Versuch einer Visuali­sierung des Unfassbaren

Es ist schwer, sich diesen Film anzuschauen. Surviving Gusen von Gerald Harringer und Johannes Pröll läuft dieses Jahr bei Crossing Europe als einer der Eröffnungsfilme. Eindrücke von Melanie Letschnig.

Noch bevor eine Aufblende die gewaltig schäumende Gischt des Meeres aus Vogelperspektive zeigt, hören wir das Rauschen. Überlagert von sphärischer Musik, spricht ein Überlebender im Voice-over zu uns: „My name is Karl Littner. I was born in Auschwitz in Poland at January 15, 1924. I tell you something …“. Und er erzählt, dass ihm Ruth 1998 einen Computer gekauft hat, er aber keinen braucht, wofür braucht er einen Computer, fragt Karl Littner. Zu diesem Zeitpunkt befinden wir uns bereits in seiner Wohnstraße in Los Angeles, eine Kamerafahrt führt zu seinem Haus und da sitzt er und berichtet, dass er im Alter angefangen hat zu schreiben. Worüber, wird sich im Laufe des Films herausstellen.

Karl Littner ist einer von drei im Film porträtierten Menschen, die Gusen überlebt haben. Er, Stanislaw Leszczynski und Dušan Stefancic sind die Zeitzeugen, mit denen die Filmemacher Gerald Harringer und Johannes Pröll in Surviving Gusen sprechen. Der Ort, der heute um die 800 Einwohner_innen zählt, liegt in der Nähe von Linz, im Mühlviertel. 1939 wurde der Bau des Konzentrationslagers in die Wege geleitet. Gusen I und II und Gusen III in der Ortschaft Lungitz – nur wenige Kilometer entfernt – galten als sogenannte Nebenlager des KZ Mauthausen. Von 1939 bis 1945 wurden mindestens 71.000 Menschen nach Gusen deportiert. Wo früher die Lager I und II standen, wurde nach dem 2. Weltkrieg eine Einfamilienhaussiedlung errichtet. Die Regisseure veranschaulichen dies durch das Einblenden eines historischen Schwarz-Weiß-Fotos, dessen Areal mit den Häusern in Farbe überlagert wird. Die ehemalige Stätte der Menschenvernichtung wurde auf ein kleines Areal des Gedenkens zusammengeschmolzen, der Rest Opfer der Ortsgestaltung.

Todeswege, Lebenszeit
Ein Phantom Ride in der Nacht, der den Hintergrund für den Vorspann bildet, schält sich in einen trüben Tag, der eine Schneelandschaft freilegt. Ein Zug gleitet durch sie hindurch und die Stimmen von Peter Simonischek und Maria Hofstätter sprechen den ersten Augenzeug_innenbericht – unprätentiös ist der Ton der beiden Schauspieler_innen den gesamten Film über, kein betroffenes Outrieren, kein Dramatisieren. Was die beiden vortragen, ist von sich aus gewichtig. Die Rede ist von Zügen, die in Bahnhöfen stehen bleiben, weil das Lager Mauthausen überfüllt ist. Dazu erneut eine Vogelperspektive, die mehrere Schienenstränge ins Blickfeld rückt – ein abstrahierender Verweis darauf, dass das ab nun Gesagte mit Bildern eigentlich nicht zu fassen ist. Berichtet wird über die Kälte und das Zusammengepferchtsein im Waggon, über das Töten der Schwächeren, um Platz zu schaffen, während die Kamera ruhig, langsam und bestimmt über die Winterlandschaft zieht. Das Textmaterial, das mit den Bildern arbeitet, entnehmen die Regisseure biographischen Aufzeichnungen wie jener von Karl Littner, Büchern über die Geschichte der Zeit des Nationalsozialismus im Mühlviertel, Briefen, Interviews, einem Polizeibericht vom Jänner 1945 über die Maurerwirtin in Rainbach im Mühlkreis, die einen bei ihr durch die SS inhaftierten Häftling verbotener Weise mit Essen versorgte.

Die Visualisierungen und Klänge, mit denen Gerald Harringer, Johannes Pröll und Fadi Dorninger (verantwortlich für Musik und Sounds) die Unmenschlichkeit von Gusen vermitteln, sind vielschichtig. Sie evozieren Stimmungen und appellieren an ein wachsames Geschichtsbewusstsein. Beispielsweise, wenn historische Fotografien des Lagers Gusen mit Bildern der jüngsten Vergangenheit aus demselben Blickwinkel überblendet werden. Dort, wo früher das Jourhaus – der Haupteingang – von Gusen I stand, befindet sich nun ein herrschaftlich anmutendes Wohnhaus.1 Es ist nicht die Banalität des Bösen, die hier gezeigt wird, sondern die Architektur eines Staates, der Wiederaufbaucamouflage als Bewältigungsstrategie kultiviert. Durch die langsame Annäherung der Kamera und die wechselnden Perspektiven – aus der Luft, auf Augenhöhe, durch Fahrten – wird der Eindruck vom Ortsbild Gusens immer dichter.

Eindringlich und erschütternd sind die Schilderungen der Überlebenden vor der Kamera. Dušan Stefancic, der auf einer Parkbank sitzend erzählt, wie er im sogenannten Bergkristall-Stollen, zu dessen Errichtung die KZ-Häftlinge gezwungen wurden, für die Nazis in der Messerschmitt-Flugzeugproduktion zwangsarbeiten musste, als eine Sirene losgeht. Der Überlebende macht eine wissende Geste, schaut auf die Armbanduhr, sagt „Mittag“, und blickt in die Kamera. Es ist spürbar, in welcher Form sich dieses Geräusch in Dušan Stefancics Gedächtnis eingeschrieben hat und wie unbedeutend, höchstens nervig es für uns ist, die wir den Krieg nicht erlebt haben.
Stanislaw Leszczynski, der erzählt, wie er entkräftet während des Tragens von Schienensträngen zusammenbrach und auf einen Haufen Toter geworfen wurde, und wie ein Hilfskapo gesehen hat, dass er noch lebt, ihn vom Haufen runterzog und gemeinsam mit einem Anderen in die Donau tauchte, damit er sein Bewusstsein wiedererlangt.
Karl Littner, wie er in die Kamera sagt, sein Widerstand bestand im Überleben. Für alles andere fehlte die Kraft.

Immer wieder klingt diese schwerwiegende Erschöpfung durch, die die Menschen auf den Märschen und in den Lagern erfasst. Ein Augenzeug_innenbericht beschreibt den Wunsch, sich am Wegesrand niederzulassen und erschossen zu werden, weil Körper und Geist das qualvolle Sterben nicht mehr ertragen können. Kälte ist allgegenwärtig. Leben oder Tod entscheidet sich in den letzten Tagen des Krieges innerhalb nur eines Tages, als die SS-Leute das Lager schon verlassen, die Alliierten noch unterwegs sind.
Der Film endet dort, wo er begonnen hat – in Santa Monica, Los Angeles. Wir sehen das ruhige Meer und den wunderschönen Himmel, den weitläufigen Strand und hören, wie Peter Simonischek jene Passage aus Karl Littners Memoiren ‟Life Hanging on a Spider Web – From Auschwitz-Zasole to Gusen II“2 vorliest, in der der Autor seiner Liebe und Begeisterung für seine neue Heimat Ausdruck verleiht. Eine Überlebensgeschichte, die uns als Zuschauer_innen teilhaben lässt an dieser Freiheit.

Wir müssen
Es ist schwer, sich diesen Film anzuschauen. Aber wichtig ist es auch. Sehr wichtig. Weil die Zeug_innenschaft der Menschen, die sprechen und gesprochen werden, mit dem Fortschreiten der Zeit an Gewicht zu verlieren droht. Leugnung und Relativierung durch rechte Gruppen, auch durch die sogenannte Mitte wirkt seit Jahrzehnten an einer Aushöhlung von Substanz mit, die die systematisch Ermordeten und die Überlebenden Zeit ihres Lebens tragen müssen. Die derzeit allerorts um sich greifende Formierung demokratiefeindlicher Gruppen, die sich selbst über einen kruden Hyperindividualismus als Entrechtete definieren und damit die Geschichte derer in den Dreck ziehen, die getötet wurden, ist nur ein hinzugekommener Baustein in dieser Verdrehung der Sicht auf historische Ereignisse. Es ist zu begrüßen, dass sich von ziviler Seite Protest dagegen formiert. Die staatlichen Instanzen sind im Setzen von Maßnahmen gegen diese brandgefährlichen Tendenzen bekanntlich eher zögerlich.
Ignoranz, egal von wem, ist unangebracht. „Die Wahrheit muss gesagt werden“, so Stanislaw Leszczynski in einer der letzten Szenen des Films. Er sagt auch, es braucht Versöhnung, und für Versöhnung braucht es Vertrauen. Dieses Vertrauen setzt Dušan Stefancic in junge Generation, wie er Alexander van der Bellen in einem Gespräch mitteilt, das 2017 am Rande eines Gedenktreffens in Gusen stattfand.
Wir müssen diese versöhnliche Großzügigkeit der Überlebenden annehmen. Sie ist ein übermenschliches Geschenk.

 

1 An dieser Stelle sei auf die Webseite zum Film verwiesen, die neben den Produktionsdaten Hintergrundmaterial zur Verfügung stellt, das den_die User_in in den Komplex Gusen einführt www.surviving-gusen.com, aufgerufen am 1. Mai 2021.
2 Das Buch wurde herausgegeben von Rudolf A. Haunschmied und ist 2011 bei BoD – Books on Demand erschienen.

Das Filmfestival Crossing Europe wurde am 1. Juni in Linz eröffnet. Mehr zu allen Eröffnungsfilmen, zur diesjährigen Programmierung, zu Programmschienen und Schwerpunkten, zum Bewerb und zum Festival selbst unter: www.crossingeurope.at

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