Editorial
Alles ist vulnerabel. Das Material schreit. Zu den Worten, die sich zuletzt viral verbreitet haben, gehört vulnerabel. Ursprünglich hatte der Begriff seinen Ausgangspunkt in der Medizin – mittlerweile ist er zum Multifunktionswort geworden, das von verletzlich über gefährdet bis hin zu benachteiligt bedeuten kann.
Wir finden den Gebrauch dieses Wortes im Grunde viel zu paternalistisch und ausgrenzend, denn sind wir nicht alle vulnerabel im Sinne von verletzlich? Schließlich ist der Mensch ein Mängelwesen. Und was seine Natur nicht an seiner Verletzlichkeit mitbringt, das tun sich Menschen noch gegenseitig an, von wegen: Die Hölle, das sind die anderen.
Dass auch ganze Systeme oder Infrastrukturen verletzlich sein können, zeigt sich aktuell an den vielen offenbar gewordenen Problemen wie Pflegenotstand, Alterseinsamkeit, Anstieg psychischer Krankheiten, soziale und materielle Benachteiligung, Gewalt gegen Frauen oder die erschütternd hohe Zahl an Femiziden, die politisch und zivilgesellschaftlich bearbeitet, bewältigt und in Zukunft verhindert werden müssen.
Der seit Februar von Putin geführte Angriffskrieg auf die Ukraine bringt neben unfassbarem menschlichem Leid nun auch eine Energiekrise, deren Folgen gegenwärtig noch gar nicht abschätzbar sind. Und da ist dann noch die menschengemachte Klimakrise, die durch Treibhausgase, die beim Verbrennen von fossilen Stoffen in die Atmosphäre geblasen werden, den Planeten aufheizen. Die Folgen dieser Klimakrise waren in diesem Sommer 2022 auch auf lokaler Ebene, vor unser aller Augen, sichtbarer denn je: Vielerorts führten Dürre und Hitze zu Waldbränden, Ernteausfällen und Niedrigwasser. Zudem wird für Ältere, Kinder und Vorerkrankte die zunehmende Hitze zum Gesundheitsrisiko. Und wenn plötzlich auch Versicherungen anfangen, diese Dinge ernst zu nehmen, dann weiß man, was Sache ist. Viele Expert:innen mahnen: Jetzt ist Alarmstufe Rot.
Wir finden uns in unruhigen Zeiten, in aufgewirbelten Zeiten, in trüben und verstörenden Zeiten – oder wie es schon 2019 bei der Biennale in Venedig hieß: May you live in interesting times – entsprechend einem chinesischen Sprichwort respektive Fluch. Viele der bei dieser Biennale ausgestellten Arbeiten haben die Verwerfungen, die Auswirkungen eines superausbeuterischen globalen Kapitalismus, eines jahrhundertelang praktizierten Kolonialismus, einer Geschichte der Unterdrückung oder auch einer hegemonialen Monokultur ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung genommen. Und selbstredend ist der Kunst zu jeder Zeit die Kritik immanent eingeschrieben. Aber was heute und jetzt diesbezüglich als Material der Auseinandersetzung für eine jüngere Künstler:innengeneration zur Verfügung steht, zeigt in aller Brüchigkeit recht eindrücklich: In diesen interessanten Zeiten ist beinahe alles fragil geworden und in der Lage, verletzt werden zu können.
Vulnerabel. In der Referentin-Redaktion haben wir zuletzt über eine Arbeit von Gesine Grundmann gesprochen, die im Juli 2022 auf Residency im Salzamt war – und die an dieser Stelle exemplarisch erwähnt sein soll. Sie hat für die Referentin über zwei ihrer Arbeiten berichtet: Von GEN UGG EKR IEGT, im Zentrum von Linz als nach außen gerichtete Botschaft auf die Fassade des Salzamtes gehängt, und weiter östlich, auf Höhe des Winterhafens, am Donaustrand aufgestellt, von der Arbeit OI, einem Beton-Ei, das in ein Kunststoff-Netz eingehüllt wurde. Wir haben länger über diese Fragen des Textes, des Kontextes und der Materialitäten gesprochen. Von Botschaften, die sich zwischen Genug Krieg und Nicht-genug-kriegen-können, geradezu in alle Materialien einschreiben und weiterschreiben lassen, auch in den Beton des Eis. Vom Umstand, dass heute viele Künstler:innen die Frage des Materials und der Materialität primär aufgreifen. Oft findet sich ein künstlerischer Ansatz, der das Material nicht unbedingt (nur) in ästhetischer Revolte darstellt, sondern in seiner Verbundenheit und Verbindlichkeit, im Kontext, durchaus auch in einer Art widersprüchlichen Empfindsamkeit, in Vulnerabilität, in Verbindung tretend. Abschließend haben wir dann noch über eine kurze Textstelle gesprochen, die in Michel Houllebecqs Poetologie Lebendig bleiben gleich zu Beginn abgedruckt ist. Diese soll hier – auch gegen einen rein anthropozentrischen Blick – zitiert werden: „Das Universum schreit. Im Beton drückt sich die Gewalt ab, mit der er zur Mauer geprügelt wurde. Der Beton schreit. Das Gras wehklagt unter den Zähnen des Tieres. Und der Mensch? Was werden wir über den Menschen sagen?“
Viele Künstler:innen – speziell einer jüngeren Generation – arbeiten mit diesem Ansatz der Verbundenheit bzw. einer weiter gefassten Empathie. Es steht zu hoffen, dass ihnen Gehör verschafft wird. Es steht aber zunächst auch zu hoffen, dass die Künstler:innen-Ateliers – Künstler:innen als ebenso vulnerable Gruppe der Gesellschaft – im Herbst und Winter nicht kalt bleiben. Denn es geht um größere Umbrüche. Es geht um Solidarisierung. Und wir müssen diese Solidarisierung – wie es aussieht – größer und perspektivisch umfangreicher denken, als das eigentlich vorstellbar ist. Denn metaphorisch gemeint: Wenn an einer Stelle der Sauerstoff entzogen wird, bricht anderswo ein Feuer aus.
Wir möchten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass dieses Editorial auch als Vorwort des Salzamt-Kataloges EXPOrt, IMpORT, imPULS 2022 abgedruckt wird – und empfehlen den Katalog und die Arbeiten der darin präsentierten Künstler:innen. Watch out!
Über die interessanten Texte in dieser Referentin mögen sich die Leser:innen selbst ein Bild machen.
We live in fucking interesting times.
Die Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz
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