Ende Gelände

Christel Kiesel hat mit der Masterarbeit Ende Gelände dieses Jahr ihr Studium der Plastischen Konzeption abgeschlossen. Die Arbeit war danach mehrfach in Linz zu sehen und wurde bereits mit zwei Preisen bedacht. Tanja Brandmayr hat sich die Arbeit angesehen und mit der Künstlerin gesprochen.

Zuerst die kurze, aber doch beachtliche Ausstellungsgeschichte der Arbeit und die Info für alle, die beim Thema Preise hellhörig werden: Ende Gelände war heuer im März als Masterarbeit in der Kunstuniversität ausgestellt, danach im Sommer in der Galerie Maerz, und im Oktober wieder in der Kunstuni bei Best Off. Dazwischen hat Christel Kiesel mit Ende Gelände den AK-Kunstpreis zuerkannt bekommen sowie den Preis des Diözesankunstvereins. Weiter geht es in puncto Präsentationen im Dezember mit einer Ausstellung bei EFES42, einem Verein für Skulptur in der Linzer Schubertstraße. Voraussichtlich im kommenden April wird Kiesel in der Arbeiterkammer zu sehen sein, im Mai in der Diözese.

Damit zum Werdegang von Christel Kiesel: Die Plastische Konzeptionistin bzw. die Bildhauerin und bildende Künstlerin wächst im ehemaligen Osten Deutschlands in einem Betrieb in Südbrandenburg auf, einer Töpferei, die es seit 1837 gibt. Später studiert sie Industriedesign in Halle an der Saale (2009–2014), danach Plastische Konzeption in Linz (2015–2019). Die Arbeit Ende Gelände markiert 2019 den Schlusspunkt und die Masterarbeit dieses Studiums. Was sich im beruflichen Werdegang schon längere Zeit abzuzeichnen scheint: Das Faible für Gegensätzlichkeiten, einerseits zwischen Keramik und Industriedesign (Kiesel: „auch zwei sehr entgegengesetzte Bereiche – mich interessiert das“), andererseits später – und immer noch – zwischen Industriedesign und Kunst. Obwohl sie schon während ihres Designstudiums immer wieder die Rückmeldung erhalten habe, dass sie „eigentlich in die Kunst gehört“, bezeichnet Christel Kiesel ihren industriedesignerischen Zugang als prägend, um Kunst zu machen. Dabei sind für Kiesel „sowohl Kunst als auch Design Methoden, um Objekte wahrzunehmen und zu lesen“. Schlussendlich hinterfrage sie Objekte oder auch Alltagsgegenstände etwa immer noch auf eine Funktionalität und verschiedene Zwecke, wobei sie diese Selbstverständlichkeit des funktionalen Nutzens als „eine Art Poesie“ bezeichnet. Und ihre Herangehensweise folgendermaßen: „Generell geschieht viel mit Plan, der allerdings spontan wieder verlassen wird“. Kiesels Arbeitsprozess findet jedenfalls hauptsächlich zwischen Schreibtisch und Werkstatt statt, weniger im Atelier, und ist sehr materialbezogen. Seit sie in Linz ist, arbeitet sie etwa auch vermehrt mit dem Material Stahl.

Ende Gelände umfasst nun im Wesentlichen drei Komponenten mit jeweils eigener Betitelung – namentlich I Follow, Stiebsdorf Blau und Konglomerat L. Diese drei Komponenten stellen eigene Themenkreise dar und lassen sich jeweils als größere Abstraktionen von Raum und Landschaft fassen. Sie stellen sich in unterschiedlicher Form und Materialität zueinander und thematisieren – gemeinsam und für sich – grundlegende bildhauerische Fragestellungen. I Follow etwa besteht aus filigranen, schwefelgelb lackierten Stahlobjekten, die formal zuerst als Geländer im Raum angelegt sind, zusätzlich aber bei der Form von Schranken, Leitern und Hochsitzen Anleihen nehmen. Das gelbe Gestänge verhandelt dabei bildhauerische Grundfragen von Fragilität, Stabilität, Raumausdehnung und Raumbezug, zitiert aber auch, durchaus auf entfremdete Weise, eben Objektfragen von Nutzung und Design. Die nächste Komponente, Stiebsdorf Blau, hängt als leicht schwebende Stoffbahn im Raum, mit einem vertikalen Farbverlauf von blau nach weiß, was Wahrnehmungen von Wasser, Luft, Sinnlichkeit, Durchlässigkeit und Sättigung eröffnet – und möglicherweise eines Übergangs per se. Dazu weiter unten. Und, last but not least, verlegt Konglomerat L mehrteilige Bodenplatten – und damit etwas sehr Basales, Bodennahes und Schweres. In ihrer offensichtlich organischen Zusammensetzung von Ton bis Kiefernnadeln stellen diese Platten Fragen nach lebendigem und totem Material, bestehen aus Bodenschichten und Erosion, und sind in ihrer Hergestelltheit selbst vergänglich. Dazu Christel Kiesel: „Das sind temporäre Manifestationen, sie würdigen die Präsenz des Materials, wie in einem Moment des Ein- und Ausatmens“. Was wohl auch symbolhaft für eine geologische Zeitdimension stehen soll, die auch dementsprechend angearbeitet wurde. Denn die von Kiesel für diese Bodenplatten in der brandenburgischen Landschaft vorgefundenen Materialien von verschiedenen „Sanden, Tönen und Erden“, teilweise mit Schwefelgeruch und eben mit diversen Beimengungen, wurden im quasi-archäologischen beziehungsweise analytischen Arbeitsprozess von der Künstlerin zuerst voneinander separiert, um danach wieder als Arbeitsmaterial zusammengefügt zu werden. Schlussendlich soll dieses temporär dem Boden entnommene Material der Landschaft zurückgegeben werden.

Insgesamt und zusammen befragen die oben vorgestellten Objekte eine ganz grundlegende Materialität und Präsenz. Sie präsentieren sich als eine Art gemeinsames, aber sehr gegensätzliches Ameublement der bildhauerischen Abstraktion. Christel Kiesel zieht nämlich durchaus zarte kunst- und kulturgeschichtliche Bande zu Raum- und Formfragen an sich. So sind etwa die Form- und Arbeitsvorgaben für das schwebende Tuch oder die Bodenplatten die des Vorhanges oder des Teppichs. Oder sie entfaltet innerhalb des Systems Kunst für ihren fröhlichgelben Geländer-Slapstick entsprechend ihrem vorangegangenen Industriedesign-Studium eine spielerische „Stilsicherheit des Designs“, die sie jedoch andersrum in den Raum umleitet und in formale Thematiken einfügt. Während die Arbeit also sozusagen einerseits ein „Ameublement“ aus Kunstreferenzen und ästhetisch geöffneten Formen- und Materialsprachen darstellt, verweist Ende Gelände im größeren inhaltlichen Zusammenhang einer geographisch-territorialen Aufladung aber kräftig nach außen – nämlich auf Christel Kiesels Heimat, das Gebiet von Brandenburg, der Lausitz und damit ins Braunkohlerevier. Im Zentrum steht damit eine real devastierte Landschaft des Braunkohletagebaus und das insgesamt komplexe Thema des Niedergangs und des Verschwindens von Landschaften und Menschen sowie die ökonomischen, sozialen, ökologischen Folgewirkungen in diesem „Energieland“. Titel wie das oben genannte Stiebsdorf Blau beziehen sich genau auf dieses Gebiet. Und auf einer weiteren, theoretisch aufgearbeiteten Ebene, die Christel Kiesel als schriftliche theoretische Arbeit recht umfassend angelegt hat, werden hinsichtlich der weitreichenden Bezüge dieser Landschaft und ihrer Bewohner und Bewohnerinnen „alle diese Fässer aufgemacht“, sagt sie – von der glazialen Erdgeschichte bis zur heutigen Bergbaufolgelandschaft, vom Tagebau, den riesigen Ma­schinen, die selbst Landschaften gleichen, bis hin zur Zerstörung dieser Landschaft, von der Arbeit oder der sorbischen Identität ihrer Familie – bis hin zum Verschwinden und zum nunmehrigen Übergang in eine Sukzessionslandschaft. Einen wesentlichen Teil dieser theoretischen Arbeit bilden die Fotos, die Kiesel vor Ort in Brandenburg aufgenommen hat.

„Für jeden See, sprich für jedes geflutete Tagebaurestloch heute, stehen mehrere verschwundene Dörfer“ – so ein sinngemäßes Zitat aus Christel Kiesels Masterarbeit. Und Stiebsdorf Blau, also die leicht in der Raumluft wehende Stoffbahn mit ihrem Farbverlauf von Wasserblau ins Weiß, ist – in aller irritierenden Leichtigkeit und im mehrfachen Bezug – als Referenz auf ein solches, verschwundenes Dorf, auf eine verschwundene Landschaft und einen nunmehrigen See zu lesen. So verschwanden wegen des Braunkohleabbaus in ihrem Herkunftsland Südbrandenburg seit über 100 Jahren um die 140 Dörfer – mit der meist üblichen Vorgangsweise: Sprengung des Kirchturms, Verlegung des Friedhofes, Umsiedlung der Menschen – dann folgte der Braunkohleabbau im leergeräumten Gebiet. Auf die Industrie beziehen sich übrigens auch die schwefelgelb lackierten Stahlgeländer der künstlerischen Arbeit. Die realen Geländer organisieren im Gelände des Braunkohleabbaus die Raumwege, sie führen, halten auf, sind wie territoriale Bestandteile, die anleiten („I Follow“) – allerdings natürlich weniger diffizil und eigensinnig als in Kiesels Interpretation, denn Form und Material wird im Gebiet dann doch ganz klar dem gemeinsamen industriellen Zweck untergeordnet. In der Riesenanlage wälzen jedenfalls gigantische Bagger wie megalomanische Insektenmaschinen Tag für Tag die Landschaft um. Noch vier davon sind im Braunkohlerevier in Betrieb, trotz bereits mehrfach geplantem Braunkohleausstieg. Die Industrie hinterlässt hier immer noch – bis zum derzeit geplanten Braunkohleausstieg 2038 – in einem großangelegten, anmaßenden Experiment eine aufgerissene, dekonstruierte Landschaft sowie riesige, tiefe Löcher im Boden, die nach dem Abbau „geflutet werden, um sie zu sichern“. In der derzeitigen Bergbaufolgelandschaft bedeutet das dann zum Beispiel, dass diese gefluteten Löcher, alias Seen, dann mitunter giftig sind. Kein Insekt lebt dort. Denn je nach den geologischen Bestandteilen der seit Jahrtausenden gebildeten und nunmehrig in kürzester Zeit aufgerissenen Erdschichten mischen sich durch die Flutung verschiedene Bodenbestandteile und verschiedene chemische Prozesse setzen ein. Ganz generell gibt es in dieser Bergbaufolgelandschaft ganz verschiedene Prozesse – man weiß schlichtweg oft nicht, was passiert. Und so existieren diese Landschaften mitunter auch als Totalreservate oder andere Sukzessionsgebiete, jedenfalls aber Langzeitexperimente mit ungewissem Ausgang, immer mal anders. Christel Kiesel dazu: „Es gibt dabei kein Ziel: Die Sukzession beschreibt den Prozess, wie die Natur sich dieses Gebiet zurückholt. Es verändert sich jeden Tag. Man kann zuschauen. Es ist extrem. Da ist dann über Nacht eine neue Landzunge und plötzlich Lebensraum für 6.000 Kraniche, 20.000 Gänse. Oder der Wolf kommt zurück.“

Alles in allem habe die Arbeit an Ende Gelände ihren eigenen Bezug zum Herkunftsdorf verändert, sagt Kiesel, es geht etwa um ein Gefühl von Heimat und von Verlust. Das Gefühl von früher, dass man immer wegwollte, löst heute ein Gefühl von Erkenntnis ab, nämlich darüber, dass man jetzt versteht, was los ist – „und etwa vor dem See steht und dem See verzeiht“, so Kiesel. Interessant sind jedenfalls die vielen Ebenen dieser Arbeit – wie viele es tatsächlich sind, darüber gibt die schriftliche Arbeit Auskunft. Beziehungsweise: Dass im künstlerischen Teil von Ende Gelände diese realen Tatsachen nicht nur codiert wurden, sondern das Material mit Kontextualität und Eigenschaften aufgeladen wurde, lässt die Raumsituation quasi außersprachlich werden – was natürlich nochmals andere Wirkungen entfaltet. Eine ganz wesentliche Eigenschaft von Kunst. Und eine Arbeit ganz oben.

 

Christel Kiesel wird im Dezember bei EFES42, ein Verein für Skulptur in der Schubertstr. 42, ausstellen und dort die „Linzer Position“ repräsentieren.
www.efes42.at

Und der Rest ist für Sie
EFES42
Eröffnung Mi, 18. Dez, 19.00 Uhr
Öffnungszeiten: Do, 19. Dez., 18.00–20.00 Uhr und per tel. Anmeldung +43(0)650 73 88 464

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