Bring the Ultranoise!

Entwickelt sich in Linz ein kleines Epizentrum der Sound Arts? Wenn ja, dann ist daran sicher auch der eben hier lebende Künstler Enrique Tomás beteiligt. Über einen der Umtriebigsten in diesem Feld schreibt Andre Zogholy.

Enrique Tomás heterogener Schaffensbereich reicht von Live-Performances und Kompositionen über Installationen bis hin zu Arbeiten, die an den Schnittstellen von Wissenschaft und Kunst operieren. Den in Madrid aufgewachsenen Enrique Tomás hat es vor rund 10 Jahren nach Linz verschlagen.

Wieso Linz?

„Du wachst in der Früh auf und fragst dich, was machst du hier? Denn es kann ja ebenso auch New York, Berlin oder irgendwo sein,“ so Enrique Tomás, der mit seinem Wuschelkopf durchaus optisch keine Vergleiche mit Melvins King Buzzo zu scheuen braucht. Es waren die Ars Electronica Festivals in den Jahren 2005 und vor allem 2006, die für ihn eine Schiene von Madrid in die Stahlstadt gelegt haben. Sein erstes größeres Projekt über das Future Lab realisierte er in Folge gemeinsam mit Rupert Huber mit einer sowohl generativen wie auch interaktiven Mehrkanal-Soundinstallation am Flughafen in Wien Schwechat. Die Arbeit „Airport Soundscapes“ zapfte die Daten des Flugverkehrs an, übersetzte diese in Klang und versuchte so, Raum und Zeit via Algorithmen neu zu strukturieren. „Airport Soundscapes“ – mittlerweile von den Betreibern des Flughafens eingestellt, denn diese seien mehr „an einer Shopping Mall, als an Medienkunst interessiert“ – referenziert hier ganz klar auf „Ambient 1: Music for Airports“ aus den späten 1970ern von Brian Eno und stellt die Frage, wie und was eine Komposition für einen Flughafen heutzutage formal wie auch technisch sein könnte. Dieser oft durchaus übliche Referenzdschungel im Rahmen gegenwärtiger Sound Arts mit Namen wie Alvin Lucier, Karl Heinz Stockhausen oder eben Brian Eno wird bei Enrique Tomás mit den Pet Shop Boys verbunden – und zwar „alle auf einer selben Stufe“, wie er meint. Und dann kam noch der Zeitpunkt, als er Dub entdeckte und alle Sounds ineinander mischte. „Du mixt Stockhausen mit den Pet Shop Boys. Und alles macht auf einmal Sinn.“ George Gershwin, Komponist der Oper „Porgy and Bess“, fand im Noise unzählige, nie enden wollende Melodien. Dieser Umstand verweist auf zentrale Aspekte in den Arbeiten von Enrique Tomás und auch auf die Ambivalenzen im Zusammenhang mit Ästhetik, Rezeptions- und Einsatzweisen im Zusammenhang von mittlerweile inflationären Konzepten von Noise. Es handelt sich für ihn um sonisches Material, das im Gegensatz zu konkreten Sounds unglaubliche Freiheiten bietet und ganz andere Texturen ermöglicht. Enrique Tomás berichtet von Konzertbesucher_innen, die erzählen, dass es extrem laut und lärmend gewesen sei, sie aber nachher besser hören würden. Es handelt sich offenbar um ein Phänomen des Durchputzens der Gehörgänge, um ein Freilegen von Synapsen, um das Gegenteil von Tinnitus. Heavy Listening ist immer auch Easy Listening. Breitbandnoise auf höchstmöglicher Amplitude als Konzept von Wellness oder auch Disco.

Die Verhältnisse zum Tanzen bringen

Als Anfang September 2016 das spanische Duo Magmadam ein arhythmisches Noisegewitter bei einem Auftritt in Linz lostritt, finden sich im Auditorium zwei tanzende Personen. Es ist Enrique Tomás gemeinsam mit seiner sechsjährigen Tochter Elsa, die einen überdimensionalen Gehörschutz trägt, wie andere pelzige Ohrenschützer im Winter. „Mit meiner Tochter habe ich schon zu den Wellen des Ozeans getanzt, etwas sehr Leisem. Wir tanzen aber auch zu Frequenzen, teilweise mit extremen Amplituden.“ Elsa war bereits im Alter von sechs Monaten auf Performances ihres Vaters und experimentiert zuhause wild an ihrer Bontempi-Orgel, um dieser beispielsweise mittels Ein- und Ausschalten Fade-Ins und -Offs zu entlocken. Kinder mögen es, in Musik einzutauchen, gerade auch, wenn diese sehr brutal und roh sei, meint Enrique Tomás.

Diese Aussage verweist auf eine Geschichte über Pan Sonic, ein finnisches Elektronik-Noise-Duo, welches mittels Netzbrummen, minimalistischen Beats und selbstgebauten Synthesizern an ihren Klangwelten aus subsonaren Sinuswellen und hochfrequenten Rauschen arbeitete. Stewart Home wurde 1999 im Bizarre Magazine interviewt. Frage: „Sie haben jetzt einen Sohn bekommen. Wie kann man sich den Home-Haushalt vorstellen?“ Home: „Ich spiele ihm eine Menge Pan Sonic vor. Al Ackerman hat umfangreiche Studien darüber erarbeitet, welche Auswirkungen Musik auf die Entwicklung eines Kindes hat. Die traditionelle Ansicht ist, dass Mozart die Intelligenz des Kindes verbessert, aber, soweit ich Dr. Ackerman folgen konnte, wird das Kind dadurch konformistisch. Minimaler Techno wie der von Pan Sonic scheint eine nonkonformistische Wirkung zu haben.“

Februar 1934

Als jemand, der sich mit Medienkunst auseinandersetzt, ist der Finger auf der Landkarte schnell auf Linz gesetzt. Für Enrique Tomás taucht die Stadt aber früher in einem anderen Kontext auf: durch die Beschäftigung mit den Februarkämpfen 1934, die in Linz ihren Anfang nahmen. Sein Interesse an anarchistischen und linken Bewegungen führt zwangsweise zu Fragen nach dem Politischen, natürlich auch in der eigenen künstlerischen Arbeit. „Ich bin kein Aktivist durch oder mittels Kunst. Es gibt Leute, die beides unglaublich gut kombinieren und verbinden. Ich nehme den Begriff Aktivist_in sehr ernst. Kann ich mit meiner künstlerischen Arbeit die Situation von Refugees tatsächlich verbessern? Ich denke nicht!“ Konkret geht es Enrique Tomás um eine radikale Mikropolitik, die sich auch in seinen Arbeiten manifestiert. Dies beginnt ganz allgemein bei den Zugängen, bei den Netzwerken und Kooperationen, die Enrique Tomás eingeht, bei der Bearbeitung des sonischen Materials – das auch als Informationskanal gelesen werden kann – und wird am besten dann deutlich, wenn er über seine mannigfaltigen Arbeiten reflektiert.

Das Kunst/Wissenschaft/Hybrid

Das Œuvre reicht von seiner Augmented-Reality-Soundscape Arbeit noTours, die in Kooperation mit Martin Kaltenbrunner im Linzer Musiktheater zu erlebende Schallmauer, hin zu Performances in Multichannel-Setups mit bis zu 192 Speakern oder einer mehr als beindruckenden Performance mit der Flamenco-Tänzerin Ana Morales. Gemeinsam mit der interdisziplinären Künstlerin Daniela de Paulis „schießt“ er Sounds auf den Mond, um die darauf folgenden Echoes zu hören. Oder das Projekt Tangible Scores, das zunächst in einem Musikinterfacedesign-Kontext verortet ist, aber weit darüber hinaus verweist. Die Entwicklung von solchen Instrumenten steht als praktischer Teil seiner PhD-Arbeit an der Linzer Kunstuniversität einerseits im Vordergrund, andererseits entwickelt Enrique Tomás aus der Reflexion über neue taktile Instrumente eine Theorie des Zugangs, die traditionell linguistische Konzepte in die Schranken weist und Fragen der Repräsentation in den Vordergrund rückt, sowie neue methodische Settings in der Analyse der Zugänge zu Musikinstrumenten und der Notation zur Anwendung bringt. All diesen Arbeiten liegen immer erfrischend experimentelle Herangehensweisen zugrunde, die Enrique Tomás mit seinen Arbeiten an den vielfältigen Schnittstellen zu Sound Art verhandelt.

 

Enrique Tomás weilt außerdem den ganzen Februar 2017 in Berlin – im Rahmen einer Residency auf der Transmediale.

Und am 7. April wird im Laboral (Spanien) eine Ausstellung mit dem Namen „De lo íntimo a lo global“ eröffnet. Tomás präsentiert dort gemeinsam mit Martin Kaltenbrunner eine Version von Schallmauer, eine Arbeit, die die beiden für das Musiktheater Linz entwickelt haben.

Enrique Tomás wird am 7. Dezember sein jährliches Konzert „Sankt Interface“ veranstalten – mit Studenten und Studentinnen der Interface Culture.

Am 17. Jänner 2017 wird Art’s Birthday zelebriert, auch mit Studenten und Studentinnen der Interface Culture.

Interface Culture Musikkapelle, 24. Jänner, Stadtwerkstatt

The “Interface Culture Musikkapelle” is an unusual electronic music ensemble where each performer has to build an unique and novel musical interface for musical expression. Without the need of a conductor, smaller groups of musicians propose musical improvisations involving any kind of musical aesthetic.

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