Als gäbe es kein Morgen
Tagsüber arbeiten sie als Redakteure oder Wissenschaftlerinnen, alle in prekären Anstellungs-Verhältnissen, in ihrer Freizeit verlieren sie sich in Drogen, Fetisch, Partys und Sex. Dass die Geschichte in Berlin angesiedelt ist, ist natürlich kein Zufall: Ines Schütz über die broken people in Marianne Jungmaiers Buch „Sonnenkönige“.
„Das Buch ist für mich ein Experiment“, sagt Marianne Jungmaier über ihren zweiten Roman „Sonnenkönige“. „Ich habe einen anderen Stil probiert und andere Themen, die nicht einfach sind.“ Im Grunde ist jedes ihrer Bücher ein solches Experiment, ihre beiden Bände mit Kurzprosa „Die Farbe des Herbstholzes“ (2012) und „Sommernomaden“ (2016) genauso wie ihr Lyrikband „harlots im Herzen“ (2014) und die Romane „Tortenprotokoll“ (2015) und eben „Sonnenkönige“ (2018). „Mir war es ein Anliegen“, so Jungmaier weiter, „wie ich das bei allen meinen Büchern mache, dass ich eine Lebenssituation nachzeichne, die ich interessant gefunden habe, als ich sie beobachtet habe.“
In „Tortenprotokoll“ war das die Lebenssituation einer Familie, die ein sogenanntes bodenständiges Leben auf dem Land führt, die tut, was sich gehört, aber nicht miteinander reden kann. Der Roman steigt ein mit einem Verlust, mit dem Tod der Großmutter. Friederike, die gleichnamige Enkelin, macht sich auf den Weg aus der Großstadt Berlin ins elterliche Dorf, um mit ihrem Freund aus Kindertagen in Erinnerungen zu kramen, dabei stoßen die beiden auf ein Bild der Großmutter, das ihnen völlig neu ist. Während sich alle Familienmitglieder an die nie ausgesprochene, aber gelebte Maxime der Großmutter „nie zu viel streicheln, nie zu viel lieben“ zu halten scheinen, „sich mit Schlagobers den Mund stopfen, Konflikte mit Buttercreme zuschmieren, Torten und Strudel zu essen, um nicht reden zu müssen“, finden sich ausgerechnet im abgegriffenen Rezeptbuch der Großmutter, von der Familie ehrfurchtsvoll „Tortenprotokoll“ genannt, zärtliche Liebesbriefe eines Mannes, der nicht der Großvater gewesen sein kann und zeugen von einem Leben, das die Großmutter verborgen vor allen gelebt hat.
Davon, dass ein Leben, das man vor und mit anderen führt, nicht unbedingt das eigentliche sein muss, erzählt auch der Roman „Sonnenkönige“, so unterschiedlich er stilistisch, perspektivisch und thematisch auch ist. Inhaltlich dockt das Buch an die unter dem Titel „Sommernomaden“ erschienenen Stories an, die vom Reisen erzählen, von der Lust an der Freiheit, am Unterwegssein und daran, einander (oder auch sich selbst) zu begegnen und wieder zu verlieren. „Sonnenkönige“ erzählt aus der Sicht Aidans ebenfalls von einer Art Unterwegs-Sein, von einem Leben im Flow. Marianne Jungmaier bezeichnet ihre Hauptfigur als drifter, „er hat nicht wirklich Halt in seinem Leben. Er hat einen Job, der nicht sicher ist, eine Beziehung, die nicht sicher ist und eine Wohnung, die nicht sicher ist.“ Alles Rahmenbedingungen für ein Leben von Menschen um die Dreißig, wie die Autorin sie oft beobachten konnte. „Es sind Charaktere, denen ich auch in meiner Generation, in der Jetzt-Zeit oft begegne: sich nicht einlassen wollen, alles ist käuflich, alles ist vergänglich, unverbindliche Beziehungen – das ist heute Normalzustand geworden und das wollte ich auch zeigen“.
Aidan und Hannah sind ein Paar, die Freundinnen Sam und Cherry auch. Miteinander haben sie eine Art Familie kreiert, ihr Lebensmittelpunkt ist eine WG in Berlin. Tagsüber arbeiten sie als Redakteure oder Wissenschaftlerinnen, alle in prekären Anstellungs-Verhältnissen, in ihrer Freizeit verlieren sie sich in Drogen, Fetisch, Partys und Sex. Dass die Geschichte in Berlin angesiedelt ist, ist natürlich kein Zufall: Es gehe in ihrem Buch um „broken people, die alle auf der Scholle Berlin gelandet sind“, so Jungmaier, und „in Berlin ist das relativ aufgelegt. Wenn man dort lebt und ausgeht, oder auch wenn man sich mit Sexualität auseinandersetzt, kommt man schnell in Berührung mit dieser Szene.“ Themen, mit denen sich Jungmaier in diesem Roman auseinandersetzt und „die nicht einfach sind“, sind Sexualität und Gender, eine Lebenssituation, die sie interessant gefunden hat, als sie sie beobachtet hat, ist das Paralleluniversum einer Subkultur in Berlin. „Die Hauptcharakterinnen(!), Sam und Cherry, führen eine BDSM Beziehung. Für mich war das wichtig, dass in meinem Buch eben Frauen mit einer starken Sexualität, die sie selbst gewählt haben, vorkommen, und dass ich zwei Frauen, die zusammen sind, darstelle. Für mich ist das in den Medien noch zu wenig vertreten: dass Frauen eine selbstbestimmte, selbstgewählte Sexualität ausleben.“ So sehr die Beziehung dieser beiden Frauen auf den ersten Blick von dem abweicht, was gemeinhin als klassische Paarbeziehung bezeichnet wird, so sehr ähnelt sie ihr in ihrem Prinzip: nämlich dass zwei Menschen aufeinander bezogen sind. Das ist ein Ausnahmefall im Meer von offenen Beziehungen, wie sie im Roman beschrieben werden. „Es war aber auch ein Berliner Problem“, heißt es hier. „Jeder hier war polyamourös, aber kaum jemand meinte es so. Die meisten wollten sich einfach nicht festlegen“.
Aidans Beziehung mit Hannah geht, trotz aller Offenheit, in die Brüche. Zum einen deshalb, weil er eine Festanstellung bekommt, wie sie sich auch Hannah erhofft, und er ihr, obwohl sie qualifizierter ist, damit im Verlagshaus vorgezogen wird. Zum anderen, weil er bei einer Party Bill kennenlernt, in den er sich sofort verliebt. Gemeinsam mit ihm will er seinen Traum, den er bis dahin im „Hobbykeller“ verfolgt und vor seinen Mitbewohnerinnen geheim gehalten hat, verwirklichen: Er will einen Drachen aus Eschenholz bauen, ihn zum Favilla-Festival nach Nevada bringen und ihn dort verbrennen. Im zweiten Teil des Buches, übertitelt mit „San Francisco – Favilla“, wird die Suche nach Rausch und Ekstase, nach dem Verlust von sich selbst auf die Spitze getrieben, gespiegelt in der Surrealität einer Festival-Stadt (angelehnt an „Burning Man“), einer mehrere Tage dauernden riesigen Party, zu der Leute aus aller Welt in die Wüste kommen. „Es ist total abgefahren“, so Hannah im Roman. „Du gehst verloren. Im Festival, aber auch dir selbst. Und trotzdem ist es ein Nachhause-Kommen. In deine Community, zu deinen Leuten. Und du kannst einfach du selbst sein“.
Mit „Sonnenkönige“ hat Marianne Jungmaier ein Buch über Menschen geschrieben, die an der Oberfläche leben, die sich treiben lassen. Genau das wollte sie auch. Ihre „Figuren leben in einer Hybris, in ihrer eigenen Blase, in ihrem eigenen Sein, ihrem ‚Wir sind die Größten in unserer Welt‘. Sie leben, als gäbe es kein Morgen; es gibt nie den Gedanken ‚Was macht das mit mir, was ich gerade tue?‘“
Dass eine solche Entscheidung für eine Welt ohne Tiefe nicht von ungefähr kommt, wenn im eigenen Leben von der Herkunftsfamilie angefangen nichts, aber auch wirklich gar nichts fix ist, schwingt im Roman immer mit. „Wer sich einlässt auf Aidans Welt“, so Barbara Krennmayr im Oö. Kulturbericht, „findet ein umsichtiges, urteilsfreies Portrait einer Generation von gut ausgebildeten, urbanen Zwanzig- bis Dreißigjährigen, die sich nicht festlegen will, aber auch nicht so recht glücklich wird damit.“ Dass man in den Untiefen eines solchen Lebens doch auch immer wieder Halt finden kann, bei einem anderen Menschen oder vielleicht sogar in sich selbst, grenzt, wie das temporäre, schrille und bunte Festival in der Wüste, fast an ein Wunder: „Sonnenkönige ist eine Kampfansage gegen Mieselsucht, Melancholie und allgemeine Angstzustände unserer Zeit“, schreibt Wolfgang Huber-Lang für die APA, „ein irritierendes Buch, das in seinem unbedingten Beharren auf den realisierbaren Gegenentwurf erstaunlich ist. Eskapismus könnte man das nennen. Oder: schöne Utopie.“
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