uraufführung der Sommernachtsmatrix von Nesterval (Österreich) beginnt. Bei brütender Hitze starten wir in den Uni-Garten, davor gibt’s ein paar Einführungsworte inkl. Erklärung der Spielregeln sowie einen Stationen-Plan in Papierform, danach subito die erste Szene: Figuren in weißen Kleidern sprechen, Schlafende erwachen, und ich anachronistischer Anti-Konsolen-Mensch verstehe nur langsam: Das interaktive Real-Life-Computerspiel – die Shakespeare-Schnitzeljagd – ist im vollen Gange: Über zwei Stunden werden wir durch antike Liebes-Geschichten gejagt, mit täuschenden Aufträgen betraut, von AgentInnen mit Wasser-Spritzpistolen verfolgt und mit Hilfe von weißen Kaninchen in ferne Länder versetzt, um uns am Ende für eine von zwei farbigen Pillen zu entscheiden: Wir stimmen ab und ich lasse mich überreden: Unser Team schluckt die blaue. Und ich frage mich, ob das wohl Gutes verspricht oder ich nun für immer unwissend im Kaninchenloch verweile und die Wahrheit über diese Welt womöglich gar nie erfahre …?
Ohne weiße Kaninchen, aber ebenso spielerisch geht es kurze Zeit später im Posthof weiter, wo die drei Performerinnen Deborah Hazler, Martina Rösler und Emmy Steiner sich in On the Other Side auf die Reise nach Australien begeben, um die andere Seite der Erde zu erforschen, alles und jeden auf den Kopf stellen, verkehrt zu laufen und rückwärts zu denken: Ein schönes und reichhaltiges Konzept, das nicht nur zum Perspektivenwechsel einlädt, vielmehr noch: Die Neugier auf das Fremde weckt und sowohl Kinder als auch Erwachsene anregt das Anders-Sein und sich selbst mit allen Sinnen zu entdecken …
Tag 4: Dass es mehr als zwei Seiten der Welt(-Anschauung) aufzuspüren gilt, zeigt am nächsten Tag auch das Kollektiv kunststoff, welches mit ihrem Stück Und die Erde ist doch eine Scheibe das Universum der digitalen Kommunikation in die BlackBox des Landestheaters befördert. Mit transformativen Klang- und Sounddesigns von Peter Plos und künstlerischen Visuals von nita. (Anita Brunnauer) wird der Bühnenraum mit realen Youtube-Channels und physischen Touchpads bespielt, den das Publikum später durchaus gespalten verlässt: Merkwürdige Irritation sowie das eine oder andere Fragezeichen bei den Kindern einerseits und bestätigendes Nicken der LehrerInnen und Begleitpersonen andererseits.
Follow the Rabbit
heißt die Gruppe, die danach im Central das Stück Mongos erzählt, eine berührende Geschichte über zwei Außenseiter, die sich in einem Krankenhaus kennen lernen, der eine querschnittsgelähmt, der andere nervenkrank. Humorvoll und voller philosophischer Fra­gen agieren die beiden sympathischen Schauspieler Nuri Yildiz und Jonas Werling unter der Regie von Martin Brachvogel, der sich mit adäquater Jugendsprache den Themen Liebe, Hoffnung und anderen Seltsamkeiten dieser Welt heranwagt. Die Auszeichnung mit dem STELLA-Darstellender.Kunst.Preis für junges Publikum 2018 in der Kategorie „Herausragende Produktion für Jugendliche“ kann ich an dieser Stelle nur unterstreichen.
Ermutigt, aber auch ein wenig gerüttelt von den melancholischen Szenen dieses Stücks treffe ich mich etwas später mit Anna. Eigentlich war geplant, Anna würde die gesamte Woche meine „jugendliche“ Verstärkung sein. Als 13-jährige Schü­lerin hat Anna in der Zeit des Schäxpir-Festivals (vorletzte Schulwoche!) aber einen dichten Stundenplan: Mathematik-Olympiade, Exkursion, Projekttage etc., weshalb wir uns leider nur für zwei Stücke treffen können. In ihrem knappen Zeitfenster verabreden wir uns an diesem Tag also in der Bruckneruni, um uns gemeinsam Randale und Liebe anzusehen. Auf dem Weg zum Bahnhof erzählt mir Anna danach, ihr habe der Stil des Theaterstücks recht gut gefallen, eine Inszenierung von der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien, der AHS Rahlgasse und dem Jungen Volkstheater Wien. Die Szenen wechselten zwischen dem Original-Text und den freien Interpretationen der SchauspielerInnen, von denen manche durchgehend im Publikum saßen und wodurch für Anna ein Vergleich vergangener Lebenswelten und der Gegenwart erkennbar wurde. Anna meinte außerdem, sie wäre bei der Darstellung all der unterschiedlichen Vaterrollen durchaus angeregt worden über ihren Vater nachzudenken, auch wenn die meisten davon überzeichnet und einem Stereotypus zu entsprechen schienen …
Im Zug Richtung Selzthal angekommen, verliert sich das Gespräch über das Vater-Stück schnell im Fahrtwind, trotzdem mache ich ein paar Notizen, während Anna in ihrem Buch zu lesen beginnt. Nach ein paar Stationen frage ich sie nach dessen Inhalt und Anna erklärt, sie interessiere sich für Astronomie und Physik. Dieses Buch – No idea: Vorletzte Antworten auf die letzten Fragen des Universums – sei eine witzig-ironische Sammlung von verschiedenen Themen dazu. Das aktuelle Kapitel behandle den Raum und es gehe um die Frage, ob alles Raum, dieser unendlich oder lediglich die Beziehung von Menschen und Objekten sei. Raum könne aber auch einfach nur Farbe sein. Da gäbe es in der Physik eben verschiedene Theorien, ergänzt Anna schließlich. Klingt mehr als spannend, sage ich, wobei mir das Festival-Wort Multiversum durch den Kopf geht und ich mich erneut frage, was genau all diese Stücke mit der Realität und dem Leben der Kinder und Jugendlichen zu tun haben, wohin sie zielen und wie es um die Gewichtung von Provokation, Angepasstheit, Ästhetik, Pflichterfüllung, Verantwortung, Rebellion, Pädagogik, Pop und Punk steht. Und ob bei all dem – zumindest potenziell erreichbaren – Luxus und der Vielzahl von Weltproblemen das Theater etwas Adäquates abbildet bzw. überhaupt anbieten kann und welche Rolle die hierarchische Institution mit ihrer multituden Festival-Prämisse der Teilhabe hat bzw. ob diese denn auch etwas Nützliches anpeilen kann. Und ob Jugendliche wie Anna in ihrem – trotz Schulschluss – übervollen Stundenplan überhaupt Zeit finden um ins Theater zu gehen …

Tag 5: Am Freitag schaffe ich es vormittags dann noch zu Unkraut, ein Stück mit sechs jungen Frauen mit (mir scheint) Model-Maßen, deren tänzerische Darbietung sich um den Körperkult, Macht und die Sehnsucht nach Individualität dreht, eine Inszenierung, deren choreografische Hand­schrift nur unschwer zu erkennen ist: Doris Uhlich. Nicht nur wegen der lauten Bum-Bum Musik, sondern auch wegen des persönlichen Zugangs, wenn die Mädchen nach mehreren physisch anspruchsvollen Sessions erschöpft am Boden sitzend über ihre eigenen Erfahrungen zum Thema Körper und Leistungsdruck sprechen.
Später treffen wir uns im AEC, ich bin bereits vor Ort und Anna kommt mit dem Zug extra von Zuhause angereist. Auf die­ses Angebot habe sie sich schon die ganze Woche gefreut, sagt sie. Eine Ausstellung namens Memories of Borderline von Schauspiel Dortmund (u. a. Kay Voges), die sehr vielversprechend klingt. Doch leider soll es nicht sein und dieser virtuelle Raum bleibt uns trotz Ticket-Reservierung und wegen zu großem Publikumandrangs verwehrt. Dennoch bitte ich Anna später mir ihre Erinnerung an dieses Erlebnis mitzuteilen:

Memories of Borderline
[Gedankensplitter von Anna Hofer]

Eine Installation
Mehr oder weniger digital
Mit VR-Brille, angeblich
Borderline-Syndrom
3 von 100 Leuten leiden daran
Ungefähre Anzahl derer, die die Installation sehen durften
Echt schade
Wäre sicher cool geworden
Für junge, technisch interessierte Leute
Nur sechs Leute pro Stunde sind eine Frechheit
Deprimierte Heimfahrt
In der prallen Sonne
In Gedanken an das verpasste Stück
Gratulierte still den glücklichen Gewinnern
Die es sehen durften.

Tag 6+7: An den letzten beiden Festivaltagen entscheide ich mich für ein freies Wochenende und stimme mich bei Sonnenschein und erfrischender Abkühlung auf einen hoffentlich entspannten Sommer ein, auch Anna plantscht vergnügt im örtlichen Freibad (… wohl aber nur solange ein solches in unserer Gemeinde für die Öffentlichkeit noch zur Verfügung steht …).

Zurück zum Theaterraum: Wer es wie Anna und ich ebenfalls nicht in die besagte Installation geschafft hat, wird hoffentlich im genannten Museum der Zukunft auch nach der Neugestaltung und abseits des Festivals noch Gelegenheit (?) dazu haben. Und alle, die sich diesen Sommer sowieso lieber in fremden Gefilden erholt haben oder in andersartigen Gewässern abgetaucht sind, dürfen sich schon jetzt über die Spieltermine der heimischen Szene freuen, welche sich neben den nationalen und internationalen Gruppen (insgesamt 270 KünstlerInnen) in jedem Fall nicht nur beim Schäxpir-Festival, sondern auch im Herbst in Linz und darüber hinaus unbedingt sehen lassen können:

Else (ohne Fräulein) von Thomas Arzt nach Arthur Schnitzler (ab 14 Jahren)
Si(e)Si von Silk Fluegge YOUNG Audience (ab 10 Jahren)

Und wer 2019 gar nicht in den Schäxpir-Trubel eintauchen konnte oder wollte, darf sich in diesem Fall auf die Astrologie verlassen: Laut Eröffnungsrede steht ein solches Festival nämlich schon wieder fix in den Sternen …

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