Dem gesellschaftlichen Verkehr mit Künstlern entrückt
Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe Anarchist_innen – und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Andreas Gautsch schreibt in dieser Ausgabe über Agathe Löwe, die Grafikerin der Revolution!
Im letzten Porträt über Karl F. Kocmata wurden die Zeitschriften Ver! und Revolution! erwähnt. Eine der Künstler_innen, die dort laufend ihre Grafiken publizierten, war Agathe Löwe. Als Künstlerin vergessen, als Kunsthandwerkerin anonym geblieben und selbst in der anarchistischen Bewegung ist sie eine der vielen Unbekannten, obwohl sie anregende Spuren hinterlassen hat.
Agathe Löwes Grafiken in Ver! und in der Revolution!
Die erste Veröffentlichung von Agathe Löwe in der Zeitschrift Ver! ist eine Zeichnung vom Dichter Arno Holz und erscheint im August 1918. Zwei Monate später wird auf einer Doppelseite ein Linolschnitt abgedruckt, der das erdrückende Elend in der Großstadt thematisiert. Hinter einem großen Torbogen sitzt eine Frau neben einem weiteren Durchgang, eingehüllt am Boden. Als wären die vielen Türen und Wege, die auf dem Bild zu finden sind, nicht für sie gebaut. Der Schnitt zeigt die Situation vieler Menschen in Wien nach dem Krieg, geplagt von Hunger, Wohnungsnot und Krankheiten.
Agathe Löwe war eine der vielen jungen Künstler_innen die, wie der Herausgeber Karl Kocmata, der Schriftsteller Fritz Karpfen und der Maler Michael Zwölfboth, den Kreis der Freien Künstlervereinigung Ver! bildeten. Wie alle Zirkel hatten auch sie ihr Stammkaffeehaus, das Ringcafé am Stubenring 18. Sie waren jung, modern, radikal, expressionistisch und verkörperten die Zukunft ihrer Zeit. Sie verabscheuten Patriotismus und Nationalismus, Militarismus und Krieg.
In der von Kocmata im Feber 1919 gegründeten Revolution! erscheint nach dem Peter-Altenberg-Linolschnitt im Heft 3 eine Grafik voll revolutionärem Pathos – eine wehende schwarze Fahne vor einer weißen Sonne mit spitzen schwarzen Strahlen. Hier zieht die Freiheit in eine strahlende Zukunft. Veröffentlicht wurde das Bild im März 1919, in einer Zeit, als die Russische Revolution für viele noch eine Hoffnung war, und es an unzähligen Orten Europas brodelte und gärte. In Österreich versuchten verschiedene linke Gruppen wie die Rote Garde und die frisch gegründete Kommunistische Partei die Revolution voranzutreiben. Auf dem am 1. Mai 1919 erstmalig erscheinenden, von Ignaz Holz-Reyther herausgegebenen Blatt Anarchist findet sich unter dem Leitartikel Freiheit, die wir meinen. ebenfalls ein Linolschnitt von Löwe mit dem Titel Die mühselig und beladen sind. Zu sehen ist ein Heer an einem Kreuz schleppenden, gebückten, weißen Silhouetten.
Bis ins Jahr 1921 lassen sich Grafiken von Agathe Löwe in verschiedenen Publikationen der jungen Avantgarde finden: zum Beispiel in der anarchistischen Zeitschrift Freie Jugend von Ernst Friedrich, der mit seinem Buch Krieg dem Kriege und dem ersten Antikriegsmuseum internationale Bekanntheit erlangte, oder in Irma Singers jüdischem Märchenbuch Das verschlossene Buch, in dem Löwe vier Textbilder gestaltete. Auch einige Titelzeichnungen von Büchern aus dem Ver! Verlag, wie beim Literarische Verbrecher-Album von Fritz Karpfen und dem Gedichtband Einsamer Wald von Kocmata, stammen von ihr. Eine kurze Erwähnung findet sich auch in dem Artikel Die Unabhängigen über eine Ausstellung im Haus der jungen Künstlerschaft.
Doch wer war Agathe Löwe? Was ist über sie heute noch zu erfahren?
Was können wir über Agathe Löwe wissen?
Sie war die Tochter des jüdischen Lederfabrikanten Moritz Löwy und seiner Frau Regine und hatte vier Geschwister. Geboren wurde sie im August 1888 in Hinterbrühl bei Mödling, ab 1907/08 besuchte sie die Kunstschule für Frauen und Mädchen. Für Mädchen aus bürgerlichem Haus war dies kein ungewöhnlicher Werdegang. Die 1897 gegründete private Kunstschule war in diesen Kreisen beliebt, hatte sie doch das Ziel, „dem weiblichen Geschlechte, so weit es Begabung und Fleiss erweist, auch auf dem Gebiete künstlerischer Betätigung eine uneingeschränkte Entwicklung ermöglicht werden soll.“ (Plakolm-Forsthuber, 1994: 52) Um die Jahrhundertwende hatte sich die künstlerische Landschaft in Wien auf mehreren Ebenen zu verändern begonnen. Junge und moderne Künstler_innen wie Gustav Klimt und Josef Hoffmann etablierten sich mit der Sezession als neuen Kunstraum. Auch Frauen schafften es langsam und mit Beharrlichkeit, als Künstlerinnen wahrgenommen zu werden und vor allem ausstellen zu können. Voraussetzung dafür war die Mitgliedschaft in einer Künstlervereinigung, bis Ende des 19. Jahrhunderts war diese für Frauen nicht möglich. Im Jahr 1910 gründeten einige Künstlerinnen die Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs. Eine davon war Tina Blau, die auch an der Kunstschule unterrichtete.
Neben den emanzipatorischen Kämpfen der Künstlerinnen gab es auch eine ökonomische Entwicklung, die diesen Prozess unterstützte, jedoch unter anderen Vorzeichen. Um am Kunstmarkt konkurrenzfähig bleiben zu können, wurden in den Kunstwerkstätten ausgebildete, aber billige weibliche Arbeitskräfte benötigt.
Josef Hoffmann und seine Wiener Werkstätte (1903–1932) waren, sowohl was den Stil als auch die Vermarktung betrifft, Trendsetter. Hoffmann, der nicht nur an der Gründung der Sezession beteiligt war, sondern auch an der Kunstgewerbeschule unterrichtete, prägte den Kunstgeschmack des bürgerlichen Publikums einer ganzen Generation im Sinne einer klaren, stilvollen Formensprache und kunsthandwerklicher Perfektion. Im Gegensatz zur industriellen Massenproduktion sollten in überschaubaren Mengen edle Alltagsgegenstände, Möbel, Druckwerke und Stoffe hergestellt werden. Da in den Werkstätten überwiegend Frauen arbeiteten und auch neue künstlerische Impulse gaben, wurde diese von „Kritikern“ als „Weiberkunsthandwerk“ disqualifiziert.
Dieser Exkurs ist insofern wichtig, da sich Agathe Löwes Weg in diesen sozialen und ökonomischen Bedingungen wiederfinden lässt. Als Tochter einer jüdisch-bürgerlichen Familie besuchte sie die Kunstschule mit Unterbrechung bis 1916. Mit Kriegsende wirkte sie im Kreis der revolutionären Künstlervereinigung Ver!, machte ihre Grafiken für anarchistische Zeitschriften, agierte ab 1918 unter dem Künstlernamen Löwe. Selbst im Telefonbuch ist sie Anfang der 20er Jahre unter diesem Namen eingetragen. Im Oktober 1923 trat sie aus der israelitischen Kultusgemeinde aus, 1925 begann sie ein Studium an der Kunstgewerbeschule, in der Emailklasse von Josef Hoffmann. Sie schloss 1930 ihr Studium ab.
Ob sie jemals für die Wiener Werkstätte gearbeitet hat, ist nicht bekannt. In der einschlägigen Literatur wird ihr Name nicht erwähnt. Vielleicht hat sie ihr zugearbeitet oder ist für andere Kunstwerkstätten tätig gewesen. In den 20er Jahren ging es mit dem Kunsthandwerk schließlich bergab. Die Wirtschaftskrise ließ auch diesen Markt schrumpfen. 1932, im Jahr, als die Wiener Werkstätte Konkurs anmeldete, heiratete Agathe Löwe den Taxiunternehmer Ernst Schmied.
Zwei Briefe von 1949
Alle folgenden Informationen stammen aus zwei längere Briefen von Agathe Schmied, vormals Löwe, an den Bildhauer Gustav Ambrosi aus dem Jahr 1949. Den ersten hat Ambrosi, zu dieser Zeit bereits ein angesehener und hochdekorierter Künstler, beantwortet, den zweiten nicht mehr.
Die Anrede ist mit „Herr Professor“ zwar recht förmlich, der Tonfall entspricht jedoch mehr einer Plauderei. Im ersten Brief berichtet sie dem gehörlosen Ambrosi von den neuesten technischen Entwicklungen bei Hörapparaten, dass sie alles aus Zeitschriften erfahren habe und drückt ihr Bedauern darüber aus, dass der Maler Sturm Egger Skla, der seinerzeit seine Grafiken ebenfalls in der Ver! veröffentlicht hat, so früh verstorben sei. Sie erwähnt, dass er in der vergangenen Zeit immer nett zu ihr gewesen sei. Sie bedauert auch die Schäden, die die Bomben in Ambrosis Wiener Atelier angerichtet hatten. Weiters berichtet sie, dass sie sich nicht mehr der Malkunst widme, im Moment ihrem Mann beim Kolportieren von Zeitungen helfe und damit vollauf beschäftigt sei. Im Antwortschreiben geht Ambrosi auf die immensen Schäden an seinen Kunstwerken ein und meint, dass er sich nicht entmutigen lasse und sie wieder reparieren werde.
Im zweiten Brief beginnt Agathe Schmied wieder mit einer neuen technischen Erfindung, doch dann berichtet sie Folgendes: „Ich bin dem gesellschaftlichen Verkehr mit dem Künstlern völlig entrückt, seitdem ich heiratete, was für mich ein Glücksfall war“. Mit dem Glücksfall meint sie, dass sie die NS-Zeit in einer sogenannten Mischehe als Jüdin in Wien überleben konnte. Ihr Mann befreite sie „aus den Klauen der Gestapo, steckte ich schon damals im Sammellager drinnen, für die Deportierung bestimmt.“ Sie schreibt Ambrosi, dass ihre ganze Familie und Verwandtschaft in den Vernichtungslagern der Nazis umgekommen ist. Sie erzählt auch, auf welches Unverständnis sie bei Bekannten stößt, wie der Malerin Grete Wilhelm oder der Gattin ihres Malerlehrers Robert Philippi die nichts von den NS Verbrechen wissen wollten oder sie für Propaganda halten. In diesem Zusammenhang schreibt sie auch folgende Sätze: „Nur mein Mann bindet mich noch an Wien, sonst hätte mich nichts hier zurückgehalten. Die Zeit damals hatte tief ihre Spuren bei mir und auch bei meinem Mann geprägt.“
Zwei Briefe, ein dutzend Grafiken und die institutionell erfassten Daten, verstreut in Archiven und Bibliotheken, in Büchern, Zeitschriften und Datensätzen ist alles, was trotz intensiver Recherche zu Agathe Löwe (Schmied) zu finden ist. Es ist nicht viel, dennoch ist es ein kleines Universum, eines in Menschengröße. Ernst Schmied verstirbt 72jährig 1957 in Wien, Agathe neun Jahr später, beide wurden am Zentralfriedhof begraben. Die Gräber sind mittlerweile aufgelassen.
Der Kunstmarkt mit seinen Meistern und Stars ist ein reduktionistisches System, das fortlaufend ausschließt und Vergessenheit produziert. Vor allem Künstlerinnen sind davon betroffen. Ähnlich ergeht es der radikalen Arbeiter_innen- oder Alternativbewegung, die generell gern als Kuriosität betrachtet wird. Dass Agathe Löwe/ Schmied vergessen und in der Geschichte verschollen ist, ist eine Konsequenz dessen.
Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch entstanden.
Literatur:
Sabine Plakolm-Forsthuber: Künstlerinnen in Österreich 1897–1938,
Malerei. Plastik. Architektur, Picus Verlag, 1994
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