Du hast Polizei, ich hab Freund*innen dabei
Im Dezember 2022 wurde ein so genannter Callout an einige bekannte Veranstaltungsräume, Hausprojekte und Kollektive in Linz und Wien gesendet. Im Callout ging es um einen Fall von sexualisierter Gewalt. Über transformative Gerechtigkeit und gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme bei sexualisierter Gewalt schreibt pa!.
Leider sind Callouts in Linz immer noch ein unbekanntes oder umstrittenes Thema. Der Callout entstand aus der Arbeit mit einem konkreten Fall von sexualisierter Gewalt und Täterschutz. Er wurde von mir als unterstützende Person in Zusammenarbeit mit dem betroffenen Menschen formuliert – in der Hoffnung, dass sich mehr Menschen mit den Themen rund um sexualisierte Gewalt auseinandersetzen und potentiell Betroffene sich schützen können.
Dieser Beitrag hat nicht den konkreten Inhalt des Callouts zum Thema, sondern soll näherbringen, warum sie eine legitime und oft auch absolut notwendige Antwort auf patriarchale Gewalt darstellen und wie sie die Möglichkeit bieten, Verantwortung wieder in unsere Räume reinzubringen, anstatt sie zu ignorieren.
Disclaimer:
Das Wort „Täter“ wird in diesem Text nicht entgendert. Auch FLINTAs können Täter*innen sein. Jedoch geht patriarchale Gewalt, physisch sowie psychisch, zum Großteil von cis-Männern aus. Der Callout spricht die gewaltausübende Person als Täter an. Dieser Text nutzt die Begriffe gewaltausübende Person und Täter. Der Text erhebt keinen Anspruch auf thematische Vollständigkeit, dazu fehlen mehr Perspektiven.
Ein Callout ist das Öffentlichmachen von gewaltausübenden Personen und deren Verhalten, was nicht nur dafür sorgt, dass über den Fall geredet wird, sondern auch zu Solidarität führen und selbstermächtigend auf andere Betroffene wirken kann. Betroffene und Unterstützende organisieren sich und schaffen Sichtbarkeit: für konkrete Fälle, für die patriarchalen Strukturen, für eigene Erfahrungen und sie machen die Arbeit sichtbar, die mit so einem Widerstand zusammenhängt. Sie erzeugen den Druck für gewaltausübende Menschen und Mitwissende, Verantwortung zu übernehmen, was ohne diesen sonst wohl kaum stattfinden würde. Callouts begleiten uns weg von individualistischen Herangehensweisen an Probleme hin zu einer kollektiven, gemeinschaftlichen Verantwortungsübernahme.
Mir fällt seit drei Jahren auf, wie wenig in Linz über sexualisierte Gewalt gesprochen wird: in alternativen und Szene-Räumen, Gemeinschaftsprojekten und in Nahbeziehungen auch nicht. Und das, obwohl sie überall stattfindet und Österreich darüber hinaus das Land der Femizide in Europa ist. Immer noch wird sie eher als etwas Privates verstanden, was man mit sich selbst ausmachen muss. Menschen halten das Thema von sich fern, als wäre es bei ihnen oder in ihren Räumen nicht relevant, oder zeigen sich sichtlich genervt, wenn das Thema in Gesprächen Raum einnimmt.
Sexualisierte Gewalt und Sexismus sind aber keine Einzelfälle. Global wird immer mehr darüber gesprochen. #metoo hat sichtbar gemacht, dass diese Gewaltform an Macht gekoppelt ist und mit patriarchalen Strukturen der Gesellschaft zusammenhängt. Die #metoo-Bewegung wurde übrigens von Tarana Burke – einer Schwarzen Frau – gestartet, was leider im weißen Feminismus oft unsichtbar gemacht wird.
Diese Strukturen finden sich überall. Sexismus und sexualisierte Gewalt sind auch in vermeintlich emanzipatorischen Kreisen ein alltägliches Problem. Ein Klaps auf den Po, ein Hinterherpfeifen, das Kondom ohne Wissen der anderen Person abziehen, ungefragtes Anfassen, Stalking, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, sexistische Witzkultur, all das gehört zu sexualisierter Gewalt. Ein Femizid ist die Spitze davon.
Die Sichtbarmachung und Unterstützungsarbeit wird fast ausschließlich von FLINTAS und queeren Menschen geleistet. Leider hat eine solche solidarische Unterstützungsarbeit im Allgemeinen keinen hohen Stellenwert bei uns, denn Care-Arbeit ist nicht-männlich konnotiert. Sie wird aber nicht nur nicht ernst genommen oder verschwiegen, sondern wird durch antifeministisches Verhalten erschwert.
„Ach, das kann ja mal passieren“, „Das ist doch nicht so schlimm“, „Das ist eher ein kleiner Übergriff auf einer Skala der Übergriffe“, „Das macht der nur, wenn er getrunken hat“, „Wäre das zur Anzeige gebracht worden, dann müssten wir uns nicht mehr damit beschäftigen“, solche Kommentare relativieren nicht nur das Gefühlte der betroffenen Menschen, sie erschweren auch, dass Betroffene darüber sprechen, was passiert ist und wie sie sich fühlen. Sie nehmen Handlungsspielraum, für sich selbst zu definieren, wie gravierend dieser Übergriff war.
Das ist unsolidarisch und wird Täterschutz genannt.
Dies führt dazu, dass Unterstützungsstrukturen nicht einfach entstehen, sondern hart erkämpft werden müssen, während die Strukturen, die die gewaltausübende Person schützen, schon von vornherein existieren. Übergriffe bleiben von einer breiten Allgemeinheit, sei es im Kollektiv oder im Freund*innenkreis, meist unbemerkt oder werden bewusst ignoriert.
Your Silence will not protect you.
Audre Lorde
Das Benennen von übergriffigem Verhalten als öffentlicher Akt stellt die vorherrschende Normalität in Frage und kann nicht heruntergespielt werden. Wer sich raushält, oder sich nicht positionieren will, also „keine Meinung“ hat, hilft damit eindeutig und ausschließlich dem Täter. Dabei sind meiner Meinung nach die Gründe egal, sei es aus Überforderung mit dem Thema, aus Unlust, sich damit auseinanderzusetzen, oder aus Sympathie mit dem gewaltausübenden Menschen. Es sollte aber immer darum gehen, Betroffene zu schützen. Dabei können Callouts helfen. Wenn sich Hausprojekte, Kollektive und Veranstaltungsräume gegen Sexismus aussprechen, sollte auch der Anspruch da sein, gegen die sexistische und gewaltvolle Gesellschaft aktiv vorzugehen, anstatt lediglich Pickerl kleben zu haben, auf denen „no sexism, no racism, no homophobia“ oder „nein heißt nein“ steht. Die Auseinandersetzung mit der Reproduktion von Sexismen und die Selbstreflektion darüber ist nicht mal eben schnell erledigt.
Eine Konfrontation mit den vielfältigen Formen von Gewalt bzw. deren Definition zu hinterfragen ist unumgänglich. Wo fängt Gewalt an und wer hat die Deutungshoheit darüber? Wer fügt wem Gewalt zu? Bei wem wird es getadelt, bei wem abgewunken? Wer hört wem zu? Wann wird wie eingegriffen? Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es und für wen? Mit welchen Folgen? Für wen? …
Die Verständigung der Polizei bei Gewalt und das Vertrauen in das Justizsystem sind Grundpfeiler „demokratischer Gesellschaften“. Dieses Justizsystem ist aus vielen Gründen kritisch zu betrachten und anzufechten, dies sprengt jedoch den Rahmen für diesen Text.
Der Polizeiapparat ist ein Machtinstrument, das von toxischer Männlichkeit und Rassismus durchtränkt ist. Es ist nicht immer ratsam oder sicher für Betroffene zur Polizei zu gehen, insbesondere für diejenigen, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind. Nicht jeder Übergriff kann überhaupt als solcher angezeigt werden, was ihn aber nicht weniger gravierend macht. Die Folge sind meistens nur Sanktionierungen durch Freiheitsentzug oder Geldstrafen.
Im Knast wird wenig an Lösungen gearbeitet, die strukturelle Ursachen von Gewalt beheben können. Es werden nur Symptome und nicht die dahinterliegenden Ursachen angegangen, die Gewalt ständig reproduzieren.
Es ist eine sehr individualistische Herangehensweise an Probleme, die in „demokratischen Gesellschaften“ gelebt wird, nämlich, dass der Täter das Problem darstellt, welches mit Strafen gelöst werden kann. Dies lässt einen essentiellen Teil der Lösung außer Acht: der Kontext und das jeweilige Umfeld fördern ein bestimmtes Verhalten. Beziehungsweise erhalten Menschen im Umfeld ein Verhalten aufrecht, weswegen sie nicht unabhängig von gewaltausübenden Personen gesehen werden dürfen.
Was können wir also tun?
Es wurde bereits viel Vorarbeit geleistet. Es muss nicht alles neu erfunden werden. Die Konzepte transformative justice und community accountability z. B. zeigen auf, wie Gewalt Ausdruck von Machtstrukturen ist. Diese Konzepte sind eng an den betroffenen Zusammenhang gebunden, in denen z. B. Arbeitsgruppen gebildet werden, die die betroffene Person einbinden, unterstützen und die gewaltausübende Person inkludieren anstatt zu isolieren. Der gewaltausübenden Person wird die Möglichkeit gegeben, die eigene Machtposition wahrzunehmen und zu hinterfragen.
Das Ziel ist es, eine nachhaltigere Veränderung zu bewirken, als dies durch bloße Sanktionierung erreicht werden würde. Wenn der Täter diese Angebote nicht annimmt und keine Verantwortungsübernahme für sein Handeln zeigt, indem er nach Hilfe fragt o. Ä., erst dann sollte über Sanktionierungen nachgedacht werden. Damit endet aber nicht die Auseinandersetzung und Verantwortungspflicht für kollektive, öffentliche Räume.
Diese beiden Konzepte, transformative justice und community accountability, mit Handlungsmöglichkeiten für Betroffene abseits vom juristischen Apparat wurden von Kritiker*innen am Knastsystem, besonders von FLINTAs, queeren Menschen und BlPoc in den USA entwickelt, aus der Not der mehrfachen Gewalterfahrungen heraus – der sogenannten Intersektionalität (z. B. Rassismus und Sexismus).
Der oben genannte Callout beinhaltet die Ansätze aus eben diesen Konzepten und er sollte nicht das Ende einer gemeinschaftlichen Aufarbeitung sein, vielmehr eine Sichtbarmachung von emotionalen Folgen und unbezahlter Bildungs- und Care Arbeit für und durch betroffene, unterstützende und mitbetroffene Menschen. Dies kam zustande, weil Täterschutz betrieben wurde. Und weil normalisiert wurde. Denn keiner der Mitwissenden der nahestehenden Menschen hat gefragt, wie die betroffene Person sich damit fühlt, dass der Täter weiterhin etwa an ihrer Arbeitsstelle auftaucht und dort Raum einnimmt. Das macht deutlich, wie wenig Sensibilisierung hier für Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit sexualisierter Gewalt besteht.
Der Callout soll anderen die Möglichkeit bieten, sich zu schützen. Er ist ein Weg der Transparenz und der Versuch, die Verantwortung der Auseinandersetzung abgeben zu können – an Veranstaltungsräume, Wohnprojekte und Kollektive, in denen sich sowohl die Betroffene als auch die gewaltausübende Person bewegen.
Er enthält Forderungen an den Täter, den ehemaligen Wohnkontext, sein derzeitiges Umfeld und nahestehende Mitwissende der betroffenen Person sowie ihr Arbeitsumfeld.
Verantwortungsübernahme ist immer möglich. Jedes Projekt bzw. Kollektiv, das darüber spricht, kann die Entscheidung treffen, einen Umgang damit zu finden, der nicht Sanktionierung oder Ignoranz bedeutet und der zeigt, dass sexualisierte Gewalt auch in den eigenen Räumen ernst genommen wird.
Im Sinne der transformativen Arbeit können sich neue oder überhaupt Selbstverständnisse bilden, die viel Austausch, Bildungsarbeit, Aufklärung und Umstrukturierung bedeuten, eine Politisierung erlauben, patriarchale Strukturen sichtbar machen und diese aktiv ändern.
Queers und FLINTAs setzen sich notwendigerweise viel häufiger mit sexualisierter Gewalt auseinander und wie ein Umgang damit aussehen kann, da sich die überwiegende Zahl an Übergriffen gegen sie richtet. Das sollte aber so nicht sein. Es muss eine ansprechbare, niederschwellige, sichtbare und beständige Struktur geben, die sich kontinuierlich mit dem Thema beschäftigt und es ermöglicht, Probleme mit patriarchaler Gewalt und demnach meist cis-männlichen Personen darzulegen. Wir sind alle Teil davon – wer die Augen schließt, schweigt. Wer nur auf die Polizei hinweist, ist ignorant und unsolidarisch und kollektives Schweigen ist auch Täterschutz!
Konfrontiert Menschen in eurem Umfeld mit ihrem gewaltvollen Verhalten! Übernehmt Verantwortung für euch und eure Zusammenhänge!
Aus der Hoffnung heraus, dass an Linzer Szeneorten eine gemeinschaftliche Kultur entstehen kann, die Verantwortungsübernahme und Heilung ermöglicht; für ALLE Beteiligten.
In Anlehnung an Königin der Macht: „Egal ob du willst oder nicht, ich verbiete getrieben die männliche Ordnung“. Mit Herz und Faust und Zwinker Zwinker*.
Verweise:
Texttitel: Titelline aus dem Song von EsRAP & Gasmac Gilmore – Freunde dabei. Königin der Macht KDM – Matryarkhat www.youtube.com/watch?v=G30uw9U_MI4
*Mit Herz und Faust und Zwinker Zwinker hab ich Jan Böhmermann geklaut.
Weiterführende Lektüre:
Schwerdtner, Lillian. „Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt – ein Plädoyer für Kollektivität und Selbstbestimmung“, 2021 edition assemblage
Ann Wiesental. „Antisexistische Awareness – ein Handbuch“. 2017 Unrast Verlag AwA Stern* in Wien bietet Lektüre und Workshops an awareness.wien
Gegen_Gewalt Würzburg: Wi(e)derstand nach dem Fall. Impulse für einen kollektiven Umgang mit sexualisierter Gewalt.
Weitere Hinweise:
transformharm.org
metoomvmt.org
blacklivesmatter.com/herstory
www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/178660/aufschrei
Siehe auch das Work-in-Progress-Projekt „silence, i kill you“ von pa! und Verbündeter ronit. newcontext.stwst.at/work_in_progress_sugar_pa_ronit
Ein Showing dieses Projektes ist im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der STWST am 29. April 2023 geplant. pa! hat sich auf Grund von unreflektierten gewaltvollen Machtstrukturen, unsolidarischem Verhalten und fehlender konstruktiver Kritikfähigkeit aus sämtlichen Räumen zurückgezogen. Bevor pa! nach Linz kam, hat pa! unter anderem Workshops für Kollektive und Clubbelegschaften in Antisexistischer Awareness (mit-)organisiert und Konzepte (mit-)erstellt.
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