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Meine Freundin. Sie ist jetzt auf ausgedehnten Reisen. Im Totenreich. Gerade kommt sie zurück. Wegen einer kleinen Angelegenheit, wie sie sagt. Es sei aber nicht notwendig, darüber im Detail zu sprechen. Das sagt sie noch im Stehen. Dann setzt sie sich nieder. Es geht nur mal kurz ums Leben außerhalb des Totenbetts, sagt sie, und: schlimme Zeiten, Anachronismen überall, ein Übergangsopportunismus, wohin man schaut. Die Totengräber haben sich überall an die Oberfläche gegraben, sagt sie. Sie meint diejenigen, die sich – in einem letzten pathologischen Aufbäumen – die Welt nach den Regeln des Alten neu herrichten wollen. Sie meint die Herrichter, die Einpeitscher aller Art. Oder auch die, die sich einfach gerne anpassen. Sie meint die, die sich billige Vorteile verschaffen und große Systeme daraus bilden. Und die, die sich gegenseitig Schlimmes antun. Sie meint das, was sich hinter der Fassade und unter der Oberfläche tut. Sie meint die Psychos und die Zombies. Sie spricht davon, dass sich das Totalitäre auf allen Ebenen ausgebreitet hat, und in jede zwischenmenschliche Beziehung eingesickert ist. „Eh schon wissen“, sagt sie. Und singt eine Melodie an, mit einem selbstkreierten, jedenfalls anzitierten Text, nämlich „T-t-t-t-talking bout my A-lie-nation“. Was das wieder soll. Und überhaupt. Aber egal. Jedenfalls meine Freundin, von wegen „Eh schon wissen“, ist dann doch wieder ganz das Gegenteil: Sie will es dann nämlich doch immer wieder wissen. Und will die Zonen oder Ereignisse finden, die frei sind von sowas. Das ist sie. Aus dieser Mischung besteht sie. So treibt sie sich grade in der Nacht herum. Weil sie es wissen will. Zieht durchs Nachtleben der Innenstadt, noch lieber durch die Spelunken der Vorstadt, fällt in Beisln an Schnellstraßen. Am Wochenende in der Früh sucht sie Großraumdiscos, Systemgastrostätten oder andere Eventkonzentrationen auf. Dann wieder zurück in die Stadt. Schaut herum. Hat Verschiedenes erlebt. Am Tag schläft sie, dämmert dahin oder denkt im abgedunkelten Raum nach. Nur halblebendig im Bett. Das ist ihr kleines Totenreich-Spielchen, ihr kleines Unzeit-, Lebens- und Zwischenreich-Experiment der Stunde. Für dieses Mal hat sie sich eine besonders abgefuckte Arbeitshypothese mitgenommen, sagt sie. Sowas in der Art macht sie immer. Sie habe mal im Flieger nach Athen neben einem sehr liebeswürdigen Herrn gesessen und sich mit ihm unterhalten, über Freundschaften, sagt sie weiter. Und sie glaube sich zu erinnern, dass dieser Herr seinen Landsmann Aristoteles zitiert habe, der gemeint habe, dass: „ein Freund einen warnt bzw. auf die Folgen des eigenen Handelns aufmerksam mache, selbst wenn diese Folgen erst in 300 Jahren zu tragen kommen“. Das habe ihr imponiert. Auch wenn sie jetzt, Jahre später, nicht mehr wisse, ob der Name des Philosophen hier stimme oder das Zitat nur irgendwie korrekt ist. Oder sie das überhaupt nur geträumt habe. Jedenfalls sei ihr dieser Satz und diese Begebenheit wieder eingefallen. Und jedenfalls habe sie diesen Satz in der Nacht jetzt auf ihren Streifzügen dabei. Sie „überprüfe die Realität“, die sie sehe, in dem sie „diesen Satz gegen die Realität stelle“. Was das genau bedeute, wisse sie noch nicht ganz, das harre noch dem ungewissen Ausgang des Experiments. Aber ganz sicher habe ihr der Satz in einer Sache selbst schon sehr geholfen. Indem sie sich selbst in dieser Weise beraten habe, sozusagen als Freundin ihrer selbst: Sie habe ihr Handeln in dieser bestimmten Angelegenheit, über die sie aber nicht konkret sprechen wolle, auf eine Auswirkung von, sagen wir, diesen dreihundert Jahren hin überprüft. Sie sagt, das sei wichtig gewesen. „Ja gut“, sage ich kurz angebunden, „das passt eh, aber hör bald wieder auf mit dieser Herumtreiberei in der Nacht, das schadet dir jetzt schon“.
Dann lachen wir los, weil meine Freundin weiß, dass das kein Ratschlag war, sondern die pure Anerkennung – für sie und ihre Geschichtenherumtreiberei. Und natürlich wissen wir, dass wenig, wirklich wenig momentan in dieser Welt noch auf 300 Jahre angelegt ist.