Darwins Polyethylen

Mehrere Orchideen, sowie „der sichtbare oder verborgene Antagonismus von Natürlichkeit und Künstlichkeit“ sind noch bis 9. April 2021 in der Galerie Maerz zu sehen. Georg Wilbertz hat die Ausstellung von Rainer Noebauer-Kammerer besucht.

„Was immer sonst die Schönheit abbilden mag, zuallererst bildet sie die Sterblichkeit ab.“ (Robert Harrison)

Am Beginn seines wunderbaren Buches „Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen“ beschreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Harrison den Garten Eden als langweiligen Ort des dauerhaften Genusses und des puren Konsums. Das Paradies sagt vor allem Adam zu, während Eva sich langweilt und letztendlich erkennt, dass dies nicht alles sein kann. Dass Hingabe, Emotion und wirkliche Beziehungen in diesem Zustand, den wir irrtümlicherweise als paradiesisch bezeichnen, unmöglich sind. Eva will mehr; da kommen Sündenfall und Vertreibung aus der paradiesischen Öde gerade recht. Wir kennen die Geschichte. Aus ihr resultieren für Harrison wesentliche und im Vergleich zur christlichen Deutung ausschließlich positive Aspekte menschlichen Seins. So stellt die Vertreibung aus dem Garten Eden den Beginn der Wahrnehmung von Zeit dar. Das Erkennen zeitlicher Abläufe ist die unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung von Ratio und Emotion. Was menschliches Sein ausmacht, ist in Zeit und dem Bewusstsein für ihr Vergehen gebettet. Gleiches gilt für die Zyklen der Natur und deren Bedeutung für den Menschen. Für Adam hat dies laut Harrison massive Konsequenzen: „Aus dieser Ausweitung des Ichs in die Welt [durch die Vertreibung] wurde die Liebe zu etwas anderem als ihm [Adam] selbst und damit die menschliche Kultur als solche geboren.“ Geboren wurde auch das Prinzip der Cura, der Sorge, des Sich-Kümmerns, das den Menschen – richtig verstanden – in ein verantwortungsvolles Verhältnis zu den Dingen und Phänomenen außerhalb seiner selbst setzt.

Rainer Noebauers Ausstellung „Darwins Polyethylen“ handelt von vielem: der Frage nach „Original“ und Fälschung, den Potentialen von Imitation und Kopie und vor allem dem sichtbaren oder verborgenen Antagonismus von Natürlichkeit und Künstlichkeit. Und nicht nur, weil sie coronabedingt die bisher am längsten (nicht-) gezeigte Ausstellung in der Maerz ist (gehängt wurde sie am 3. November 2020), handelt sie vor allem von der Zeit, ihrem Verlauf, ihrem Vergehen und ihrer Wirkung auf Existenz. Mit dem Rauswurf aus dem Paradies wurde der Mensch in den endlosen Zyklus aus Befruchtung, Wachsen, Blüte, Reifung und Vergehen gestellt. Wollte er aktiver Teil dieses Zyklus werden und sich in das einpassen, was wir Natur nennen, musste er handhabbare kulturelle Techniken und Mechanismen entwickeln. Am Beginn dieser Entwicklung steht eben jene Cura, mit der sich der Mensch seiner Umwelt und seinesgleichen widmet. Fasst man Harrisons Thesen etwas brachial zusammen, so ist die Cura bzw. die Notwendigkeit, sie zu pflegen, die unmittelbare Folge der Vertreibung und die existentielle Voraussetzung für alles, was dann kommt. Die Fähigkeit zur Sorge bestimmt, dem Titel seines Buches folgend, das „Wesen des Menschen“. Rainer Noebauers Ausstellung „Darwins Polyethylen“ zeigt mit logischer Konsequenz (und entsprechend eindrücklich), was passiert, wenn wir die Cura auslassen oder versuchen, sie uns durch die „Kultivierung“ synthetischer Kopien des Lebendigen zu ersparen. Denn natürlich: sich sorgen macht Arbeit. Das fängt bei der kleinsten Blume an.

Kunst als Dokumentation
Noebauer wählt für seine Darstellung eine in den Naturwissenschaften längst etablierte Methode: die fotografisch dokumentierte Langzeitbeobachtung. An Tag 1 stehen sich zwei nahezu ident aussehende Orchideen gegenüber. Die Linke lebt und bedarf außerhalb der „freien Wildbahn“ der Sorge, die rechte ist aus Polyethylen. Nach 533 Tagen ohne Wasser und Düngung ist von der linken Orchidee nichts mehr übrig. Sie hat sich nach einem langen Prozess des Absterbens ins Nichts verflüchtigt, während sich ihr Plastikpendant einer ungebrochenen artifiziellen Frische erfreut. Nur Hausstaub könnte ihre visuelle Wirkung beeinträchtigen (dagegen gibt es allerdings -kein Scherz- Pflegemittel). Noebauers Polyethylen-Orchidee hat sich optisch dem Faktor Zeit (und damit Leben) entzogen. Sie ist damit nichts anderes als ein kleines Paradies in Plastik.

Und genauso skeptisch wie Eva dem Dauergenuss der immer gleichen Paradiesesfrüchte gegenüberstand, stehen wir der Plastikorchidee gegenüber. Möge sie noch so täuschend „echt“ wirken, dass man sie durch bloße Anschauung kaum als unnatürlich entlarven kann: es fehlt jedweder an den Faktor Zeit gebundene Prozess.

Darwin wörtlich genommen
Nähme man den Darwin aus Rainer Noebauers Ausstellungstitel ernst und reduzierte ihn auf die rein äußerliche Erscheinung beider Orchideen, hätte jene aus Polyethylen den „struggle for life“ für sich entschieden. Dies würde aber eine erneute, haarsträubende Vulgarisierung der Thesen Darwins bedeuten. Die Geschichte des Darwinismus ist voll davon. Womit eine der vielen möglichen politisch-gesellschaftlichen Konnotationen der Ausstellung angesprochen wäre.

Darwin entwickelt sein Konzept der Auslese und des Überlebens durch Anpassung und Zuchtwahl während der Ära der explodierenden Industrialisierung. Also genau zu der Zeit, als es dem Menschen durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt vermeintlich gelingt, sich mehr und mehr aus der Abhängigkeit natürlicher Faktoren und Rahmenbedingungen zu lösen bzw. diese mitzugestalten (nicht umsonst sprechen wir rund 200 Jahre später vom Anthropozän). Die Industrialisierung entwickelt nicht nur die synthetischen Stoffe (Polyethylen ist seit 1898 bekannt) aus denen schließlich eine Plastikblume wird, sie schafft auch die Produktionsbedingungen, die ihre massenweise Herstellung und Verbreitung ermöglichen. Der Aspekt der Quantität ist neben der Imitationsqualität nicht zu vernachlässigen. Erst die Möglichkeit, massenweise künstliche Natur zu produzieren, erlaubt es uns, sie als Surrogat für die „echte“ Natur, die ja genau durch diese Produktions- und Konsumprozesse gefährdet wird, ernstlich als „Ersatz“ in Erwägung zu ziehen. Dies schließt durchaus die digitalen und medialen Surrogate der jüngeren Zeit ein.

Ginge es also ausschließlich um das bloße „Überleben“ der visuell erfahrbaren Form, hätte die Plastikorchidee aus Noebauers Versuch in einem vulgärdarwinistischen Sinne „gewonnen“. (Darwinistisches) Leben definiert sich jedoch durch ein extrem komplexes Zusammenspiel aus Anpassungs-, Integrations- und Destruktionsprozessen. „Synthetische“ (künstlich oder mit Gewalt hergestellte) Gleichförmigkeit (Uniformität), Rassenreinheit, Volkszugehörigkeit etc. scheinen diese, für viele beängstigende Dynamik zwar auszuschließen oder zumindest zu mindern. Daraus erwächst aber die schon beschriebene Langeweile und „Reinheit“. Beziehungsweise: Für manche politisch-gesellschaftliche Kreise erfüllen sich die Utopien der Reinheit beispielsweise in Gebilden wie Österreich, Deutschland oder wie auch immer die nationalen „Paradiese“ auch heißen mögen.

Ästhetik des Vergänglichen
Am Ende des dokumentierten Sterbeprozesses der echten Orchidee bleibt von ihr ein leerer Blumentopf. Und trotz der Leere (oder gerade wegen ihr) strahlt diese „Fehlstelle“ mehr Würde aus, als es die lächerliche Starre der künstlichen Blume je vermöchte. Um sie zum Verschwinden zu bringen, bedarf es eines deutlich größeren, aggressiveren Aufwandes, als es die „nur“ natürlichen Zersetzungsprozesse je bieten könnten. Genauso artifiziell, wie die Polyethylenorchidee geschaffen wurde, muss man ihr zu Leibe rücken, will man sie wieder loswerden (in der Natur dauert dies eine kleine Ewigkeit). Noebauer wählt das Mittel der „thermoplastischen Verrottung“ bei 120, 500 und 1200 Grad. In beiden letzteren Fällen kommt es zwar zu teilweise heftigen, fast karikaturhaften Verformungen, die grundsätzliche Materialität bleibt jedoch – erkennbar – erhalten. Da hilft dann nur noch schreddern.

All diese Phänomene und Prozesse unterzieht Rainer Noebauer in seiner Ausstellung einer Ästhetisierung, die mit den fast klassischen Mitteln von Rahmung, Hängung und Präsentation im Raum der Maerz die Versuchsanordnung und das künstlerische Ergebnis auf nahezu ideale Weise erfahrbar macht. Ergänzt wird die fotografische Dokumentation des Orchideen-Verfalls durch aus der Wissenschaft bekannte Formen der Systematisierung und Katalogisierung. Wenn Noebauer aus den Resten der echten und der künstlichen Orchidee jeweils farblich sortierte Substrate gewinnt, diese in Reagenzgläser füllt und in der Ausstellung zeigt, wird der ironische Unterton des gesamten Unternehmens deutlich.

Bis zur Erfindung fotografischer, synthetischer oder digitaler Surrogate von Natur war es in vormodernen Zeiten der Kunst und dem Handwerk vorbehalten, „Momentaufnahmen“ des Natürlichen in Form von zwei- oder dreidimensionalen Abbildern zu konservieren und mit künstlerischer Bedeutung aufzuladen. Zwischen der Natur und ihrem Abbild bestand eine klar definierte Grenze, auch wenn das Ideal der perfekten, mimetischen Naturnachahmung bis zu den Frühphasen der Moderne zumindest als wirksamer Hintergrund künstlerischer Produktion eine bedeutende Rolle hatte. Auch mit diesem Aspekt spielt Rainer Noebauer in seiner Ausstellung, die aufgrund tiefgreifender natürlich-viraler Effekte das Schicksal anderer „Geisterausstellungen“ teilen muss. Aber vielleicht steckt ja sogar darin ein tieferer Sinn.

 

Darwins Polyethylen
Rainer Noebauer-Kammerer
Galerie MAERZ
Ausstellung noch bis 9. April 2021
Aktuelle Bestimmungen bez. Corona-Maßnahmen: Ein Besuch der Ausstellung ist mit FFP-2-Maske während der Öffnungszeiten möglich.

Weitere Infos: www.maerz.at/event/darwins-polyethylen-rainer-noebauer-kammerer

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