Neuentdeckung eines Linzer Urgesteins
Karl Wiesinger war eine prägende Gestalt der Linzer Kulturszene. Der 1991 in Linz verstorbene Schriftsteller gilt als einer der wichtigsten Repräsentanten der politisch engagierten Literatur in Oberösterreich. Durch seine kommunistische Haltung fühlte er sich vom Kulturbetrieb ignoriert. Schließlich narrte er diesen aber mit einem schillernden Husarenstück. Zurzeit erinnert eine Ausstellung im Linzer Stifterhaus an den vielseitigen Linzer Autor. Von Silvana Steinbacher.
Ein Mann steht in einem kleinen Boot und lächelt zufrieden in die Kamera, hinter ihm die Landschaft in einiger Entfernung. Ein Wochenendausflug mit Freunden, vermittelt mein flüchtiger Blick. Ich sehe mir ein Foto von Karl Wiesinger an, dem derzeit im Linzer Stifterhaus eine umfangreiche Ausstellung gewidmet ist.
Es dürfte kein leichte Arbeit gewesen sein, diese vielschichtige und facettenreiche Person in einer Schau zu bündeln, denke ich schon bald, als mir der Herausgeber der digitalen Edition der Tagebücher und Mitkurator der Schau Helmut Neundlinger von Karl Wiesinger erzählt.
Wiesinger, der politisch Kämpferische, der Journalist und Schriftsteller, der in Linz den verstaubten Kulturbetrieb der Nachkriegszeit prägte und die Linzer Literaturszene mit einem Pseudonym narrte, und schließlich der emsige Tagebuchschreiber, der in seinen Aufzeichnungen teils vernichtend über seine Zeitgenossinnen und -genossen, ja sogar seine engen Freunde herzog. Und wahrscheinlich gibt es noch so manch andere Seite an Karl Wiesinger zu entdecken.
Ich beginne mit einer Aktion rund um seinen „Bauernroman“ Weilling, Land und Leute. In einer Schaffenskrise erfindet Karl Wiesinger 1970 unter dem Pseudonym Max Maetz einen literarischen Bauern und lässt diesen ohne Interpunktionen und ohne Respekt vor sprachlichen Konventionen über sein Leben in Weilling erzählen. Weilling ist eine aus zwei Vierkanthöfen bestehende Siedlung in St. Florian. Die reale Verortung in diesem Buch wird Wiesinger noch zum Verhängnis werden und sogar Maetz’ „Tod“ bedeuten. Doch zunächst gelingt Karl Wiesinger genau das, worauf er abgezielt hat. Nachdem der mittlerweile 47-jährige Künstler bereits mehrere Niederlagen einstecken musste und seine Manuskripte von einigen Verlagen abgelehnt wurden, wird der Roman von der Düsseldorfer Eremiten Presse publiziert und durch neue Facetten ergänzt, und sein Max Maetz erregt mit diesem Buch bald Aufsehen. Wiesingers Coup des talentierten, wenig gebildeten Bauern, der mit Frische und unverbrauchtem Stil erzählt, schlägt also voll ein. Erst als sich Journalisten in Weilling auf die Suche nach Max Maetz begeben und dort natürlich nicht fündig werden, entscheidet sich der hinter der Kunstfigur verborgene Schriftsteller Wiesinger, sie kurzerhand sterben zu lassen und veröffentlicht sogar eine Sterbepate in einem lokalen Medium. Diese Aktion empfinden viele, die ohnehin über die Täuschung verärgert sind, als äußerst geschmacklos.
Warum ich dieses Ereignis hier an den Beginn setze? Es scheint mir charakteristisch für Wiesinger zu sein, soweit ich das, ohne ihn gekannt zu haben, überhaupt beurteilen kann.
Karl Wiesinger ist 1923 in Linz geboren und 1991 auch hier gestorben. Mit 19 Jahren betritt der politisch interessierte Mann die Bühne, die er bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen soll. Auch unter dem Eindruck der Februarkämpfe 1934, die er als Kind erlebte, sympathisiert er mit den Kommunisten und wird einige Jahre später Mitglied der KPÖ. 1941 wird Wiesinger zur Wehrmacht eingezogen und begeht an der finnischen Front Sabotageakte, die bald entdeckt werden. Nach einem Freispruch ist er weiterhin im illegalen kommunistischen Widerstand. An seinem Lungensteckschuss aus dem Krieg leidet er bis zum Ende seines Lebens – bereits zwanzig Jahre vor seinem Tod klagte er über Atemnot – und an seinem Lungenleiden ist er letztlich auch gestorben.
Im Linz der Nachkriegszeit und in der späteren Aufbruchszeit in den 1960ern wird Wiesinger trotz seiner kommunistischen Haltung eine prägende Figur.
Unter anderem gründet er gemeinsam mit Ernst Ernsthoff und Paul Blaha das Linzer Kellertheater, das damals, im Gegensatz zum heutigen Programm, einen durchaus anspruchsvollen, experimentierfreudigen Spielplan präsentierte. Auch beim „Club der Todnahen“, dessen Performances an jene der Wiener Gruppe erinnern, hat er sich engagiert.
Ab 1960 lebt Wiesinger dann als freier Schriftsteller, der Verkauf seiner Dentistenpraxis und eine Invaliditätspension ermöglichen ihm diesen Schritt. Er schreibt Hörspiele, Romane und Theaterstücke und er ist ein intensiver Tagebuchschreiber. Und diese – somit schlage ich den Bogen zur Ausstellung im Linzer Stifterhaus – spielen eine nicht unwesentliche Rolle für die beiden Kuratoren, den Germanisten Helmut Neundlinger und den wissenschaftlichen Mitarbeiter des Adalbert-Stifter-Instituts Georg Hofer. Die Tagebücher, ursprünglich im Besitz von Wiesingers Ehefrau, wurden vor sieben Jahren von Wiesingers Nichte dem Institut übergeben. Seit zwei Jahren bearbeitet Neundlinger diese Aufzeichnungen. „Karl Wiesinger hat auch über seine Kontakte genauestens Buch geführt und sich über jeden abfällig geäußert. Ursprünglich wollte er ja seine Tagebücher veröffentlichen. Glücklicherweise nahm er davon wieder Abstand. Ich denke, sonst hätte niemand mehr mit ihm gesprochen. Wiesinger war ein Mann der Selbststilisierung, der zum Teil auch Facetten aus seiner Biografie literarisch überhöht hat. Als Zeitdokument eines hochpolitisierten Menschen im Spannungsfeld des Ost-West-Konfliktes ist das Tagebuch jedoch eine wertvolle Quelle“, stellt Helmut Neundlinger fest. Einiges aus Wiesingers Tagebüchern fließt auch in die Ausstellung Vorwärts, Genossen, es geht überall zurück. Karl Wiesinger (1923–1991) ein.
„Das Konzept der Schau ist eher reduziert gehalten, sie besteht aus zweiundzwanzig Stationen, beinhaltet Zitate und Dokumenten, die unter anderem auch aus dem KPÖ-Archiv stammen“, erzählt mir Georg Hofer.
In seinen literarischen Texten thematisiert er hauptsächlich die Zwischenkriegszeit über NS- Regime bis in die Nachkriegsära des Kalten Krieges. Und er benützt seine fiktiven Figuren hauptsächlich, um ihre Zerrissenheit in den Zeitläuften zu demonstrieren. So unter anderem in seinem erstmals 1967 publizierten Roman Achtunddreißig. Angesiedelt ist Achtunddreißig am Vorabend des Einmarsches deutscher Truppen. Besonders einprägsam empfand ich beim Lesen des Buches, wie der Autor hier die Diskrepanz zwischen der Unentschlossenheit des jüdischen Protagonisten und der kalten Zielorientiertheit der Nationalsozialisten darstellt. In ihrer Wankelmütigkeit vertraut die Hautfigur darauf, dass ein Leben unter den Nazis für ihn vorstellbar sein könnte. In einer klaren Sprache schreibt Wiesinger über seine Themen mit der Intention, eine bestimmte Botschaft zu transportieren. Drei seiner Romane, eben Achtunddreißig, Standrecht und Der rosarote Straßenterror, in denen Wiesinger prägnante Zäsuren der jüngeren Geschichte Österreichs, nämlich 1934, 1938 und 1950, thematisiert, sind vom Promedia Verlag 2011 neu aufgelegt worden. „Ich würde wohl am ehesten von einer Agit-Pop-Literatur sprechen“, stuft Helmut Neundlinger Wiesingers Stilistik ein. „Wiesinger verzichtet fast gänzlich auf psychologische Ansätze, auch bei seiner Figurenzeichnung fehlt teils die Tiefe.“ Auch der 1997 verstorbene Schriftsteller Franz Kain, mit dem Wiesinger eine lange gemeinsame, auch freundschaftliche Geschichte verband, vermerkte in einer Rezension durchaus auch kritische Punkte. In Bad Goisern sind beide zur Schule gegangen, bei der Neuen Zeit, der oberösterreichischen Ausgabe der Volksstimme, begegneten sie einander wieder. Kain wagte nun in einer Rezension von Wiesingers Drama Der Poet am Nil die „Wurzellosigkeit“ und „mangelnde weltanschauliche Eindeutigkeit“ zu kritisieren. Ich möchte kurz Wiesingers nicht wirklich freundliche Tagebucheintragungen, von denen niemand verschont wurde, in Erinnerung rufen und überlege mir für einen Augenblick, mit welch scharfer Pranke der Apodiktiker Wiesinger wohl auf diese Beurteilung seines Freundes reagiert haben könnte.
Gegen Ende betrachte ich noch einmal eingehend ein Foto. Es zeigt den Arbeiterschriftsteller, als ihm 1981 der „Berufstitel Professor“ verliehen wird. Fast ein wenig erstaunt sehe ich auf dem Foto einen seriösen Herrn im schwarzen Anzug und mit stolzer Miene, wie zumindest ich es interpretiere. Wie diese Anerkennung auf den Provokateur und Verächter alles Bürgerlichen gewirkt haben mag, wussten wohl nur wenige Freunde. Angenommen hat Wiesinger den Titel jedenfalls. Und noch einmal komme ich zum Beginn meines Textes zurück. Er bleibt vielschichtig und facettenreich: Wiesinger, der Rebell, der sich die Anerkennung der Gesellschaft, der er kritisch gegenüberstand, dennoch immer wieder wünschte.
„‚Vorwärts Genossen, es geht überall zurück‘. Karl Wiesinger (1923–1991)“
Linzer Stifterhaus
Bis 28. Mai 2020
Öffnungszeiten: täglich, außer Montag 10.00 bis 15.00 Uhr
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