Er liebte die raue Realität …
… und fand in ihr seine Poetik: Zum 25. Todestag des tschechischen Schriftstellers Bohumil Hrabal (1914–1997) hat sich Richard Wall nach Prag aufgemacht.
Eigentlich wollte ich mit dem Nachtzug nach Paris, doch mein Terminkalender bot mir nicht die Lücke einer freien Woche, die ich für eine Reise zur Metropole an der Seine für das mindeste hielt, und so fuhr ich im Frühlicht des letzten Maitages auf der Summerauerbahnstrecke mit einem Schnellzug der České dráhy gen Norden um einen Toten zu besuchen, in Prag, an der Moldau. Dort gibt es auch ein Paris. Allerdings mit 2 Häkchen (Háček): Paříž. Ein mondänes Jugendstil-Hotel, in dem Bohumil Hrabals Frau Eliška gearbeitet hat und deren Erzählungen von ihrem Arbeitsplatz ihren Mann zum erfolgreichen, von Jiří Menzel verfilmten Roman Ich habe den englischen König bedient, inspiriert hat. Den 2020 verstorbenen Regisseur werden zumindest Cineasten kennen. Doch wer war Bohumil Hrabal?
Als der ungekrönte König der čechišen Prosa im Februar 1997 aus dem 5. Stock der Prager orthopädischen Klinik fiel, in der er wegen seiner Gelenkprobleme auf Behandlung lag, ward eine Legende geboren. Er, der Katzenfreund, sei beim Taubenfüttern aus dem Fenster gefallen. Ein Unfall. So die offizielle Version. Doch bald tauchten Zweifel auf.
Spürte er, dass ihm nicht mehr zu helfen war?
Was sollte er noch ohne seine geliebte, 1986 verstorbene Frau Eliška?
Katzen – so sehr er sie auch mochte – sind auf die Dauer doch keine Gesprächspartner.
1963 debütierte Hrabal, der jahrzehntelang Gedichte für die Schublade schrieb, bevor er sich der Prosa zuwandte, mit dem Titel Perlička na dně / Das Perlchen auf dem Grund. Sein Erfolg – er war bereits fünfzig – lag im frischen und lebendigen Ton begründet; der (absurde) Humor, Schwejk’scher Anarchismus und eine existentielle Leichtigkeit in seiner Prosa erwiesen sich als willkommene Gegenstimme zum steifen sozialistischen Realismus, den viele Künstler und Schriftsteller in diesen Jahren aufzubrechen begannen. Die Erzählung Bafler beginnt so:
„Auf dem Bänkchen vor der Zementfabrik saßen alte Männer, schrien einander an, packten einer den andern beim Revers, maulten sich gegenseitig die Ohren voll.
Es schneite Zementstaub; die ganze Gegend, Häuser und Gärten, war mit feingemahlenem Kalkstein bedeckt.
Ich ging in die verstaubten Felder hinaus. Unter einem einsamen Birnbaum schnitt ein winziger Mann mit der Sichel das Gras.
‚Sagen Sie, was sind das für Schreihälse dort bei der Pförtnerbude?‘
‚Die am Haupttor? Das sind unserer Rentner‘, antwortete er.
Und sichelte weiter.
‚Schön alt sind die‘, sagte ich.
‚Gelt? In ein paar Jährchen sitze ich auch dort.‘
‚Wenn Sie es nur erleben!‘
‚Aber ja. Die Landschaft hier ist sehr gesund.“
Das erste, was ich, wie viele meiner Generation, von Hrabal gehört hatte, war der Monolog Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene, gelesen von Helmut Qualtinger. Die Prosa basiert auf Erzählungen seines Onkels Pepin. Damit wurde Hrabal, 1914 in Brünn geboren, auch in Österreich bekannt. Nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings durfte er jahrelang in der Tschechoslowakei nicht publizieren, doch seine Bücher konnten, in den Übersetzungen von Franz Peter Künzel und Susanna Roth, nach und nach bei Suhrkamp erscheinen.
Während der Roman Ich habe den englischen König bedient von Jiří Menzel erst 2006, also nach dem Tod von Hrabal, verfilmt wurde, wagte sich der junge Menzel bereits 1965 an die Verfilmung von Reise nach Sondervorschrift – Zuglauf überwacht. 1968 wurde der Film unter dem Titel Liebe nach Fahrplan mit dem Oskar für den besten ausländischen Film ausgezeichnet. Hintergrund der Erzählung ist die zu Ende gehende Herrschaft der Nazis im Protektorat: „Tiefflieger brachten den Verkehr so durcheinander, dass die Morgenzüge mittags fuhren, die Mittagszüge abends und die Abendzüge nachts, so dass es manchmal geschah, dass am Nachmittag der Zug fahrplanmäßig ankam, auf die Minute genau, aber nur, weil das der vier Stunden verspätete Personenzug vom Vormittag war.“
In der angespannten militärischen Lage verkehren jedoch nicht nur Züge in einem problematischen Rhythmus; auch im Verhalten zwischen den Geschlechtern, namentlich zwischen dem Fahrdienstleiter Hubička und der Telegraphistin Zdenička Svatá (Svata=Heilige) kommt es zu einem kurios-erotischen Vorfall, der von den Vorgesetzten genüsslich protokolliert werden musste.
Die Prosa geht auf Erlebnisse zurück, die Hrabal im Dienst der staatlichen Eisenbahn hatte. Nach Abschluss des Jurastudiums arbeitete er als Versicherungsagent, danach vier Jahre in der Eisenhütte Poldi in Kladno. Am Leben der Mitmenschen Anteil zu nehmen, war für ihn selbstverständlich, deshalb machte ihm manuelle Arbeit nichts aus: „Wenn in dem Hüttenwerk andere leben können, warum nicht auch ich?“ Tonnenweise schaufelte er Eisenerz, Mangan und Chrom für das Schmelzverfahren in den Martinöfen auf klapprige Kastenwagen. Bei der Arbeit wiederholte er Sätze aus Büchern von Dostojewskij oder von Dali, dessen Buch Die Eroberung des Irrationalen eine zeitlang seine Bibel war. Je komplizierter das Gelesene war, umso besser, meinte er einmal; ganze Sätze wehten vor seinen Augen wie Fahnen, und er überprüfte, ob dieser oder jener geheimnisvolle Satz auf die Wirklichkeit passte und ob er etwas über sie auszusagen hatte.
Ein schwerer Arbeitsunfall – als sich bei einer Kranhavarie ein Rad von der Rolle losriss, wurde Hrabal am Kopf getroffen und schwer verletzt – beendete seine Arbeit im Stahlwerk.
Nach acht Monaten Rehabilitation in Sanatorien arbeitete er von 1954 bis 1958 in einer Altpapiersammelstelle in der Spálená Gasse in der Prager Neustadt. Ein Teil des angelieferten „Altpapiers“ bestand aus Büchern der Weltliteratur, mit denen er seine Bibliothek bereicherte.
Seine erste Wohnung in Prag fand er 1948 am Altstädter Ring. Doch das Leben im Zentrum der Altstadt behagte ihm nicht, und so zog er bald an die Peripherie in die Gasse Na Hrázi, Am Damm, nach Libeň, wo er bis 1973 wohnte. Eigentlich bestand die Wohnung nur aus einer ehemalige Schmiedewerkstatt. Wasser und WC im Hof; für Luxus hatte Hrabal nie etwas übrig. Hier lebte er mit seiner Frau Eliška Plevová. Erst 1973 zogen sie in eine Neubauwohnung nach Prag-Kobylisy, doch Hrabal hielt sich schreibend und durch den Wald streifend lieber in seiner Hütte in Kersko bei Nymburk auf, die sie 1965 gekauft hatten.
Durch Verlängerung der Metrolinie verschwand 1988 die Gasse in Libeň samt dem Haus, in dem Hrabal ein Vierteljahrhundert lang lebte. Unweit seiner ehemaligen Bleibe entstand die Station Palmovska.
Diese war gleich noch am Tag meiner Ankunft in Prag mein Ziel. Aus dem Untergrund ins milde Nachmittagslicht eines Maitages tretend, empfing mich ein schmaler Platz, halb Wiese, halb Asphalt. Die Straße dahinter trägt noch immer den Namen Am Damm /Na Hrázi. Dreht man sich um, hat man eine Betonmauer vor sich mit dem zwei Jahre nach dem Tod des Meisters von der Künstlerin Tatiana Svatošova gemalten Wandbild. Ein respektables Werk und eine liebenswürdige Hommage in einer Malweise, die an Pop-Art erinnert.
Es zeigt den „Schellenober, der mit der Schelle in der Hand unter der Sonne spaziert“ (so beschrieb Hrabal sich selber), überlebensgroß, Hände in den Hosentaschen. Wir stehen uns gegenüber, ich suche seinen Blick, doch der seine geht über mich hinweg auf die wenigen noch einstöckigen Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Neben ihm überlebensgroße Katzen, schablonenhaft; individuell jedoch in Diagonalen die Katzenköpfchen mit Namen; dazwischen Zitate aus seinem Werk, an die Wand applizierte Schilder und andere Materialien aus den Ruinen der Häuser. Etwa in der Mitte des Wandbilds wie aufgeblasen seine Perkeo, mit der er schreibend sein Wesen ergründete, eine deutsche Schreibmaschine, die nicht über Sonderzeichen wie das Häkchen verfügte. Die Mauer abschreitend beginnt in meinem Kopf eine Zeitreise; ich vergegenwärtige die alten Bilder und Erzählungen; Passagen aus seiner autobiographischen Trilogie mit den Titeln Hochzeiten im Haus, Vita nuova und Baulücken. Seine Selbstbefragung mündete in eine formale Antwort: Er erzählte über sich aus der Perspektive seiner Frau. Mit Hilfe dieses Spiegels gelang es ihm, auch seine Widersprüche, Schwächen und Laster, zur Sprache zu bringen. Manchmal sei er erstaunt vor dem geschriebenen Text gesessen und verwundert gewesen, über das, was er alles über sich erfahren hatte. Um nicht immer in der feuchten Wohnung zu sitzen, pflegte er an sonnigen Tagen auf das Dach des Schuppens im Hof zu steigen. Er saß auf einem Hocker, die Kofferschreibmaschine stellte er auf einen Sessel vor sich. Die Sessel und Hockerbeine waren so beschnitten, dass sie die Pultdachschräge ausglichen. Dann ließ er stundenlang seine Maschine rattern und schrieb sich in eine Art Trance hinein. Von den Surrealisten und vom letzten Kapitel im Ulysses von Joyce inspiriert ließ er seinen „Bewusstseinsstrom“ ungehindert fließen …
Gegen Ende der Mauer, hin zu einer Reihe vierstöckiger Wohnhäuser, das Raster eines riesigen Bücherregals mit den Namen jener Autoren, die für seinen Entwicklung bedeutend waren; auf den als Stäbe gemalten Buchrücken Namen wie Seneca, Platon, Lao Tse, Rabelais, Isaak Babel, Karl Jaspers, James Joyce, T. S. Eliot, Bruno Schulz, Jaroslav Hašek, Vitězslav Nezval, u. v. m.
Am unteren Ende der Mauer auf einem Fleckerl Grün ein Gedenkstein. Er erinnert an das Gasthaus U Vaništů, von dem er und seine Freunde – vor allem der Dichter und Musiker Karel Marysko und der Maler Vladimír Boudník – das Bier zu holen pflegten.
Um meinen Durst zu löschen – es war Abend geworden – zog es mich in die Altstadt. In dieser gibt es nach wie vor ein Gasthaus, in dem fast nur Prager anzutreffen sind: U Zlatého Tygra. Die Lieblingsgaststätte von Hrabal, seine „Universität“. In der kurzen Prosa, Wer ich bin, heißt es: „… manchmal sitze ich da und schweige verstockt, überhaupt gebe ich beim ersten Bier ganz klar zu verstehen, dass es mir unangenehm ist, irgendwelche Fragen zu beantworten, so sehr freue ich mich auf das erste Bier, und es dauert eine gewisse Weile, bis ich mich an diese tyrannisch laute Kneipe gewöhne …“
An den Tischen unter dem Tonnengewölbe war kein Platz frei, kaum eine Hand hätte zwischen die Schultern der dichtgedrängten Trinker gepasst. Vor ihnen volle und halbvolle Biergläser, darüber durch die bierfeuchte Luft fuchtelnde Arme, schreiende Münder. Die Phon-Stärke unter dem Gewölbe dürfte auch 25 Jahre nach dem Abgang des Dichters nicht geringer geworden sein.
Am hinteren Ende des Gewölbes, wusste ich, liegt ein etwas höher gelegener Raum, in dem sich noch ein Tisch befindet. Hier saßen drei Männer. Am schmalen Ende des Tisches war noch Platz. Ich unterbrach ihr Gespräch und fragte höflich, ob bei ihnen noch frei sei. Ja, kein Problem. Als das nächste Mal der Kellner ums Eck lugte, rief ich „jedno pivo, prosím!“. Unsicher, ob er meine Bestellung registriert hatte, ließ ich meinen Blick über die bebilderten Wände gleiten. Mein Gesicht schließlich zur Wand hinter mir drehend, sah ich, dass über meinem Kopf ein Porträtfoto von Hrabal hing. Und zwar nicht irgendeines, sondern ein sehr bekanntes von Hana Hamplová. Nachdem ich einige Schlucke getrunken, kam ich doch mit einem der drei ins Gespräch. Zuallererst durfte ich ihn mit meiner Herkunft vertraut machen: „Horní Rakousko!“ Ob ich wegen Hrabal gekommen sei?
Nun kam die Offenbarung: Wo ich sitze, so der Prager lächelnd, habe auch Hrabal des Öfteren gesessen. Ein Cousin habe ihm dies einmal verraten. Ich meinte, dass dies kein Zufall sein könne, dass ausgerechnet an diesem Tisch noch dieser Platz frei gewesen sei. Die drei lächelten freundlich und wandten sich wieder ihren Themen zu.
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