„Einfach komplex“

Vor zehn Jahren starb die Linzer Autorin und Kulturaktivistin Eugenie Kain, heuer wäre sie 60 Jahre geworden. Ein Sonderheft der Literaturzeitschrift Rampe und eine Ausstellung im Linzer Stifter-Haus widmen sich ihrem Leben und Werk. Helmut Neundlinger über Eugenie Kain.

April 1968: Die Welt befindet sich in Aufruhr, der Vietnam-Krieg mobilisiert globale Protestaktionen. Als Berichte über Napalm-Bombardements gegen die Zivilbevölkerung bekannt werden, setzt der Linzer Schriftsteller, Journalist und Chefredakteur der KP-Zeitung Neue Zeit Franz Kain ein persönliches Zeichen: Mit einem am Körper befestigten Protestschild promeniert er über die zentral gelegene Linzer Landstraße. An der Hand hält er seine damals achtjährige Tochter Eugenie, die ebenfalls ein Schild trägt, auf dem steht: „Schützt die Kinder von Vietnam!“ Vierzig Jahre nach diesem Ereignis erzählt Eugenie Kain in einem Interview dem Linzer Zeithistoriker Michael John: „Wir sind beschimpft worden, es haben uns Passanten angeredet und angepöbelt, ich habe das ziemlich unangenehm in Erinnerung.“

Das Widerständige war Eugenie Kain nicht nur über den bereits in Jugendjahren als Widerstandskämpfer aktiven Vater Franz (1922–1997) gleichsam familiengeschichtlich eingeschrieben. Die Urgroßmutter hatte die erste Demonstration zum 1. Mai im Linzer Vorort Pasching organisiert, die Großmutter war wegen der Gründung einer kommunistischen Frauen­gruppe eingesperrt worden. Ein Großonkel hatte bei den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft und galt als vermisst, ein anderer Großonkel war im KZ Mauthausen wenige Tage vor der Befreiung des Lagers noch umgebracht worden. Die im Jahr 1960 geborene Eugenie Kain ist vor diesem Erbe nicht geflohen, sondern hat es früh inkorporiert und auf ihre Weise weitergelebt und -geschrieben.

1978 übersiedelt sie nach Wien und inskribiert Germanistik und Theaterwissenschaften. Prägender als die Universität nennt Kain in einer Frage nach der kulturellen Sozialisation in der Zeitung der oberösterreichischen Dachorganisation der Kulturinitiativen (KUPF) die Kulturszene im WUK, das Kulturzentrum Gassergasse sowie die 1979 gegründete Linzer Stadtwerkstatt. Früh entwickelt sie auch ihr Sensorium für marginalisierte Arbeitswelten: Ein Ferialjob als Putzfrau bei einer Linzer Versicherung mündet auf Anregung ihres Vaters in eine Erzählung mit dem Titel „Endstation Naßzone“, in dem ihr literarisches Alter Ego einen ganzen Reigen weiblicher Arbeitsbiographien samt den damit verbundenen Ausbeutungs- und Demütigungserfahrungen einfängt. Die literarische Qualität der Arbeit bleibt nicht unbemerkt: 1982 wird Eugenie Kain für den Text mit dem von der Linzer AK vergebenen Max-von-der-Grün-Preis für Literatur zur Arbeitswelt ausgezeichnet.

1984 beginnt Kain in Wien für die KP-Tageszeitung Volksstimme zu schreiben, zunächst als freie Journalistin, ab 1987 als fixes Redaktionsmitglied in den Ressorts Kultur, Innenpolitik und Chronik. Nach dem Ende der Volksstimme im Jahr 1991 schreibt Kain für das Nachfolgeprojekt, das Wochenmagazin Salto, bis auch dieses im Jahr 1993 eingestellt wird.

Die Geburt ihrer Tochter Katharina im Jahr 1991 und die Lebensgemeinschaft mit dem politischen Liedermacher Gust Maly haben zur Folge, dass Kain sich Mitte der 1990er Jahre wieder in Linz ansiedelt. Auch in der alten Heimatstadt bleibt sie kulturpolitisch und publizistisch aktiv: Inspiriert von der Gründung der Wiener Obdachlosenzeitung Augustin, initiiert Kain gemeinsam mit anderen eine Linzer Variante unter dem Namen Kupfermuck’n. Neben ihrem beruflichen Engagement bei der Volkshilfe und später beim Institut für Ausbildungs- und Beschäftigungsberatung betätigt sie sich als Journalistin für das Freie Radio Oberösterreich (FRO) und entwickelt in Kooperation mit dem Stifter-Haus das Format „Anstifter“, für das sie regelmäßig Interviews und Porträts von schreibenden Kolleginnen und Kollegen gestaltet. Auch in der Zeitung der Stadtwerkstatt, der Versorgerin, publiziert sie regelmäßig. Zudem fungiert sie als Sprecherin der GAV OÖ., der Regionalvertretung der Grazer Autorinnen- und Autorenversammlung.

Für die ab 1995 erscheinende Zeitschrift des Linzer Kulturzentrums KAPU, hillinger, verfasst sie Reportagen über die geographischen und sozialen Randgebiete der Stadt, die als Serie unter dem Titel „Linz Rand“ erscheinen. Diese Arbeiten bezeichnet die Linzer Germanistin und Direktorin der Landesbibliothek Renate Plöchl in einem 2010 verfassten Nachruf auf die Autorin als „Matrix“ für Eugenie Kains ab der Jahrtausendwende in Buchform erscheinendes Erzählwerk. Kain entwickelt darin ihren doppelten Blick, der die strukturelle Benachteiligung gesellschaftlicher Randzonen klar benennt und zugleich mit großer Behutsamkeit die einzelnen Lebensgeschichten und Erfahrungshorizonte nachzeichnet.

Mit einer radikalen inneren Konsequenz entsteht ein Prosawerk, das sowohl in seinem Umfang als auch in seiner ästhetischen Ausrichtung „klein“ bleibt, im Sinne dessen, was Gilles Deleuze und Félix Guattari mit Blick auf Franz Kafka als „kleine Literatur“ bezeichnet haben: eine Form der literarischen Artikulation, die dem hegemonialen Diskurs des Zentrums eine Sprache des Minoritären entgegensetzt. In den Erzählbänden Sehnsucht nach Tamanrasset (1999), Hohe Wasser (2004) und Schneckenkönig (2009) erschafft Kain ein Kaleidoskop von Kurzgeschichten, die mehr den Innenwelten ihrer Figuren folgen als einer linearen, aus der Vogelperspektive erzählten Handlung. Kain hat ihr Schreiben selbst in einem Interview mit dem Vorgang des Komponierens verglichen, worin sich nicht nur die große Verbundenheit mit der Musik widerspiegelt, sondern auch ihre Arbeitsweise mit und an der Sprache ihrer Texte.

Auch die als „Roman“ bzw. „Erzählung“ ausgewiesenen Bücher Kains, Atemnot (2001) bzw. Flüsterlieder (2006), entwickeln ein vielstimmiges Netz von Bezügen, ein „kunstvolles Geflecht von Erzählungen“, wie die Germanistin und Autorin Nicole Streitler-Kastberger, Herausgeberin der eben erschienenen Sondernummer der Rampe und Kuratorin der Ausstellung im Linzer Stifter-Haus, schreibt. Die Lektüre des schmalen Werks sowie der Beiträge der Rampe verdeutlichen die Komplexität, die Kain in eine Reihe mit großen Autorinnen wie Ingeborg Bachmann oder Ilse Aichinger stellt, denen sie in ihren Arbeiten sowohl direkte als auch indirekte Reverenzen erweist. Mit Aichinger verbindet sie der zuweilen schmerzhaft genaue Blick auf unausgesprochene Spannungen zwischen den Figuren, mit Bachmann die mythologische Durchdringung der Wirklichkeit, die selbst in den entrücktesten Momenten des Erzählens nie den Boden unter den Füßen verliert. „Es wird alles immer kürzer und dichter“, beschreibt Kain in einem Interview mit Helga Schager ihre Arbeitsweise, an deren Ende gleichermaßen wirklichkeitshaltige wie poetisch funkelnde Gebilde stehen.

Die Rampe-Sondernummer eröffnet vielfältige Zugänge zu Werk und Biographie Kains: Zentrale Motive wie das Wasser bzw. die Donau, Linz als Stadt- und Lebensraum, Arbeitswelten oder die literarischen Funktionen der Körperbilder, musikalische Bezüge, aber auch literaturbetriebliche Aspekte, Kains journalistische Tätigkeiten sowie Freundschafts- und Arbeitsbündnisse werden darin erörtert. Die hohe Intensität der Auseinandersetzung lässt erahnen, welch enormer Reichtum an Motiven und welcher Grad an poetischer Dichte sich in dem schmalen Werk versammelt finden. Kains Prosa verknüpft die Perspektive auf den Mikrokosmos Linz, der sie hervorgebracht und den sie wesentlich mitgestaltet hat, mit der Welthaltigkeit eines rastlosen Umherschweifens, sei es in Genua, der Bretagne, Irland oder aber in dem bei Eferding gelegenen Örtchen mit dem schottisch klingenden Namen „Unterhillinglah“.

Ein nicht geringer Verdienst der Publikation besteht im Wiederabdruck dreier Texte Kains: Den bereits erwähnten Text „Endstation Naßzone“ kann man ebenso nachlesen (und dabei die frühe Meisterinnenschaft der Autorin bewundern) wie den 1994 in der Rampe zu ihrem Vater Franz erschienenen „Vom Schwimmen in der Donau“, ein zentrales (auto-)biographisches Dokument. Ergänzt werden diese beiden durch den Text „Im toten Winkel der Zeit“, dem Bericht einer Reise zur deutschsprachigen Minderheit in der Ukraine. An diesem Text wird deutlich, wie sehr sich Kain dem Genre der literarischen Reportage in der Tradition von Joseph Roth verpflichtet fühlte. Wiederabgedruckt findet sich auch das einseitige Exposé jenes Projektes, das Eugenie Kain noch im Jahr vor ihrem Krebstod in Angriff genommen hatte: die biographische Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte einer vom NS-Regime zwangssterilisierten Frau, die 2009 in einem Linzer Altenheim gestorben war. Dieser Text hätte im Rahmen des ebenfalls von Joseph Roths Arbeiten inspirierten Projektes „MitSprache unterwegs. Literarische Reportagen“ (2010) realisiert werden sollen.

Nicht zuletzt wird auch die Persönlichkeit der Autorin gewürdigt, unter anderem in einem berührenden Erinnerungstext ihrer Tochter Katharina, der Eugenie offenbar die warme Lakonie ihrer Prosa erfolgreich weitervermittelt hat. Regina Pintar, die Verantwortliche des Veranstaltungsbereichs im Stifter-Haus und durch das Radio-Projekt „Anstifter“ über viele Jahre hinweg mit Eugenie Kain verbunden, vermittelt auf einfühlsame Weise ein Bild von der ebenso bescheidenen wie offenen Wesensart der Autorin: „Sie hat, ohne verschlossen zu sein, nie viel von sich erzählt, sie wirkte auf mich robust und zart zugleich, energisch und sensibel, bodenständig und elegant, naturliebend und urban. Sie war sozialkritisch und poetisch, sie war einfach komplex – wie ihre Texte.“ Eugenie Kain stirbt am 8. Jänner 2010 an den Folgen ihrer Krebserkrankung in Linz.

 

Ausstellung „Beim Schreiben werde ich mir fremd.“
Eugenie Kain (1960–2010)
Stifterhaus Linz
1. Dez 2020 – 27. Mai 2021 (Stand Redaktionsschluss)
Aktuelle Informationen: stifterhaus.at

Die Rampe – Porträt Eugenie Kain.
Hrsg: Nicole Streitler-Kastberger.
Adalbert-Stifter-Institut/StifterHaus – Literatur und Sprache in Oberösterreich.
Linz 2020. 184 Seiten. EUR 14,90.

Eugenie Kains Bücher Hohe Wasser, Flüsterlieder, Schneckenkönig und Atemnot sind im Otto Müller Verlag erhältlich.

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