Unscharfe Übergänge
Nonsense, Sprachspiel oder Abgrund des Absurden? Mit „Alice in Wonderland“ machte sich Charles Lutwidge Dogson, anderweitig bekannt als Lewis Caroll, einen Reim auf die moderne Mathematik. Seine Poesie ist chiffrierte Logik, meint Barbara Eder.
Soviel ist aus einem der berühmtesten Kinderbücher des 19. Jahrhunderts noch bekannt: Alles beginnt mit einem weißen Kaninchen, das kurz nach seinem Erscheinen in einem Erdloch verschwindet; ein Verwirrspiel mit den Grenzen zwischen Realität und Fiktion nimmt seinen Lauf: Hauptfigur Alice, die eben noch am Flussufer saß und träumte, folgt dem hektischen Hasen. Sie stürzt durch einen engen Schacht, hinein in einen Raum des Ungewissen. Ihr Fallen dauert eine halbe Ewigkeit und endet an einem Ort mit unscharfen Koordinaten. Im unterirdischen Korridor gibt es viele Türen und Alice findet den Schlüssel, der eine davon sperrt. Sie öffnet das winzige Tor und entdeckt einen zauberhaften Garten. Um ihn zu betreten, ist sie jedoch zu groß – bevor sie den Weg ins Freie findet, muss Alice erst schrumpfen.
An Interpretationen der surreal anmutenden Szenarien aus Lewis Carrolls 1865 erstmals erschienenem Buch „Alice in Wonderland“ mangelt es nicht. Mal wurde die Erzählung als Parabel auf den Erziehungsnotstand des 19. Jahrhunderts gedeutet, als Kritik an den Autoritätsfiguren im viktorianischen England und den hohlen Respektbekundungen, die man ihnen entgegenbrachte; fast ebenso oft wurden Alices’ Abenteuer als Geschichten über das Erwachsenwerden und die damit verbundenen Übergangsrituale interpretiert – konsequent aus Kinderperspektive erzählt, behauptet die Hauptfigur sich gegenüber den Bewohner:innen des Wunderlands, die Prinzipientreue und Obrigkeitshörigkeit über allfällige Zweifel an den absurden Gesetzmäßigkeiten ihrer Lebenswelt stellen; auf Alice wirkt die neue Umgebung denkbar skurril und sie hinterfragt sie bis auf ihre letztgültigen Prämissen hin. Die entrückte Welt der menschlichen Spielkarten und unbarmherzigen Königinnen wird zuletzt auch dann herbeizitiert, wenn psychoanalytische Lehren dem Gegenstand ihrer Untersuchung ein Gesicht geben wollen. Carolls Fiktionen firmieren dann als dankbare Kulissen für Entgleisungen aller Art – für den französischen Anti-Psychiater Gilles Deleuze wurden die paradoxen Konstellationen im Buch zu Denkbildern für mentale Zustände, in denen Menschen nicht länger Herren und Frauen im eigenen Haus zu sein scheinen.
Carolls zweibändige Alice-Erzählung ist nicht einfach nur ein unterhaltsames Kinderbuch oder eine Fibel über die Traumlogik des Unbewussten; Charles Lutwidge Dogson, der sie unter dem Namen Lewis Caroll veröffentlichte, hat eine bestimmte Art des Denkens darin so stark chiffriert, dass sie nur mehr über den Umweg der Fiktion zum Ausdruck kommen kann; bei genauem Hinsehen erweist sein Märchen sich als logische Lektion, verpackt in eine literarische Erzählung. Mehr als ein Vierteljahrhundert am Christ Church College in Oxford als Tutor für Mathematik tätig, organisierte Dogson nicht nur Wunderland-Exkursionen, er schrieb auch Lehrbücher über Mathematik, Geometrie und Logik; seine Einführungen in ausgewählte Fachgebiete waren von unkonventionellen Methoden begleitet. Für die Lehre nahm Dogson mitunter das gesamte Universitätsgebäude in Beschlag: Klassen und Unterklassen der Logik pflegte er in räumlicher Ausdehnung darzustellen – als geometrische Anordnungen, die Kafkas Türhüter-Gleichnis nahezu bieder erscheinen lassen. Zwecks Erklärung logischer Klassen und den Hierarchiebeziehungen zwischen diesen platzierte Dogson seine Schüler:innen vertikal im Raum. Während er selbst sich in der hintersten Ecke eines Zimmers im obersten Stockwerk befand, saßen Diener:innen an den Schwellen zu den einzelnen Etagen. Auf einen Unter-Diener folgte ein Unter-Unter-Diener und auf den Unter-Unter-Diener ein Unter-Unter-Unter-Diener; vom Garten des Gebäudes aus stellte ein:e Schüler:in eine Frage an letzteren und ihr Inhalt veränderte sich von Etage zu Etage; was am Ende übrig blieb, schien schier entstellt: „Lehrer: was ist drei mal vier? Diener: Was ist Bleiklavier? Unter-Diener: Wo ist mein Saphir? Unter-Unter-Diener: was ist dein Souvenir?“ Dogsons stille Post sorgte für diffuse Signale; plastischer als durch Treppen und Stufen kann man Logik-Klassen jedoch kaum erklären; die damit verknüpfte Vorstellung bleibt komisch genug, um sich im Gedächtnis festzusetzen.
Was sich in Carolls Wunderland ereignet, wirkt so widersprüchlich wie die stoische Logik eines Ereignisses: Als künftiges ist es immer schon vergangen, über das noch nicht und doch schon des Geschehens lässt sich stets mehr und weniger zugleich sagen. Die dazugehörigen Bestimmungsstücke folgen einer infiniten Reihe an Prämissen, die der Szenerie stets vorauseilen – so wie die Schildkröte, die Achill nie überholen kann. Dogson schlägt sich auf die Seite des Läufers und macht aus der antiken tortoise ein Tier namens „Taught-Us“ – mitsamt einer Interpretation, die weit über Zenons Paradoxon hinausgeht. Anders als von Aristoteles angenommen, sind Achills Bewegungen für ihn nicht bloß hypothetisch; vielmehr handele es sich dabei um logische Aussagen, die allesamt wahr sind und infolgedessen auch zu einer Konklusion führen müssen. Dogsons Schnellläufer ist jedoch kein Achilles, sondern ein „A-Kill-Ease“ – und damit einer, der mitten im Wettlauf zum „Leichttöter“ wurde.
Dogsons logische Objekte erschöpfen sich nicht in mathematischen Darstellungen, selbst zu Kuchen einer gut bestückten Bäckerei sind sie schon geworden. In „Das Spiel der Logik“ von 1896, das als Einführung für Kinder gedacht war, begnügt sich der Autor nicht mit abstrakten Formalia, er serviert stattdessen Torten auf Papier. Diesen können unterschiedliche Attribute zu- oder abgesprochen werden, was zu sinnwidrigen und zugleich höchst konzisen logischen Aussagen führt: „Eine Proposition, die aussagt, daß einige der Dinge, die ihrem Subjekt zugehören, so-oder-so sind, wird ,partikulär‘ genannt. Zum Beispiel ,Einige neue Kuchen sind nett‘, ,Einige neue Kuchen sind nicht-nett‘“. Die freundlichen und die unfreundlichen unter den Kuchen – im Sinn eines Attributs und seiner Negation – lassen sich auch im Raum der Geometrie repräsentieren: Um ein 2-dimensionales kartesisches Koordinatensystem zieht Dogson vier parallel zueinander verlaufende Linien und verwandelt es auf diese Weise in ein Viereck; es wird zu einem Spielfeld mit vier Feldern, seine Quadranten stehen für die Attribute „nett“ und „neu“ – mitsamt ihres Gegenteils. Ein roter Spielstein zeigt an, dass es in einem Feld einige Kuchen gibt, ein grauer weist auf ihre Absenz hin, die sich wiederum als andersfarbige Präsenz zeigt; erst später belegt Dogson die Felder mit Nullen oder Einsen – im Sinne von zahlenmäßigen Entsprechungen für wahr und falsch.
Dogsons Kuchen waren nicht immer nett. In ihrem Artikel „Algebra in Wonderland“, der im März 2010 in der New York Times erschien, zeigt sich die britische Mathematikerin Melanie Bayley gänzlich unbeeindruckt von Carolls Kulinarik. Alices’ Begegnung mit einer Raupe, die auf einem Pilz sitzt und eine Wasserpfeife raucht, wird für sie zum Ausdruck von Carolls Revolte gegen ein rein symbolisches System der Algebra. Ein solches hatte Augustus De Morgan zur Mitte des 19. Jahrhunderts vorgeschlagen; innerhalb desselben wäre es auch zulässig, die Quadratwurzel aus einer negativen Zahl zu ziehen – sofern dieses Verfahren ausreichend begründet ist und einer inhärenten Logik folgt. Von derart kühnen Vorhaben war Dogson überfordert – die Angst vor unkontrollierbaren Umwälzungen im Reich des reinen Formalismus führte zu jenen spontanen Größenveränderungen, denen Alice unentwegt unterworfen ist. Mit ihr wächst und schrumpft auch ihr Erfinder, der die rapiden Veränderungen seiner Zeit fürchtet. An einem einzigen Tag unterschiedliche Größen zu haben, wirkt nicht nur auf Alice befremdlich; mit Charles Lutwidge Dogson teilt sie auch die Furcht davor, demnächst aus der Zeit zu fallen.
Wenn ein Hutmacher, ein Hase und eine Haselmaus sich zum Tee treffen, stehen Rätselfragen im Raum; das t im Teehaus ist nicht nur das mathematische Symbol für Zeit, sondern auch eine Systemvariable im quelloffenen Betriebssystem Linux. „time_t“ meint auch dort keine Einladung zur Tee-Party, sondern eine unter C und C++ implementierte Integer-Variable. Als Antwort auf ihre Abfrage erhält man eine Nummer, die derzeit rund zehn Stellen umfasst. Sie beinhaltet die Anzahl der seit Beginn der Unix-Epoche am 1. Januar 1970 vergangenen Sekunden. Auch Alice hätte sich über eine Zeitenwende dieser Art gewundert – die im Teehaus diskutierten Rätsel hat Dogson mit den Mitteln der Poesie gerade noch zu fassen versucht.
Im Moment des Verschwindens kann eine Katze nicht geköpft werden; dennoch hält die Königin aus Carolls Wunderland bis zum bitteren Ende an diesem Vorhaben fest – im Grinsen der Cheshire Cat vermutet sie zuletzt noch ihre Präsenz. Mit unsichtbaren Raubtieren und weißen Hasen hat sich die Populärkultur in der Zwischenzeit angefreundet – „Follow the White Rabbit“ ist eine Aufforderung, die sich auch am Bildschirm des „Matrix“-Helden Neo findet. Vielleicht hätte Lewis Caroll seine Logik-Lehre heute in Form eines derartigen Filmes umgesetzt; seine Sprachspiele haben den heiligen Ernst von Wittensteins logischen Untersuchungen jedoch schon im Buch hinter sich gelassen; dennoch kommen seine Botschaften nicht immer an – sie teilen das Schicksal eines Briefes, der in Kapitel 6 von „Alice in Wonderland“ von einem Lakaien-Fisch an einen Lakaien-Frosch weitergereicht wird. Im Moment der Übergabe verändert sich die Reihenfolge der Wörter. Die Dokumentation der Python-Library „Beautiful Soup“ rekurriert nicht ohne Grund auf dieses Bild – damit lassen sich HTML- und XML-Dateien mühelos extrahieren; was am Ende davon übrigbleibt, ist kein reiner Nonsense – nur sinnloser Sprachsalat.
* Beautiful Soup ist eine Python-Bibliothek zum Auslesen von Daten aus HTML- und XML-Dateien. Es spart Programmierern in der Regel Stunden oder Tage an Arbeit. beautiful-soup-4.readthedocs.io/en/latest
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!