18 Jahre Crossing Europe
Mit Crossing reist sie mit uns durch Europa: Christine Dollhofer kennt den europäischen Film wie kaum jemand sonst. 18 Jahre hat die gebürtige Welserin und Kosmopolitin das Festival Crossing Europe in Linz geleitet, ab Anfang November wird sie den Filmfonds Wien übernehmen. Silvana Steinbacher hat Christine Dollhofer getroffen.
Heuer werden Sie Crossing Europe zum letzten Mal leiten. In diesem Jahr startet das Festival pandemiebedingt erst am 1. Juni. Wie sehr müssen und mussten Sie denn inhaltlich gesehen das Festival reduzieren?
Das ganze Team und auch ich sind schon in Vorfreude ein physisches Festival abhalten zu können, und aus heutiger Perspektive schaut es ja gut aus. Wir haben diesmal „nur“ 123 Filme, etwas weniger als vergangenes Jahr. Konzeptuell hat sich wenig verändert. Wir haben die Highlights aus Europa, die Jugendschiene, die Local Artists also Filme mit Oberösterreich-Bezug, Filme zum Thema Arbeitswelten, Architektur und Gesellschaft. In allen Sektionen wurde etwas gekürzt, aber das Programmschema ist nach wie vor gleichgeblieben, so wie in den vergangenen Jahren.
Vom Ablauf können Sie nur eingeschränkt agieren, aber Sie haben sich Alternativen einfallen lassen.
Wir haben ein ausgeklügeltes Präventionskonzept, dass sich natürlich nach den gesetzlichen Vorgaben richtet: 50 Prozent Auslastung in den Spielstätten, Maske, Abstand, „Schachbrett-Platzvergabe“, aller Wahrscheinlichkeit Eintrittstests etc. Zum Glück können wir heuer das Central Linz als zusätzlichen Saal anbieten. Die Sperrstunde um 22 Uhr wird natürlich unsere Programmierung einschränken, die Spätvorstellungen müssen aus diesem Grund entfallen, aber stattdessen gibt es Frühstücksfestival ab 9:30 Uhr. Wir werden Talks, Preisverleihung auch auf DORFTV streamen: Für all jene, die noch nicht den Drang haben, ein Festival zu besuchen, stellen wir von 6. Juni bis 6. Juli auch ein Online-Angebot auf der österreichischen Streamingplattform KINO VOD CLUB zur Verfügung, das war mir sehr wichtig.
Bei den Einladungen der Filmgäste müssen wir natürlich auch Vorsicht walten lassen, und konzentrieren uns eher auf die Nachbarländer. Wir freuen uns aber, dass sich unter den gegebenen Umständen bereits zahlreiche Film- und Branchengäste akkreditiert haben.
Welche Bilanz dieser vielen Jahre, die Sie Crossing Europe geleitet haben, würden Sie ziehen?
Es war ein Pionierprojekt auf Initiative von Wolfgang Steininger, der mich nach meiner Leitung der Diagonale gefragt hat, ob ich nicht ein Festival in Linz aufbauen möchte. 2003 haben wir dann das Festival aus dem Boden gestampft. Wichtig war mir der Blick über die Grenzen hinaus, der Europaschwerpunkt, das innovative Kino aus Europa, vorwiegend Filme zu zeigen, die im regulären Kino nicht zu sehen sind; schließlich werden pro Jahr in Europa 1600 Kinofilme produziert. Es war die kuratorische Aufgabe, neue Blickwinkel auf Europa zu werfen, und wir wollten lokale Player mit an Bord haben. Innerhalb dieser 18 Jahre sind schöne Beziehungen entstanden. Rückblickend gesehen hatten wir viele Erstlingsfilme von Regisseur*innen im Programm, die mittlerweile eine internationale Karriere gemacht haben, beispielsweise Alice Rohrwacher, Maren Ade oder Ruben Östlund. Natürlich haben wir nicht deren Karrieren beeinflusst, aber doch ein gutes Gespür bewiesen.
Ist die Frage Ihrer Nachfolge schon entschieden?
Es wird noch einige Wochen dauern, bis wir eine Entscheidung über die Nachfolge getroffen haben. Das Moviemento als Hauptgesellschafter und Crossing Europe werden das über den Sommer gemeinsam erarbeiten. Jetzt gilt es zuerst einmal diese schwierige Festivalausgabe erfolgreich zu meistern.
Haben Sie eigentlich innerhalb dieser 18 Jahre, die Sie das Festival geleitet haben, einen ästhetischen Wandel, eine neue Herangehensweise an Filme beobachtet?
Es werden mehr Dokumentarfilme fürs Kino produziert, das liegt hauptsächlich an ökonomischen Bedingungen, denn die Produktionsmittel sind geringer und besser verfügbar, für Spielfilme benötigt es größere Budgets, und auch einen größeren MitarbeiterInnenstab. Dokumentarfilmkonzepte sind wendiger und können rascher auf aktuelle Ereignisse reagieren. Aber generell verschwimmen auch die Kategorien Dokumentarfilm und Spielfilm, der hybride Film ist stark im Trend, also das Arbeiten mit Laiendarsteller*innen, reale Settings werden fiktionalisiert.
Es wird auch viel mehr koproduziert, weniger Europudding, sondern mehr Augenmerk auf die Zusammenarbeit von Kreativen auf allen Ebenen, hier haben sicherlich auch die Creative Europe Programme der EU Vorschub geleistet.
Vergangenes Jahr musste Crossing Europe – wie auch andere Kulturfestivals – im Netz stattfinden. Wie würden Sie dahingehend Ihre Erfahrungen beschreiben?
Wir mussten kurzfristig alles absagen. Daraufhin haben wir zwei Angebote geliefert. Zuerst eine kleine Online-Edition, ein Querschnitt aus dem geplanten Programm. Im Herbst haben wir die Crossing Europe Extracts Reihe gestartet, und konnten dadurch noch zwei Drittel unseres Programms vor Publikum im Kino präsentieren.
Vergangenes Jahr waren alle froh, dass es Alternativangebote gab, jetzt freuen wir uns, wenn das Festival mit Publikum stattfinden kann.
Ein Schwerpunkt ist bei Crossing Europe den Arbeitswelten gewidmet. Welche Themen sind denn derzeit im Film virulent?
Auch schon in den Anfangsjahren stand der Strukturwandel – ein Dauerthema – im Zentrum. Weiters haben RegisseurInnen unter anderem den organisierten Kampf der ArbeiterInnen auf die Leinwand gebracht, Industrieregionen, die sich neu organisieren müssen. Hinzu kommen Dokus über Bewerbungsgespräche, Weiterbildung, die Ich-AGs, das „Sich-besser-verkaufen-Müssen“, die Abgehängten, die bei diesem rasanten Wandel nicht mehr mitkommen, Digitalisierung, Jugendarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit. Doch es sind nicht nur problembehaftete systemrelevante Themen: Viele Filme stellen in verschiedenen Ausformungen ein Empowerment in den Mittelpunkt, Entwicklungen, die MutmacherInnen und „Best practice“-Modelle in den Vordergrund rücken.
Kommen wir zu Ihrer neuen Funktion, die Sie mit Anfang November beginnen werden und zu der ich Sie hier beglückwünschen will. Der Start in eine Leitungsposition, welcher Art auch immer, ist meist mit neuen Ideen und Konzepten der neuen Leitung verbunden. Welche sind Ihre Schwerpunkte in Wien?
Derzeit leitet Gerlinde Seitner noch den Filmfonds Wien, insofern möchte ich nicht mit Konzepten und Ideen reingrätschen. Eine Förderinstitution arbeitet gemäß den gesetzlichen Richtlinien, und somit sind Änderungen auch nur in Abstimmung mit der Politik und dem Kuratorium möglich.
Wir wissen, die gesamte Branche verändert sich rasant. Ich denke an die Streaming-Plattformen, die einen enormen Marktzuwachs verzeichnen. Auch bei den Fernsehkanälen beobachten wir einen Übergang vom vorgegebenen Sendeschema zur individuellen Auswahl durch deren Mediatheken. Nischenprodukte und Nischenanbieter sind wichtig geworden, die Herausforderung bleibt dabei sein Publikum zu finden. Auch für das Publikum ist es unübersichtlich geworden, sich zurechtzufinden. Die Kernfrage, die sich stellt, lautet daher: Wie findet das Publikum mich und ich mein Publikum?
Aufgrund dieses vielgestaltigen und rasanten Wandels ist der Blick in die Zukunft unvermeidlich. Modelle müssen entwickelt werden, wie man auf diese Veränderung reagieren kann.
Ich habe manchmal den Eindruck, manche TV-Filme könnten bezüglich des Drehbuchs und der Regie mutiger agieren. Ist der Ansatz, einen TV-Film auf ein Durchschnittspublikum „zuzuschneiden“, nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt?
Es hat jede und jeder andere Bedürfnisse. Manche wollen beim Einstieg schon wissen, was sie bekommen, andere lassen sich lieber überraschen. Daher hat der Unterhaltungsfilm genauso seine Berechtigung wie der innovative oder eher exzentrischere Film. Global gesehen ist mehr Diversität, Gendergerechtigkeit und Inklusion vor und hinter der Kamera, also auch inhaltlich ein Bestreben der Film- und Medienbranche.
Der Filmfonds Wien bezeichnet sich selbst mit 11,5 Millionen Euro Fördersumme pro Jahr als eine der höchstdotierten regionalen Filmförderstellen Europas. Dennoch sind immer wieder Klagen seitens der Filmschaffenden zu hören, es sei schwierig, in Österreich einen Film, welcher Art auch immer zu realisieren. Worauf führen Sie das zurück?
Ein klassischer Kinospielfilm braucht verschiedene Finanzierungssäulen, und das macht die Herstellung eines Films so komplex und langwierig. Es werden auch viel mehr Projekte eingereicht als noch vor einigen Jahren. Im Schnitt werden 50 Prozent der eingereichten Projekte gefördert. Der Wettbewerb ist generell überall sehr groß.
Das Kino wird seit Jahrzehnten totgesagt, jetzt durch die Pandemie und die monatelangen Schließungen haben sich diese Diskussionen noch einmal zugespitzt, wie stehen Sie dazu?
Ich denke es ist ein Zusammenspiel von zwei Komponenten. Ein Kinobesuch, so wie wir ihn kennen, bedeutet sich gemeinsam etwas anzuschauen, man besucht einen Ort, den man schätzt, wo man weiß, ich bekomme ein Programm geboten, das mir entspricht, ich treffe Gleichgesinnte. Kino ist niederschwellig, man muss sich nicht schön anziehen, kann sich spontan entscheiden. Das Kino der Zukunft muss sich immer wieder überlegen, wie kann ich mein Publikum erweitern, welche Angebote inhaltlicher und struktureller Natur – zum Beispiel auch gastronomische – soll ich schaffen.
Trotzdem, und das muss uns bewusst sein, wird sich einiges ins Netz verlagern, es wird eine Filmauswertung auch parallel stattfinden und sich die Rezeption von Filmen verändern. Aber auch die Theater, die Oper wurden schon totgesagt und genauso wie diese Orte der Kultur nach wie vor Bestand haben, wird auch das Kino überleben. Es wird das Eventkino mit seinen Special Effects, der tollen Tonqualität und Riesenleinwand genauso geben wie das „personalisierte“ Programmkino, das diverse Zielgruppen im Auge hat und stark kuratorisch arbeitet. Das muss jedoch auch entsprechend finanziell unterstützt werden.
Gibt es eigentlich Filme, die Sie nachhaltig geprägt oder fasziniert haben?
Meine Lieblingsfilme verändern sich immer wieder, dadurch fällt es schwer einzelne herauszugreifen. In jungen Jahren war das Fernsehen mit seinen vier Kanälen zentrale Bildungsanstalt. Hinzu kam das reale Kinoerlebnis, welches während meiner Studienzeit in Wien durch das große Angebot an Bedeutung gewonnen hat. Schließlich wurde die Liebe zum Film zum Beruf, beginnend mit der Leitung des Programmkinos Filmcasino in Wien.
Ich kann prinzipiell sagen, dass ich alle filmischen Formen und Genres schätze, in der Vielgestaltigkeit dieses Mediums liegt die Anziehungskraft. Mir ist ein handwerklich gesehen unvollkommener Film, der etwas wagt, im Zweifelsfall lieber als ein „perfekter“, bei dem ich nach ein bis zwei Szenen sofort weiß, welches „Strickmuster“ vorliegt und was in weiterer Folge passiert.
CROSSING EUROPE Filmfestival Linz: 1. – 6. Juni 2021
CROSSING EUROPE VOD-Premieren auf KINO VOD CLUB: 6. Juni – 6. Juli 2021
Ab 20. Mai: Programm online & Start des Online-Ticketverkaufs
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