Alles immer wieder anfangen
Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie über frühe soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Hanna Mittelstädt über den Anarchismus, die Erfindung eines neuen Lebens und die Unzerstörbarkeit des Imaginären.
Alles wird immer wieder neu anzufangen sein
(Unsichtbares Komitee, 2017)
Anarchismus, das war für mich Anfang der 1970er Jahre etwas „Imaginäres“, ein „Mythos“, etwas Geheimnisvolles, Abenteuerliches, Anziehendes. Es war eine Verlockung, entwickelte sich aber auch zu einem Gebäude, das Schutz bot. Meine „Bezugsgruppe“, also die Leute, mit denen ich mich damals auf die Entdeckungsreise begab, und ich, wir entdeckten in verschiedenen kollektiven oder gemeinschaftlichen Zusammenhängen die Geschichte und Formen des Anarchismus. Sobald das Gebäude klarere Konturen bekam, wurden auch seine Grenzen sichtbar, die Institutionen, und andererseits eine Unendlichkeit an Diversität. Was passte nicht alles unter diese Bezeichnung, historisch und in der Jetztzeit, und was nützte oder bedeutete dann also dieser Begriff?
Wir lernten auch die Idee eines „Imaginären“ kennen, wie sie von Cornelius Castoriadis (der damals auf Deutsch und Englisch auch unter dem Namen Paul Cardan veröffentlichte) geprägt wurde, und die des „Mythos“ von Georges Sorel. In unserer Sichtweise erweiterten diese Vorstellungen von den Glutkernen der Revolte oder der Revolution das Verständnis der gesellschaftlichen Veränderung: Die Glutkerne enthielten die Erinnerung oder die Sehnsucht, den aufständischen Impuls, das, was über die konkreten Klassenbedingungen und Ausrichtungen der Klassenkämpfe hinausging. Sobald die handelnden Menschen das Imaginäre und den Mythos als gleichwertige Bestandteile der Kampfbedingungen anerkennen, neben den Ausbeutungsverhältnissen und den Unterdrückungsmechanismen, landen wir bei der Subjektivität innerhalb des kollektiven Sozialen.
Der „subjektive Faktor“ erfuhr innerhalb der vielfältigen Formen der anarchistischen Bewegung immer eine größere Beachtung als bei der kommunistischen, wenn man diese Spaltung hier so vornehmen will. Obwohl sogar in der von den Bolschewiki gekaperten Russischen Revolution natürlich das Imaginäre, der Mythos einer großen, den ganzen Menschen und seine Umgebung umfassenden Veränderung vorhanden war: der Traum von einer Sache, über die das Bewusstsein erlangt werden muss, damit sie verwirklicht werden kann.
Dabei ahnen wir wohl, wie es sein könnte, vom Paradiese her
(Franz Jung, 1922)
Der Traum, das Imaginäre, der Mythos, der Impuls zur Freiheit … einerseits. Andererseits seine Verwirklichung, die durch das Bewusstsein über die soziale Situation hindurch kollektive oder kooperative anti-staatliche und anti-nationale Organisationsformen findet, in denen das alltägliche Leben, die Produktion der lebenswichtigen Güter, die das Bekannte überschreitende Neugier, der gesellschaftliche Luxus in Form von Überschwang, Festen, Kultur für alle geschaffen werden können. Diese sozialen Formen herrschaftsfrei, also an-archistisch, zu gestalten, wurde tatsächlich, aber wiederum auch nicht nur, in der historischen anarchistischen Bewegung praktiziert.
Die Spanische Revolution von 1936, die als Verteidigung der gewählten Republik gegen einen faschistischen Putsch begann, konnte nur so weit kommen und so lange andauern, weil sie, also die kämpfenden Menschen, auf einer seit Jahrzehnten installierten, selbst geschaffenen und selbstbewussten Sozialstruktur aufbauen konnten: auf den Nachbarschaften, den anarchistischen Gewerkschaften, den anti-staatlichen Bildungsstätten und jeder Form von gesellschaftlicher Selbstorganisation und gegenseitiger Hilfe. Diese Strukturen wurden vor allem in Katalonien und Aragon zwischen 1936 und 39 als Teil der Revolution weiterentwickelt. Den „Widerhall zwischen verschiedenen Facetten der Bewegung“ nennt das Unsichtbare Komitee diese Wechselbeziehung zwischen den Strukturen der Bewegung und der Vielzahl neuer Momente und Formen, die sich ständig verändern.
In Katalonien waren, nach den Zahlen von Carlos Semprun-Maura, 70 % der Betriebe kollektiviert, es gab zahlreiche landwirtschaftliche Kommunen, Arbeitermilizen, revolutionäre Komitees in den Betrieben, Vierteln, Städten und Dörfern, Umwälzungen im alltäglichen Leben, in der Lage der Frauen usw. Der gestörte „Widerhall“ zwischen den anarchistischen Strukturen und der Bewegung selbst war, neben der vereinigten internationalen Konterrevolution, die den Krieg forcierte, eine Sollbruchstelle des Scheiterns der Revolution. Sobald sich Strukturen zu Institutionen verfestigen, schließen sie die Bewegung aus. Sie werden Organe der Herrschaft.
Unter den Bedingungen eines Krieges lässt sich kaum Freiheit herstellen, auch keine An-archie. Aber die Grundregeln der Herrschaftsfreiheit galten sogar im Spanischen Bürgerkrieg: die Milizen waren anti-autoritär organisiert. Und im „Hinterland“ wurde weiter an der Praxis und den Zielen der Revolution gearbeitet. Das Scheitern war nicht nur die Unterlegenheit gegenüber den Kriegsmitteln der Konterrevolution, sondern auch das Paktieren der anarchistischen Organe mit der Macht. Die Organe waren Institutionen geworden, die scheitern mussten.
Das Spiel aller Menschen, die „bewegliche Ordnung der Zukunft“
(Raoul Vaneigem, 1962)
Wir haben seitdem weltweit unendlich viele dieser kollektiven Freiheitsimpulse beobachten oder an ihnen teilnehmen können. Die wenigsten bezeichnen sich als anarchistisch. Die Vorstellung der Räteorganisation taucht wieder auf, sobald die erste Revolte verbraucht, die wilde Demokratie von Platzbesetzungen und Demonstrationen ermüdet und die Handelnden über eine eigene Form der Zusammenkunft, des Zusammenhangs, der Zusammenarbeit nachdenken: Der Rätekommunismus ist auch ein historisches Modell einer herrschaftsfreien gesellschaftlichen Organisation. Spezifische regionale Bedingungen spielen eine Rolle, spezifische Bedingungen von Ausbeutung und Unterdrückung, gegen die sich die Aufstände richten.
Diese Vorstellungen sind als Folien wichtig, die historischen Versuche ebenso. Alle gescheiterten Versuche sind im Imaginären vorhanden und werden irgendwo auf der Welt praktiziert, sei es im Lakandonischen Urwald oder in Rojava, in Hongkong oder Teheran, in Frankreich oder Lützerath.
Für meine Bezugsgruppe und mich gab es noch einen weiteren wichtigen Impulsgeber, der uns aus dem anarchistischen Gebäude herauskatapultierte: die Situationistische Internationale. Diese Gruppierung, die die Welt nach den 1950er Jahren bis 1969 radikal attackierte, und zwar in Ost und West (der Süden blieb ihr eher verschlossen), stellte eine Begrifflichkeit bereit, mit der die Hysterie der kapitalistischen Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg erfassbar wurde: Die Warengesellschaft war zur alle menschlichen Verhältnisse durchdringenden Gesellschaft des Spektakels geworden. Außerdem waren die situationistischen Positionen gegen jederart politische und kulturelle Institutionen neuartig und grundlegend: Die Welt sollte gänzlich neu gestaltet, Kunst, Politik und Alltagsleben sollten eins werden. Die situationistischen Ideen waren eine Art Geburtshelfer für die Vielheit an Aktions- und Organisationsformen, die sich seit dem Mai 68 weltweit entwickelten.
Sich an das binden, was man als wahr empfindet. Da anfangen.
(Unsichtbares Komitee, 2007)
Nachdem wir das anarchistische Gebäude verlassen hatten, durch das situationistische gerobbt waren (unsere Aneignung ihrer Gedankenwelt erfolgte durch das Übersetzen sämtlicher von ihr herausgegebenen Zeitschriften), schienen uns ideologische Zuschreibungen für die verschiedenen Initiativen der tiefgreifenden sozialen Veränderung überflüssig. Inzwischen gab es eine beschleunigte Kommunikation, in der die Aufstände der Welt in „Echtzeit“ ausgetauscht werden konnten. Wer wollte sich mit dem Kategorisieren abgeben? Die Sprache, die Zeichen, die Parolen, sie sind spezifisch, sie sind aber auch „kreolisiert“, sie sind ein Widerhall der globalen revolutionären Geschichte. Die alten Formen politischer Intervention sind verbraucht, wer glaubt noch den bestehenden Institutionen? Nicht nur die Formen des kapitalistischen Systems in West und Ost und Nord und Süd sind obsolet und in einem rasanten Niedergang begriffen, auch die integrierten Formen der Opposition (Parteien, Gewerkschaften etc.) sind es.
Die dezentralen Basisbewegungen, die Aktivitäten der gesellschaftlichen Ränder, die in die eigenen Hände genommene Produktion und Verteilung von Gütern: all das knüpft, zumindest für mein Verständnis, an die anarchistischen Traditionen an, geht aber ebenso über sie hinaus. Ob die Forderung nach „Land und Freiheit“ in Lateinamerika, Spanien oder der ukrainischen Machnowtschina nach der Oktoberrevolution als anarchistisch bezeichnet werden kann? Mir scheint das unerheblich. Die Unzerstörbarkeit des Imaginären, die weltweiten praktischen Erfahrungen der Selbstorganisation und Selbstbehauptung, der unbedingte Willen zur Erkenntnis über die Strukturen, die uns unterdrücken, und diejenigen, die uns ein gewaltfreies und herrschaftsloses Zusammenleben ermöglichen können, daran als überzeugte Staatsdelegitimierer*innen mit Experimentierfreude und Entschiedenheit zu arbeiten, das scheint mir ausreichend.
Literatur:
Carlos Semprun-Maura, Revolution und Konterrevolution in Katalonien (Hamburg, 1983) Situationistische Internationale, Der Beginn einer Epoche (Hamburg, 1995, 2008) Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand (Hamburg, 2010); An unsere Freunde (2015); Jetzt (2017)
Im Frühjahr 2023 erscheint das Buch:
Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens. Chronik eines Verlags in der Edition Nautilus. Zehn Jahre nach dem Tod Lutz Schulenburgs blickt Hanna Mittelstädt zurück auf vier Jahrzehnte Edition Nautilus und erzählt eine kollektive Geschichte.
Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org
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