Aufgewackt, hergelockt und abgepoppt

Ein zeitgenössisches Frühlings-Tanz-Fest zwischen Südasien und Europa. Gerlinde Roidinger schreibt über vielfarbige Städte, bunte Kulturen und eine Menschenwelt: Inter-Dance-Project Linz Kalkutta#2, Teil II eines interkontinentalen Tanzprojekts von Elias Choi-Buttinger in Linz, ein verbindendes Städtchen an der türkis-blauen Donau.

Foto Pepe Zalba

Foto Pepe Zalba

Ich bin zu früh, stelle zuerst den Motor und dann das Licht ab, und warte. Es scheint irgendwie mehr los zu sein als letztes Mal, vielleicht weil Freitag ist, kurz nach Mittag. Ein Anruf, keiner hebt ab. Ich beginne ihn zu beobachten, diesen dunkelhäutigen Mann mit Zigarette, oder ist’s eine, wie heißt das noch mal, Tüte? Dann eine Frau mit Turban, weniger ein Kopftuch. Linz, Kalkutta. Ich sollte wahrscheinlich wissen, wie das zu unterscheiden wäre. Egal. Ein junger Mann, vielleicht ein Student, kommt mir entgegen, er hat helle Haare, blond, eigentlich mehr rötlich. Ich schaue auf die Uhr, löse den Gurt, bleibe sitzen. Eine ältere Dame, stark geschminkt, quert die Straße, mit vollen Einkaufstaschen. Von der anderen Seite quert jetzt ein älterer Mann die Straße, er hat ergrautes, leicht schütteres Haar, schaut irgendwie freundlich aus, trägt ein so genanntes Sackerl. Zu Deutsch Tüte. Es ist nicht viel drin, vielleicht ein kleines Geldbörserl. Kalkutta, Linz. Ich immer noch im Auto. Das Gesicht im Rückspiegel kann ich nicht erkennen, vielleicht ein Mann, eine Frau, … Ich kann’s nicht sagen. Beim Dunkelhäutigen weiß ich’s genau, er trägt eine dunkelblaue Haube und eine khakifarbene Jacke, steht noch immer an der Kreuzung. Wider Erwarten bleibt er an der Ecke, quert nicht die Straße, wartet, raucht. Der Rothaar-Student geht jetzt wieder retour, ich schätze ihn 28, vielleicht jünger. Eins nach. Ich öffne die Fahrertür, betrete den sauberen Gehsteig: Linz, Ghegastraße.

In der Wohnung angekommen, erzählt mir Elias von seiner Reise nach Indien, von einer befremdlichen Ankunft am Flughafen, der nicht endend wollenden Taxifahrt quer durch Kalkutta und einer von Angst erfüllten, schlaflosen Nacht: Zu viele Eindrücke, zu viel Neues. Und von einem Tanzstück namens Inter-Dance-Project, das er nach einer mehrtägigen Eingewöhnungsphase im geruchsintensiven Kalkutta mit lokalen Künstler*innen initiiert und zur Aufführung brachte. Es handelt sich um ein Tanzstück, das er 2 Jahre später nach Linz transferiert. Linz? Eine Stadt, in der sich knapp 194 Tsd. Menschen begegnen und aus dem Weg gehen, aus Europa oder Asien, aus aller Herren-, Frauen- und Genderländer. Ebenso wie in Kolkata, Calcutta oder Kalkutta, auch „Stadt der Freunde“ genannt, in der rund 30 Mio. Menschen leben, vorwiegend auf der Straße und in Armut. Elias lernt manche davon kennen und trifft sich regelmäßig mit ihnen. Mehrere Wochen leben und trainieren sie gemeinsam. Während sie probieren und experimentieren erarbeiten sie schließlich ein umfassendes Projekt, das Inter-Dance-Project, in dem sie zwei scheinbar völlig gegensätzliche Tanzstile gegenüberstellen, reflektieren und verbinden: Breakdance und klassischen indischen Tanz. Elias und seine indischen Kolleg*innen sind fasziniert von der Vielfalt der Tanzstile und deren Gemeinsamkeiten. Das Ergebnis dieser intensiven Auseinandersetzung wird später in Ahindra Manch, einer der größten Bühnen Kalkuttas, präsentiert, und Szenen daraus auch im öffentlichen Raum, etwa in U-Bahnen und auf Brücken, öffentlichen Marktplätzen und auf dem Uni-Campus. Elias will auf diese Weise den zeitgenössischen Tanz voranbringen und so einen Austausch für professionelle Tänzer*innen ermöglichen, um die Szene zu bereichern und Menschen aus verschiedenen Kulturen zu verbinden.

Kultur(en)! Oje, schon wieder dieses inflationäre Wort! Sorry, aber ich kann es schlichtweg nicht mehr hören. Ein kleiner gedanklicher Abstecher ins World Wide Web sei mir hier deshalb hoffentlich verziehen: Als erstes Suchergebnis finde ich (welch Überraschung!) einen Wikipedia-Eintrag mit der wörtlichen Bedeutung aus dem Lateinischen „cultura“ (= Bearbeitung, Pflege, Ackerbau), wobei Kultur im weitesten Sinne „alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt“ beschreibt und im engeren Sinne „ein System von Regeln und Gewohnheiten, die das Zusammenleben und Verhalten der Menschen leiten“.

Aber zurück zum Tanzstück: Es gehe um Integration, höre ich Elias später sagen. Shit, denke ich: Wort Nummer 2, das bei mir rein ins Ohr und direkt gegenüber gleich wieder rausfliegt, einfach weil es mein Gehirn wegen Übersättigung nicht mehr aufnehmen kann. Keine Sorge, dieses Mal wird es kein Exkurs, nur so viel: „Integrare“, ebenfalls lateinisch: erneuern, ergänzen und geistig auffrischen.

Die Idee für das integrativ-interkontinentale Tanzprojekt sei also in Kalkutta entstanden, erklärt Elias weiter. Er, selbst zeitgenössischer Tänzer und professioneller BBoy sowie Breakdance-Lehrer, trifft dort auf Darshana Borkotoky, eine der besten Tänzer*innen des klassischen indischen Tanzes und Gewinnerin von zahlreichen Preisen indischer Tanzwettbewerbe, mit einem Masterstudium in Bharatnatyam, der wohl berühmteste der indischen Tänze. Die beiden verstehen sich auf Anhieb, unterrichten sich gegenseitig, lernen voneinander, erforschen ihre Art zu tanzen und versuchen im Austausch Neues entstehen zu lassen. Gemeinsam mit den anderen Tänzer*innen aus der Breakdance- und klassischen Szene experimentieren sie mit den unterschiedlichen Tanzstilen, vermengen Breakdance-Moves mit indischer Hochkultur und tanzen für Kali, die indische Göttin der Erneuerung. Bald haben sie ein Stück entwickelt, mit dem sie dank LinzEXPORT 2016 durch ganz Kalkutta touren und welches nun durch Elias’ unermüdliches Bemühen um Förderungen und die Unterstützung des österreichischen Bundeskanzleramtes als Inter-Dance-Project#2 im Frühling 2018 in Linz fortgeführt wird.

Zusammen:wachsen lautet der Name der Förderung des bka, und so auch das Ziel von Elias, der überzeugt ist, dass „sich bewegen“ wohl der einzige Weg für die Menschen ist, wenn sie auf diesem Planeten überleben wollen: Wer in Zeiten von Erderwärmung und Klimakatastrophen in den Fluten der immer knapper werdenden Wasserressourcen nicht untergehen will, tut gut daran, neue Plätze kennenzulernen und sich aktiv daran zu beteiligen, miteinander auszukommen, um vorwärts zu kommen, ist der junge Choreograf sicher. Neue Kulturen kennenzulernen heißt für Elias, sich und sein Leben zu erfrischen: „Wir sind JETZT da, und wir leben im Moment. Auch wenn es manche nicht mitbekommen.“ Diese lebendige Haltung will er auch für Linz spürbar machen.

Aus Indien werden dafür 5 ausgezeichnete Tänzer*innen eingeflogen, um in einem 6-wöchigen Research-Projekt mit weiteren 4 lokalen Künstler*innen aus Tanz und Musik zusammenzuarbeiten. Insgesamt 9 Tanzstile hält dieses Multi-Kulti-Tanzprojekt bereit: Die klassischen indischen Tänze Bharatanatyam und Odissi, drei Stilrichtungen des urbanen Tanzes -Popping, Wacking und Breaking-, sowie auch syrischen und chinesischen Volkstanz und Einflüsse des zeitgenössischen Tanzes und des klassischen Balletts. Bharatanatyam, ein Tanz mit sehr vielen kleinen Bewegungen und Handgesten, vermittelt beispielsweise im Gegensatz zum klassischen Ballett der europäischen Hochkultur keinesfalls ein luftiges Körperkonzept und strebt demnach auch nicht nach Leichtigkeit. Vielmehr ist er erdig, manchmal auch schnell und dynamisch, und erfordert ebenso jahrelanges Training sowie eine enorme Körperbeherrschung. Nahezu jede Muskelbewegung hat eine Bedeutung, etwa auch ganz kleine Bewegungen der Augen und Augenbrauen. Elias, in der europäischen Hip­Hop- und Breakdance-Szene sozialisiert, verbindet in diesem Inter-Dance-Project jedoch nicht nur europäische und indische Kultur, sondern vor allem auch indische Hochkultur mit der Welt des Urban Dance indischer Ghettos. Extreme, die sich zwischen den emporragenden Himalaya-Gebirgsketten und den Straßen der staubigen Slums Indiens abzeichnen, und sich in den Tälern zwischen Arm und Reich sowie auch im Tanz widerspiegeln.

Um diesen Kultursprung mit all seinen Breaking Moves und tänzerischen Highlights möglichst vielen, vor allem auch jungen Menschen in Linz erfahrbar zu machen, wird neben der Anton Bruckner Privatuniversität und der Redsapata Tanzfabrik auch das Jugendzentrum Ann & Pat Schau- und Aktionsplatz von Unterrichtspraxis und offenen Gesprächen sein. Die kontroversen Tanzstile können im Workshop-Format kennengelernt und diskutiert werden, Einblicke in die künstlerische Arbeit der Tänzer*innen und die Möglichkeit zum persönlichen Austausch gibt es immer wieder auch tagsüber. Als sichtbares „Resultat“ dieses Inter-Dance-Project#2 wird das neunköpfige Ensemble Ende April in Wien (27. 4. Weltmuseum Wien, 28. 4. Volkskundemuseum Wien) und Anfang Mai in Linz (3. 5. Lentos Kunstmuseum) schließlich ein Tanzstück präsentieren, das die zeitgenössische Tanzszene bereichern sowie die Menschen vor Ort und darüber hinaus zum kulturellen Diskurs einladen soll …

Elias muss gleich zum Training, ich verabschiede mich. Auch bei Aruna, sie strampelt gerade ihre nackigen Füßchen in die Luft. Aufgeweckt lächelt sie jetzt ihren Papa an, während ich in ihren Augen die Ähnlichkeit mit ihrer Mama Wendy aus Macau, ebenfalls Tänzerin des Inter-Dance-Project#2, erkennen kann. Die Kleine ist erst ein paar Wochen frisch und hat gerade fleißig in die Windel gepfeffert. Scharfsinnig hält sie still und reagiert auf meine Stimme: So ein schönes Mädchen! Beautiful!

 

Inter-Dance-Project#2
26. März – 6. Mai 2018 in Linz
danceidp.com

Fr 27. 04. im Weltmuseum Wien

Sa 28. 04. im Volkskundemuseum Wien

Do 03. 05. im Lentos Kunstmuseum Linz

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