In Cars We Trust

Das Tribute bei Crossing Europe ist heuer der Schauspielerin Angeliki Papoulia gewidmet. Beim Filmfestival, das Ende April startet, werden mehrere Filme mit der herausragenden Schauspielerin und Europäerin gezeigt, auch Silence 6-9 von Christos Passalis. Florian Huber hat den Film bereits gesehen und meint: Zahlreich sind die Todesmotive und dunklen Ahnungen.

In ihrem Tribute Angeliki Papoulia macht die diesjährige Ausgabe von Crossing Europe nicht nur mit der herausragenden Darstellungskunst der 1975 in Athen geborenen Theater- und Filmschauspielerin bekannt, sondern erinnert mit Filmen wie Dogtooth (2009) von Yorgos Lanthimos oder The Miracle of the Sargasso Sea (2019) von Syllas Tzoumerkas zugleich an ihre langjährige Zusam­menarbeit mit dem 1975 in Thessaloniki geborenen Schauspieler Christos Passalis. Mit The City and the City präsentierte Christos Passalis im Vorjahr in Linz eine erste, gemeinsam mit Syllas Tzoumerkas verantwortete Regiearbeit, auf die nun Silence 6-9 folgt. In Silence 6-9 agiert Regisseur Christos Passalis neuerlich auch als Hauptdarsteller an der Seite von Angeliki Papoulia. Der auch in der diesjährigen Com­petition Fiction vertretene Beitrag un­ternimmt eine filmische Erkundung des Unheimlichen, die in ihrer Episodenhaftigkeit und der Vorliebe für allegorische Motive bisweilen an den 2012 verstorbenen griechischen Ausnahmeregisseur Theodoros Angelopoulos denken lässt. Doch bereits der Titel seines Films macht deutlich, dass von Silence 6-9 mit filmkritischen Etikettierungsversuchen wie etwa der Rede von einer Greek Weird Wave nur un­genügend beizukommen ist. An die Stelle feststehender Begriffe und Sinnzuschreibungen tritt bei Passalis ein Kino der Andeutungen, das auch bei wiederholter Lektüre sein Geheimnis behält und so das Unheimliche – etymologisch plausibel – mit dem Geheimnis in Verbindung bringt: „When you talk about Greek films, implying they all belong to one ,wave‘, it is lazy. It’s a lazy approach to the peculiarity of every film. There is a new wave in terms of a new generation of artists, who talk differently about our reality, but I don’t like to slap labels on things. […]. But, as I said, understanding is overrated. All of my favourite films can only be ,understood‘ on an emotional level“1, bemerkt er in einem 2022 geführten Gespräch mit der Filmkritikerin Marta Bałaga.
Vielleicht hört man deshalb ein Meeresrauschen oder Zirpen am Beginn des Films. Womöglich Vögel oder Hundegebell, bevor Stimmengewirr und Liedfetzen die nahegelegene Stadt erahnen lassen, die täglich zwischen 6 und 9 zur Ruhe kommen muss, um die Stimmen ihrer einstigen Bewohner*innen auf Tonband zu bannen. Ob diese nur vorübergehend verschwunden oder längst schon verstorben sind, bleibt letztlich unbeantwortet. Zahlreich sind jedenfalls die Todesmotive und dunklen Ahnungen, die Silence 6-9 und seine Liebesgeschichte durchwirken. Der Angriff einer Krähe zu Beginn des Films verbindet sich mit dem wiederkehrenden Geräusch von Pulsmess- und Beatmungsgeräten und Szenen in einem in die Jahre gekommenen Hotel, das den Liebenden als Aufenthaltsort dient. Seinen prekären Status verbürgen nicht nur die fehlenden Gäste und der Umstand, dass das Haus in anderen Einstellungen als Hospital erscheint. Auch ansonsten dominieren in Silence 6-9 Orte des Transfers und Übergangs, die eine Unbehaustheit vermitteln und mithilfe des geglückten Sounddesigns und einer bestechend präzisen Kadrierung die Beziehung zwischen (un-)heimisch und (un-)heimlich ausloten. In den Fokus rücken Autostraßen, Tunnel oder Brücken, die ob ihrer demonstrativen Verlassenheit als idealer Resonanzraum für die Botschaften aus dem Jenseits erscheinen. Gott hat indes lange ausgedient, wie die Aufschrift IN CARS WE TRUST an einer Hausmauer mit gehöriger Ironie versichert. Die Gegenwart der Handlung markiert hingegen eine Zahlenangabe am Straßenrand: 22/23. Dazu fügt sich eine politische Brandrede, die auf einem Parkplatz als Publikum anstelle von Menschen vor allem Gebrauchtwagen adressiert. Die antike Diktion des Redners verbindet sich mit einer filmischen Ausstellung von Artefakten des Industriezeitalters wie Tonbandkassetten oder den Antennen zum Empfang der Tonspuren aus dem Totenreich. Die anachronistischen Versatzstücke werden zum Zeichen einer von der Philosophin Marina Garcés beschriebenen „postume Kondition“: „Unsere Zeit ist die Zeit, in der alles endet. Wir haben dem Ende der Moderne, der Geschichte, der Ideologien und der Revolutionen beigewohnt. Wir haben Schritt für Schritt das Ende des Fortschritts erlebt: der Zukunft als der Zeit der Verheißung, der Entwicklung und des Wachstums. Jetzt sehen wir, wie die Ressourcen versiegen, das Wasser, das Erdöl und die saubere Luft, und wie die Ökosysteme und ihre Vielfalt sterben. Kurz, in unserer Zeit endet alles, selbst die Zeit.“2 Vielleicht deshalb wirken die Menschen in Silence 6-9 in ihren Verrichtungen bisweilen schlafwandlerisch, wie auch das vor allem von kleinen Gesten und der Mimik getragene Spiel der beiden Hauptdarsteller*innen unterstreicht, das wie die Szene in einer nächtlichen Peepshow souverän zwischen intimer Nähe und kühler Distanz changiert. Das voyeuristische Linsen durch ein Loch in der Mauer ohne die Möglichkeit einer wirklichen Annäherung erinnert dabei nicht nur an die totale Vereinsamung des „postumen“ Menschen, son­dern provoziert auch die Frage, ob womöglich die in der Stadt Hinterbliebenen die eigentlich Toten und dem Vergessen anheimgefallen sind. Vielleicht denkt man an Franz Kafka, der im März 1922 an Milena Jesenská schreibt: „Wie kam man nur auf den Gedanken, dass Menschen durch Briefe mit einander verkehren können! Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschenkraft. Briefe schreiben aber heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten.“
Dieser Skepsis gegenüber der medialen Vermittlung zum Trotz gelingt Passalis mit Silence 6-9 jedenfalls eine so vielschichtige wie subtile Kritik an den herrschenden Verhältnissen als Auseinandersetzung mit Verlust und Trauer, Erinnern und Vergessen, Natur und Kultur am Ende der postindustriellen Gesellschaft.

1 cineuropa.org/en/interview/427587/
2 Marina Garcés: Neue radikale Aufklärung. Aus dem Katalanischen von Charlotte Frei. Wien: Turia+Kant 2019 (2. Aufl. 2020), S. 17.

Crossing Europe, Filmfestival Linz
26. April – 01. Mai 2023
crossingeurope.at

120 Jahre Kampf: Ent­hüllung eines Aufstands

Zum Weltfrauentag und anlässlich der katastrophalen und brutalen Situation für iranische Frauen: Ayan Rezaei gibt einen Überblick über Kampf und historische Errungenschaften der Frauenbewegung im Iran ab 1905. Der Kampfgeist der iranischen Frauen für eine feministische Revolution weckt Hoffnung.

Die iranische Frauenbewegung ist mit der konstitutionellen Bewegung1 von 1905 verbunden. In dieser Zeit betraten Frauen auf Einladung religiöser Gelehrter die politische Bühne, um die Ziele der konstitutionellen Bewegung voranzutreiben. Dieser Eintritt war noch nicht fortschrittlich. Aber nach dem Ende der Revolution kehrten diese Frauen nicht in ihre Häuser zurück, sondern arbeiteten weiter daran, ihre Rechte zu bestimmen und durchzusetzen. Die ersten Frauenvereinigungen wurden, wie die Männervereinigungen, während der Verfassungskämpfe im Geheimen gegründet. Zu ihnen gehört die Vereinigung „Hurriyet-e-Nesvan“ (Freiheit der Frauen), die sich zweimal wöchentlich in den Gärten rund um Teheran traf. Die Teilnahme an diesen Vereinigungen war auch für Männer erlaubt, unter der Voraussetzung, dass sie von einer weiblichen Angehörigen begleitet wurden. Männer durften jedoch keine Reden halten. Bei diesen Treffen wurden soziale und politische Fragen erörtert, da Frauen in den Männervereinen von der aktiven Teilnahme und Diskussion ausgeschlossen waren. Nach Angaben von Morgan Schuster2, einem amerikanischen Berater, gab es 1907 mindestens 10 geheime Frauenverbände, die von einem zentralen Ausschuss koordiniert wurden. Diese Verbände mit revolutionärem Charakter setzten sich vor allem für die Anerkennung der Rechte der Frauen und die Gleichstellung der politischen und sozialen Rechte von Frauen und Männern durch das Parlament ein. Die erste Erklärung dieser Vereinigungen wurde im Oktober 1907 veröffentlicht, in der es hieß: „Überlasst die Arbeit vierzig Tage lang uns Frauen, wenn es euch keine Schande bringt. Wir wählen Anwälte. Wir wählen Minister. Wir korrigieren das Gesetz. Wir bestimmen die Machthabenden. Wir rotten die Wurzel der Unterdrückung und der Tyrannei aus.“ Die erste Mädchenschule wurde 1906 gegründet. Damals war es für Frauen ungewöhnlich zu studieren, sodass einer der Geistlichen von der Kanzel rief: „Wir sollten um das Land weinen, das eine Grundschule für Mädchen eröffnet hat.“ Und die Leute fingen an zu weinen!

Doch die Mädchenschulen wurden nach und nach in den Privathäusern der Lehrerinnen gegründet und trotz des Drucks und Widerstands der religiösen Männer ausgeweitet. Nach der zweiten Periode der Konstitution im Jahr 1909 wurde der erste öffentliche Aufruf zur Teilnahme an Frauenverbänden publiziert. Nach dieser Aktion, der Bekanntmachung der Aktivitäten der Vereine und der Einrichtung von Mädchenschulen begannen die Frauen im nächsten Schritt, Frauenzeitschriften herauszugeben. Diese Zeitschriften verfolgten zunächst keine spezifisch-feministischen Ziele. Sie befassten sich jedoch nicht nur mit „ethischen Debatten, Hauswirtschaft, Kindererziehung und Viehzucht“, sondern widmeten sich auch Themen wie dem Recht der Frauen auf Bildung und Mädchenschulen. Und machten auf die Notwendigkeit aufmerksam, die Stellung und den Status der Frauen in Gesellschaft und Familie zu verändern. Nach der Etablierung dieser Zeitschriften wurden beispielsweise die Polygamie der Männer und die Leichtigkeit, mit der sich Männer von Frauen scheiden lassen, in Artikeln thematisiert. Diese Forderungen fanden nach und nach ihren Weg in die öffentlichen Publikationen, und die Stimme der Gleichberechtigung der Frau wurde lauter.
Zwischen 1907 und 1914 formierte sich die erste Opposition gegen den Hidschab für Frauen. Zu dieser Zeit umfasste der Hidschab der Frauen Tschador und Schleier, und die Einwände gegen den Hidschab waren lediglich gegen das Tragen von Schleiern gerichtet. Daraufhin nahm Tahira Qura-ul-Ain, eine der Anführerinnen der Babi-Bewegung3, zum ersten Mal in der Öffentlichkeit den Schleier von ihrem Gesicht. In den darauffolgenden Jahren ebneten einige gebildete Frauen den Weg für einen Wandel in der Art, wie sich Frauen kleiden, indem sie den Schleier ablegten und Artikel gegen den Hidschab schrieben. Die „Women and maidens Group of Iran“ war eines der ersten Foren, das gegen den Hidschab kämpfte und betonte: „Da der Iran von allen Seiten im Feuer der Ignoranz brennt, sollte die Bildung bei den Müttern beginnen. Alle familiären, wirtschaftlichen, literarischen, sozialen und sogar politischen Misserfolge Irans sind darauf zurückzuführen, dass die Frauen den Hidschab tragen, der sie daran hindert, in die Gesellschaft einzutreten“. All diese Aktivitäten standen unter ständigem Druck des Klerus und religiöser Kreise, und ihre Veröffentlichungen wurden häufig vorübergehend oder dauerhaft verboten. Frauen, die gegen den Hidschab kämpften, wurden wegen Prostitution und Unmoral verurteilt, verhaftet oder ins Exil geschickt.

Die Proteste gegen das fehlende Wahlrecht begannen, als die Verfassungsänderung in der ersten Legislaturperiode des iranischen Parlaments im Jahr 1907 Frauen ausdrücklich das aktive und passive Wahlrecht verweigerte und sie in die Reihe von Geisteskranken, Kriminellen und Kindern stellte. Drei Jahre später veröffentlichte die feministische Zeitschrift Shokoofeh in einer Situation, in der Frauen jegliche politische Teilhabe verwehrt war, die Namen von 12 Kandidatinnen und forderte die Männer auf, für sie zu stimmen. Diese Aktion führte zu einem vorübergehenden Verbot der Zeitschrift, aber die Bemühungen der Frauen, in die politische Arena einzutreten, wurden fortgesetzt.
Die Siege der europäischen und amerikanischen Frauen bei der Erlangung des Wahlrechts wurden von Aktivistinnen übersetzt und veröffentlicht.
In den Verfassungsjahren setzten sich die frühen iranischen Feministinnen mit den vier Hauptforderungen nach Beseitigung der Geschlechterdiskriminierung in den Bereichen Bildung, Familiengesetze, politische Teilhabe und Wahl der Kleidung auseinander. In der Zwischenzeit gelang es ihnen, weitere Mädchenschulen einzurichten, und die Gründung von Publikationen und Vereinigungen wurden zu zwei starken Waffen, die die iranische Frauenbewegung in der Folgezeit vorantrieben.

Als Reza Schah Pahlavi 1925 den Thron bestieg, änderte sich auch die Politik gegenüber Frauen. Reza Schah war ein fortschrittlicher Diktator, der die Grundlagen für die Modernisierung im Iran schuf. Gleichzeitig duldete er die Aktivitäten unabhängiger und oppositioneller Zusammenschlüsse nicht, und viele politische und zivilgesellschaftliche Vereinigungen wurden zu dieser Zeit geschlossen. Auch die Frauenverbände gerieten unter die Kontrolle der Regierung und wurden nach und nach aufgelöst. Die Einrichtung des „Frauenzentrums“ durch die Regierung bedeutete zu diesem Zeitpunkt den Beginn einer neuen Ära der Aktivitäten von Frauen – im Rahmen der Unterstützung und Kontrolle durch den Schah. Viele Feministinnen setzten ihre Bemühungen fort, die Bewegung in Form dieses Vereins am Leben zu erhalten.
Eine der umstrittensten Maßnahmen von Reza Schah in Bezug auf Frauen war das Gesetz zur Abschaffung des Hidschabs. Obwohl viele dieses Gesetz dem Schah selbst und seinem Einfluss aus Europa zuschreiben, war das Thema Hidschab seit langem Gegenstand der Kämpfe der iranischen Feministinnen. Sie waren der Meinung, dass der Hidschab ein symbolisches Bild für die minderwertige Stellung der Frau ist. So beschlossen beispielsweise 1929 sechs Frauen, die freiwillig als Lehrerinnen an Mädchenschulen in Shiraz tätig waren, die Farbe ihres Tschadors zu ändern. Damals galt dies als gefährliche Idee. Sie nähten regenbogenfarbene Tschadors und machten sich zu Fuß auf den Weg in die Stadt. Ihr Spaziergang dauerte nicht lange und wurde von Männern unterbrochen, die sie angriffen und bewarfen, woraufhin jede von ihnen in ein Haus flüchtete.
1930 ging eine kleine Anzahl von Frauen in Teheran zum ersten Mal ganz ohne Hidschab auf die Straße. Und nach der Verabschiedung des Gesetzes „Kashf-e hijāb“4 durch Reza Schah zogen Vertreter des Königs Frauen den Schleier vom Kopf und zwangen sie, den Hidschab abzunehmen. Diese Vorgehensweise wurde selbst von Anti-Hidschab-Feministinnen nicht gebilligt.
In dieser Zeit wird auch eine Politik der „Integration von Frauen in das gesellschaftliche Leben und der Erziehung gebildeter Mütter zur Verbesserung der Zukunftsaussichten künftiger Generationen“ verfolgt, die zu einem Anstieg des Alphabetisierungsniveaus bei Frauen und einer Zunahme der öffentlichen Schulen für Mädchen führte. Zwischen 1922 und 1939 stieg die Zahl der alphabetisierten Frauen allein in Teheran von 9.000 auf 68.000. Im Jahr 1936 wurde mit der Zulassung von 80 Mädchen zur Universität die Barriere für den Zugang von Mädchen zur Hochschulbildung durchbrochen. 1944 betrug der Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der Studenten im Lande 28 %.

1953 trat die iranische Frauenbewegung in eine neue Phase ein, indem sie sich an linken politischen Organisationen beteiligte, und es entwickelte sich eine Gleichstellung mit Männern. Bis zum Staatsstreich von 1953 wurden die politischen Forderungen der Frauen, einschließlich des Wahlrechts, im Schatten der von männlichen Politikern beeinflussten Parteien marginalisiert. Frauenaktivistinnen waren jedoch weiterhin aktiv, indem sie beispielsweise Demonstrationen veranstalteten, hunderttausend Unterschriften für das Frauenwahlrecht sammelten und Briefe an internationale Organisationen schrieben.

In dieser Zeit kam die Frauenorganisation „Sazman-e- Zanan“ unter das Dach einer Regierung, die fortschrittliche Ansätze verfolgte. Die Anstrengungen der Frauen führten zu wichtigen Erfolgen. Nach 55 Jahren des Kampfes um das Wahlrecht konnten Frauen 1963 endlich wählen gehen, und sechs Frauen zogen gleichzeitig ins Parlament ein.
Der nächste Schritt der Frauenorganisation war die Verabschiedung des Gesetzes zur Unterstützung der Familie. Die Ablehnung diskriminierender Gesetze in Bezug auf Ehe und Scheidung, das Verbot der Polygamie und der Ehe auf Zeit sowie die Beseitigung aller Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen waren die Forderungen dieses Gesetzes, das dem König und dem Parlament in einer Liste von 13 Artikeln vorgelegt wurde. Obwohl sie nicht zur Opposition der Geistlichen gehörten und nicht religiös waren, gab es einige Männer in der Schah-Regierung, die sich gegen das Gesetz zur Unterstützung der Familie aussprachen, mit der Begründung, es stehe im Widerspruch zur Scharia.

Frauenzeitschriften hatten großen Einfluss darauf, diese Forderung bekannt zu machen und sie in verschiedenen intellektuellen Gruppen zu diskutieren. Schließlich wurde das Gesetz 1974 angenommen, nachdem die religiösen Führer Änderungen durchgesetzt hatten. Obwohl dieses Gesetz nicht genau die Gleichberechtigung darstellte, die sich die Frauenrechtlerinnen wünschten, war es zu diesem Zeitpunkt das fortschrittlichste Familiengesetz zugunsten der Frauen. Dinge wie die Anhebung des Heiratsalters für Frauen auf 18 Jahre und die Erleichterung des Scheidungsantrags für Frauen hatten die Rechte der Frauen in der Familie erheblich verbessert.

Doch die Errungenschaften der letzten 70 Jahre gingen in der Revolution von 1978 verloren. Haideh Moghithi, eine FrauenforscherInnen, schreibt: „Die Ereignisse nach der Revolution zeigten, dass die Unterstützung durch diese Regierung weder den Frauenorganisationen noch der Mehrheit der Frauen zugutekam.“ Diese Art der Mobilisierung der Frauen veränderte das Wesen der politischen Frauenverbände in einer Weise, die zu einer Verzerrung und Diskreditierung des Feminismus führte. Die Verstaatlichung der juristischen Kämpfe der Frauen führte dazu, dass junge und gebildete Frauen den Kampf um Geschlechterfragen und Diskriminierung als bürgerliche Frauenthemen ansahen und das Sprechen über Frauenrechte als spalterisch aus Sicht der Volksbewegung betrachteten. Viele dieser Frauen schlossen sich der Anti-Schah-Bewegung an. Einige wurden inhaftiert und gefoltert.
Die widersprüchliche Rolle der Frauen in der Bahman-Revolution, d. h. ihre Beteiligung an der Revolution gegen das Schah-Regime (ein Regime, das behauptete, die sozialen Rechte und den rechtlichen Status der Frauen verändert zu haben) und ihre Unterstützung des Klerus, d. h. einer Kraft, die sich jahrzehntelang aktiv gegen soziale Reformen zugunsten der Frauen gewehrt hatte, lässt sich unter diesem Gesichtspunkt erklären. Die wenigen Frauenorganisationen, die nach der Abschaffung der Pahlavi-Monarchie und der islamischen Revolution 1978 noch übrigblieben, setzten sich nicht mehr für ihre Rechte ein.

Als die patriarchalische Seite der islamischen Regierung zum Vorschein kam, gingen viele Errungenschaften der Frauen verloren. Nur 15 Tage nach dem Sieg der islamischen Revolution erklärte Khomeini das Gesetz zur Unterstützung der Familie für schariawidrig und setzte es außer Kraft. Die erste Reaktion der Frauen war die Demonstration am 8. März 1978. Erst am Tag zuvor hatte Khomeini verkündet, dass „nackte Frauen“ (Frauen ohne Hidschab) die islamischen Ministerien nicht betreten sollten. Eine Flut von Menschen begann auf die Straße zu gehen. Trotz der Kälte und des starken Schneefalls schlossen sich etwa 50 000 Frauen dieser Demonstration an. Diese Demonstration dauerte sechs Tage und ist die größte Frauendemonstration in der Geschichte des Iran. Doch die meisten der damaligen revolutionären politischen Gruppen, von den linken und liberalen bis hin zu den religiösen und säkularen Kräften, ließen die Frauen, die gegen den Hidschab protestierten, mit ihrem Widerstand oder ihrem Schweigen allein. Sie ebneten so den Weg für die Unterdrückung der Demonstranten und in den folgenden Monaten und Jahren für weitere Eingriffe in die Frauenrechte.

Trotz aller Repressionen hat die iranische Frauenbewegung auch nach der islamischen Revolution nicht aufgehört tätig zu sein. Während dieser Zeit wurden die Vereinigungen im Geheimen weitergeführt. Aufgrund der übermäßigen Zensur in den Medien und der Presse dieser Zeit wurden diese Gruppen zu Orten, an denen verbotene Bücher gelesen wurden. Die Frauen, die diesen Kreisen angehörten, versammelten sich aus unterschiedlichen Beweggründen. Sie reichten „von Liebeskummer und Zusammensein bis hin zur Sensibilisierung für den Feminismus, es ging um Durchführung von Aktionen zum Wohle der Frauen und um Forschungsarbeiten auf dem Gebiet des Feminismus“.

Eine Gruppe regierungsnaher Frauen nahm 1985 an der Weltkonferenz in Kenia teil, eines der wichtigsten Ereignisse dieser Zeit. Dort wurden ernsthafte Fragen zur Lage der iranischen Frauen gestellt. Nach ihrer Rückkehr bildeten diese Frauen eine Arbeitsgruppe und begannen, den Koran aus der Sicht der muslimischen Frauen zu überarbeiten und zu überprüfen. Diese langsamen Schritte machtnaher muslimischer Frauen zur Anerkennung der Frauenrechte waren ihre Bewegung in Richtung Feminismus, und so konnten einige von ihnen in denselben Jahren durch ihren politischen Einfluss einige kleine Veränderungen zugunsten der Frauen erreichen.
Mit der Öffnung während der Reformära, zwischen 1997 und 2010, konnte die Frauenbewegung entsprechend den Forderungen eine kontinuierliche Periode des Aufbaus von Institutionen und die Organisation von Massenkampagnen verzeichnen. In Folge konnten sie den 8. März 1998 in einem Buchladen in Teheran wieder öffentlich veranstalten. Einer der weiteren Meilensteine dieser Jahre war die Bildung des „Women’s Consortium“, das nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an Shirin Ebadi5 gegründet wurde. Neben säkularen und regimekritischen Frauen außerhalb des Regierungskreises waren auch religiöse Aktivistinnen und reformorientierte Parlamentarierinnen in dieser Gruppe aktiv.

Zahlreiche Bewegungen wie die Gründung des Forums „Mütter des Friedens“, kollektive Bemühungen zur Ausarbeitung einer Frauencharta, der Beitritt zur „Globalen Frauenbewegung“ und der Start der Kampagnen „Eine Million Unterschriften zur Änderung diskriminierender Gesetze“ folgten. Weiters gab es „Das Gesetz ohne Steine“, „Eine Million Unterschriften“ nach dem Vorbild der Kampagne der marokkanischen Frauen zur Änderung der Familiengesetze und vieles mehr.

Die neue Welle der Ablehnung der Hidschab-Pflicht begann erneut 2017 – mit einem Mädchen, das ihren Hidschab auf einen Stock steckte und mitten im Protest auf eine Plattform kletterte. Ihr Name war Vida Movahed. Sie wurde nach dieser Aktion verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Vidas Protest wurde von anderen Mädchen wie Narges Hosseini, Shapark Shajarizadeh und Roya Saghiri wiederholt und führte zu einer neuen Bewegung, die als „Girls of Enghelab“-Bewegung bekannt wurde. Nach einigen Tagen bezeichnete Khamenei, der derzeitige Führer der islamischen Revolution, diese Frauen als „verachtenswert“ und „geblendet“.
Die Kampagne „Sneaky Freedoms“ (Heimliche Freiheiten) der in Amerika lebenden iranischen Journalistin Masih Alinjad hatte ebenfalls großen Einfluss darauf, dem Protest iranischer Frauen gegen die Hidschab-Pflicht in der internationalen Gemeinschaft seit 2014 Gehör zu verschaffen. Bei dieser Kampagne handelt es sich um eine Facebook-Seite, auf der Bilder von Frauen ohne Hidschab an öffentlichen Orten gezeigt werden.

Die Bewegung „Frauen, Leben, Freiheit“ ist das Ergebnis von mehr als 120 Jahren des Kampfes der Frauen um Erlangung ihrer Menschenrechte. Eine Bewegung, die bis heute einen langen Weg zurückgelegt hat. Dieser Kampf brachte sogar Männer dazu, ihre Sichtweise zu ändern. Heute fordern sie in Protesten an der Seite der Frauen, dass Frauenrechte gleichbedeutend mit Menschenrechten sind. Aktuell wurden diese Proteste wegen des gewaltvollen Todes von Mehsa Gina Amini durch die Sittenpolizei erneut entflammt. Durch die Betrachtung der historischen Entwicklungen der Frauenbewegungen im Iran können wir heute klar und mit Zuversicht behaupten, dass die Revolution „Frauen, Leben, Freiheit“ eine feministische Revolution ist.

1 Die persische konstitutionelle Revolution war ein Vorstoß für eine demokratische Herrschaft in Form einer konstitutionellen Monarchie in einer stark elitären, aber dezentralisierten Gesellschaft unter der Qajars-Dynastie. (Wikipedia)

2 Janet Afary, Die iranische Verfassungsrevolution, Basisdemokratie, Sozialdemokratie und die Ursprünge des Feminismus Columbia University Press, 1996

3 ist eine Religion, die 1844 vom Báb (b. ’Ali Muhammad) gegründet wurde, einem iranischen Kaufmann, der zum Propheten wurde und lehrte, dass es einen unbegreiflichen Gott gibt, der seinen Willen in einer unendlichen Reihe von Manifestationen Gottes manifestiert. (Wiki­pedia)

4 Das Gesetz zum Verbot des Schleiers und zur Ermutigung der Iranerinnen, europäische Kleidung anzunehmen, wurde 1936 verabschiedet. (Wikipedia)

5 Shirin Ebadi ist eine iranische politische Aktivistin, Rechtsanwältin, ehemalige Richterin und Menschenrechtsaktivistin sowie Gründerin des Zentrums für die Verteidigung der Menschenrechte im Iran. (Wikipedia)

Text: Ayan Rezaei, Februar 2023

Maryam Hosseinkhah ist Journalistin und Forscherin. Sie ist eines der Gründungsmitglieder der One Million Signatures Campaign, einer iranischen Bewegung, die sich für die Abschaffung diskriminierender Gesetze einsetzt. Sie erwarb ihren Master-Abschluss an der Abteilung für Nah- und Mitteloststudien der Universität Dublin, Trinity College. Im Jahr 2007 wurde Maryam wegen ihrer Arbeit für die Eine-Million-Unterschriften-Kampagne verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, während der sie weiterschrieb. Sie ist die Autorin von Thirty-five Years of Forced Hijab: The Widespread and Systematic Violation of Women Rights in Iran; The Unfinished Tale: The Mothers and Families of Khavaran; und The Forgotten Women: Stimmen aus den Gefängnissen im Iran.

Tina Reif hat aus dem Englischen übersetzt.

Valarie Serbest von der Frauenvernetzungsstelle Fiftitu% hat den Text vermittelt.
fiftitu.at

Arbeitstitel Trapped in the Playground

English version below

Aus Anlass ihrer Teilnahme beim Medienkongress Im Auge der Infodemie Ende März in Linz berichtet Sonia Nandzik-Herman über die Arbeit von ReFOCUS Media Labs auf Lesbos. ReFOCUS hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein globales Netzwerk von Medienlabors aufzubauen, um Asylbewerbern und Flüchtlingen moderne Medienkompetenz zu vermitteln.

Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag, an dem ich Yaser kennenlernte. Es war im Spätherbst 2019 und wir hatten gerade ein weiteres Semester mit Medienworkshops für Flüchtlinge auf Lesbos begonnen. Unser hölzerner Klassenraum in einem Gemeindezentrum, fünf Minuten von Mytilini – der Hauptstadt der Insel – entfernt, bot kaum Platz für 20 Personen. Doch wie immer bestand mein Mann darauf, mehr Personen zuzulassen. Es gab großes Interesse an jeder Art von Aktivität, die von NGOs außerhalb von Camps angeboten wurde, und er wollte niemanden wegschicken, der lernwillig war.
„Sie sind jeden Tag vierzig Minuten durch den Regen von Moria gelaufen, nur um zu lernen. Sie verdienen diese Chance“, argumentierte er. Er hatte Recht, und trotz der Unannehmlichkeiten nahmen wir alle auf. In den nächsten Monaten saßen die Schüler Schulter an Schulter in unserem winzigen Klassenzimmer und hatten keinen Platz, sich zu bewegen. Wir drehten die Klimaanlage auf 30 Grad auf, um den Raum warm zu halten und die Kleidung der Lernenden zu trocknen.

Yaser war in dieser Gruppe leicht auszumachen. Mit seinen ein Meter dreiundneunzig Zentimetern stach er unter den anderen Afghanen hervor. Bald begannen die anderen Studenten ihn duraz zu nennen, was in der Sprache der Faris „der Lange“ bedeutet. Das erste, was ich über ihn erfuhr, war, dass er extrem wissenshungrig war und ein sehr technisches Gehirn hatte. Er überfiel meinen Mann ständig mit Youtube-Videos über neue Kameralinsen. Er brachte sich selbst Englisch aus dem Internet bei, was unter Flüchtlingen nichts Ungewöhnliches ist. Allerdings war sein Englisch dem der anderen weit überlegen. Wie bei allen Flüchtlingen auf Lesbos war auch seine Familie über das Mittelmeer aus der Türkei gekommen. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er als afghanischer Flüchtling im Iran. Seine Ausbildung endete im Alter von fünfzehn Jahren, als er mit seinem Vater auf einer Baustelle arbeiten musste. Um die Familie ernähren zu können, gab es keine andere Möglichkeit auf ein zusätzliches Einkommen und Yaser musste als ältestes von fünf Kindern die Schule abbrechen. Im Iran ist es Afghanen in vielen Bereichen nicht erlaubt, zu arbeiten. Sie sind gezwungen, körperliche Arbeit zum gesetzlichen Mindestlohn zu verrichten. Es gibt nur sehr geringe Quoten für Afghanen an iranischen Universitäten, und selbst diese Quoten werden manchmal nicht eingehalten.

Wie alle Schüler in unserer Klasse träumte auch Yaser davon, eine Universität zu besuchen. Er hatte definitiv die Voraussetzungen dafür, aber die Chancen standen gegen ihn. Im Jahr 2019, als er zu unserem Programm kam, hatten nur 1 % der Flüchtlinge Zugang zu höherer Bildung. Bis 2022 stieg diese Zahl auf 6 %, was jedoch im Vergleich zum weltweiten Durchschnitt von 40 % immer noch sehr wenig ist. Erschwerend kam hinzu, dass Yaser bereits achtzehn Jahre alt war und keinen Schulabschluss hatte. Auch hier war er keine Ausnahme. Die meisten jungen Flüchtlinge, die in Europa ankommen, haben Jahre der Ausbildung verloren. Nachdem sie ihre Heimatländer verlassen hatten, waren sie monatelang unterwegs, bevor sie ihr erstes Ziel in Europa erreichten, und verbrachten dann Jahre in Lagern. Wenn in den Lagern überhaupt Bildung angeboten wurde, dann vor allem für sehr kleine Kinder, die das ABC und das Zählen lernen sollten. Nichts für Jugendliche oder junge Erwachsene. Sie konnten sich für einige Sprachkurse anmelden, aber die Nachfrage war immer größer als die Kapazität.

Diese Lücke in der humanitären Hilfe fiel uns an jedem Ort auf, an dem wir arbeiteten: Serbien, Bangladesch, Marokko. Alle gaben Kindern den Vorrang, aber niemand sah einen Nutzen darin, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mehr Fähigkeiten zu vermitteln, vor allem nicht, wenn sie männlich waren. Man ging davon aus, dass sie in Europa körperliche Arbeit verrichten würden und dass es sinnlos sei, in eine qualifizierte Ausbildung für sie zu investieren. Wir sahen das anders, weil wir das enorme menschliche Potenzial in vielen Flüchtlingslagern der Welt erlebt haben.

Wie viele andere europäische Länder hat auch Griechenland, wo wir unser erstes Programm ins Leben gerufen haben, in vielen Wirtschaftszweigen mit einem Mangel an Arbeitskräften zu kämpfen. Unter den Flüchtlingen und Asylbewerbern gibt es jedoch einen Pool von Menschen, die über Qualifikationen verfügen und ausgebildet werden können. Sie sind bereit und in der Lage, zur Entwicklung ihres neuen Gastlandes beizutragen. Offiziellen Angaben zufolge leben etwa 70.000 Flüchtlinge in Griechenland, entweder mit Flüchtlingsstatus oder als Begünstigte des subsidiären Schutzes, oder – im Falle der ukrainischen Flüchtlinge – mit vorübergehendem Schutzstatus, der ihnen das Recht gewährt, in Griechenland zu leben und zu arbeiten. Die meisten von ihnen befinden sich in den wirtschaftlich aktiven Altersgruppen. Es scheint jedoch, als würden die Behörden diese Möglichkeit kaum nutzen oder gar nicht wahrnehmen. Als gäbe es keine Strategie, wie man diese Herausforderung für die Wirtschaft in eine Chance verwandeln könnte. Ir­gendwann „scherzten“ die NGOs, Griechenlands Strategie zur Bewältigung der Flüchtlingskrise bestehe darin, die schlimmstmöglichen Bedingungen für Asyl­bewerber zu schaffen, um sie aus dem Land zu treiben.

Seit der Gründung unserer Stiftung haben wir uns ein einfaches Ziel gesetzt: Flüchtlinge und Asylbewerber mit professionellen Medienkompetenzen auszustatten, damit sie in den Arbeitsmarkt eintreten können, auch wenn sie keinen Abschluss haben oder Jahre der Ausbildung übersprungen haben. Der Medienmarkt war definitiv einer der Bereiche, in denen Erfahrung und ein gutes Portfolio wichtiger waren als ein Diplom. Wir haben Flüchtlinge und Asylbewerber in den Bereichen Fotografie, Filmproduktion, Schnitt, Ton, Grafikdesign, Journalismus und soziale Medien geschult. Getreu unserem Motto „Flüchtlinge aus den Lagern herausholen, sowohl physisch als auch psychisch“ bot unsere Stiftung, wann immer möglich, Programme in Gemeinschaftszentren und Arbeitsräumen außerhalb der Lager an. Die Lager mit ihrer restriktiven Politik waren einfach kein Ort für ein kreatives Programm.

2019 haben wir bereits unseren ersten Dokumentarfilm mit dem Titel „Even After Death“ produziert, der fast vollständig von Flüchtlingen auf Lesbos und in Athen gedreht wurde. Als er zum ersten Mal hörte, dass er irgendwann am Ende des Workshops einen Film drehen wird, reagierte Yaser mit einer Mischung aus Unglauben und Belustigung. Wie kann ein Junge, der noch nicht einmal die Schule abgeschlossen hat, einen Film drehen? Mehr noch, einen Film, der auf Filmfestivals laufen würde? Aber er war einer dieser eifrigen Schüler, die auf jede Idee anspringen. Mit einer Gruppe von Freunden schlugen sie einen Film über ihre Geschwister vor. Er erzählte mir, dass er seine Brüder und Schwestern im Lager beobachtet, was sie erleben und wie sich das auf ihr Verhalten auswirkt. Auch wenn seine Kindheit nicht einfach war, erkannte er, dass sie im Vergleich zu den anderen im Lager eine glückliche war. „Schauen Sie sich nur ihre Spiele an, sie drehen sich alle um Kämpfe oder enden in Schlägereien. Sie denken, das sei das natürlichste Verhalten. Sie erleben nichts außerhalb der Mauern von Moria“ – würde er argumentieren.
Moria war zu dieser Zeit das größte Flüchtlingslager Europas. Dieser alte Militärstützpunkt, der für dreitausend Flüchtlinge gedacht war, wuchs kurz vor Ausbruch der Pandemie auf vierundzwanzigtausend an. Die Europäische Union unterstützte Griechenland mit Milliarden von Euro, um die humanitäre Lage zu verbessern, aber in Moria war keine Verbesserung zu erkennen. Im Gegenteil, die Situation wurde immer schlimmer.

Yaser und seine Freunde gaben ihrem Film den Arbeitstitel „Trapped in the Playground“ (Gefangen auf dem Spielplatz) und begannen, ihre Geschwister mit Smartphones zu begleiten. Als die Produktion begann, hatten Yaser und seine Gruppe bereits die gesamte Ausbildung in den Bereichen Fotografie, Storytelling und Kameraführung bei unserer Stiftung durchlaufen. Mein Mann brachte ihnen bei, wie man schneidet. Eine neue Gruppe von Lernenden stieß während der Pandemie zu ihnen und stellte sie vor viele neue Herausforderungen. Der allgemeine Bildungsstand der meisten Teilnehmer erlaubte es ihnen nicht, eine einfache E-Mail zu schreiben, ganz zu schweigen von der Arbeit mit fortgeschrittener Technologie. Leider waren Mädchen und Frauen noch weniger gebildet. Viele hatten keine Ahnung, wie man einen Computer einschaltet. In den ländlichen Gebieten Afghanistans wurden den Mädchen die im Haushalt benötigten Fähigkeiten vermittelt. Da sie in traditionelle Rollen gedrängt wurden, hatten sie häufig Schwierigkeiten mit den grundlegenden Technologien. Trotz aller Hindernisse waren sie die fleißigsten. Normalerweise waren sie die ersten im Klassenzimmer und saßen immer in der ersten Reihe.

Die Aufnahme neuer Schüler in das Programm war immer der Moment, in dem uns bewusst wurde, wie viel wir erreicht haben. Die Fähigkeiten derjenigen, die bereits an ihrem Film arbeiteten, waren denen der neuen Teilnehmer und Teilnehmerinnen weit überlegen. Unsere Studierenden wurden nicht nur Profis in der Fotografie, viele von ihnen sahen ihre Zukunft in Kameraführung und Regie und studierten hart, um diese Fähigkeiten zu erwerben. Es war eine surreale Erfahrung, einen Jungen, der kaum seinen Namen schreiben konnte, dabei zu beobachten, wie er Videos mit der gleichen Software schneidet, die auch in Hollywood verwendet wird.

Nur festzustellen, dass COVID die ganze Welt verändert hat, ist nichtssagend, denn was die meisten Menschen nicht realisieren, ist, dass es sich auf einige Gemeinschaften viel stärker auswirkt als auf andere. Die Herausforderungen, denen sich Asylsuchende in Europa, insbesondere auf Lesbos, stellen mussten, waren mehr als extrem. Doch wie immer bringen Krisenmomente auch Chancen mit sich. Als COVID über Europa hereinbrach, wurden internationale Journalisten, die über die Auswirkungen auf die Flüchtlinge schreiben wollten, von der Berichterstattung aus­geschlossen, so dass die Echtzeitberichte aus dem Lager Moria von „Bewohnern“ und einem Kollektiv von Flüchtlingsfilmern und Civil Journalists stammten. Yaser und seine Freunde wurden mit ihren Berichten aus dem Inneren von Moria zu Gesichtern der größten Nachrichtensender, darunter BBC News, Al Jazeera, The Guardian, Bloomberg, SBS Australia, BBC Panorama, SRF Rundschau, Wall Street Journal, BBC Newsnight, NPR, PRI The World. Sie berichteten über die Abriegelungen, die Brände, die das Lager Moria zerstörten, die erzwungene Obdachlosigkeit auf den Straßen außerhalb der Hauptstadt Mytilini und die gewaltsame Umsiedlung in ein eilig errichtetes neues Lager mit dem Namen „Moria 2“.
In diesen schweren Krisenmomenten, die definitiv nicht zum Leben eines Teenagers gehören sollten, habe ich gesehen, wie Yaser und viele andere unserer Schüler geglänzt und aus jeder guten und schlechten Erfahrung gelernt haben. Als unsere Organisation wuchs, mehr Schüler aufnahm und neue Standorte eröffnete, wurde Yaser der Leiter unseres Lesbos-Projekts. Da er unser Vertrauen mehrfach gerechtfertigt hat, verwandelten wir unsere Stiftung in eine, die von Flüchtlingen dominiert wird. Heute wird jedes unserer drei Media Labs von Flüchtlingen und Asylbewerbern geleitet, die als Lehrer, Koordinatoren und Kontaktbeamte fungieren und vor allem ihre eigenen Medien herstellen. Yasers jüngster Film „Nothing About Us Without Us“, bei dem er gemeinsam mit seiner Freundin Nazanin Regie geführt hat, wurde auf mehreren Filmfestivals in der ganzen Welt gezeigt und diente bei mehreren Kampagnen als Hilfsmittel.

ReFOCUS Media Labs hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein globales Netzwerk von Medienlabors aufzubauen, um Asylbewerbern und anerkannten Flüchtlingen moderne Medienkompetenz zu vermitteln. Wir bieten eine Plattform, auf der sie ihre eigenen Arbeiten präsentieren, ihre Geschichten erzählen und eine berufliche Laufbahn einschlagen können. refocusmedialabs.org

Im Auge der Infodemie
Internationale Konferenz zur Zukunft des nichtkommerziellen Fernsehens
30.–31. März 2023
im splace am Hauptplatz, Kunstuniversität Linz

Die Konferenz thematisiert die Herausforderungen des digitalen Zeitalters für Kultur, Politik und Gesellschaft. Vielfältige Öffentlichkeiten werden durch die Macht der Algorithmen gefährlich ausgehöhlt, Desinformation und Manipulation führen zur Destabilisierung einer demokratischen Medienlandschaft (Infodemie).
Nichtkommerzielles Fernsehen positioniert sich im lokalen und regionalen Kontext mit alternativen Angeboten, die Beteiligung fördern und minoritäre Perspektiven und Standpunkte sichtbar machen. Die Konferenz mit künstlerischem Rahmenprogramm verhandelt diskursive Aussichten zur Zukunftsentwicklung, die auch postmigrantische und post­koloniale Gesichtspunkte berücksichtigt. Ziel ist es, nichtkommerzielles Fernsehen gerade in Krisenzeiten in seiner Funktion als zivilgesellschaftlichen Kristallisationspunkt für soziokulturelle Veränderungen und demokra­tische Partizipation zu stärken.

Eine Kooperation von DORFTV und Kunstuniversität Linz.

Mehr Infos und Teilnehmer:innen unter www.dorftv.at/infodemie_de


english version

Working title Trapped in the Playground

ReFOCUS Media Labs is dedicated to creating a global network of media labs to equip asylum seekers and recognized refugees with modern media skills. On the occasion of her participation at the media congress „In the Eye of Infodemic“ in Linz, Sonia Nandzik-Herman reports on the work on Lesvos.


I remember very clearly the day I met Yaser. It was late Autumn 2019 and we have just started another semester of media workshops for refugees on Lesvos. Our wooden classroom in a community center five minutes ride from Mitilini – the capital of the island – could barely fit 20 people. Yet, as always my husband insisted on admitting more. There was a big interest in any type of non-camp activity offered by NGOs and he didn’t want to send anybody away who was eager to learn. 
“They’ve been walking for forty minutes in the rain from Moria every day just to study. They deserve the opportunity” – he’d argue. He was right and despite the discomfort we admitted everybody. For the next few months students would sit shoulder to shoulder with no space to move in our tiny classroom. We’d turn on the AC to 30 degrees to keep the room warm and dry students‘ clothes.

Yaser was easily spotted in this group. With his one meter ninety three centimeters he stood out among other Afghans. Soon other students started calling him duraz, which in faris language means “the long one”. The first thing I learned about him was that he was extremely hungry for knowledge and had a very technical brain. He’d constantly attack my husband with Youtube videos on some new photo lenses. He taught himself English from the internet, which is nothing unusual among refugees. However, his English was far superior to the rest. As all refugees on Lesvos, his family crossed the Mediterranean from Turkey. He spent most of his life in Iran as an Afghan refugee. His education ended at the age of fifteen when he had to join his father working on construction sites. There was simply no other option for the family to feed everybody but to find an extra income and Yaser as the oldest of five children had to give up school. Afghans in Iran are not allowed to work in many areas. They are prone to do law-paying physical labor. There are very small quotas for Afghans at Iranian universities and even those quotas are sometimes not respected.

As all students in our classroom, Yaser dreamt of going to University. He definitely had an intellect for it, however the odds were against him. In 2019 when he joined our program, only 1% of refugees had access to higher education. By 2022 this number grew to 6% – however it is still very small compared to the global average of 40%. It didn’t help that Yaser was already eighteen and didn’t graduate highschool. Again, he wasn’t an exemption. Most young refugees arriving in Europe lost years of education. Leaving their home countries they would spend months on the way before they reached their first destination in Europe and then years in camps. If there was any education provided in camps, it would focus on very small children to teach them the basic ABC and counting. Nothing for youth or young adults. They could sign up for some language classes but the demand was always larger than the capacity.

We noticed this gap in humanitarian aid in every place we worked: Serbia, Bangladesh, Morocco. Everybody would give priority to children, nobody would see the benefit of bringing more skills to youth and young adults, especially if they were males. It was assumed that they would perform physical labor in Europe and investing in skills-based training for them was pointless. We saw it differently because we experienced the enormous human potential in many refugee camps around the world.

Like many European countries, Greece, where we created our first program, is facing shortages of labor force in many sectors of its economy. Yet, there is a pool of people among refugees and asylum seekers with skills and those who can be trained. They are willing and able to contribute to the development of their new host country. According to official data, there are some 70.000 refugees living in Greece, either with refugee status or as beneficiaries of subsidiary protection or, in the case of Ukrainian refugees, with temporary protection status – which grant them the right to live and work in Greece. Most of them are in the economically active age groups. It seemed however like not much of this opportunity was used or even noticed by the authorities. It seemed as if there wasn’t any strategy on how to turn this challenge to the economy into opportunity. At some point NGOs would joke that Greece’s strategy to tackle the refugee crisis was to create the worst possible conditions for asylum seekers to force them out of the country.

Since the very beginning of our foundation’s existence, our goal has been simple: equip refugees and asylum seekers with professional media skills so they can enter the job market even if they lack diplomas or skipped years of education. Media market was definitely one of those areas that valued experience and a good portfolio over diplomas. We have been training refugees and asylum seekers in photography, film production, editing, sound, graphic design, journalism, and social media. True to our motto of „taking refugees out of the camps, both physically and mentally“ whenever possible, our foundation provided programming in community centers and co-working spaces outside the camp. Camps with their restrictive policies were simply not a place for a creative program.

By 2019 we have already produced our first documentary called “Even After Death“, made almost entirely by refugees located on Lesvos and in Athens. When Yaser first heard that at some point at the end of the workshop, he will shoot a movie, he reacted with a combination of disbelief and amusement. How could a boy who hasn’t even graduated highschool make a movie? Moreso, a movie that would go to film festivals? However, he was one of those eager students who’d jump on any idea. With a group of friends they proposed a movie about their siblings. He told me that he observes his brothers and sisters in the camp, what they experience and how this impacts their behavior. Even though his childhood was not easy, he recognized that it was a happy one compared to the one of his siblings in the camp. “Just look at their games, they all are about fighting or end up with fights. They think this is the most natural behavior. They do not experience anything outside the walls of Moria” – he would argue.
Moria at that time was the largest refugee camp in Europe. This old military base adopted for three thousand refugees was pushing twenty four thousand just before the pandemic outbreak. The European Union would support Greece with billions of euros to improve the humanitarian situation but no improvement was seen in Moria. As a matter of fact, the situation was getting only worse.

Yaser and his friends gave their movie the working title “Trapped in the Playground” and started following their siblings with smartphones. By the time the production started, Yaser and his group had already gone through the whole training in photography, storytelling and cinematography with our foundation. My husband was teaching them how to edit. A new group of students joined them during the pandemic with many new challenges. The level of general education of most students didn’t allow them to write a basic email, not to mention working on advanced technology. Sadly, girls and women experienced even less education. Many had no idea how to turn on a computer. In rural Afghanistan, girls would receive skills needed in the household. Forced into traditional roles, they frequently struggled with basic technology. Despite all obstacles they were the most diligent students. Usually first in the classroom, always in the front row.

Admitting new students to the program was always the moment we’d realize how much we have achieved. Skills presented by those already working on their movie were so far superior to the new students. Our students would not only become professional in photography, many of them saw their future in cinematography and directing and studied hard to obtain those skills. It was a surreal experience to observe a young boy who could barely sign his name how he edits videos using the same software most Hollywood does.

Saying that COVID changed the whole world is to say nothing, but something that most people do not realize is that it impacted some communities much more than others. The challenges faced by those seeking asylum in Europe, especially on Lesvos, were beyond extreme. However, as always, moments of crisis also bring opportunities. As COVID flashed across Europe, international journalists willing to write about how it impacts refugees were physically locked out of the story, leaving real-time reports from inside Moria camp coming from “residents” and a collective of refugee filmmakers and citizen journalists. Yaser and his friends with their reports from inside Moria became faces of the largest news stations including BBC News, Al Jazeera, The Guardian, Bloomberg, SBS Australia, BBC Panorama, SRF Rundschau, Wall Street Journal, BBC Newsnight, NPR, PRI The World. Their reporting continued throughout the lockdowns, the fires that destroyed Moria camp, the forced homelessness on the streets outside the capital Mytilini, and the forcible relocation into a hastily constructed new camp dubbed “Moria 2.”

During those heavy moments of crisis, that definitely shouldn’t have been a part of a teenage boy’s life, I saw how Yaser and many more of our students shined and learned from every good and bad experience. As our organization grew, admitting more students and opening new locations, Yaser became the leader of our Lesvos project. As he proved us right multiple times we turned our foundation into one dominated by refugees. At this moment each of our three Media Labs is run by refugees and asylum seekers, who serve as teachers, coordinators, outreach officers and, most importantly, create their own media. Yaser’s latest film “Nothing About Us Without Us”, which he co-directed with his friend Nazanin, was screened at several film festivals around the world and served as an advocacy tool in multiple campaigns.

 

Sonia Nandzik-Herman, a humanitarian and an activist, a co-founder and CEO of ReFOCUS Media Labs foundation which provides refugees in Greece and Poland with media creation skills. She earned masters degrees in Sociology from the University of Silesia and in International Relations from the Jagiellonian University. Before entering the humanitarian sector and working in Serbia, Greece and Bangladesh, Sonia worked for the European Parliament. She specializes in the refugee crisis and human rights advocacy. Sonia is a producer of several films: „Even After Death“, “Nothing About Us without Us”, “Dancing Bells”, Dead End”. All those productions have been created by or with persons with a refugee background.


ReFOCUS Media Labs is dedicated to creating a global network of media labs to equip asylum seekers and recognized refugees with modern media creation skills. We provide a platform to showcase original work, share their stories, and pursue professional careers.
refocusmedialabs.org


Sonia Nandzik-Herman takes part in the conference “In the Eye of Infodemic”.

 

In the Eye of Infodemic
International Conference on the Future of Non-Commercial Television
30 – 31 March 2023

splace am Hauptplatz,  Art University Linz (Austria)
In the digital age, culture, politics and society are facing tremendous challenges.  We have to observe extensive shifts in the global information architectures. Digitalisation and economisations are causing a warping of the existing infosphere, democracies are being undermined, disinformation and manipulation are leading to the destabilisation of societies.
As can be seen in the example of non-commercial broadcasting, media that is locally and regionally embedded has always contributed heavily to the mediatisation of important problems and topics within the immediate surroundings. The conference and its artistic program will discuss  prospects for the future of non-commercial television, which also includes post-migrant and post-colonial perspectives.
The conference aims to enforce non-commercial television as an important focal point of civil society in times of crisis and to combine pre-existing knowledge and know-how and raise issues concerning future options to achieve a social, democratic, and cultural impact.

A cooperation of DORFTV and Kunstuniversiät Linz.

More Infos: www.dorftv.at/infodemie_en

Das mit dem großen Schornstein

Conny Erber über den Kulturverein Schlot und sein Schaffen im Franckviertel: Das Franckviertel war ursprünglich ein Arbeiter:innen- und Industrieviertel und noch heute wird es umgangssprachlich als Glasscherbenviertel bezeichnet.

Foto Florian Loimayr

Linz ist grundsätzlich eine überschaubare Stadt. Die Hotspots, die Bobo-Plätze, die Hipster-Ecken, … binnen ein paar Wochen weiß man, wo und wer sich an bestimmten Orten und Einrichtungen in dieser Stadt aufhält, wo man Leute trifft, die ähnliche Attitüden und Präferenzen haben, wo Kulturarbeit stattfindet. Linz ist eben ein Dorf. Man kennt sich dann einfach. Gehört dazu. Oder auch nicht. Aber man weiß zumindest, wo man hinkann, wo man dabei sein muss, was man nicht verpassen sollte. Die jeweilige Bubble nimmt dich auf, man schwimmt mit dem Strom. Apropos Strom: dort waren sie. Im Café neben der Donau. Die Menschen, aus dem Kulturverein Schlot, die zum Feiern in festlicher Atmosphäre kleine Schornsteine auf ihren Köpfen trugen. Witzig. Originell. Wieder eine eigene Bubble. Kennt man noch nicht. Man fragt nach. Freundet sich an. Unterhält sich. Aha, das ist ja interessant. Ein Kulturverein, der außerhalb des fußläufigen Zentrums Angebot schafft und kreativ tätig ist.

Schlot – Kulturverein in der Franckstraße
Birgit Kolbinger war eigentlich nur auf der Suche nach einem eigenen Atelier, damit sie ihr künstlerisches Schaffen mit der Materie Glas umsetzen kann. Gefunden hat sie eine Halle im Franckviertel in Linz mit rund 200 Quadratmetern und eigenem Garten. Es war schnell klar, dass es hier mehrere Menschen braucht, die diesen Gemeinschaftsspace nutzen, hier arbeiten und kreativ sein möchten. Kunst unterschiedlichster Art, Musik für unterschiedlichste Ohren sollen in dieser Halle produziert werden. Ein Konzept, das ungewöhnlich für diese Gegend ist. Berührungsängste mit dem Viertel oder generelle Bedenken hatte Kolbinger nicht. Ihre berufliche Laufbahn hat bei der gelernten Glaserin bereits im Franckviertel begonnen. Back to the roots sozusagen. Und weil Linz eben ein Dorf ist, war die Suche nach Gleichgesinnten für dieses Projekt rasch erledigt. Schwupp und Platsch. Ein neuer Kulturverein wurde soeben geboren.
Wie alle Neugeborenen bekommt daher auch der Kulturverein Schlot viel Aufmerksamkeit von außen geschenkt. Das Herzblut, das vor allem durch die Vielzahl an beteiligten Menschen in dieser Kulturhalle geflossen ist und noch immer stetig fließt, die gute Vernetzung von diesen Menschen mit anderen Kulturinteressierten, der damalige Faktor „new in town“ und der heutige „außergewöhnlich für Linz“, zieht Menschen in die Gegend des Schornsteins. Seit nun schon neun Jahren wird das Franckviertel durch diesen Kulturverein bereichert.
Wie funktioniert aber Kulturarbeit in Linz außerhalb der gewohnten Pfade? Schafft es Platz für Neues, für Neugier, für Inspiration und für Partizipation?

Kulturarbeit – zwischen Risiko und Chance
Das Franckviertel war ursprünglich ein Arbeiter:innen- und Industrieviertel, im Speziellen mit der Glasfabrik, und wird auch daher liebevoll Glasscherbenviertel genannt. Durch den Zuzug von ausländischen Menschen hat es sich, zu Unrecht, zu „einem zu vermeidenden Mi­gran­t:innenviertel“ entwickelt und wird in der Linzer Mehrheitsgesellschaft auch als solches wahrgenommen. Für die freie Kulturszene ist dieser Raum zumeist unattraktiv, wird daher nicht genutzt oder für kulturelle Projekte verwendet. Schade. Gerade dieses Viertel hat Potenzial, das ausgeschöpft werden kann. Das erklärt auch der Kompetenzverbund Kulturelle Integration und Wissenstransfer, kurz KIWit, aus Stuttgart in einer Broschüre, die 2019 veröffentlicht wurde: „Eine umfassende interkulturelle Öffnung und eine diversitätsorientierte Weiterentwicklung von Kultureinrichtungen jeglicher Art ist das Gebot der Stunde – nicht nur wegen des gegebenenfalls bald ausbleibenden Publikums, sondern auch um ihren gesellschaftspolitischen Auftrag erfüllen zu können – und zwar gegenüber einer hybriden, postmigrantischen Gesellschaft. Zu lange war die Programmatik der meisten Kultureinrichtungen eher eurozentrisch ausgerichtet und orientierte sich größtenteils an einem im Verschwinden begriffenen ‚klassischen Bildungsbürgertum‘. Es geht ums Ankommen in unserer heutigen, migrantisch geprägten Gesellschaft, um die Repräsentation vielfältiger Lebensweisen, um die Bereicherung durch Vielfalt und das Entstehen neuer Kunstformen, es geht um aktive Teilhabe und das Ermöglichen von Zugängen – letztlich um Legitimation öffentlicher Kulturfinanzierung. Und natürlich geht es auch um das Generieren neuer Zielgruppen als zukünftiges Publikum.“ (siehe Kompetenzverbund Kulturelle Integration und Wissenstransfer, 2019).

Der Schlot hat Pionier:innengeist bewiesen und sich untypischerweise in einem weniger beliebten Viertel in Linz, in der ehemaligen Fehrer Fabrik angesiedelt. Mittlerweile etabliert und nicht mehr wegzudenken. Trotzdem. Die negative Konnotation ist nur schwer zu lösen. Deshalb öffnet der Schlot seine Tore und lädt die Bewohner:innen dieses Stadtteils immer wieder ein, um genau dieses gedankliche Konstrukt aus den Köpfen zu manövrieren, Barrieren abzubauen und unterschiedliche Menschen zu verbinden. Der Anspruch wäre, nicht nur mit Künstler:innen mit Migrationshintergrund zu arbeiten, sondern auch Menschen mit unterschiedlicher Herkunft in den Räumlichkeiten und bei Veranstaltungen als Gäste begrüßen zu dürfen. Richtig Anklang findet dieses Konzept bei den hier lebenden Menschen jedoch leider nicht. Außer bei ein paar alteingesessenen Hackler:innen, die durch die Neugierde motiviert, auch durch den persönlichen Bezug zur Fabrikarbeit geprägt, in den Schlot kommen, um zu staunen, was aus der alten Verpackungshalle geworden ist. Besser funktionieren der Austausch und die Beteiligung, wenn die Schlot-Crew ihr gewohntes Habitat verlässt und nach außen geht. In den öffentlichen, sichtbaren Raum. Der Kiosk im Franckviertel wird immer wieder mal originell umfunktioniert, unterschiedlich bespielt und genutzt. Er bietet den Bewohner:innen eine witzige Abwechslung und Möglichkeit zum Austausch untereinander. Aber auch hier: kaum Migrant:innen. Schade, denn Bingo spielen und Eis essen ist sicherlich kulturell verbindend. Aber vielleicht zielen solche Kulturangebote auch an den Bedürfnissen von Menschen außerhalb der gewohnten Bubble vorbei. Vielleicht muss man auch keine Kulturangebote schaffen, die für alle Menschen ansprechend sind oder eine Durchmischung der Kulturen bei den Besucher:innen zum Ziel hat. Eigene Präferenzen und Bedürfnisse brauchen keine sprachlichen Barrieren oder kulturelle Hintergründe. Gewiss ist auf jeden Fall, dass Kulturarbeit in außergewöhnlichen Gegenden einfach herausfordernd und anders ist. Und das ist gut so.

Einen Vorteil hat der Standort in diesem Viertel nämlich auf jeden Fall: Alleinstellungsmerkmal. Das Franckviertel bietet mit vielen Vereinen und anderen Institutionen sowie durch den liebenswürdigen Kiosk im öffentlichen Raum genug Angebote. „2015 eröffnete das Stadtteilzentrum Franckviertel, in dem die Stadt Linz alle Leistungen des Geschäftsbereiches Soziales, Jugend und Familie für alle Bewohner:innen des Stadtteiles Franckviertel anbietet.“ (siehe www.linz.at) Die künstlerische Vielfalt geballt an einem Ort kommt aber nur im Schlot zur Geltung und wird dort gelebt und umgesetzt. Selbst Birgit Kolbinger ist davon überzeugt, dass das Konzept des Schlots in der Linzer Innenstadt anfangs kein so großes Aufsehen erregt hätte. Auch für das Linzer Stadtbild ist es von Vorteil, wenn sich Kultureinrichtungen breitgefächert verteilen und unterschiedliche Aspekte des kulturellen Schaffens abdecken.

Ein Nachteil, oder eine Hürde, ist dennoch auf jeden Fall die Frage nach dem Publikum. Es gibt grundsätzlich kein Laufpublikum, es verirren sich keine Menschenmassen in den Schlot. Vielleicht auch bedingt durch den verwinkelten Zugang und die Ungewissheit, was sich in dieser Betonnische verbirgt. Gleichzeitig ist Linz eben ein Dorf. Es ist schwierig, die Linzer Blase von der gewohnten Innenstadtatmosphäre in ungewohntes Terrain zu führen. Obwohl die Anreise mit dem Bus 25 komfortabel, der Radweg sogar durchgängig ist, steht der Kulturverein bei jeder Veranstaltung vor dem eigenen Mobilisierungskonzept, um Publikum zu generieren. KIWit empfiehlt: „Es ist stets Wert zu legen auf eine zielgruppengerechte Kommunikation. So ist es unverzichtbar, unmittelbar in den einzelnen Communitys zu werben und potenzielle Teilnehmer*innen auch persönlich anzusprechen. Es ist auch hilfreich, sich dort zu treffen, wo die jeweiligen Communitys ihre Treffpunkte haben, wie Bürgerzentren, Generationenhäuser, Vereinsräume aber auch Cafés oder Bars etc. Mündliche Kommunikation (z. B. telefonisch) sowie persönlicher Kontakt können deutlich erfolgreicher sein als Schriftliches – aber natürlich auch wesentlich zeitaufwändiger.“ (siehe Kompetenzverbund Kulturelle Integration und Wissenstransfer, 2019).

Der Schlot schafft aber auch das und überwindet Hindernisse jeglicher Art. Das Herzblut fließt nach wie vor, die Ideen sprudeln, keine Zeichen von Müdigkeit. Dieser Kulturverein ist einzigartig, etwas Vergleichbares gibt es nicht. Eine Künstler:innenatelier-Gemeinschaft, wo wiederum Kulturangebote geschaffen und gleichzeitig angeboten werden, ein Musikproberaum, eine Bühne, die perfekt für Konzerte und Lesungen dient, eine Werkstatt, ein Raum für Vernissagen und Austausch, ein Wohnzimmer. Ein Kulturverein, der abseits der gewohnten Pfade eine absolute Bereicherung ist. Das alles ist der Schlot. Familiäre Atmosphäre wird nicht nur bei Veranstaltungen großgeschrieben. Das Publikum ist mittendrin, statt nur dabei und wird Teil des Atelier- und Werkstättenbereichs, muss selber auf die Bühne, um zur Bar zu gelangen. Apropos Familie: der Schlot erweitert sein Team und sucht zwei interessierte Menschen, die Teil davon werden möchten. Also, auf ins Franckviertel!

Kulturverein Schlot
Franckstraße 45, 4020 Linz
www.schlot.info

Diversität und Resilienz – Stifter als moderner Autor

1993 wurde das StifterHaus von der Forschungs- zur Veranstaltungsstätte erweitert. Aus diesem Anlass wird heuer das Jubiläum 30 Jahre StifterHaus neu gefeiert. Dabei stehen die Positionen und Welthaltungen des sogenannten Dichterheroen im Mittelpunkt. Silvana Steinbacher zur Ausstellung Stifter: Illustriert und anderen Punkten, die Stifter durchaus als aktuelle Figur zeigen.

Christian Thanhäuser: Illustration zu Briefen Adalbert Stifters. Aus: Nur das Leben lassen wir dann bleiben. Aus Briefen von Adalbert Stifter. Bild Edition Thanhäuser, Ottensheim, 1990

Einen wild reitenden Mann zeigt die Illustration zu Stifters Werk Die Pechbrenner 1949. Rund fünfundzwanzig Jahre später stellt ein anderer Künstler einen Mann dar, der sich in seiner Kutsche zu einem Mädchen umdreht. So unterschiedlich sind manche Illustrationen zu ein und demselben Werk in der Ausstellung Stifter: Illustriert.

Georg Hofer hat die Archiv- und Bibliotheksbestände des Adalbert-Stifter-Instituts durchforstet und gesichtet, ebenso Ivan Slavik die Sammlungen des Regionalmuseums Český Krumlov (Krumau), und gemeinsam haben beide diese Ausstellung kuratiert. Das Ergebnis sind Illustrationen aus mehr als siebzig Verlagen von etwa einhundert Künstler:innen. Interessanterweise hat Stifters Erzählung Bergkristall auffallend viele Illustrator:innen inspiriert, was wohl an der sehr emotionalen Handlung liegen dürfte: Zwei Kinder verirren sich am Heiligen Abend in einer Höhle und werden am nächsten Tag in einer Rettungsaktion von den Bewohnern zweier verfeindeter Dörfer gefunden, was zur Versöhnung dieser Menschen führt.
Illustrationen zu literarischen Werken waren zu Stifters Lebenszeit (1805–1868), und das sogar in Familienzeitschriften, noch wesentlich verbreiteter, als sie es heute sind. Die teils divergierenden illustrativen Ansätze mehrerer Künstler:innen zum gleichen Text – wie zu Beginn erwähnt – beeinflussen natürlich auch die Interpretation durch die Lesenden, denn jede Illustration begleitet nicht nur den Text, sondern lenkt auch in eine bestimmte Richtung, sagt Georg Hofer.
Nur vereinzelt, aber dafür umso heftiger äußerte Adalbert Stifter, der in jungen Jahren eine Malerlaufbahn einschlagen wollte, Kritik an den Darstellungen.

„Das Angesicht ist das Schlechteste und Stümperhafteste, es ist geradezu elend, wie es häufig Anfänger machen. Sind das Haare? Sind das Augen? Sind das Wangen?“ (Stifter an seinen Verleger Gustav Heckenast, 30. 11. 1852)

In seiner Ablehnung einer bestimmten Illustration gegenüber zeigte sich Stifter unnachgiebig. Die von ihm bemängelten Darstellungen entfernte er sogar aus seinen Büchern, auch jenen, die er verschenkte.

Diese Ausstellung ist nur ein Aspekt eines großangelegten Jubiläumsjahres, das heuer das Literaturhaus im StifterHaus dominieren wird.
Innerhalb des Jubiläums „30 Jahre StifterHaus neu“ werden noch bis Ende November 2023 Stifters „Positionen und Welthaltungen“ – so der Untertitel – behandelt. Und diese Positionen beinhalten auch Fragen nach Stifters aktuellem Bezug zum Heute, Analysen und Überlegungen, ob Stifters Literatur, sein Denken und seine philosophische Welthaltung noch in unsere Zeit reichen (was keineswegs ein Gradmesser seiner Bedeutung sein muss).

Ich glaube es war in der siebten Klasse, als wir die Erzählung Kalkstein gelesen haben. Ich muss betonen, dass Deutsch mein Lieblingsfach war, in dem ich, im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Fächern, geglänzt habe, aber diese Erzählung Stifters hat mich gelangweilt und ich konnte, so wie viele meiner Mitschüler:innen, wenig damit anfangen.

Jubiläen welcher Art auch immer können jene, die sie ausrufen, natürlich auf vielfältigen Ansätzen aufbauen. Das StifterHaus hat also sich entschieden, Stifter als aktuellen Autor zu feiern, ein guter Ausgangspunkt, denn diese Sichtweise auf Stifter ist viel zu wenig bekannt.
In diesem Jubiläumsjahr sprechen und lesen unter anderem vier Schriftsteller:innen zu Wahrnehmung, Diversität und Gleichheit, Resilienz und Widerstand und belebte Natur: Themen, die heute virulent sind und vielfach diskutiert werden. Was haben sie aber mit Stifter, dem teils als verstaubt verschrienen Dichter, oder Stifters Werk zu tun? Regina Pintar, Leiterin des Literaturhauses im StifterHaus überrascht zumindest mich mit heutigen Bezügen. Die Themen Diversität und Gleichheit behandelte Stifter im Nachsommer und vor allem in seiner Vorrede zu den Bunten Steinen. 1849 verfasste er einen Text, in dem er sich mit dem Unterrichtswesen sowie seinen Ansichten über den Staat beschäftigte, ebenso schrieb er über die Erfahrungen der Revolution 1848 und hob in diesem Kontext die Bedeutung der Erziehung hervor. Resilienz färbt Adalbert Stifters Erzählungen Zwei Schwestern und Der Waldsteig, denn in beiden steht die Frage, wie der Mensch mit Schicksalsschlägen fertig werden kann, im Mittelpunkt, sagt Regina Pintar, die Leiterin des Literaturhauses im StifterHaus.

Wieso eigentlich StifterHaus „neu“, was war davor, werden Sie sich vielleicht wundern, und daher jetzt zu den Anfängen dieses schönen Bauwerks, das nur einige hundert Meter vom Linzer Hauptplatz entfernt steht: In diesem Gebäude lebte Adalbert Stifter zwanzig Jahre bis zu seinem Tod 1868. Seit 1950 dient das Haus als Forschungsstätte, dessen Aufgaben hauptsächlich die (Stifter-)Forschung und die Betreuung von Archivmaterialien zur oberösterreichischen Literatur sind. Gerade noch vor dem Abbruch bewahrt, erwarb das Haus vor fünfzig Jahren das Land Oberösterreich und restaurierte es. 1993 wurden die schweren, knorrigen Türen geöffnet und mit mittlerweile rund achtzig Veranstaltungen pro Jahr – hauptsächlich Lesungen von oberösterreichischen Autor:innen – bekommt der Geist Stifters regelmäßigen Besuch. Rund zweihunderttausend Menschen kamen seither ins Literaturhaus, also eigentlich die ganze Stadt Linz, was so natürlich nicht stimmt.
Sympathisch an diesem Jubiläumsjahr ist auch, dass nicht nur Lesungen und Diskussionen geplant sind, sondern, – wie es sich für einen feierlichen Anlass „gehört“ – auch gefeiert wird. Austrofred, den viele vielleicht nicht bei einem Jubiläum mit Schwerpunkt Stifter erwarten würden, wird die Festlesung halten.

Nach Kalkstein habe ich rund zehn Jahre später Stifters Erzählung Brigitta gelesen. Damals hatte ich nicht mehr den Anspruch, Literatur müsse die Zeit, in der ich lebe oder mein Leben berühren. Brigitta empfand ich in ihrer Konsequenz als emanzipierte Frau. Diese Erzählung habe ich mit Interesse gelesen und in den folgenden Jahren hat mich auch Adalbert Stifter als Mensch und seine Biografie als tragische Figur immer wieder einmal beschäftigt.

Ich berichte diese, meine Eindrücke deshalb, weil sie viele meiner damaligen Altersgenoss:innen mit mir teilten.

Die Besucher:innen der Veranstaltungen des Literaturhauses im StifterHaus sind meist schon in fortgeschrittenem Alter, was aber auch in anderen literarischen Veranstaltungsstätten zu bemerken ist. Wo sind die Jüngeren, von der Generation Z gar nicht zu sprechen? Interessierte zwischen zwanzig und fünfunddreißig Jahren als Publikum für Literaturhäuser zu gewinnen, entwickelt sich generell zu einer Herausforderung. Resilienz, Widerstand und Diversität sind aber durchaus Themen, die auch jüngere und mittlere Altersgruppen interessieren. Möglicherweise passiert eine Annäherung zum als unnahbar verrufenen Stifter auf diese Weise oder finden die jungen BesucherInnen so den Zugang zum StifterHaus. Petra-Maria Dallinger, die Direktorin des Stifter-Instituts, setzt auf ein Publikum zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahren, denn dies sei eine Altersphase, in der viele oder einige Menschen Lesungen besser in ihren Alltag integrieren könnten als in sehr jungen Jahren. Die Literatur – so meint sie – ist da und wartet auf ihre Stunde.

Stifter: Illustriert
Bis 30. März 2023
Öffnungszeiten: täglich, außer Montag 10:00–15:00 Uhr

30 Jahre StifterHaus neu
Mit Stifter/Bei Stifter. Positionen und Welt­haltungen
Bis 16. November 2023

www.StifterHaus.at/programm/ausstellungen-1

The Floor is Lava

Noch bis zum 18. März ist im Schloss Traun die Ausstellung The Floor is Lava zu sehen. Simon Pfeiffer, einer der vielen Mitwirkenden, hat den Text The Floor is Lava als künstlerische Arbeit geschrieben. Der Text wird an einem der Event-Tage gelesen. In der Referentin ist er als eigenständige künstlerische Arbeit sowie als assoziative Annäherung an die Ausstellung abgedruckt.

Ausstellungsaufbau von The Floor is Lava: Ein roter Hund noch am Boden, ein blauer bereits an der Wand. Foto Simon Pfeiffer

Das ist toll, dachte ich mir.
Es gibt den Gelben Stein, der gelb ist, und ich habe kein Geld und strecke die Hand aus, und es legt mir wer zwei Euro rein. Wie gut von mir, wie gut von dir, und sie ist in der vierten Schwangerschaftswoche, und es wird Zeit zu überlegen, sich festzuhalten. Ob wir nun das Kind wollen oder nicht: sollen wir abtreiben, abreiben oder auf den Berg gehen und die Blumen anschaun.
Es gibt den Ring aus Feuer, der rot ist. Ein Feuerring, mein verehrtes Publikum. Fünfte Schwangerschaftswoche, wie schnell es ging. Sie geht zum Arzt, kommt ohne Kind zurück. Ein Plastiksackerl mit roter Flüssigkeit hält sie in der Hand. Die Blumen wachen weiter und es wird Sommer. Der Boden – voller Trompetenblumen. Ihr steht da und schaut euch um und steigt höher auf den Krater. Wölkchen ziehen durch die Bäume und über den schwarzen Stein. Ihr rennt querfeldein, kürzester Weg, denkt ihr euch. Nun seid ihr am Vesuv, ein tiefes Loch in der Mitte und ich hatte mir erhofft, Lava zu sehen, falsch gedacht, gelacht. Schwarze Steine umgeben eure Füße, formen eine Höhle, ein schwarzes Loch. Ein Eingang, ihr geht hin, schaut rein, schaltet die Taschenlampe ein. Ihr hört die Trompetenblumen trompeten – tiefe Töne, guter Bass – ihr blickt euch um, blickt euch zurück, raus aus dem Loch, auf die grüne Wiese, auf den Bergkegel, geht weiter bis ihr am Ende des Tunnels ein Licht erblickt. Ein Bach trat da mal durch.
Und nicht die Tränen des Kindes, sondern des Kindes Tränen sind meine Tage – die ich heute schon mal aus dem Fuße der Bergstation rausgegangen bin und dabei die Fliege der Zeit und den Krater der Welt in der Welt der Fingerhüte … Mit malerischem Zaum, trinke ich Geschirr und Kaffee in einem. Schlage den Mund auf und schaue: Seht, meine Herrschaften, ihr meint, mein Blut ergieße ich für euch, denn es ist für euch von mir, und es macht den Boden fruchtbar.
„Mein Blut ist heiß wie Lava“, hat er, „Ich brauche keine Wärmflasche, ich habe einen Mann“, hat sie im Radio rausgeschrien und ihnen ist aufgefallen – Beistrich – dass sich ihre Schuhbänder aufgetan haben. Die Enden sind immer so schnell auseinandergetrennt!
– Bimssteine – Man hatte mir gesagt: Wir haben einen Teich und im Teich, da waren zehn kleine Fische. Da sagte die Mutter: „Hier regnen und schwimmen Bimssteine rum“. „Wie können Straßenbahnen nur schwimmen?“, fragte das Fischlein. Sagte die Mutter: „Ich wär viel lieber in einem kleinen Teich, denn im Meer, da gibt es Haie und die fressen uns gleich.“ Wenn er aber kommt? Dann laufen wir drüber, verstecken uns hinter dem nächsten Graben, duschen uns danach den Schweiß des Rennens dort drüben runter, in der warmen Quelle dort drüben. Ich hätte gerne so einen faustkleinen Stein, dann könnte ich mir endlich meine harten Schalen abreiben und so noch mehr Wärme spüren, die da so vom Boden hochsteigt, als wäre ich auf eine Herdplatte gestiegen. Sie wärmt mich auf. Ich werde rot – röter, tot – töter. Dann waren wir nur mehr neun. Neun kleine Fische, die gingen hin und schauten es sich an. Sie hüpften von Stein zu Stein – Gelber Stein – springen aus dem Wasser und schwuppsdiwupps, kam ein Vogel geflogen. Setzt sich nieder auf mein’ Fuß. Hat n Zettel im Schnabel, von der Mutter ein Gruß:
Der Hund kam in die Küche und stahl mir ein Kind. Da nahm sie einen Löffel und kochte eine Suppe. Najå, dann waren wir nur mehr acht. Gebt Acht, meine Damschaften, neben der heißen Quelle, es kocht und qualmt, steigen Quallen in die Luft, fliegen hoch in die Wellen der Wolken, wo die Grenzen wohl grenzenlos sind. Schwuppsdiwupps an der Wasseroberfläche lacht mich die Sonne an und dann – sieben –
Feuer aus dem Bauch der Erde ergießt sich über die Flächen der Welt. – Tausend Grad – Sie dreht sich, dreht sich um und hat mit seinem Schwanz die Fliegen weggeweht. Die Quallen waren nicht dumm und flogen mit viel Brum-Brum um den Vulkan herum. Da hat sich der Vulkan einfach ausgespuckt und der Boden wurde heiß – heißer, heiser – leiser. Aus.
– sechs – fünf – vier – vier Vierteln hier, eines für Most, eines für Prost. Das Blut der Erde muss doch so heiß wie Lava sein und wir machen ihr trotzdem noch eine Wärmeflasche.
Vier Kleine spielen im Wald, da kam der Wolf, sagte dann sehr: „In meinen Bauch rumpeln die Reime, steigt nur auf Steine, der Boden ist Lava.“ Wie was? Ich habe keine Lava am Berg gesehen, und so hüpfen wir über sie, ja nicht reinzusteigend. Ein großer Tritt, ein kleiner Sprung, ein kleiner, ein großer für die Menschheit, den Berg hinauf, mit der Liane über den Graben – geschafft. Wir sind immer noch vier. Nein wartet! – drei – zwei – eins – los! Passt auf, Pfeiltaste oben unten – links rechts. Da ist ein Schwammerl, das ist giftig. Das ist nicht gut. Du musst da hoch in den Lift. Über die Lava und zur Liane, schwing dich rüber – Pfeiltaste – und Hupf – Leertaste – Uh, war das knapp. Die Tür klopft, Mutter kommt rein, Essen. Essen wir hier Lachsbrötchen, sitzend am Boden. Wir bekommen einen neuen Kompjuter, ich schrieb Computer immer so, die Diskette passte nicht mehr rein. Gem Ower und ich fragte mich, was das wohl zu bedeuten hat.

Ausstellung
The Floor is Lava
Vom Kunstverein Blaues Haus
15. Februar bis 18. März
Raum der Kunst, Schloss Traun Schlossstraße 8, 4050 Traun
Täglich von 11:00–17:00 Uhr

Events
3. März 17:00–20:00 Uhr Lesung von Simon Pfeiffer und Felicitas Klenna

Ab 20:00 Uhr SPRING STRING QUARTET – Klassik/Pop im Kultur.Park.Traun

18. März 17:00–20:00 Uhr

Finissage
Noise Konzert von Mascha Illich und Sara Mlakar und Lesung von Simon Pfeiffer Performance von f-artsy (piirainen+breitenbrunner)

18. März ab 20:00 Uhr
Manfred Paul Weinberger Nonet – Jazz im Kultur.Park.Traun

The Floor is Lava wurde organisiert von: Judith Breitenbrunner, Simon Pfeiffer, Alexander Till. Mitwirkende KünnstlerInnen: Simona Apsova, Alexander Bayel, Lea Felicitas Blachfellner, Lucija Divic, Daniel Fraberger, Daniela Gutmann, Jens Hoffken, Mascha Illich, Malika Issabayeva, Felicitas Klenner, Sara Mlakar, Dana Rausch, Miriam Roithinger, Kevin Schafner, Verdzhinia Vlachkova, Lisa Marie Wagner, Sara Wintereder.

Kunst im Freien #7 neben der Spur
So. 16 April 17:00 UhrIm Hühnersteig 7, 4020 Linz
48,30853° N, 14,30665° E
K.i.F ist eine Ausstellungsformat, das KünstlerInnen eine Fläche im öffentlichen Raum gibt, die jedem zugänglich ist. So ensteht Austausch. K.i.F gab es von Mascha Illich 2020 das erste Mal und wird nun von Simon Pfeiffer und Mascha Illich gemeinsam geplant.
Mittlerweile zieht Kunst Im Freien weitere Kreise, an denen immer mehr Künstlerinnen und Künstler beteiligt sind. Es gibt zwar einige Institutionen in Linz, die es KünstlerInnen ermöglichen, ihre Werke auszustellen. Doch nach dem Studienabschluss nimmt die Dichte der Möglichkeiten eigene Arbeiten zu zeigen rapide ab. Es folgt ein mühsamer Prozess der Professionalisierung und Etablierung. Die wenigen Offspaces richten ihre Aufmerksamkeit auf bereits bekannte Positionen oder auf den Austausch mit KünstlerInnen von außerhalb. Der kuratorische Zugang gibt den qualitativen Rahmen vor. Dem Experimentieren/Ausprobieren von Unbekanntem wird wenig Raum gegeben.
Kunst Im Freien soll sich einerseits dem Experimentieren abseits des vordefinierten Rahmens des Kunstbetriebs widmen, andererseits ein breiteres Publikum ansprechen, das sich zufällig an den öffentlichen Plätzen aufhält. Damit soll die Kunst unter diejenigen gebracht werden, an die sie ursprünglich adressiert sein soll.

Du hast Polizei, ich hab Freund*innen dabei

Im Dezember 2022 wurde ein so genannter Callout an einige bekannte Veranstaltungsräume, Hausprojekte und Kollektive in Linz und Wien gesendet. Im Callout ging es um einen Fall von sexualisierter Gewalt. Über transformative Gerechtigkeit und gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme bei sexualisierter Gewalt schreibt pa!.

pa! hat keinen Bock mehr und kommentiert gewaltvolle Strukturen aus der Ferne. Zwinker, zwinker. Foto mama

Leider sind Callouts in Linz immer noch ein unbekanntes oder umstrittenes Thema. Der Callout entstand aus der Arbeit mit einem konkreten Fall von sexualisierter Gewalt und Täterschutz. Er wurde von mir als unterstützende Person in Zusammenarbeit mit dem betroffenen Menschen formuliert – in der Hoffnung, dass sich mehr Menschen mit den Themen rund um sexualisierte Gewalt auseinandersetzen und potentiell Betroffene sich schützen können.

Dieser Beitrag hat nicht den konkreten Inhalt des Callouts zum Thema, sondern soll näherbringen, warum sie eine legitime und oft auch absolut notwendige Antwort auf patriarchale Gewalt darstellen und wie sie die Möglichkeit bieten, Verantwortung wieder in unsere Räume reinzubringen, anstatt sie zu ignorieren.

Disclaimer:
Das Wort „Täter“ wird in diesem Text nicht entgendert. Auch FLINTAs können Täter*innen sein. Jedoch geht patriarchale Gewalt, physisch sowie psychisch, zum Großteil von cis-Männern aus. Der Callout spricht die gewaltausübende Person als Täter an. Dieser Text nutzt die Begriffe gewaltausübende Person und Täter. Der Text erhebt keinen Anspruch auf thematische Vollständigkeit, dazu fehlen mehr Perspektiven.

Ein Callout ist das Öffentlichmachen von gewaltausübenden Personen und deren Verhalten, was nicht nur dafür sorgt, dass über den Fall geredet wird, sondern auch zu Solidarität führen und selbstermächtigend auf andere Betroffene wirken kann. Betroffene und Unterstützende organisieren sich und schaffen Sichtbarkeit: für konkrete Fälle, für die patriarchalen Strukturen, für eigene Erfahrungen und sie machen die Arbeit sichtbar, die mit so einem Widerstand zusammenhängt. Sie erzeugen den Druck für gewaltausübende Menschen und Mitwissende, Verantwortung zu übernehmen, was ohne diesen sonst wohl kaum stattfinden würde. Callouts begleiten uns weg von individualistischen Herangehensweisen an Probleme hin zu einer kollektiven, gemeinschaftlichen Verantwortungsübernahme.
Mir fällt seit drei Jahren auf, wie wenig in Linz über sexualisierte Gewalt gesprochen wird: in alternativen und Szene-Räumen, Gemeinschaftsprojekten und in Nahbeziehungen auch nicht. Und das, obwohl sie überall stattfindet und Österreich darüber hinaus das Land der Femizide in Europa ist. Immer noch wird sie eher als etwas Privates verstanden, was man mit sich selbst ausmachen muss. Menschen halten das Thema von sich fern, als wäre es bei ihnen oder in ihren Räumen nicht relevant, oder zeigen sich sichtlich genervt, wenn das Thema in Gesprächen Raum einnimmt.
Sexualisierte Gewalt und Sexismus sind aber keine Einzelfälle. Global wird immer mehr darüber gesprochen. #metoo hat sichtbar gemacht, dass diese Gewaltform an Macht gekoppelt ist und mit patriarchalen Strukturen der Gesellschaft zusammenhängt. Die #metoo-Bewegung wur­de übrigens von Tarana Burke – einer Schwarzen Frau – gestartet, was leider im weißen Feminismus oft unsichtbar gemacht wird.
Diese Strukturen finden sich überall. Sexismus und sexualisierte Gewalt sind auch in vermeintlich emanzipatorischen Kreisen ein alltägliches Problem. Ein Klaps auf den Po, ein Hinterherpfeifen, das Kondom ohne Wissen der anderen Person abziehen, ungefragtes Anfassen, Stalking, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, sexistische Witzkultur, all das gehört zu sexualisierter Gewalt. Ein Femizid ist die Spitze davon.

Die Sichtbarmachung und Unterstützungsarbeit wird fast ausschließlich von FLINTAS und queeren Menschen geleistet. Leider hat eine solche solidarische Unterstützungsarbeit im Allgemeinen keinen hohen Stellenwert bei uns, denn Care-Arbeit ist nicht-männlich konnotiert. Sie wird aber nicht nur nicht ernst genommen oder verschwiegen, sondern wird durch antifeministisches Verhalten erschwert.

„Ach, das kann ja mal passieren“, „Das ist doch nicht so schlimm“, „Das ist eher ein kleiner Übergriff auf einer Skala der Übergriffe“, „Das macht der nur, wenn er getrunken hat“, „Wäre das zur Anzeige gebracht worden, dann müssten wir uns nicht mehr damit beschäftigen“, solche Kommentare relativieren nicht nur das Gefühlte der betroffenen Menschen, sie erschweren auch, dass Betroffene darüber sprechen, was passiert ist und wie sie sich fühlen. Sie nehmen Handlungsspielraum, für sich selbst zu definieren, wie gravierend dieser Übergriff war.

Das ist unsolidarisch und wird Täterschutz genannt.
Dies führt dazu, dass Unterstützungsstrukturen nicht einfach entstehen, sondern hart erkämpft werden müssen, während die Strukturen, die die gewaltausübende Person schützen, schon von vornherein existieren. Übergriffe bleiben von einer breiten Allgemeinheit, sei es im Kollektiv oder im Freund*innenkreis, meist unbemerkt oder werden bewusst ignoriert.

Your Silence will not protect you.
Audre Lorde

Das Benennen von übergriffigem Verhalten als öffentlicher Akt stellt die vorherrschende Normalität in Frage und kann nicht heruntergespielt werden. Wer sich raushält, oder sich nicht positionieren will, also „keine Meinung“ hat, hilft damit eindeutig und ausschließlich dem Täter. Dabei sind meiner Meinung nach die Gründe egal, sei es aus Überforderung mit dem Thema, aus Unlust, sich damit auseinanderzusetzen, oder aus Sympathie mit dem gewaltausübenden Menschen. Es sollte aber immer darum gehen, Betroffene zu schützen. Dabei können Callouts helfen. Wenn sich Hausprojekte, Kollektive und Veranstaltungsräume gegen Sexismus aussprechen, sollte auch der Anspruch da sein, gegen die sexistische und gewaltvolle Gesellschaft aktiv vorzugehen, anstatt lediglich Pickerl kleben zu haben, auf denen „no sexism, no racism, no homophobia“ oder „nein heißt nein“ steht. Die Auseinandersetzung mit der Reproduktion von Sexismen und die Selbstreflektion darüber ist nicht mal eben schnell erledigt.

Eine Konfrontation mit den vielfältigen Formen von Gewalt bzw. deren Definition zu hinterfragen ist unumgänglich. Wo fängt Gewalt an und wer hat die Deutungshoheit darüber? Wer fügt wem Gewalt zu? Bei wem wird es getadelt, bei wem abgewunken? Wer hört wem zu? Wann wird wie eingegriffen? Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es und für wen? Mit welchen Folgen? Für wen? …

Die Verständigung der Polizei bei Gewalt und das Vertrauen in das Justizsystem sind Grundpfeiler „demokratischer Gesellschaften“. Dieses Justizsystem ist aus vielen Gründen kritisch zu betrachten und anzufechten, dies sprengt jedoch den Rahmen für diesen Text.
Der Polizeiapparat ist ein Machtinstrument, das von toxischer Männlichkeit und Rassismus durchtränkt ist. Es ist nicht immer ratsam oder sicher für Betroffene zur Polizei zu gehen, insbesondere für diejenigen, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind. Nicht jeder Übergriff kann überhaupt als solcher angezeigt werden, was ihn aber nicht weniger gravierend macht. Die Folge sind meistens nur Sanktionierungen durch Freiheitsentzug oder Geldstrafen.
Im Knast wird wenig an Lösungen gearbeitet, die strukturelle Ursachen von Gewalt beheben können. Es werden nur Symptome und nicht die dahinterliegenden Ursachen angegangen, die Gewalt ständig reproduzieren.

Es ist eine sehr individualistische Herangehensweise an Probleme, die in „demokratischen Gesellschaften“ gelebt wird, nämlich, dass der Täter das Problem darstellt, welches mit Strafen gelöst werden kann. Dies lässt einen essentiellen Teil der Lösung außer Acht: der Kontext und das jeweilige Umfeld fördern ein bestimmtes Verhalten. Beziehungsweise erhalten Men­schen im Umfeld ein Verhalten aufrecht, weswegen sie nicht unabhängig von gewaltausübenden Personen gesehen werden dürfen.

Was können wir also tun?
Es wurde bereits viel Vorarbeit geleistet. Es muss nicht alles neu erfunden werden. Die Konzepte transformative justice und community accountability z. B. zeigen auf, wie Gewalt Ausdruck von Machtstrukturen ist. Diese Konzepte sind eng an den betroffenen Zusammenhang gebunden, in denen z. B. Arbeitsgruppen gebildet werden, die die betroffene Person einbinden, unterstützen und die gewaltausübende Person inkludieren anstatt zu isolieren. Der gewaltausübenden Person wird die Möglichkeit gegeben, die eigene Machtposition wahrzunehmen und zu hinterfragen.
Das Ziel ist es, eine nachhaltigere Veränderung zu bewirken, als dies durch bloße Sanktionierung erreicht werden würde. Wenn der Täter diese Angebote nicht annimmt und keine Verantwortungsübernahme für sein Handeln zeigt, indem er nach Hilfe fragt o. Ä., erst dann sollte über Sanktionierungen nachgedacht werden. Damit endet aber nicht die Auseinandersetzung und Verantwortungspflicht für kollektive, öffentliche Räume.

Diese beiden Konzepte, transformative justice und community accountability, mit Handlungsmöglichkeiten für Betroffene abseits vom juristischen Apparat wurden von Kritiker*innen am Knastsystem, besonders von FLINTAs, queeren Menschen und BlPoc in den USA entwickelt, aus der Not der mehrfachen Gewalterfahrungen heraus – der sogenannten Intersektionalität (z. B. Rassismus und Sexismus).

Der oben genannte Callout beinhaltet die Ansätze aus eben diesen Konzepten und er sollte nicht das Ende einer gemeinschaftlichen Aufarbeitung sein, vielmehr eine Sichtbarmachung von emotionalen Folgen und unbezahlter Bildungs- und Care Arbeit für und durch betroffene, unterstützende und mitbetroffene Menschen. Dies kam zustande, weil Täterschutz betrieben wurde. Und weil normalisiert wurde. Denn keiner der Mitwissenden der nahestehenden Menschen hat gefragt, wie die betroffene Person sich damit fühlt, dass der Täter weiterhin etwa an ihrer Arbeitsstelle auftaucht und dort Raum einnimmt. Das macht deutlich, wie wenig Sensibilisierung hier für Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit sexualisierter Gewalt besteht.

Der Callout soll anderen die Möglichkeit bieten, sich zu schützen. Er ist ein Weg der Transparenz und der Versuch, die Verantwortung der Auseinandersetzung abgeben zu können – an Veranstaltungsräume, Wohnprojekte und Kollektive, in denen sich sowohl die Betroffene als auch die gewaltausübende Person bewegen.
Er enthält Forderungen an den Täter, den ehemaligen Wohnkontext, sein derzeitiges Umfeld und nahestehende Mitwissende der betroffenen Person sowie ihr Arbeitsumfeld.
Verantwortungsübernahme ist immer möglich. Jedes Projekt bzw. Kollektiv, das darüber spricht, kann die Entscheidung treffen, einen Umgang damit zu finden, der nicht Sanktionierung oder Ignoranz bedeutet und der zeigt, dass sexualisierte Gewalt auch in den eigenen Räumen ernst genommen wird.
Im Sinne der transformativen Arbeit können sich neue oder überhaupt Selbstverständnisse bilden, die viel Austausch, Bildungsarbeit, Aufklärung und Umstrukturierung bedeuten, eine Politisierung erlauben, patriarchale Strukturen sichtbar machen und diese aktiv ändern.
Queers und FLINTAs setzen sich notwendigerweise viel häufiger mit sexualisierter Gewalt auseinander und wie ein Umgang damit aussehen kann, da sich die überwiegende Zahl an Übergriffen gegen sie richtet. Das sollte aber so nicht sein. Es muss eine ansprechbare, niederschwellige, sichtbare und beständige Struktur geben, die sich kontinuierlich mit dem Thema beschäftigt und es ermöglicht, Probleme mit patriarchaler Gewalt und demnach meist cis-männlichen Personen darzulegen. Wir sind alle Teil davon – wer die Augen schließt, schweigt. Wer nur auf die Polizei hinweist, ist ignorant und unsolidarisch und kollektives Schweigen ist auch Täterschutz!
Konfrontiert Menschen in eurem Umfeld mit ihrem gewaltvollen Verhalten! Übernehmt Verantwortung für euch und eure Zusammenhänge!

Aus der Hoffnung heraus, dass an Linzer Szeneorten eine gemeinschaftliche Kultur entstehen kann, die Verantwortungsübernahme und Heilung ermöglicht; für ALLE Beteiligten.

In Anlehnung an Königin der Macht: „Egal ob du willst oder nicht, ich verbiete getrieben die männliche Ordnung“. Mit Herz und Faust und Zwinker Zwinker*.

Verweise:
Texttitel: Titelline aus dem Song von EsRAP & Gasmac Gilmore – Freunde dabei. Königin der Macht KDM – Matryarkhat www.youtube.com/watch?v=G30uw9U_MI4
*Mit Herz und Faust und Zwinker Zwinker hab ich Jan Böhmermann geklaut.

Weiterführende Lektüre:

Schwerdtner, Lillian. „Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt – ein Plädoyer für Kollektivität und Selbstbestimmung“, 2021 edition assemblage

Ann Wiesental. „Antisexistische Awareness – ein Handbuch“. 2017 Unrast Verlag AwA Stern* in Wien bietet Lektüre und Workshops an awareness.wien

Gegen_Gewalt Würzburg: Wi(e)derstand nach dem Fall. Impulse für einen kollektiven Umgang mit sexualisierter Gewalt.

Weitere Hinweise:
transformharm.org
metoomvmt.org
blacklivesmatter.com/herstory
www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/178660/aufschrei

Siehe auch das Work-in-Progress-Projekt „silence, i kill you“ von pa! und Verbündeter ronit. newcontext.stwst.at/work_in_progress_sugar_pa_ronit

Ein Showing dieses Projektes ist im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der STWST am 29. April 2023 geplant. pa! hat sich auf Grund von unreflektierten gewaltvollen Machtstrukturen, unsolidarischem Verhalten und fehlender konstruktiver Kritikfähigkeit aus sämtlichen Räumen zurückgezogen. Bevor pa! nach Linz kam, hat pa! unter anderem Workshops für Kollektive und Clubbelegschaften in Antisexistischer Awareness (mit-)organisiert und Konzepte (mit-)erstellt.

Longing for Home, Schwabo

Im Februar wurde der Film Longing for Home von Meinrad Hofer im Kliscope gezeigt, der ein Performancestück von Silke Grabinger zum Thema hatte. In beidem geht es um kulturelles Erbe, Tradition, Vermächtnisse, Verstrickungen, Flucht und die Geschichte der Donauschwaben – und um ein Sehnen nach einer verlorenen Heimat. Wenn ich Heimat höre, haben viele zuvor schon ihren Revolver entsichert, meint Tanja Brandmayr dazu.

Filmstill Longing for Home.

Der etwas unter 50minütige Film Longing for Home entstand im Zuge des Performanceprojekts Someone from Home. Das mehrteilig angelegte EU-Projekt zum Thema kulturelles Erbe war in Serbien, Rumänien, Bulgarien und Österreich angesiedelt. So setzt sich die Linzer Company SILK Fluegge in diesem Performanceprojekt „mit den Donauschwaben auseinander, die in den Gebieten Vojvodina (Region in Serbien), Banat (zwischen Serbien, Rumänien und Ungarn geteiltes Gebiet) und Bačka (in Serbien und Ungarn) leben, mit deren Geschichte, deren sozialem Gewebe sowie deren traditioneller Kultur“. Im Zuge dessen ist der begleitende Film Longing for Home von Meinrad Hofer entstanden, er wurde 2022 fertiggestellt und jetzt im Februar erstmalig gezeigt.

Was das Tanzperformanceprojekt betrifft, bestanden die Ebenen der Auseinandersetzung aus Volkstanzelementen, etwa zu live gespielten Gstanzln, sowie aus zeitgenössisch tänzerisch bis skulptural performativ wirkenden Settings zu elektronischer Musik. Das Stück involvierte Textfragmente auf der Bühne, die etwa auf Nationalismen referenzieren. Und das Stück zeigte sozusagen traditionell donauschwäbische als auch künstlerisch gestaltete Kostüme, ein mit Orden absurd übervoll dekoriertes Kostüm als Repräsentation der Monarchie; oder ein Kostüm mit Gewehren im schwarzen Tüll-Unterrock: Es symbolisierte Maria Theresia, die einerseits Schutz offerierte, andererseits einst die Menschen zur Absicherung der Grenzen und Gebiete in die Ferne geschickt hatte. Schutz und Kampf, diese Assoziationen führen dann im Doku-Film hin zu Massakern des Zweiten Weltkrieges, an denen Donauschwaben beteiligt waren. Aber zuerst zum Stück: Im Rahmen der Aufführungen wurde in Österreich und an öffentlichen Plätzen in Südosteuropa performt und es wurden Begegnungsmöglichkeiten zwischen anwesenden Menschen inszeniert, als emotionales und in Verbindung tretendes Element. Das Interesse war, der eigenen und gemeinsamen Geschichte als Volksgruppe nachzuspüren, als Element der Begegnung, Beteiligung und des gemeinsamen Tanzens. Der Film zeigte dies in Impressionen und montierte Proben, Aufführungen und Statements zur Intention und Entwicklung des Stückes zusammen. Dazu sprach vor allem die Donauschwaben-Nachfahrin Silke Grabinger, zum Tanz und der Authentizität der Bewegungsrecherche kam Company-Mitglied Gergely Dudás zu Wort. Diese an sich schon reichhaltige thematische Basis wurde im Film Longing for Home mit Oral-History-Elementen von Menschen ergänzt, die als Vertreter:innen der älteren und jüngeren Generation gerade wegen der wenig aufgearbeiteten Donauschwaben-Geschichte die jeweiligen Probe- und Aufführungsorte quasi wie von selbst zu finden schienen (O-Ton Regisseur: „Sie waren einfach da“).

Was vermutlich genau die Absicht des Projekts war – auch besonders in der Eigenschaft als Angebot auf Kommunikation. Es fanden Interviews statt, die von Meinrad Hofer gefilmt wurden, außerdem Gespräche mit Nachfahr:innen der Volksgruppe der Donauschwaben in Österreich. Gemeinsamer Grundton: den Donauschwaben geht es zwar irgendwie gut, aber es handelt sich oft um ein Leben zwischen Vergangenheit und Gegenwart, um eine gefühlte Leere zwischen Historie, Nationalitäten und dem eigenen Schicksal. Vor allem, was die jüngere Zeitgeschichte anbelangt, handelt es sich oft um ein Totschweigen. Man beziehe sich da geschichtlich lieber auf die Monarchie, so eine Interviewte. In den Gebieten hatte man immerhin in der Regel kaum Probleme miteinander, das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen war „normal“. Dafür wurde man an entscheidenden Punkten der Geschichte umso brutaler instrumentalisiert. Im Film gab es etwa eine erschütternde Aussage über die Begeisterung von jungen Männern für die Nazi-SS, man durfte als junger, kriegsbegeisterter Donauschwabe etwa nicht zur Wehrmacht. Die Begeisterung legte sich mit den ersten Kriegstoten schlagartig. Oder ein Nachfahre erzählte vom Vater, der als SS-Mann nur wenige Tage nach Eintreffen in Ausschwitz ein Gesuch auf Versetzung an die Front abgab – er hatte bis dahin Auschwitz für einen großen Truppenübungsplatz gehalten. Was soll man dazu sagen? Der Film berichtete, dass in Serbien Donauschwaben an Massakern beteiligt waren, zigtausende von ihnen selbst getötet wurden und gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wieder auf der Flucht nach Österreich und Deutschland waren. Mehrfach blitzt auf, wie komplex die Geschichte dieser Volksgruppe ist, wie ambivalent und wie unzureichend bewältigt – persönlich, individuell und kollektiv, als Spielball der nationalen und kriegerischen Interessen.

Neben einer Oral History beziehungsweise Zeitzeug:innen-Interviews erzählt der Film in einem längeren Teil als Stimme aus dem Off, und als eigentlicher Kern, die persönliche Herkunftsgeschichte, die Sehnsucht nach der eigenen Geschichte, dem Fremdsein und dem Longing for Home, über das Leid der Vorfahren, deren Suche nach Glück. Im O-Ton, um einen Eindruck zu geben: “My ancestors were sent by Maria Theresia to move to the Banat. They find themselves under a variety of people, a multiethnic state. (…) What they are able to carry, they carry with them. The land is very hard to farm. (…) A mixture between surviving and rebirth of a new home.”
Oder in Analogie zum tänzerischen Medium, nochmals Monarchie, Maria Theresia und deren Absicht, die Siedler als Schutzwall zu verwenden: “It was a politically well rehearsed choreography against the Ottomans”. In diesem erzählerisch-reflektierenden Abschnitt sind verschiedene Aufführungen mit tradierten und zeitgenössisch tänzerischen Elementen zu sehen. Die Stimme aus dem Off reflektiert weiter die persönliche Nachfahrinnen-Seite und den emotionalen Versuch, zwischen Heimat, Flucht, Vertreibung und Schuld die Geschichte der Vorfahren zu verstehen, auch von Seite des Tanzes und dessen Bedeutung: “They dance because they can. They dance because you can be in touch with someone. Words are not needed”. Oder von den Brüchen: “From one moment to the other there is a separation. (…) A weird exciting feeling to go to war (…) Out of tune.”
Die Erzählerin Silke Grabinger ertappt sich unter anderem in einer Komplizenschaft der Gesten, der tatsächlichen und symbolischen Steps, die gelernt werden müssen, auch wenn sich diese unter anderem gegen die eigenen Nachbarn richten: “It is my duty to make the steps, to defend my family (…) even if that means that my neighbour is my enemy”.

So werden Familiengeschichte, Zeitzeuginnen-Interviews, der Tanz als künstlerisches Medium sowie ein reflektierender Text zusammengeführt. Im Text zum Film heißt es etwa: „Dabei sind Fragen nach der Tradierung der Geschichte und den möglichen Auslassungen wichtig.“ Womit wir bei Fragen nach den Auslassungen des Dokumentarfilms selbst angelangt sind: Der Film setzt Interviews von Zeitzeug:innen und Nachkommen als Mittel ein. An die Stelle der komplexen politischen Faktenlagen oder dementsprechenden historischen Expert:innen-Stellungnahmen, setzt er weitgehend die künstlerische Dokumentation eines Tanzperformanceprojekts, das selbst von Leere und Auslassungen handelt. Der Dokumentarfilm wechselt etwa ab der Mitte zu einer essayistischen Erzählung. Diese thematisiert Abgetrennt-Sein und ein Wieder-in-Verbindung-Kommen. Gegen Ende des Filmes wird ein “everlasting longing for home” benannt: “We try to reconnect again (…) to fill the missing puzzles (… ) the void”.

Bei mir als Zuseherin bleibt die Faszination übrig, wie tief sich Familiengeschichte immer wieder über Generationen manifestiert. Andererseits bleibt zwischen Krieg, Massaker, Flucht und zwischen Gesten, Kostümen, Tanz, Text und Musik im Film eine gewisse Leere übrig: Zweifelsohne sind Tanz und Musik superpotente Mittel, auch in diesem Kontext. Und ich empfinde sogar Mitleid für Menschen, die das Potential von Kunst herunterspielen. Vielleicht gerade deshalb hätte ich mir im Film noch eine andere Involvierung der Donauschwab:innen verschiedener Generationen gewünscht, abseits herkömmlicher Interviews. Ich kann mir zwar vorstellen, dass das in diesem Setting schwer machbar gewesen wäre, und will das in dem Sinn nicht als Kritik verstanden wissen. Aber es bleibt für mich eine gewisse Unverbundenheit. Es bleibt eben ein Gap, vielleicht für mich als nicht-donauschwäbische Betrachterin in Form offener Stellen, vielleicht für Nachfahren und Nachfahrinnen als offene Wunden – oder als Sehnsucht nach bauschigen Röcken, Erzählungen der Großeltern oder nach den Gerüchen der Kindheit.
„Wie soll ich tanzen, wenn ich net amal a Stückl Brot hab?“, sagt an einer Stelle eine ältere interviewte Dame im Film. Und ich frage mich: Wie soll ich Fragen zu Volksgruppen und Heimat thematisieren, oder an ein Re-Connecten glauben, wenn Ermordete sich nicht mehr connecten können. Mir ist dann beim Nachdenken spontan der Satz eingefallen: „Wenn ich Heimat höre, haben viele zuvor schon ihren Revolver entsichert“ – und ich meine damit: Wer auch immer heute über Heimat spricht, muss wissen, dass dafür schon viele Waffen entsichert wurden. Und für eine psychopathische Idee von Heimat wurden von den Nationalsozialisten nicht nur Gewehre und verrückte Emotionen entsichert, sondern es wurde systematisch und akribisch der Massenmord in den Gaskammern organisiert. Geschehnisse, Beschädigungen, die überlagerten Emotionen, Schuld, Auslassungen bis hin zu den Vorteilen, die sich Menschen durch den Anschluss an „die Deutschen“ versprochen haben. Das ist aber wiederum eine Geschichte über die Geschichte der Donauschwaben hinaus, die alle oder sehr viele betrifft, die ihre Familiengeschichten betrachten – als Täter, Mitläufer und als Nachfahren-Bewohner:innen der Grauzonen in den Braunzonen.
Und dann stellt sich noch die Frage: Wie soll man dann noch tanzen? Das Problem hat Adorno schon ähnlich festgestellt.

Am Ende fällt mir noch das kurze Gespräch zu Beginn der Filmvorführung ein. Eine Bekannte berichtet, dass sie von Jugendlichen im Zuge einer Auseinandersetzung mit der Thematik zuletzt so angesprochen wurde: „He, du Schwabo, … äh Entschuldigung, … Sie Schwabo!“ Wir haben gelacht, ich kannte den Ausdruck nicht. Ich wusste auch nicht, dass sie Donauschwäbin ist, was mir im Sinne einer Festschreibung auf Identitäten auch völlig egal ist. Die Thematisierung von Herkunft und Tradition ist noch einmal eine ganz andere Diskussion. Aber ich kenne die undurchdringliche Gemengelage von Familie, Traumatisierungen und die immer unzureichenden Bewältigungsstrategien. Und denke: Gerade deshalb muss die Kunst ran. Und gerade deshalb sind Lücken in Kunstprojekten nicht nur schwer in Ordnung, sondern auch gut.

Das Film-Screening war am 17. Februar 2023 im Kliscope zu sehen.

Im März ist außerdem im Kliscope in der Glimpfingerstraße 8 die Produktion Pygmalion Nullpunktzwei zu sehen, siehe Referentinnen-Tipps am Ende des Heftes.
www.silk.at

Alles immer wieder anfangen

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie über frühe soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Hanna Mittelstädt über den Anarchismus, die Erfindung eines neuen Lebens und die Unzerstörbarkeit des Imaginären.

Alles wird immer wieder neu anzufangen sein
(Unsichtbares Komitee, 2017)

Anarchismus, das war für mich Anfang der 1970er Jahre etwas „Imaginäres“, ein „Mythos“, etwas Geheimnisvolles, Abenteuerliches, Anziehendes. Es war eine Verlockung, entwickelte sich aber auch zu einem Gebäude, das Schutz bot. Meine „Bezugsgruppe“, also die Leute, mit denen ich mich damals auf die Entdeckungsreise begab, und ich, wir entdeckten in verschiedenen kollektiven oder gemeinschaftlichen Zusammenhängen die Geschichte und Formen des Anarchismus. Sobald das Gebäude klarere Konturen bekam, wurden auch seine Grenzen sichtbar, die Institutionen, und andererseits eine Unendlichkeit an Diversität. Was passte nicht alles unter diese Bezeichnung, historisch und in der Jetztzeit, und was nützte oder bedeutete dann also dieser Begriff?
Wir lernten auch die Idee eines „Imaginären“ kennen, wie sie von Cornelius Castoriadis (der damals auf Deutsch und Englisch auch unter dem Namen Paul Cardan veröffentlichte) geprägt wurde, und die des „Mythos“ von Georges Sorel. In unserer Sichtweise erweiterten diese Vorstellungen von den Glutkernen der Revolte oder der Revolution das Verständnis der gesellschaftlichen Veränderung: Die Glutkerne enthielten die Erinnerung oder die Sehnsucht, den aufständischen Impuls, das, was über die konkreten Klassenbedingungen und Ausrichtungen der Klassenkämpfe hinausging. Sobald die handelnden Menschen das Imaginäre und den Mythos als gleichwertige Bestandteile der Kampfbedingungen anerkennen, neben den Ausbeutungsverhältnissen und den Unterdrückungsmechanismen, landen wir bei der Subjektivität innerhalb des kollektiven Sozialen.
Der „subjektive Faktor“ erfuhr innerhalb der vielfältigen Formen der anarchistischen Bewegung immer eine größere Beachtung als bei der kommunistischen, wenn man diese Spaltung hier so vornehmen will. Obwohl sogar in der von den Bolschewiki gekaperten Russischen Revolution natürlich das Imaginäre, der Mythos einer großen, den ganzen Menschen und seine Umgebung umfassenden Veränderung vorhanden war: der Traum von einer Sache, über die das Bewusstsein erlangt werden muss, damit sie verwirklicht werden kann.

Dabei ahnen wir wohl, wie es sein könnte, vom Paradiese her
(Franz Jung, 1922)

Der Traum, das Imaginäre, der Mythos, der Impuls zur Freiheit … einerseits. Andererseits seine Verwirklichung, die durch das Bewusstsein über die soziale Situation hindurch kollektive oder kooperative anti-staatliche und anti-nationale Organisationsformen findet, in denen das alltägliche Leben, die Produktion der lebenswichtigen Güter, die das Bekannte überschreitende Neugier, der gesellschaftliche Luxus in Form von Überschwang, Festen, Kultur für alle geschaffen werden können. Diese sozialen Formen herrschaftsfrei, also an-archistisch, zu gestalten, wurde tatsächlich, aber wiederum auch nicht nur, in der historischen anarchistischen Bewegung praktiziert.
Die Spanische Revolution von 1936, die als Verteidigung der gewählten Republik gegen einen faschistischen Putsch begann, konnte nur so weit kommen und so lange andauern, weil sie, also die kämpfenden Menschen, auf einer seit Jahrzehnten installierten, selbst geschaffenen und selbstbewussten Sozialstruktur aufbauen konnten: auf den Nachbarschaften, den anarchistischen Gewerkschaften, den anti-staatlichen Bildungsstätten und jeder Form von gesellschaftlicher Selbstorganisation und gegenseitiger Hilfe. Diese Strukturen wurden vor allem in Katalonien und Aragon zwischen 1936 und 39 als Teil der Revolution weiterentwickelt. Den „Widerhall zwischen verschiedenen Facetten der Bewegung“ nennt das Unsichtbare Komitee diese Wechselbeziehung zwischen den Strukturen der Bewegung und der Vielzahl neuer Momente und Formen, die sich ständig verändern.
In Katalonien waren, nach den Zahlen von Carlos Semprun-Maura, 70 % der Betriebe kollektiviert, es gab zahlreiche landwirtschaftliche Kommunen, Arbeitermilizen, revolutionäre Komitees in den Betrieben, Vierteln, Städten und Dörfern, Umwälzungen im alltäglichen Leben, in der Lage der Frauen usw. Der gestörte „Widerhall“ zwischen den anarchistischen Strukturen und der Bewegung selbst war, neben der vereinigten internationalen Konterrevolution, die den Krieg forcierte, eine Sollbruchstelle des Scheiterns der Revolution. Sobald sich Strukturen zu Institutionen verfestigen, schließen sie die Bewegung aus. Sie werden Organe der Herrschaft.
Unter den Bedingungen eines Krieges lässt sich kaum Freiheit herstellen, auch keine An-archie. Aber die Grundregeln der Herrschaftsfreiheit galten sogar im Spanischen Bürgerkrieg: die Milizen waren anti-autoritär organisiert. Und im „Hin­terland“ wurde weiter an der Praxis und den Zielen der Revolution gearbeitet. Das Scheitern war nicht nur die Unterlegenheit gegenüber den Kriegsmitteln der Konterrevolution, sondern auch das Paktieren der anarchistischen Organe mit der Macht. Die Organe waren Institutionen geworden, die scheitern mussten.

Das Spiel aller Menschen, die „bewegliche Ordnung der Zukunft“
(Raoul Vaneigem, 1962)

Wir haben seitdem weltweit unendlich viele dieser kollektiven Freiheitsimpulse beobachten oder an ihnen teilnehmen können. Die wenigsten bezeichnen sich als anarchistisch. Die Vorstellung der Räteorganisation taucht wieder auf, sobald die erste Revolte verbraucht, die wilde Demokratie von Platzbesetzungen und Demonstrationen ermüdet und die Handelnden über eine eigene Form der Zusammenkunft, des Zusammenhangs, der Zusammenarbeit nachdenken: Der Rätekommunismus ist auch ein historisches Modell einer herrschaftsfreien gesellschaftlichen Organisation. Spezifische regionale Bedingungen spielen eine Rolle, spezifische Bedingungen von Ausbeutung und Unterdrückung, gegen die sich die Aufstände richten.
Diese Vorstellungen sind als Folien wichtig, die historischen Versuche ebenso. Alle gescheiterten Versuche sind im Imaginären vorhanden und werden irgendwo auf der Welt praktiziert, sei es im Lakandonischen Urwald oder in Rojava, in Hongkong oder Teheran, in Frankreich oder Lützerath.
Für meine Bezugsgruppe und mich gab es noch einen weiteren wichtigen Impulsgeber, der uns aus dem anarchistischen Gebäude herauskatapultierte: die Situationistische Internationale. Diese Gruppierung, die die Welt nach den 1950er Jahren bis 1969 radikal attackierte, und zwar in Ost und West (der Süden blieb ihr eher verschlossen), stellte eine Begrifflichkeit bereit, mit der die Hysterie der kapitalistischen Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg erfassbar wurde: Die Warengesellschaft war zur alle menschlichen Verhältnisse durchdringenden Gesellschaft des Spektakels geworden. Außerdem waren die situationistischen Positionen gegen jederart politische und kulturelle Institutionen neuartig und grundlegend: Die Welt sollte gänzlich neu gestaltet, Kunst, Politik und Alltagsleben sollten eins werden. Die situationistischen Ideen waren eine Art Geburtshelfer für die Vielheit an Aktions- und Organisationsformen, die sich seit dem Mai 68 weltweit entwickelten.

Sich an das binden, was man als wahr empfindet. Da anfangen.
(Unsichtbares Komitee, 2007)

Nachdem wir das anarchistische Gebäude verlassen hatten, durch das situationistische gerobbt waren (unsere Aneignung ihrer Gedankenwelt erfolgte durch das Übersetzen sämtlicher von ihr herausgegebenen Zeitschriften), schienen uns ideologische Zuschreibungen für die verschiedenen Initiativen der tiefgreifenden sozialen Veränderung überflüssig. Inzwischen gab es eine beschleunigte Kommunikation, in der die Aufstände der Welt in „Echtzeit“ ausgetauscht werden konnten. Wer wollte sich mit dem Kategorisieren abgeben? Die Sprache, die Zeichen, die Parolen, sie sind spezifisch, sie sind aber auch „kreolisiert“, sie sind ein Widerhall der globalen revolutionären Geschichte. Die alten Formen politischer Intervention sind verbraucht, wer glaubt noch den bestehenden Institutionen? Nicht nur die Formen des kapitalistischen Systems in West und Ost und Nord und Süd sind obsolet und in einem rasanten Niedergang begriffen, auch die integrierten Formen der Opposition (Parteien, Gewerkschaften etc.) sind es.
Die dezentralen Basisbewegungen, die Aktivitäten der gesellschaftlichen Ränder, die in die eigenen Hände genommene Produktion und Verteilung von Gütern: all das knüpft, zumindest für mein Verständnis, an die anarchistischen Traditionen an, geht aber ebenso über sie hinaus. Ob die Forderung nach „Land und Freiheit“ in Lateinamerika, Spanien oder der ukrainischen Machnowtschina nach der Oktoberrevolution als anarchistisch bezeichnet werden kann? Mir scheint das unerheblich. Die Unzerstörbarkeit des Imaginären, die weltweiten praktischen Erfahrungen der Selbstorganisation und Selbstbehauptung, der unbedingte Willen zur Erkenntnis über die Strukturen, die uns unterdrücken, und diejenigen, die uns ein gewaltfreies und herrschaftsloses Zusammenleben ermöglichen können, daran als überzeugte Staatsdelegitimierer*innen mit Experimentierfreude und Entschiedenheit zu arbeiten, das scheint mir ausreichend.

Literatur:
Carlos Semprun-Maura, Revolution und Konterrevolution in Katalonien (Hamburg, 1983) Situationistische Internationale, Der Beginn einer Epoche (Hamburg, 1995, 2008) Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand (Hamburg, 2010); An unsere Freunde (2015); Jetzt (2017)

Im Frühjahr 2023 erscheint das Buch:
Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens. Chronik eines Verlags in der Edition Nautilus. Zehn Jahre nach dem Tod Lutz Schulenburgs blickt Hanna Mittelstädt zurück auf vier Jahrzehnte Edition Nautilus und erzählt eine kollektive Geschichte.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

Was frisst Linz, …

… und was scheidet es aus? Wie funktioniert eigentlich der Stoffwechsel von Linz? Im afo ist derzeit die Ausstellung Metabolismus der Stadt zu sehen. Georg Wilbertz über Ausstellung und Infrastrukturen der Stadt.

Unter dem Asphalt wird der Platz knapp. Foto Max Meindl

Mit der Utopie der Stadt (und damit sind keine utopischen Idealstädte gemeint) verbindet sich, seit es die Stadt als Siedlungsform gibt, die Idee, dass es sich letztlich um eine Art Heilsort handelt. Dessen Bedeutung geht weit über die bloße Gewährleistung von sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Versorgung und Identität hinaus. Die Stadt ermöglicht vielfältige Lebensformen und repräsentiert – in unterschiedlicher Ausprägung und mit unterschiedlicher Konsequenz – ein mehr oder weniger offenes System des verdichteten Zusammenlebens. In der Antike oder dem europäischen Mittelalter wurden häufig metaphysische Einrichtungen und „Installationen“ (Religion, Kult etc.) genutzt, um die Stadt im Bewusstsein ihrer Bewohner*innen zu einem sicheren und lebenswerten Platz zu machen. Gelang dies im realen Leben meist nur sehr eingeschränkt (privilegierte Kreise ausgenommen), so gewann die irdische Stadt zumindest als Abbild religiös motivierter, eschatologischer Modelle eine heilsbringende Bedeutung. Schließlich war es das Himmlische Jerusalem, das am Ende aller Zeiten im mythischen Raum des Jenseits all jene städtischen Ideale und Existenzträume, die hier auf Erden – bis heute – nicht zu realisieren sind, erfüllen sollte.

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Infrastrukturen als Heilsversprechen
Auch wenn für uns heute derartige Vorstellungen kaum noch von Bedeutung sind und wir unsere „Heilssuche“ längst in die „paradiesischen“ Pseudo-Realitäten digitaler Medien und Gemeinschaften auslagern: die Stadt ist nach wie vor (trotz aller weltweit zu beobachtenden Verwerfungen) der physische Ort, der am ehesten die Hoffnung auf persönliche Verwirklichung verspricht. Die zentrale Voraussetzung hierfür bildet im Idealfall das reibungslose Funktionieren der Stadt. Dieses wird seit der Industrialisierung vor allem gewährleistet durch Infrastrukturen und Apparaturen, die meist unsichtbar (fast wie die Wunderwirksamkeit des Religiösen) im Untergrund der Städte und Siedlungen – wie von Geisterhand – werkeln. Die Unterwelt unter der Oberfläche der Stadt war bis zur Verlagerung der lebenserhaltenden Infrastrukturen in den Untergrund im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht unbedingt eine positiv konnotierte Sphäre. Hier verbargen sich die bösen Kräfte, ihr entstiegen die krankmachenden Dämpfe und bis zu den strafenden Tiefen der Hölle war es auch nicht weit. Mit der Industrialisierung und den komplexen Prozessen der Großstadtwerdung fand eine auf funktionale Optimierung hin orientierte Umdeutung der Welt unter der Oberfläche statt. In ihr verbarg man die Versorgungskreisläufe, die den Organismus (durchaus wörtlich zu verstehen) Stadt am Leben erhielten. Seitdem verlaufen unter der Oberfläche unserer Städte die Arterien, die uns mit Wasser, Energie, Wärme, Information etc. versorgen. Ihnen stehen die Ausscheidungskanäle (z. B. für Abwasserentsorgung) gegenüber.
Die vom afo architekturforum in Auftrag gegebene und von Alexander Gogl (Innsbruck) sorgfältig kuratierte Ausstellung „Metabolismus der Stadt“ widmet sich, auf Linz und sein Umland bezogen, diesen meist verborgenen Ver- und Entsorgungssystemen. Der Begriff Metabolismus überträgt damit metaphorisch das Bild biologischer oder medizinischer Stoffwechsel auf den Organismus Stadt.1 Dabei stehen sechs Themenschwerpunkte im Ausstellungsraum des Erdgeschosses im Mittelpunkt: Abfallsystem, Abwassersystem, Erdgas, Energie, Fernwärmesystem und Trinkwasser. Mit installativer Eindrücklichkeit (Videos: Reinhard Zach) widmet sich das Kellergeschoss des afo dem sogenannten Donaudüker (duiker = niederl. Taucher), der unterhalb der Flusssohle der Donau diese kreuzt. Als eine der für die 1970er Jahre typischen Großstrukturen dient der 375 m lange und begehbare Düker mit separaten Röhren für Abwasserentsorgung und Frischwasserversorgung.

Ein- und Übergänge: Kanäle des Unbewussten
Neben der Darstellung von Funktionsweisen und der Nennung wichtiger statistischer Größen, die das Ausmaß der Versorgung (und damit unserer Abhängigkeit) verdeutlichen, bilden die Schnittstellen und Übergänge von Unter- und Oberwelt einen wesentlichen Aspekt der afo-Schau. Ausgediente Verteilerkästen, die sich zuhauf im städtischen Raum finden und die originalgroßen Frottagen von Kanaldeckeln verweisen auf die „Eingänge“ und Verbindungen des Oben mit dem Unten. Im Alltag beachten wir diese technischen Installationen kaum und wissen in der Regel nicht, womit und für was sie mit dem Untergrund verbunden sind. Unsere „Vertikalisierung des Bewusstseins“ (Thomas Macho) manifestiert sich weitestgehend unbewusst über Momente der psychischen Verdrängung. Was sich da unten alles dicht gedrängt abspielt, möchten wir eigentlich nicht genau wissen, solange der schöne Schein der benutzbaren Oberfläche weitestgehend intakt bleibt und die urbanen Funktionen ihren Zweck erfüllen. Die – altbekannte – Analogie der Stadt mit dem menschlichen Körper, seinem verborgenen Stoffwechsel und seinen Kreisläufen unter der Haut drängt sich unmittelbar auf.

Offene Städte mit offenen Grenzen: Netze
Längst haben sich die bis zum Einsetzen der Industrialisierung klar definierten, durch fortifikatorische Maßnahmen sichtbar umgrenzten Städte in offene, ausufernde Topographien verwandelt. Nicht nur die Stadtgrenzen sind kaum noch wahrnehmbar. Auch die Infrastrukturen bilden seit Langem Netze und Vektoren aus, die weit ins Umland hineinreichen und dieses existenziell mit der Stadt verbinden. Folgerichtig steht im Zentrum von „Metabolismus der Stadt“ eine von Alexander Gogl detailliert ausgearbeitete Karte von Linz und Umgebung, die diese Verbindungen und Abhängigkeiten eindrucksvoll verdeutlicht. Das Denken in funktionalen Netzen, die Räume verbinden, strukturieren und überspannen ist ein konstituierender Teil innerhalb der Moderneentwicklung. Die erst im 19. Jahrhundert intensiv einsetzende Netzbildung kennt prinzipiell keine Grenzen. Selbst Natur- und Landschaftsräume wurden von Beginn an als „Aufmarschzonen“ für die infrastrukturelle Entwicklung instrumentalisiert und dementsprechend gefährdet oder zerstört. Bereits das Netz des 19. Jahrhunderts war eng geknüpft und zeigte Tendenzen einer ersten, aggressiven Globalisierung. Stellt man die Verbindung des übergeordneten Netzes mit dem Kreislauf einer konkreten Kommune (z. B. Linz) her, wird deutlich, dass die Offenheit der Netze ganz konkret und über das Symbolische hinaus die soziale und kulturelle Offenheit der Stadt bedingen. Unsere Form gesellschaftlichen Lebens mit all ihren Freiräumen ist ohne das Netz undenkbar. Dies ist die positive Nachricht.

Postwachstumsgesellschaft
In Linz und seiner Umgebung dominiert die Linz AG monopolartig die beschriebenen Systeme. Linz stellt diesbezüglich sicher keine Ausnahme, sondern eher die Regel dar. Die wirtschaftlichen, gerade auf dem Energie- oder Digitalsektor weltweit immer dynamischer vorangetriebenen Konzentrationsprozesse galten lange als gewinnmaximierende, zugleich „sichere“ Strukturen. Sie wurden auch hinsichtlich ihrer negativen Wirkungen auf Gesellschaften und Demokratien mehrheitlich kaum in Frage gestellt. Kurator Alexander Gogl ist skeptisch, ob hinsichtlich der Fragen von Nachhaltigkeit und Effizienz derart großräumig angelegte Ver- und Entsorgungsstrukturen dauerhaft zukunftsfähig sein können. Er plädiert dafür, lokale Einheiten und Netze zu entwickeln oder zu stärken. Dies böte nicht nur die Möglichkeit, punktgenauer entsprechend der tatsächlichen Anforderungen die notwendigen Leistungen zu generieren und zur Verfügung zu stellen. Es hätte sicherlich auch ein stärkeres Bewusstsein für das eigene Handeln und die eigene Verantwortung innerhalb infrastruktureller Systeme zur Folge. In demokratiepolitischer Hinsicht eine längst überfällige Notwendigkeit. Corona und der unsägliche, verbrecherische Krieg des Diktators Putin führen uns diese Zusammenhänge gerade schmerzlich vor Augen. Diese Krisen mit ihren Boykott- und Blackoutszenarien verdeutlichen die Anfälligkeit der bisher als „alternativlos“ apostrophierten Großstrukturen. Aus der „heilbringenden“ Utopie einer aus dem Verborgenden sprudelnden, immer verfügbaren Versorgung durch städtische Netze erwächst inzwischen die – wie auch immer begründete – Dystopie gesellschaftsgefährdenden Totalversagens. Bei aller informativen Neutralität der afo-Ausstellung schwingen diese Aspekte untergründig mit. Sie passt deshalb bestens in unsere Zeit.

1 Thematisch hat die Ausstellung nichts mit der Bewegung der Metabolisten zu tun, die vor allem im Japan der 1960er Jahre mit ihren Utopien zur dynamisierten Stadt der (meist flexibel gedachten) Megastrukturen wichtige Beiträge zum Städtebaudiskurs nach 1945 leisteten. Georg Wilbertz ist Architektur- und Kunsthistoriker und lebt in Linz.

Metabolismus der Stadt Unter dem Asphalt wird der Platz knapp … Ein Blick auf die Leitungspläne zeigt, wie eng es im Unterbau einer Stadt tatsächlich zugeht. Fernwärme schmiegt sich an Abwasserkanal, dazwischen kreuzen sich Strom, Telefon- und Internetkabel. Wasser- und Gasleitungen drängeln sich durch den verbleibenden Raum. Das afo architekturforum oberösterreich verwandelt sich in eine Miniaturdarstellung des Organismus Linz und lässt den Besucher dessen ober- wie auch unterirdische Teile erkunden. Kurator: Alexander Gogl.

Ausstellung: 23 .09. 2022–27. 01. 2023
Eröffnung: 22. 09. 2022 | 19:00 h
Öffnungszeiten: Di–Fr, 15:00–19:00 h

afo.at/programm/metabolismus-der-stadt

Metabolismus extra im Dezember:
Metabolismus und Glühwein – Freiluftkino beim Wärmepol: Do, 15. Dez, 18:00 h
Metabolismus der Stadt – Kuratorenführung: Fr, 16. Dez, 14:00–15:00 h

 

Foto afo architekturforum

van Laak, Dirk: Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur. Frankfurt am Main 2018, S. Fischer, ISBN 978-3-10-397352-5