Hungrig in Linz

Kennt ihr das auch? Wieder mal von einer tollen Party heimgelaufen und dieses hungrige Gefühl geht nicht weg. Oder allein zu Hause auf der Couch im Winter im Lockdown und trotz vollem Magen – hungrig. Wie gerne würdet ihr wen zum Schmusen neben euch haben? Aber ihr sitzt wieder allein zu Hause (oder vielleicht sogar neben dem*der Partner*in) und fühlt euch leer und einsam. Pa Dares über zwischen­menschlichen Hunger und mit Kritik an unhinterfragten Beziehungsnormen.

© Pa Dares

Ich rede von dem Hunger, der entsteht, wenn wir trotz netten Gesprächen immer distanziert bleiben und es bis auf die Umarmung zu Begrüßung und Abschied keine weiteren körperli­chen Zärtlichkeiten gibt – außer derer, die für den*/die* Partner*innen reserviert und die meist fest eingefahren sind. Oder ich rede darüber, dass nur im Rausch körperliche Nähe und Intimität geteilt werden, und nüchtern alles wieder wie vorher ist.

wie es mir damit geht?
ich kann nicht vertrauen, wenn keine tiefe da ist
ohne tiefe gehe ich unter
wie ein objekt, das potentiell gefahr birgt, wenn du dich öffnest
ich fühle mich offen und nackt
my vulnerability is my power –
normalerweise
aber ich erfriere auf deinem eisberg
let’s be careful with each other so we can be dangerous together
ich mach mich nackt und du schaust immer noch nur auf die oberfläche
du konsumierst mich ganzheitlich immer dann wann du gerade willst
und ich muss dich immer noch fragen ob ich von deinem teller essen darf
du musst dich ja nicht gleich ausziehen
aber mach dich doch mal auf
damit fängt’s an

Einige Textzeilen, die ich während einer Performance mit einer Verbündeten bei STWST48 im September 2021 auf die Bühne brachte.

Nach zwei Jahren in Linz bleibe ich hungrig nach einer Form der Zwischenmenschlichkeit, die außerhalb der gesellschaftlichen Normen stattfindet. Innerhalb derer gibt es entweder nur Freun­d*in­nen­schaft oder Partner*innenschaft, in der ich immer wieder das Gefühl habe, dass die Gesprächsthemen einer geschlechtlich-binären Aufteilung, nämlich zwischen Män­nern* und Frauen* unterliegen, und kein Raum für Feedback auf emotionaler Ebene da ist, oder es stellt eine Bedrohung für Paar-Konstellationen dar, wenn wir uns auf emotionaler Ebene mehr öffnen usw.

In Linz begegnen mir an den Orten, an denen ich mich aufhalte, fast ausschließlich (heteronormierte) romantische Zweierbeziehungen. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen alle Liebe und Zärtlichkeit nur für ihre Partner*innen aufheben – als ob es Ressourcen wären, die irgendwann aus sind und deshalb sparsam damit umgegangen werden muss.

Dieses Phänomen trägt übrigens den Namen Hungerökonomie: der Glaube daran, dass romantische Liebe, Intimität und Ver­bundenheit begrenzte Ressourcen sind, von denen es nicht genug gibt, um sie zu verteilen – und wenn diese Ressourcen einem Menschen gegeben werden, sie automatisch einer anderen Person weggenommen werden. Dieses Konzept wurde bereits in den 1990ern von Dossie Easton und Janet Hardy im Buch The Ethical Slut erwähnt.

Ich beobachte platonische Freund*innenschaften, in denen sich Menschen auf der einen Seite geistig und „freund*innenschaftlich“ verbunden fühlen. Auf der anderen Seite beobachte ich körperliche und von den Menschen erotisierte Beziehungen in Form von Gspusis oder Partne­r*in­nen­schaften, denen oft eine toxische Romantik innewohnt, die in Kauf genommen wird, weil es á la Love hurts „dazu gehört“.

Es scheint mir, es wäre allgemeingültig, was als Freund*innenschaft und was als Partner*innenschaft gilt, wie mensch sich innerhalb dessen verhält und wie sich kennengelernt wird. Ich erlebe wenig Raum dafür, sich zu erkunden – einfach an der Freude am Gegenüber und des Lebens.

Ich sehe auch Menschen, die versuchen, daraus auszubrechen und sich an den Normen die Zähne ausbeißen, die niemanden haben, an dem*/der* sie sich orientieren können oder mit dem*/der* sie sich darüber austauschen können.

Ich sehe auf ewig emotional vereinsamte Singles, die sich via Dating Apps ein bisschen Hoffnung zu geben versuchen – da draußen finde sich der*die* Eine, der*die alle Wünsche und Begehren stillt, wenn mensch nur außerhalb der eigenen Blase schaut. Stellt euch mal die Situation vor, in der sich zwei Menschen das erste Mal daten: Die monogam lebende Person eröffnet das Gespräch damit, zu beichten, dass sie monogam lebt, anstatt dass Monogamie selbstverständlich vorausgesetzt wird. Denn Monogamie bleibt die unhinterfragte Norm. Dadurch passieren Ausschlüsse und Abwertungen oder es müssen sich immer nur diejenigen „outen“, die es anders leben. Aber wie schön wäre es im Gegensatz dazu, wenn sich niemand „outen“ müsste und Intimität immer wieder neu verhandelt werden würde, so wie es für zwei Menschen in einem Moment eben gerade passt – nicht nach Fahrplan.

Es ist nun mal so, dass das kapitalistische und sehr konservative System in dem wir leben, auf monogame Hetero-Beziehungen ausgerichtet ist – die meisten Menschen in meinem Umfeld hier lohnarbeiten einen Großteil ihrer Zeit, was natürlich auch viel ihrer Energie frisst. Ich kann nachvollziehen, dass mensch am Ende eines langen Tages lieber nach Hause kommt und weiß, was er da bekommt: Kuscheleinheiten, nicht zu viel reden müssen, sich nicht neu auf einen Menschen einlassen, weil die meisten Handlungsabläufe schon eingefahren sind … es gibt kaum Zeit für andere Freund*innenschaften, die das eigentlich auch halten könnten, aber oft niedriger priorisiert werden als die Partner*innenschaft.

Ich beobachte, wie hier alle an katholischen Feiertagen zu ihren Familien fahren, obwohl die wenigsten Lust drauf haben, meist ihre*n Partner*innen mitnehmen und diejenigen zurücklassen, die sich über ein bisschen Liebe und „Verbunden-Fühlen“ und „Beschenken“ freuen würden. Dann sprechen seit Corona und der Impfdebatte alle weißen „Linken“ ständig von Solidarität. Don’t forget: das Private ist politisch, ob wir das wollen oder nicht. Das ist kein feministischer Hirnfick. Wir leben in einer katholischen Dominanzgesellschaft: Während der Lockdowns blieben alle anderen religiösen Feiertage verboten. Aber die Katholik*innen durften die Feiertage mit der Kernfamilie verbringen. Diese unhinterfragte Wichtigkeit der Kernfamilie empfinde ich als unsolidarisch und gewaltvoll: Was ist mit denen, deren Kernfamilie kein sicherer Hafen ist, weil ihre Lebensumstände es notwendig gemacht haben, sich Unterstützungsstrukturen und Wahlfamilien zu schaffen, weil sie das nicht in ihrer Familie gefunden haben? Und was ist mit denen, die es sich ausgesucht haben, der Kernfamilie nicht diese Wichtigkeit zu geben? Oder denen, deren Kernfamilien bereits verstorben sind? Und all den anderen, für die das Konzept Kernfamilie nicht passt. Sie mussten offiziell zu Hause und allein bleiben – am Fest der Liebe. Pfui! Es werden also recht viele Menschen ausgeschlossen – meistens die sogenannten „Ausländer“ und diejenigen, die außerhalb dieser Normen vor sich hindümpeln.

All diese Beobachtungen und der Hunger, wohnen nicht nur der Stadt Linz inne. Es sind strukturelle Probleme, welche nun Mal in kapitalistischen/patriarchalen Systemen vorherrschen. Aber sie fallen mir hier mehr auf, weil Linz eine Kleinstadt und unfassbar konservativ ist. Es ist herausfordernd, in diesem System intime, nährende Beziehungen aufzubauen, die außerhalb unserer Kernfamilien und romantischen Zweierbeziehungen stattfinden – allerdings ist es nicht unmöglich und es fängt mit der Bewusstwerdung an.

Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Menschen in meinem Umfeld dessen bewusstwerden, wie viele Normen sie mit ihrem Lebensstil erfüllen, dadurch Privilegien genießen, die anderen nicht gegeben sind und wie gewaltvoll es für Menschen sein kann, die da nicht reinpassen.

Es wird einfach zu selten darüber gesprochen, wie wir unser Miteinander anders gestalten könnten.

Dieser Text ist (m)eine Art Widerstand ge­gen das unhinterfragt Normalisierte. Und Widerstand ist nicht nur in einer Stadt wie Linz längst und immer wieder angebracht. Er ist ein Versuch, den Hunger nach echter Anteilnahme und nach Menschen zu stillen, die sich wirklich umeinander kümmern und nicht nur drüber reden, mehr Weichheit und Zärtlichkeit im Umgang miteinander zu erleben.
Es ist ein solidarischer Akt für diejenigen, die hier weggezogen sind, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben und für diejenigen, die hier weiterkämpfen und wirklich solidarisch sind und dabei kaum freie Zeit haben, weil sie fast ausschließlich damit beschäftigt sind, liebevollere Strukturen zu schaffen.

i want a world where friendship is appreciated as a form of romance.
i want a world where when people ask if we are seeing anyone we can list the names of all of our best friends and no one will bat an eyelid.
i want monuments and holidays and certificates and ceremonies to commemorate friendship.
i want a world that doesn’t require us to be in a sexual/romantic partnership to be seen as mature (let alone complete).
i want a movement that fights for all forms of relationships, not just the sexual ones.
i want thousands of songs and movies and poems about the intimacy between friends.
i want a world where our worth isn’t linked to our desireability, our security to our monogamy, our family to our biology.

Alok Vaid-Menon

 

Pa Dares hat eine mehr oder weniger große Migrationsgeschichte: Griechisch-österreichische Großeltern. Geboren in Kingston (GB), Kinder garten in Deutschland, 13 Jahre Schulzeit in Belgien, Bachelor of Science in International Business in Maastricht (Niederlande) und Master of Arts in Intercultural Conflict Management an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Nun wohnt Pa seit Oktober 2019 in Linz, hat ein Jahr bei maiz – Autonomes Zentrum von und für Migran­t*innen im Bereich Sex&Work unter anderem als Street-Worker*in gearbeitet und ist selbst auch als Sexarbeitende tätig (Independent High Class Escort, Porno). Als Sex-Worker referiert Pa u. a. für die Ausbildung Sexualpädagogik in Linz und an der FH.
Der Umzug zurück in Kleinstadtstrukturen – ohne sich emotional darauf vorzubereiten – hatte eine Depression zur Folge, die Pa erst spät bewusst geworden war. Plötzlich war da nur mehr Körperkontakt und enger emotionaler Austausch mit einer einzigen Beziehungsperson und für viele war Pa von Anfang an „die Freundin von“. Seit 3 Jahren schreibt Pa Texte zu verschiedenen Themen und wird endlich auch dafür bezahlt. Ab und an organisiert Pa einen sexpositiven Freudensalon in Linz.

Residency via STWST, 29. 01.–09. 02.
Kunst als Handlungsstrategie. Während einer Artist Residency via STWST wurde mir, gemeinsam mit Mika Bankomat wieder Raum gegeben, unsere vorangegangenen Prozesse zu bündeln und nach außen zu bringen. Unsere Erfahrungen mit verschiedenen Formen von Gewalt durch Einzelpersonen und sozialen Räumen sind nicht nur individuell, sondern kollektiv und über unsere individuellen Erfahrungen hinausgehend. Unsere Verarbeitungsprozesse und unser Umgang mit Wut, Trauer, Verletzung und Schmerz wurden von der persönlichen Erfahrung auf einen Meta-Kontext gebracht. events.stwst.at

Kauf dir ein Buch – Wissen ist sexy:
Zu Lieben / Kapitalismus entlieben. Lieben als politisches Handeln, Lann Hornscheidt
Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist, Şeyda Kurt
Beyond the Gender Binary, Your Wound/ My Garden, ALOK
www.alokvmenon.com/about

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