Digitale Tools für die freie Szene

Auch in Graz gibt es einen freien Netzkulturverein: Seit Jahrzehnten bemüht sich mur.at um den freien, fairen Zugang zu digitalen Werkzeugen für die Kunst- und Kulturschaffenden der freien Szene. Diese Arbeit beschränkt sich nicht nur auf den technischen Aspekt – mit einem vielschichtigen und interdisziplinären Jahresprogramm zur Netzkunst werden auch regelmäßig neue Wege der Performance für alle gemeinsam erkundet. Lydia Bißmann berichtet.

Digital Science und Labor
Der Verein wurde 1999 von Reni und Jogi Hofmüller, Winfried Ritsch und Wolfgang Reinisch in Graz gegründet. In den ersten Jahren standen die Vernetzung der steirischen Netzkunstszene, die Schaffung von Internetzugängen und die Organisation von NCCs – Network Communication Congress Veranstaltungen – im Vordergrund. Inzwischen geht es um infrastrukturelle Notwendigkeiten und darum, die Arbeit der freien Kunst- und Kulturszene mit technischen Mitteln zu erleichtern. Von dem Bemühen in den 1990er-Jahren, wo der Bund in jeder Landeshauptstadt eine Art Digital Science Labor zum Thema Internet errichtete, sind mit mur.at in Graz und servus.at in Linz nur noch zwei Vereine übrig geblieben. Der aktuelle Geschäftsführer von mur.at, Andreas Zingerle, war um die zehn Jahre bei servus.at aktiv. Er studierte in Linz an der Kunstuniversität und unterrichtete dort später selbst. Ein Zufall wollte es, dass sein Posten bei mur.at in Graz genau zu dem Zeitpunkt vakant wurde, als er aus privaten Gründen seine Zelte in der Steiermark aufschlug.
Über 1.000 User nutzen seit der Gründung von mur.at bereits das unkommerzielle und lokal in Graz betriebene Alternativangebot zu Alphabet (Google), Apple und Co. Für 400 Mitglieder der freien Grazer Kunst- und Kulturszene, wie Forum Stadtpark, Mezzanin Theater, Theater im Bahnhof, Camera Austria uvm. werden hier Internetadressen und Webseiten gehostet. Neben E-Mail-Lösungen, Webspace und Mailinglisten gibt es Tools für Videokonferenzen, Datenwolken und Open-Source-Werkzeuge für digitales künstlerisches Arbeiten. In puncto Videokonferenzen gibt es eine noch ganz frische Infrastruktur und eine Kooperation mit servus.at, wo Techniker von mur.at und servus.at gemeinsam einen Big Blue Button Server betreuen. All diese Angebote von mur.at gibt es zu fairen Bedingungen, made in Styria, ohne Ausbeutung der Nutzerdaten. Die Serverräume werden mit Ökostrom gekühlt, regionale Dienstleister bevorzugt und es herrschen strenge Regeln zu Fair Pay oder der Genderfrage. In der Leitnergasse, unweit vom Augartenpark und dem namensgebenden Stadtfluss Mur, stehen die Server, gibt es eine Künstler*innenwohnung für Artists in Residences, werden Podcasts aufgezeichnet, Work­shops angeboten und auch Publikationen auf echtem Papier produziert.

Mitgliedsbeitrag zum Aussuchen
Finanziert wird dieses enorm wichtige, breit gestreute und gut betreute Angebot fast komplett über Förderungen aus der öffentlichen Hand. Seit 2017 muss der Verein wegen Kürzungen aber auch selbst ein wenig Geld bei seinen Mitgliedern einheben. Aus dieser Not wurde schnell eine Tugend gemacht und mit dem SoMiBe eine unkomplizierte, elegante und nicht zuletzt aufregende Variante der Einhebung eines solidarischen Mitgliedsbeitrages entworfen. Die ungewöhnliche Art, einen Mitgliedsbeitrag einzuheben, verzichtet somit nicht nur auf unbequeme, un­sexy Erinnerungen oder Aufforderungen. Mitglieder können sogar ein wenig mehr bezahlen, wenn sie andere damit unterstützen möchten oder das Gefühl haben, dass es das Angebot einfach wert ist. Wer in finanziellen Schwierigkeiten ist, kann auch völlig diskret ein Nullangebot abgeben. Hier stehen Eigenverantwortung, Fairness, Mitdenken und Solidarität vor Zwang und Zeigefinger. Vorbild war die Solidarische Landwirtschaft (SoLaWi), wo die Verbraucher schon vor der Ernte landwirtschaftliche Produkte erwerben und somit den Bauern einen risikofreien Anbau erleichtern können.

Ökologie, Fairness und Unabhängigkeit im Netz
Das Jahresthema für 2022 ist „(Un)sustainability“. Es trifft den Nerv der Zeit, soll aber auch Lösungen anbieten. Lösungen, die mur.at seit über zwanzig Jahren ohnehin ständig sucht, findet und für alle anbietet. Angetrieben durch die stetige Digitalisierung aller Lebensbereiche, dem Internet der Dinge und immer energie- und datenhungrigere Lebensgewohnheiten steigt der Energieverbrauch des Internets rasant an. Schon 2025 soll die IT-Branche weltweit um die 20 Prozent der Energie benötigen. Unser Planet erlebt einen beispiellosen Klimawandel und das Internet ist sowohl ein Teil des Problems als auch der Lösung. Von Websites bis hin zum Trainieren von künstlicher Intelligenz, der Erstellung von Crypto-Art oder dem Schürfen von Kryptowährungen verbraucht das Internet in Rechenzentren, Telekommunikationsnetzen und auf Nutzergeräten wie Laptops und Smartphones große Mengen an Strom. Genau da bietet mur.at nicht nur Abhilfe, sondern will auch zum Denken und Handeln anregen. Wie vor dem Obstregal im Supermarkt können User auch bei der Wahl ihres Webhosters auf ihren CO2-Fußabdruck achtgeben. Es ist eigentlich ganz einfach – je kürzer das Glasfaserkabel, über das die Information verschickt wird, desto besser für die Umwelt. Neben der Ökologie geht es mur.at aber auch um „digitale Souveränität“ und „digital literacy“. Datenblackouts wie im Winter bei Meta (Facebook) oder die immer aktuelle Diskussion um Datenmonopole zeigen, wie wichtig eine dezentrale, unabhängige, offene und zivilgesellschaftlich verwaltete IT-Infrastruktur ist. Die Initiative und das Rechenzentrum ist mit der Schwesterorganisation servus.at Vorzeigeprojekt mit Richtungscharakter weit über die Grenzen von Österreich hinaus. Mur.at will den Diskurs auch dieses Jahr in seinem Jahresprogramm mitgestalten und nicht zuletzt die Mitglieder der Community ein wenig „erziehen“.

Decluttering, Virtual Gallerys und Archive für alle
Mit Präsentationen, Ausstellungen, Diskussionen, Workshops und Publikationen widmet sich der Verein dieses Jahr dem brennenden Thema Nachhaltigkeit. Alle Aktivitäten finden im regen Austausch mit anderen Vereinen (KIG – Kultur in Graz, esc medien kunst labor, Atelierhaus Schaumbad, Spektral), Galerien, akademischen Institutionen und Medienkunst-Festivals statt. Ein Hackathon (eine Wortschöpfung aus „Hack“ und „Marathon“) bietet die Möglichkeit, innerhalb der Dauer der Veranstaltung kreative, nützliche oder unterhaltsame Prototypen von Hard- und Software zu programmieren. Der „Netzpolitische Abend“ ist eine legendäre Veranstaltungsreihe aus Wien, die im Sommer in Graz durch eine Kooperation von mur.at, Spektral und Epicenter.works beim Elevate Festival stattfinden wird. Speaker haben dabei 15 Minuten Zeit, ihr Topic zu referieren, bevor es mit dem Publikum gemeinsam diskutiert wird. Weiters arbeitet das Team von mur.at an der Umsetzung eines jährlichen Worklabs. Dazu werden lokale und internationale Kreative vernetzt und zu einer (Un)Konferenz nach Graz eingeladen. Es wird nicht nur diskutiert, sondern es werden auch „hands-on“-Techniken und Methoden erprobt. Gerade für die freie Szene waren die Corona-Lockdowns am laufenden Bande eine sehr große Herausforderung, die die ohnehin prekäre Lage weiter verschlechterte. Formate zur Präsentation von Kunst im Netz sind eine Alternative, müssen aber neu oder überhaupt einmal gedacht werden. Wissen online zu archivieren und vor allem einen barrierefreien Zugang dafür zu ermöglichen, ist seit der Erfindung des Internets Thema. Inzwischen geht es auch hier um Decluttering und einen sorgfältigen Umgang mit Platz und Speicherkapazitäten, was auch in Zukunft einen umweltfreundlichen Umgang mit Daten ermöglicht. Workshops beschäftigen sich mit virtuellen Ausstellungen, nachhaltiger Webprogrammierung oder Archiven im Netz. Um Demokratie, Bubbles, Verschwörungstheorien und allgemein um die Verschiebung von Öffentlichkeit in die oft dunklen Sphären des Internets geht es beim mur.at-Podcast und der Radiosendung „Netzrauschen“, die über das freie Radio Helsinki on air gehen werden.

VR-Straßenverkäufer und Dateninsekten
Nach einem internationalen Open Call ist inzwischen auch César Escudero Andaluz in die Künstler*innenwohnung des Vereins eingezogen. Das zweimonatige Artist- in-Residence-Programm von mur.at ist eines der Herzstücke des künstlerischen Jahresprogramms und unterstützt den Netzwerkgedanken auf mehreren Ebenen. Die eingeladenen Kunstschaffenden vernetzen sich mit der lokalen Szene und können die digitale Infrastruktur für ihre Arbeiten nutzen, aber auch erweitern. Der spanische Netzkünstler César Escudero Andaluz unterrichtet aktuell Post-Media Practices und Journal Club an der Kunstuniversität Linz. In seinen Werken konzentriert er sich auf digitale Kultur und ihre sozialen und kulturellen Auswirkungen. Sie waren bereits in internationalen Galerien, Museen und Festivals wie der Ars Electronica in Linz, der WRO in Polen oder dem Chrouns Art Center in der Schweiz zu sehen. Dafür hat er etwa kleine Tierchen (Inter_fight, 2015) entwickelt, die auf Smartphones herumkrabbeln und völlig zufällige Aktionen auf Social-Media-Kanälen bewirken, um den Algorithmus zu verwirren und das Profil der jeweiligen Besitzer in einen undurchsichtigen Datennebel zu tauchen. Für die Residency in Graz will er den virtuellen Raum mit „illegalen Straßenhändlern” bevölkern, die u. a. Open-Source-Produkte für alle anbieten sollen. So schnell wie sie gekommen sind, werden sie aber auch verschwinden – ganz wie ihre Vorbilder in der echten Welt, die beim geringsten Anzeichen von Polizei ihre Fake-Ware in Leintücher einschlagen und über die Häuser sind. Krönender Abschluss der lebendigen, bunten und über die Grenzen der Worklabs hinaus aktiven Programmpunkte von „(Un)sustainability” ist die Abschlussausstellung samt analoger Party im November 2022.

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