Leo Rothziegel und die Revolution

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über AnarchistInnen, ProtagonistInnen von frühen ArbeiterInnenbewegungen und erste kämpferisch-soziale Bewegungen. In dieser Ausgabe schreibt Peter Haumer über einen der schillerndsten Revolutionäre, den 1892 geborenen Leo Rothziegel – und dessen 1918 verfasste Artikelserie zur sozialen Revolution.

Revolutionen sind Zeitfenster der Geschichte, sie eröffnen die Möglichkeit, neue Wege zu beschreiten. Die Geschichte gibt uns eine Chance auf ungeheure Ausdehnungen und Wirkungen. Unsere kapitalistische Welt steuert einmal mehr auf eine Katastrophe zu und es werden sich wieder Zeitfenster öffnen, in denen die Chance besteht, mögliche Alternativen zum drohenden Kollaps in die Tat umzusetzen. Die Gelegenheit zu nützen, um in den Lauf der Dinge einzugreifen – davor steht dann jede/r einzelne von uns, mit einer großen Eigenverantwortung!

Diese Situation ist nicht neu. Im Laufe der Geschichte öffneten sich immer wieder Gelegenheiten, aber für die davon betroffenen Menschen war, ist und wird dieser Umstand immer neu und oft überfordernd sein. Aber einen Blick durch vergangene Zeitfenster zu werfen, um daraus die eine oder andere Lehre zu ziehen, sei hier gestattet. Auch wenn die Warnung nicht oft genug ausgesprochen werden kann, dass vergangene Zeiten vergangen sind und jede Revolution neu begriffen werden und ihr jeweiliges Räderwerk neu erkannt werden muss.

Leo Rothziegel …
… wurde am 5. Dezember 1892 in eine proletarisch-jüdischen Familie in Wien geboren und arbeitete später als Buchdruckergehilfe. Er hat wie viele andere den Blick durch eines der Zeitfenster der sozialen Revolution geworfen und hat auch darüber geschrieben. Er war Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterjugend, wurde aufgrund seiner radikalen Ideen aus dieser ausgeschlossen und bereits 1910 von der Polizei als anarchokommunistischer Revolutionär registriert. Während des Ersten Weltkriegs wurde er zur Infanterie einberufen. Er desertierte, lebte illegal in Wien und kämpfte gegen den Krieg. Nach dem Jännerstreik 1918 wurde er erneut verhaftet und verbrachte sieben Monate im Gefängnis. Er wurde durch die Revolution Ende 1918 befreit, beteiligte sich am Aufbau der Roten Garde und war Gründungsmitglied der Föderation Revolutionärer Sozialisten Internationale (F. R. S. I.). Nach der Ausrufung der ungarischen Räterepublik am 21. März 1919 stellte er ein 1200 Mann starkes Bataillon auf, an dessen Spitze er am Kampf gegen die Konterrevolution in Debrecen teilnahm. Er hatte versucht, in den Lauf der Dinge einzugreifen, und er fiel am 22. April 1919 gemeinsam mit mehr als 720 Genossen des 2. Internationalen Roten Regiments der Wiener Kommunisten in Ungarn.

… und die soziale Revolution.
November 1918: Die österreichische Revolution ist noch jung, unerfahren und voller Widersprüche. Rothziegel stand mit Gleichgesinnten an der Spitze der F. R. S. I., deren Zweck es war, alle revolutionär-sozialistischen Kräfte zusammenzufassen. In ihrer Wochenzeitung Der Freie Arbeiter schrieben sie: „Das Ziel ist die soziale Revolution, das heißt die Überführung des Grund und Bodens, der Produktions- und Verkehrsmittel aus den Händen der Kapitalisten in den Besitz der Arbeitenden. Wir erstreben die soziale Republik der Arbeitenden durch Abschaffung der Klassenherrschaft.“1
Ihr Tätigkeitsprogramm bestand aus vier Punkten: „1. Verbreitung sozialistischer Erkenntnis und Erweckung revolutionären Kampfwillens. 2. Nachweis der Nutzlosigkeit des Kompromisses mit den bürgerlichen Parteien. 3. Bildung von Propaganda- und Tatgruppen in den Betrieben und Kasernen. 4. Schaffung von sozialistischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten.“2
Rothziegel versuchte in der dreiteiligen Artikelserie „Die soziale Revolution“ dieses Tätigkeitsprogramm zu erklären – auch um sich selbst besser begreifen zu lernen! Sie redeten schließlich nicht über theoretische Eventualitäten. Im Gegenteil, sie befanden sich mitten in einem Sturmgewitter, um sie herum überzogen nationale und politische Revolutionen Europa und Asien, im zaristischen Russland stürzte eine soziale Revolution die Kapitalisten und Gutsbesitzer! Junge Republiken erstanden aus den Trümmern der Monarchien – die nationale und politische Revolution war auf der ganzen Linie siegreich.

Doch Leo Rothziegel stellte fest, dass der bisherige Verlauf der Revolution an den Grundlagen des wirtschaftlichen Lebens nichts geändert habe. Es solle niemand glauben, dass neben der Ära der politischen Freiheit nun auch die Zeit sozialer Gleichberechtigung angebrochen sei. Wohl wurden die Grenzen verschoben, Regierungen gewechselt, Verfassungen geändert, wirtschaftlich seien die Verhältnisse dieselben wir vor und während des Ersten Weltkrieges. „Sollen sie anders werden, muss eine soziale Revolution die Gesellschaft von Grund auf ändern.“3 Er fragte, was denn „soziale Revolution“ heiße, und er antwortete, dass dies die Besitzergreifung des Grund und Bodens, der Produktionsmittel und Werkzeuge, Bergwerke, Fabriken, Häuser und Verkehrsmittel, kurz des gesamten gesellschaftlichen Reichtums durch das arbeitende Volk bedeute.

„Diesen Zustand zu verwirklichen setzt aber voraus, dass die bisher Ausgebeuteten nicht nur imstande sind den jetzigen Zustand zu beseitigen, sondern dass sie auch die Fähigkeit haben, die Produktion und die Verteilung des Volksreichtums zu übernehmen. Wer da glaubt, durch die Veränderung der Regierung und durch Erlässe derselben die Realisierung des Sozialismus herbeizuführen, vergisst, dass dies eben nur eine politische, nicht aber eine soziale Revolution bedeute.“4 Die Vorbedingung einer sozialen Revolution sei daher die Durchdringung des Volkes mit sozialistischen Ideen. Die ArbeiterInnen müssten bereit sein, die Verwaltung der Fabriken zu übernehmen. Rothziegel stellte fest, dass in diesen Zeiten der Umbrüche die Menschen in einigen Tagen mehr lernen, als sie sonst in Jahren erkannten und es wäre dringend notwendig, die ArbeiterInnen aufzufordern, sich in ihren Betrieben zu vereinigen und mit der Möglichkeit der Übernahme der Produktion zu rechnen. „Durch die Wahl von Arbeiterräten soll diese Entwicklung organisiert und beschleunigt werden.“5

Rothziegel, der in Wien als selbstbewusster Revolutionsführer galt – großmäulig und wortgewaltig, elastisch und ausdauernd – war kein Träumer, und er erkannte, dass bis jetzt keine Organisation der ArbeiterInnen sich mit der Frage der Übernahme der Produktion befasst hatte. Die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie hatten sich nie mit derartigen Möglichkeiten beschäftigt. In der sozialdemokratischen Partei war bereits 1918 der Gedanke der sozialen Revolution tot, die Ideale des Sozialismus längst begraben. Von ihr zu erwarten, den Sozialismus auf irgendeine Art herbeizuführen, wäre eine törichte Illusion. Aber die Sozialisierung der Gesellschaft wäre nur möglich, wenn der Gedanke des Sozialismus im Geiste der ArbeiterInnenklasse lebt, schafft und wirkt. Was also tun, um die Gunst der Stunde nützen zu können?

Rothziegel stellte fest, dass vierzig Jahre österreichische Arbeiterbewegung nicht imstande waren, die Gedanken und Handlungen des Proletariats mit sozialistischem Geist zu erfüllen, so dass im gegenwärtigen, entscheidenden Augenblick jede Aktion lahmgelegt, oder von denen, die sich Sozialisten nennen, hintertrieben und unmöglich gemacht wurde. „Wir stehen auf Brachland, oder was noch schlimmer für uns ist: im Sumpf,“6 und man sei daher gezwungen, von vorne zu beginnen. Jetzt komme es darauf an, dass die Bewegung sich nicht damit begnüge, neue Theorien auszuhecken, sondern das als richtig Erkannte in die Tat umzusetzen. „Heißt Sozialismus, dass Grund und Boden und Häuser in den Besitz des Volkes übergehen, so muss das Volk sich des brachliegenden Bodens und der leerstehenden Häuser bemächtigen, dieses Land bebauen, die Häuser bewohnen; die Bewohner eines Mietshauses müssten das Haus als ihren Besitz erklären und alle Abgaben an den Hausherrn verweigern.“7

Eine solche Bewegung hätte die Zukunft für sich. Sei bisher durch jahrzehntelanges Organisieren nichts in Richtung Verwirklichung des Sozialismus geschehen, so würde durch eine solche Bewegung der sozialistischen Tat das, was bisher graue Theorie war, in das Leben des Volkes eindringen. Durch die Tat würde in wenigen Monaten ein besserer Anschauungsunterricht erteilt werden, als es jahrzehntelange Erziehung zu leisten imstande war.

Rothziegel resümierte abschließend: „Wir scheinen am Beginn der sozialen Revolution zu stehen. Dies ist kein Werk von heute auf morgen. Jahre wird es dauern, bis alle Schäden des kapitalistischen Systems verschwinden (…) macht in den Fabriken, in denen ihr robottet, in den Häusern, in denen ihr Zins zahlt, den Sozialismus zur Wirklichkeit.“8

Rothziegel bezahlte seinen Aufruf zur Propaganda der Tat mit seinem Leben. Viele seiner FreundInnen rieten ihm ab, nach Ungarn zu gehen, sein Talent als Redner und Agitator sei in Wien gerade in der sozialrevolutionären Phase der österreichischen Revolution bitter von Nöten. Das Zeitfenster für die soziale Revolution in Österreich schloss sich ungenutzt dann wieder mit August 1919. Leo Rothziegel erlebte dies allerdings nicht mehr.

 

1 Der Freie Arbeiter, Nr. 3, Wien, 23. 11. 1918, S. 24
2 Ebenda.
3 Der Freie Arbeiter, 23. 11. 1918.
4 Der Freie Arbeiter, 30. 11. 1918.
5 Ebenda.
6 Der Freie Arbeiter, 7. 12. 1918.
7 Ebenda.
8 Ebenda.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

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